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Sherlock Holmes und Anna Kronberg auf der Flucht 1891. Annas schlimmster Alptraum ist wahr geworden: Sie ist schwanger von ihrem Erzfeind Moriarty und wird auf Schritt und Tritt von gedungenen Mördern verfolgt. Welche Pläne verfolgt Moriarty wirklich mit seinen Biowaffen – sind sie für künftige europäische Kriege gedacht? Schritt für Schritt entwirren Anna Kronberg und Sherlock Holmes das Spinnennetz aus Verbrechen, Spionage und Bioterrorismus, das sich über den Globus erstreckt. Eine viktorianische Tour de Force mit vielen überraschenden Wendungen.
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Seitenzahl: 340
Annelie Wendeberg
Die lange Reise
Ein Anna-Kronberg-Krimi
Aus dem Englischen von Kathrin Bielfeldt und Jürgen Bürger
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Gewidmet Phyl Manning († 9. Februar 2014) – zum Dank für Deine Freundschaft und dafür, dass Du vielen aufstrebenden Autoren helfend die Hand gereicht hast. Vielleicht sehen wir uns eines Tages zwischen den wilden Tieren wieder, die durch den Urwald streifen.
Höret meine Seele reden:
In dem ersten Augenblick, da ich Euch sah,
flog mein Herz in Euern Dienst.
William Shakespeare
Hunger, Erschöpfung und Kälte lähmten jede meiner Bewegungen. Wir liefen seit drei Tagen, und unser Proviant war auf zwei Handvoll gesalzenes Fleisch und eine Scheibe altbackenes Brot zusammengeschrumpft. Ein Vorhang ständigen Nieselregens umgab uns. Das feine Rauschen des Regens mischte sich mit dem Plitsch-Platsch zweier Paar Füße – meinem und dem des Mannes, der einen Meter vor mir ging. Über den breiten Rand seines Hutes ergoss sich ein Rinnsal auf seine Schultern, von denen die eine immer noch leicht herabhing. Er hatte sie sich ausgerenkt, als er meinen Ehemann von einer Klippe gestoßen hatte.
Den Blick auf seine Waden geheftet, setzte ich einen Fuß vor den anderen und stellte mir vor, wie er mich an einem unsichtbaren Band weiter und immer weiter hinter sich herzog. Ohne dieses Ziehen, das wusste ich, würde ich nirgendwo hingehen. Die Beine würden mir den Dienst versagen.
Stoisch ging Holmes voran, die Hosenbeine bis zu den Knien hochgekrempelt, die Füße mit Schlamm überzogen, die nackte Haut bespritzt. Wir mieden die Küste, die Straßen, Menschen. Zuerst hatten wir den Weg durch die Heide eingeschlagen, den Blicken der Einheimischen und Wind und Wetter schutzlos ausgesetzt, dann weiter durch das Moor, ohne Stiefel. Das Wasser hatte uns knöchelhoch in den Schuhen gestanden. Krankhaft weiße Füße waren zum Vorschein gekommen, die Zehen verschrumpelt, die Fersen wund von Nässe und Reibung.
Als der Tag sich dem Ende zuneigte, wurde der leichte Schwung seiner Hüften steifer und sein Gang ließ das übliche Federn vermissen. Es dauerte eine Stunde, bis er eine passende Stelle fand, wo wir das Zelt aufbauen und unsere wenigen trockenen Habseligkeiten unterbringen konnten. Klamme Nächte lagen hinter uns, dunkle und rastlose Stunden, denen es an einem wärmenden Feuer mangelte und an Vorräten, um unseren Hunger zu stillen. Es ließ sich nicht ändern.
»Dort drüben«, er deutete in Richtung einer Baumgruppe. Er nahm ein Seil aus der Tasche und schlang es um zwei krumme Tannen, warf dann die Zeltplane aus meinem Rucksack über das Seil und beschwerte sie an den Seiten mit Steinen. Ich hatte die Arme fest um mich geschlungen, sah ihm zu und wusste genau, welche Bewegung auf die nächste folgte, als hätten meine Augen es schon hundertmal gesehen und meine Hände es genauso oft ausgeführt. Sowie die Plane an Ort und Stelle war, kroch ich in unser provisorisches Zelt, zog eine weitere Plane hervor und breitete sie auf dem Boden aus.
Ich holte die Decken hervor und befühlte den Stoff. Meine Finger waren so taub, dass sie kaum mehr als stechende Kälte spürten. So erschöpft, wie wir waren, würden wir uns unter feuchten Decken über Nacht eine Lungenentzündung holen. Brighton, die nächstgelegene Stadt, in der man eine Apotheke und einen Arzt vermuten konnte, lag einen Sechsstundenmarsch von uns entfernt. Wahrscheinlich würden Füchse und Raben sich an unseren Überresten gütlich tun.
Schon am ersten Tag unserer Flucht hatte sich ein festes und durchaus effizientes Abendritual etabliert. Doch was mich anging, kümmerte es mich wenig, wie schnell wir aus dem Regen kamen, solange ich nur die Welt und meinen inneren Kampf ausblenden konnte. Die friedlichen Minuten zwischen dem Schließen der Augen und dem Beginn meiner Träume war alles, wonach ich mich sehnte.
In weniger als drei Minuten entledigten wir uns der durchweichten Kleidung, ließen uns vom Regen den Gestank und Dreck von der Haut waschen und hängten Hemden, Hosen, Rock und Unterwäsche über die Seile, unter unserem selbst gebauten Zelt würden sie sowieso nicht trocknen. Wir drückten uns das Wasser aus den Haaren und tauchten unter die Plane ab. Holmes öffnete meinen Rucksack und holte trockene Kleidung heraus. Mit zitternden Gliedern zogen wir uns an und drängten uns dann dicht aneinander, um die Decken und das letzte bisschen Wärme zu teilen, das unsere Körper noch ausstrahlten.
Obwohl wir notgedrungen die Nähe des anderen suchten, vermieden wir Augenkontakt und schwiegen uns die meiste Zeit an. So nah bei Holmes liegend, fühlte ich mich wie ein Fremdkörper. Ich hatte mit seinem Erzfeind geschlafen und konnte nur ahnen, wie unwohl er sich in meiner Nähe fühlte.
Holmes langte in den Rucksack und zog den Rest Salzfleisch hervor. Er schnitt ein großes Stück ab und gab es mir, bevor er ein kleineres für sich selbst abschnitt. Es war der einzige Anflug von Ritterlichkeit, den ich ihm zugestand. An dem Tag, an dem wir mein Cottage verlassen hatten, hatte er darauf bestanden, meinen Rucksack zu tragen. Ich sagte ihm, ich wolle nichts davon wissen, und marschierte los. Danach vermieden wir jede Debatte über die Unterschiede in Muskelkraft und Durchhaltevermögen zwischen uns. Doch er blieb wachsam, immer bereit, der werdenden Mutter beizuspringen. Seine ritterlichen Reflexe gingen mir unendlich auf die Nerven.
Wir aßen schweigend, Zähneklappern und Kaugeräusche wechselten sich ab, aber nach und nach kehrte die Wärme in unsere Glieder zurück. Sowie das Zittern zurückging, rückten wir voneinander ab. Dann erst wagten wir zu sprechen.
»Wie fühlst du dich?«
Ich nickte und nahm noch einen Bissen. »Warm. Gut. Danke. Was macht dein Auge?« Ich hatte beobachtet, dass er sich wiederholt das rechte Auge rieb.
»Nicht der Rede wert.« Er starrte hinaus in den Regen. »Wir müssen unsere Vorräte aufstocken«, sagte er und fügte leise hinzu, »wir können zwei verschiedene Richtungen einschlagen, wobei eine der beiden nächsten Städte groß genug sein dürfte, um einen fähigen Arzt zu beherbergen.«
»Es ist zu spät für mich. Wähle du also die Richtung.«
»Zu spät?« Er sprach leise, als fürchtete er, die Worte könnten mich zerbrechen.
»Fünfter Monat. Das Kind ist inzwischen so groß wie eine Hand. Ich würde den Eingriff nicht überleben.«
Er drang nicht weiter in mich. Das Thema bedurfte keiner weiteren Erörterung. »Wir müssen über Moran reden.«
Ich wollte nicht über diesen Mann sprechen. Alles, was ich wollte, war, ihn tot zu sehen.
»Erzähl mir, was du über ihn weißt.«
»Ich weiß nichts, was du nicht schon wüsstest.«
»Anna!« So wie er ihn aussprach, klang mein Name wie ein Synonym für Starrköpfigkeit.
»Verdammt, Holmes. Ich habe den Mann gemieden. Du weißt bereits alles, was auch ich weiß: Moran gilt als einer der besten Großtierjäger des Britischen Königsreiches, und er ist im Besitz eines exzellenten Luftgewehrs. Moralische Werte sind ihm fremd, er ist extrem bösartig und drängt darauf, seinen besten Freund und Arbeitgeber James Moriarty zu rächen.«
Ich hielt meinen Becher unter einen Strahl Wasser, der sich von der Plane ergoss, füllte ihn und spülte damit das salzige Fleisch hinunter.
»Du hast in Moriartys Haus gelebt. Ich nicht. Daraus folgt, dass du mehr über Moran wissen musst als ich.«
Ich rieb mir die müden Augen. »Wenn er uns nicht aufspürt, wird er uns eine Falle stellen. Du hast selbst gesagt, er hätte einmal ein Kind als Köder für einen Tiger benutzt.«
»Korrekt. Aber was für eine Falle könnte er für uns aufstellen? Was er in Indien vor zehn Jahren gemacht hat, hilft mir kaum, seine nächsten Schritte vorauszusehen. Wie tickt dieser Mann? Du musst etwas beobachtet haben, das für uns von Wert sein kann!«
Ich zog die Knie enger heran und die Decke noch fester um mich. »Genau wie James Moriarty hat Moran nicht den kleinsten Funken Anstand im Leib. Er hat den vorgetäuschten Versuch unternommen, mich zu vergewaltigen, um James einen Auftritt als Retter zu verschaffen. Ich bin sicher, das Schauspiel hat sie prächtig amüsiert.«
Hustend drehte ich Holmes den Rücken zu und schloss die Augen. Der Schlaf würde mich in wenigen Minuten davontragen. »Morans Gehirn denkt außergewöhnlich scharf, wenn er auf der Jagd ist«, fügte ich leise hinzu.
»Dein Husten wird schlimmer«, sagte er.
»Habe ich bemerkt.«
Ich lauschte auf seinen Atem und wischte damit die Erinnerungen an Moran und James fort, in dem Wissen, dass es nicht lange dauern würde, bevor sie zurückkehrten. Sobald die Träume mich wieder aus meinem Schlaf rissen, würde ich die zweite Wache übernehmen.
Jemand schrie. Ich riss die Augen auf. Die Zeltplane über meinem Kopf. Das leichte Tröpfeln des Regens. Eine zusammengekauerte Gestalt neben mir. Es war Holmes, nicht James. Ich war in Sicherheit.
Ich rappelte mich auf. »Du kannst jetzt schlafen.« Meine Stimme klang ängstlich, sie war mir fremd.
Holmes wickelte die Decke um sich und legte sich hin. »Weck mich in zwei Stunden.«
Ich wollte nicht über James reden und wünschte mir auch keinen Trost. Holmes hatte das mit einem Nicken akzeptiert, und ich war froh, nie einen Funken Mitleid oder Abscheu in seinem Gesicht zu entdecken. Er verbarg seine Emotionen gut.
Das Geräusch von Wasser, das an Blättern herunterrollte und auf die Zeltplane tropfte, Holmes’ Atmen, das war alles, was jetzt noch an mein Ohr drang. Die Ruhe der Natur stand in wundervollem Kontrast zu Londons geschäftigem Treiben. Es fühlte sich fast so an, als schwiegen wir gemeinsam, die Natur und ich.
Holmes Füße zuckten ein wenig. Nur Sekunden später wurden seine Atemzüge tiefer. Ich wartete ein paar Minuten und entzündete dann ein Streichholz. Ein schwaches goldenes Licht erfüllte das Zelt und beleuchtete sein Gesicht. Es überraschte mich jedes Mal aufs Neue. Der Schlaf wischte die Härte von seinem Gesicht, und die scharfen Züge wurden weich, sein Ausdruck verletzlich. Ich schnipste das Streichholz ins nasse Gras, schaute hinaus und dachte an den Tag, an dem ich ihn geküsst hatte. Die Erinnerung war nur noch schwach; Gewalt und Verrat hatten sie ausgeblichen.
Ein scheues Flattern riss mich aus meinen Gedanken – als hätte ich einen Schmetterling verschluckt, der mit seinen Flügeln nun die Innenseite meines Uterus streifte. Ich legte die Hand an die Stelle der Berührung. Wie schnell schlug das Herz des Kindes jetzt? Vielleicht so schnell wie das eines Spatzen?
Wo war die Liebe, die ich doch für das kleine Wesen in mir fühlen sollte? Zum ersten Mal im Leben wusste ich nicht, was ich tun sollte. Ich wusste nicht, wo ich die Energie hernehmen sollte, weiterzukämpfen. Hatte ich nicht selbst in den aussichtslosesten Situationen immer eine Lösung gefunden? Dass es Frauen verboten war, Medizin zu studieren, hatte mich nicht davon abgehalten, eine Universität zu besuchen. Die Entführung durch James Moriarty – ein Meister in der Kunst, das menschliche Gehirn und den Willen zu manipulieren – hatte mich nicht davon abgehalten, mein Schicksal selbst zu bestimmen, mehr noch, im Gegenzug ihn zu manipulieren. Doch sein Kind zur Welt zu bringen und großzuziehen, diese Vorstellung türmte sich vor mir auf wie eine unbezwingbare Felswand, ein Hindernis, das ich nie überwinden konnte.
Beruhte diese Unfähigkeit, das Kind zu lieben, auf den Gefühlen, die ich seinem Vater gegenüber hegte? Auf diesem bodenlosen Hass? Oder war ich nach all den Jahren als Mann so egoistisch und ehrgeizig, dass mir die Vorstellung, als Frau zu leben, unerträglich erschien?
Nicht mehr in der Lage, mein Geschlecht zu verbergen, in den Augen der Gesellschaft ein minderwertiger Mensch, wäre es mir nicht mehr möglich, meiner Leidenschaft, der Medizin, der Bakteriologie, nachzugehen. Alleinerziehende Mütter wurden von der Gesellschaft nicht akzeptiert, und selbst einer verwitweten Mutter, die sich nach ihrem Trauerjahr nicht umgehend wieder verheiratete, würden alle Türen verschlossen bleiben.
Keine medizinische Fakultät würde mich als Dozentin einstellen. Vielleicht konnte ich eine Praxis eröffnen. Doch wer ließe sich schon von einer Frau behandeln, wenn es reichlich männliche Kollegen gab? Doch das waren alles Probleme, die sich mit ausreichend Willenskraft und Energie lösen ließen. Warum konnte ich dieses Kind nicht willkommen heißen? War es wirklich so schrecklich, eine Mutter zu sein? Bis vor ein paar Monaten hatte ich noch nicht einmal Grund gehabt, darüber nachzudenken, da ich angenommen hatte, unfruchtbar zu sein. Andere Frauen waren Mütter, ich war etwas komplett anderes.
Wenn ich jetzt auf die vergangene Zeit zurückblickte, erschien es mir, als bestünde sie nur aus Lüge und Täuschung. Im letzten Jahr hatte ich sogar erfolgreich vorgetäuscht, ich hegte ernsthaft den leidenschaftlichen Wunsch, Waffen für die biologische Kriegsführung zu entwickeln. Dann war da noch James, ihm hatte ich vorgespielt, ihn zu lieben. Ich würde nie meinem Kind Liebe vortäuschen können, dem einzigen anderen Menschen, der in der Lage wäre, meine Scharade zu durchschauen.
Holmes rührte sich, hustete in die Decke und öffnete ein Auge. »Du hast mich nicht geweckt«, stellte er fest.
»Du sagtest zwei Stunden.«
»Wie lange habe ich geschlafen?«
Ich zuckte mit den Achseln. Woher sollte ich das wissen? Seine Uhr hatte gestern – kurz nachdem sie in einer schlammigen Pfütze versunken war – ihr letztes Ticken von sich gegeben.
»Es hat schon vor einer Weile aufgehört zu regnen«, sagte ich. »Schlaf. Ich bin nicht müde.« Bei diesen Worten gab mein Magen ein Knurren von sich. Holmes griff nach der Tasche, doch ich hielt ihn zurück. »Bei meinem Appetit haben wir morgen früh nichts mehr übrig.«
Er sah mich lange an, und ich wünschte, ich wäre weit fort. »Ich werde Vögel jagen«, sagte ich.
»Wir können kein Feuer entzünden, es wäre zu auffällig.«
»Die Menschen müssen rohes Fleisch gegessen haben, bevor sie entdeckten, wofür Feuer gut ist.« Ich zog Armbrust und Pfeile aus dem Rucksack. Es war ein altes, wurmzerfressenes Ding, für Kinder gemacht, um Kaninchen zu jagen und damit die Familie bei der Nahrungsbeschaffung zu unterstützen. Ich hatte sie in meinem Cottage gefunden, und die handliche Waffe leistete mir auf unserer Flucht gute Dienste.
Ich schob die Zeltplane beiseite. Wasser tropfte von den Bäumen. Der Boden war matschig.
»Ich bleibe in der Nähe. Der hier«, ich hielt einen der Pfeile hoch, »ist leiser als Morans Luftgewehr. Leg dich wieder hin und schlaf.«
Holmes grunzte resigniert und zog sich die Decke dichter um die Schultern. Ich glitt aus dem Zelt, hinaus in den anbrechenden Tag.
Ich wischte die Hände am nassen Gras ab. Die eben noch grünen Halme klebten jetzt blutrot aneinander. Holmes erwachte, als ich zurück ins Zelt schlüpfte. Sein Auge war definitiv entzündet, das helle Grau der Iris rot gerändert.
»Dein rechtes Auge sieht schlimmer aus. Lass mich mal sehen.« Ich beugte mich vor, um es zu untersuchen. An den Wimpern klebte gelber Eiter. »Das dachte ich mir schon.«
Ich starrte hinaus. Die Sonne ging auf. Goldene Strahlen kitzelten Nebel aus der Heide.
»Ich werde ein Feuer machen. Kiefernzweige sollten gut genug brennen. Ich muss eine Medizin vorbereiten, bevor sich die Infektion auch auf das andere Auge ausbreitet.«
»Der Rauch –«, wandte Holmes ein.
»Wir haben aufsteigenden Nebel. Der Rauch wird uns nicht verraten.«
»Na gut. Ich mache Feuer.« Er setzte sich auf und rieb sich das verklebte Auge. »Du hast nicht genug geschlafen.«
Schlaf war zurzeit nicht gerade mein bester Freund. Zögerlich zog ich die Schuhe aus und kletterte unter die Decken.
»Wenn du an Vogelmiere vorbeikommst, pflück eine Handvoll.«
Jemand griff nach meiner Schulter und zog mich fort von Morans Faust. Ich schlug die Augen auf. Holmes kniete neben mir, das Gesicht dicht vor meinem. Zu dicht. Hustend wandte ich mich ab.
»Frühstück«, verkündete er.
In die Decke gewickelt folgte ich ihm nach draußen. Der Duft von gebratenem Fleisch stieg mir in die Nase. Mir lief das Wasser im Mund zusammen. Das Feuer prasselte munter vor sich hin. Die Kiefernzweige platzten und knackten und beschossen das Tier, das über den Flammen hing, mit hölzernen Splittern. Mein Metallbecher hatte sich in der Nacht mit Regenwasser gefüllt, und ich trank gierig ein paar Schlucke. »Konntest du Vogelmiere finden?«
Holmes nickte zu einem kleinen Haufen Grünzeug hinter mir. Ich nahm eine Handvoll, entfernte die Erde, füllte es in den Becher und stellte ihn ans Feuer. Holmes war damit beschäftigt, dem Hasen die Hinterbeine abzutrennen.
Zum wiederholten Male fragte ich mich, warum er so vehement darauf bestand, dass wir vorsichtig mit dem Feuer waren. Wenn Moran unsere Spur wirklich verfolgte – was ich stark bezweifelte –, hätte ich ihn lieber in der Nähe. Eine Armeslänge wäre perfekt.
»Ein eher zäher Bursche«, bemerkte Holmes bei dem Versuch, ein Stück vom Hinterbein abzubeißen.
»Trotzdem wirkst du nicht gerade unglücklich.« Mein Mund war so voll, dass ich nuschelte.
»Es handelte sich lediglich um die Feststellung einer Tatsache, nicht um eine emotionale Äußerung.«
Das Wasser im Becher dampfte. Ich wickelte mir den Saum des Kleides um die Hand und zog den Becher vom Feuer.
»Eine merkwürdige kleine Pflanze.« Er zeigte auf die Vogelmiere. »Mir war nicht bewusst, dass man damit Entzündungen behandeln kann.«
»Man benutzt häufiger Kamilleninfusion, aber die würde die Hornhaut zu stark austrocknen. Es gibt nur eine Sache, die Augenentzündungen besser heilt als diese Pflanze.«
»Und das wäre?«
»Muttermilch.«
Er prustete los, und ein Stück Hasenfleisch landete zischend im Feuer; ein kurzer Ausbruch. Wir sahen zu, wie das Fleisch sich in ein Stückchen Kohle verwandelte. »Ich kenne keinen einzigen Mann, der zulassen würde, dass eine Frau ihm Muttermilch ins Auge träufelte«, sagte er.
»Die Mittel- und Oberschicht lebt ein eingeschränkteres Leben als wir armen Tröpfe«, erklärte ich. »Davon abgesehen wird es nicht geträufelt, sondern gespritzt.«
Ein weiteres Stück Hasenfleisch landete im Feuer.
Wir nagten das Tier bis auf die Knochen ab. Das erste Mal seit vier Tagen waren wir wirklich satt. Ich befühlte den Becher mit der Vogelmiereinfusion. Sie war jetzt lauwarm, bereit für den Einsatz.
»Du lehnst dich besser zurück. Ich werde dir das Auge damit auswaschen.«
Holmes tat wie befohlen, und ich kniete mich neben ihn. Der Stoff meines Kleides saugte den Regen vom Gras.
»Augen sind extrem temperaturempfindlich«, warnte ich. »Sag mir, wie sich das hier anfühlt.« Ich träufelte etwas Flüssigkeit auf seine Wange.
»Gut.«
Während ich mit der einen Hand die Lider auseinanderhielt, schüttete ich mit der anderen etwas Infusion in das entzündete Auge, dann auch in das andere, bis der Becher leer war. Ich wischte ihm das Gesicht mit den Handflächen ab und schnipste grüne Tropfen aus dem Viertagebart. Dann rückten wir wieder voneinander ab. »Wir müssen das noch einige Male wiederholen«, sagte ich leise.
Er wich meinem Blick aus. »Danke«, mehr sagte er nicht.
Den ganzen Tag über blieben wir von weiterem Regen verschont und waren – laut Holmes – unserem Ziel um einiges näher gekommen. Wohin genau wir gingen, interessierte mich nicht. Von Zeit zu Zeit überraschte mich dieses Desinteresse, doch Kraftlosigkeit und mangelnder Wille dämpften all diese Gedanken. Trotzdem stand ich jeden neuen Morgen auf und wanderte meilenweit hinter Holmes her. Nur um mich des Abends wieder schlafen zu legen und in grausame Träume abzutauchen, aus denen ich schweißgebadet in der Realität aufwachte, die den Albträumen kaum nachstand. Warum, wann und wie lange wir unterwegs waren, diese Fragen spielten keine Rolle für mich. Mit wenig Neugier beobachtete ich, wie sich in Holmes’ Kopf ein Plan entwickelte, dieser abwesende Ausdruck und dazu der malmende Kiefer waren mir durchaus vertraut.
Zweimal sahen wir an diesem Tag einen Bauernhof und machten einen großen Bogen darum. Später stießen wir auf einen Schäfer und seine Herde, und Holmes sprach ihn mit einem starken Akzent an, den ich kaum verstand. Ich hielt den Kopf gesenkt und grüßte den Mann mit einem Nicken.
Abends, als wir das Zelt für die Nacht aufschlugen, schien Holmes mir etwas mitteilen zu wollen, aber nicht recht zu wissen, wie er beginnen sollte. »Hm«, sagte er schließlich nur, kniff die Augen zusammen und schüttelte den Kopf.
»Du führst häufig Selbstgespräche, wenn du allein bist«, stellte ich fest.
»Weil ich es hilfreich finde, mit einem intelligenten Menschen zu reden.«
»Du bist ein einsamer, arroganter Mann.«
Für einen Augenblick erstarrte er, ignorierte mich dann und machte es sich für die erste Wache bequem.
Von mir selbst überrascht, fragte ich mich, woher die zynische Bemerkung wohl gekommen war. Es war möglicherweise die Wahrheit, aber derlei im Stillen zu denken oder es ihm ins Gesicht zu sagen, waren zwei vollkommen unterschiedliche Dinge. Nach nicht einmal einer Woche gingen wir uns bereits auf die Nerven.
Ich wickelte die Decke fester um mich: »Was würdest du tun, wenn ich nicht bei dir wäre?«
»Verschwende deine Zeit nicht mit solch nutzlosen Gedankenspielen, Anna.«
»Würdest du Moran jagen? Oder würdest du zuerst nach London zurückkehren, um Watson und deinen Bruder aufzusuchen?«
Er schwieg eine ganze Weile, vielleicht in der Hoffnung, ich würde endlich Ruhe geben und einschlafen.
»Colonel Moran ist entkommen, und ich weiß von zwei weiteren Männern, die sich der Gefangenschaft entzogen haben.«
»Was würdest du tun, wenn ich nicht bei dir wäre?«, fragte ich erneut.
»Sie finden«, sagte er.
»Und das wäre das Beste.« Endlich offen mit Holmes zu sprechen war, als würde mir eine Last von den Schultern genommen. Ihm so nahe zu sein tat weh, und das Letzte, was ich wollte, war, ein Klotz am Bein zu sein. »In der nächsten Stadt werden wir uns trennen.«
»Das werden wir mit Sicherheit nicht tun.« Er wandte mir entschieden den Rücken zu und erstickte damit jeden Protest.
»Du bist sentimental«, sagte ich.
»Geh spazieren, Anna. Deine schlechte Laune ist unerträglich.«
»Nein danke. Ich … klettere lieber auf einen Baum. Gute Nacht.« Und damit ging ich.
Was war nur los mit mir? Im einen Augenblick wollte ich mich heulend an seine Schulter lehnen und im nächsten verspürte ich das dringende Bedürfnis, ihm in die Eier zu treten.
Die Sonne hatte unsere Kleider getrocknet und uns die Müdigkeit aus den Gliedern getrieben. Holmes’ Auge war geheilt und sein Interesse an Pflanzen, die Menschen heilten, anstatt sie zu vergiften, wuchs.
Da wir unsere Vorräte verbraucht hatten, mussten wir uns von dem ernähren, was wir auf unserem Weg fanden. Am Tag pflückten wir Löwenzahn und Vogelmiere, die wir im Gehen kauten. Die Löwenzahnwurzeln gruben wir aus und kochten sie am Abend, zusammen mit der Ausbeute unserer Jagd auf Kaninchen und Fasane. Jetzt, nachdem es aufgehört hatte zu regnen, richteten sich seine Sorgen noch stärker darauf, dass man uns entdecken könnte. Die Orte, die er für unser Nachtlager aussuchte, lagen in einer Senke, wenn möglich an einem Bach. Ein Feuer war so von Weitem kaum sichtbar.
Nachdem Hunger und Kälte sich nun in Grenzen hielten, kehrten die dunklen Gedanken mit voller Wucht zurück. Ich sehnte mich danach, alleine zu sein. Vielleicht würde ich, wenn wir dort angekommen waren, wo er hinwollte, einfach verschwinden.
Mein Kopf fühlte sich taub an, der Verstand wie in Watte gepackt. Pläne zu schmieden, wie ich Holmes am besten entkommen konnte, war ermüdend. Nicht in der Lage, einen klaren Gedanken zu fassen, entschied ich, bei nächster Gelegenheit unbemerkt hinter irgendeiner Ecke zu verschwinden. Ich wusste, dass das absolut idiotisch war und ich es gar nicht erst zu versuchen brauchte. Eigentlich wollte ich aber James entkommen, James und diesem Kind.
Drei Stunden vor Einbruch der Nacht, als die Wälder eine dunkle Linie am Horizont bildeten, setzte mich Holmes davon in Kenntnis, dass wir uns nun nach Süden, Richtung Littlehampton, wenden würden.
Die Sonne hing tief über den Bäumen, als ich mich auf die Jagd machte. Holmes schien sich an der eigenartigen Verteilung der Aufgaben nicht zu stören. Während er Holz sammelte, die Revolver reinigte und ölte und die Umgebung nach einem geeigneten Lagerplatz absuchte, wagte ich mich mit der Armbrust bewaffnet hinaus in den Wald.
Ich war froh, etwas Abstand von ihm zu gewinnen, und er genoss das Alleinsein bestimmt genauso wie ich. Ich hatte den Eindruck, dass er extrem empfänglich für die leiseste Änderung meiner Stimmung war, alles an meiner Anwesenheit schien ihn zu stören. Ich wusste nicht, was ihn mehr aufbrachte: mein körperlicher Zustand oder meine Verschlossenheit.
Fasane waren zu dieser Jahreszeit leichte Beute. Die Balzsaison hatte die Hähne erschöpft, und sie setzten sich schon früh nach Sonnenuntergang auf einen Schlafast. Wenn ich sehr lange Arme gehabt hätte, hätte ich sie wie reife Birnen von den Ästen pflücken können.
Schon bald stieß ich auf einen müden Kameraden auf halber Höhe in einer Buche. Ich hob die Armbrust, zielte und drückte ab – in weniger als einer Stunde war ich wieder beim Zelt.
Dort rupfte ich die Beute und nahm sie aus. Bei Einsetzen der Dunkelheit entfachten wir ein kleines Feuer.
Holmes stocherte in den glühenden Kohlen. Ich saß ihm gegenüber und warf einen Teil des gelben Vogelfetts in die Bratpfanne. Als es das heiße Metall berührte, zischte und blubberte es heftig. Ich warf Herz und Leber hinterher. Die Organe brutzelten und schrumpften, Blut trat aus dem Fleisch aus, mischte sich mit dem ausgelassenen Fett, wurde dunkelbraun und knusprig. Ein köstlicher Duft stieg auf, der es einem schwer machte, nicht zuzugreifen und sich ein Stück zu nehmen, bevor es durch war. Während ich damit beschäftigt war, das Fleisch von den Knochen zu schneiden, wendete Holmes unsere Mahlzeit in der Pfanne.
»Köstlich«, summte er. Dann begegnete ich seinem scharfen Blick. »Du weichst jetzt lange genug aus. Es ist Zeit für eine ausführliche Unterhaltung.«
Alles in mir zog sich zusammen, aber ich nickte stumm.
»Es ist inzwischen acht Tage her, seit wir dein Cottage verlassen haben. Ich glaube nicht, dass Moran uns schon dicht auf den Fersen ist. Aber ich bin sicher, dass er mit Hochdruck nach uns fahndet. Je mehr Informationen du mir gibst, desto zuverlässiger könnte ich seinen Aufenthaltsort bestimmen und absehen, was er plant.«
»Sicher«, antwortete ich.
»Ausgezeichnet. Also, was genau ist dir und Mycroft wiederfahren, nachdem Watson und ich in Dieppe aufgebrochen sind?«
Zu meiner Überraschung spuckte mein in letzter Zeit so sprunghafter Verstand umgehend die geforderten Erinnerungen aus. »Im Zug nach Leipzig und auf der Fahrt zum Hause meines Vaters passierte nichts Erwähnenswertes. Bei unserer Ankunft wies ich den Fahrer an, uns im Wald abzusetzen, ungefähr eine halbe Meile vom Haus entfernt, eine Sicherheitsmaßnahme. Der Weg zum Haus führt bergauf, recht steil, und Mycroft fiel hinter mir zurück. Ich hatte nicht die Geduld, auf ihn zu warten, also rannte ich vorweg.«
Holmes hörte mit halb geschlossenen Augen zu und stocherte abwesend in der Pfanne.
»Der Garten machte einen ungepflegten Eindruck, als wäre Anton noch nicht zurückgekehrt«, fuhr ich fort. »Das Haus war leer, die Vorhänge zugezogen, doch als ich eintrat, bemerkte ich, wie sauber alles war, der Raum roch frisch, nirgends lag Staub. Ich vermutete erst, dass er jemanden gebeten hatte, für ihn in seiner Abwesenheit sauber zu machen, aber das wäre höchst untypisch für meinen Vater gewesen. Die zweite und wahrscheinlichste Möglichkeit war, dass er schon vor einiger Zeit zu Hause eingetroffen war und es jetzt nur kurz verlassen hatte, vielleicht um Besorgungen zu machen. An die dritte Möglichkeit wollte ich nicht denken.«
Holmes hielt mir die Pfanne und eine Gabel hin. »Danke«, sagte ich und spießte ein Stück Leber auf. Holmes wählte das Herz, lehnte sich gegen einen Baum, kaute und starrte ins Nichts. Es war, als stünde er selbst im Haus meines Vaters, sähe wie ich das spartanisch eingerichtete Zimmer im Zwielicht.
Ich ließ mir Zeit mit dem Essen, sammelte mich, bevor ich weitersprach. »Ich habe den Mann erst bemerkt, als er mich ansprach.« Zum ersten Mal an diesem Abend sahen wir uns direkt an. Ich wich ihm nicht mehr aus. »Er sagte, ich fände meinen Vater in der Kirche. Er sagte, er würde nicht in geweihter Erde bestattet, da er sich selbst das Leben genommen hätte.«
Ich schluckte. »Ich sprach mit dem Mörder meines Vaters. Er hat ihn vergiftet und es wie Selbstmord aussehen lassen. Ich fragte ihn, wie er mich umzubringen gedenke. Er würde es langsam tun, antwortete er, aber nicht sofort. James habe seinen Männern verboten, mir etwas anzutun. Mir sei es erlaubt, sein Kind zu gebären. Drei Jahre später würden sie kommen, sie würden mich finden – uns finden.«
»Faszinierend«, hörte ich ihn murmeln.
»Da war noch mehr. Er behauptete, dass James uns eine Falle gestellt hätte. Dass der Plan von Anfang an lautete, dich und mich zu trennen. Als er das Haus dann verlassen wollte, rannte er Mycroft direkt in die Arme. Sie kämpften. Mycroft erschoss ihn. Was sie nicht einkalkuliert hatten, war, dass keiner von uns alleine reiste. Du hattest Watson, ich deinen Bruder.«
Holmes nickte. »Womit hat er deinen Vater ermordet?«
Ich antwortete nicht.
»Du hast ihn nicht untersucht?« Seine Stimme fuhr mir wie ein Messer ins Fleisch.
Ich wandte mich ab, die Stimme wie Eis: »Ich ging in die Kirche, um meinen Vater zu sehen. Ich berührte seine Haut, untersuchte seine Augen, roch an seinem Gesicht, leckte sogar an seinen Lippen, ich fand nichts, keine Rückstände. Dann habe ich mich neben ihn gelegt, um seinen Tod zu betrauern und ein wenig meiner Wärme mit ihm zu teilen. Es spielte keine Rolle, dass er bereits nach Verwesung roch, dass er so kalt und steif war wie der Boden, auf dem er lag. Es spielte keine Rolle, welches Gift benutzt worden war. Er war tot, ermordet. Egal, wie genau ich die Leiche meines Vaters untersucht hätte, es hätte ihn mir nicht zurückgebracht.«
Holmes räusperte sich. »Ich frage lediglich, weil ich ausschließen will, dass die identische Mixtur verwendet wurde, mit der du Moriarty getötet hast. Das hätte nach einem deutlich komplexeren Schema geklungen, als ich vermutet hatte.«
»Belladonna kann ich ausschließen; seine Pupillen waren nicht geweitet. Bei einer Überdosis Arsen wären seine Fingerspitzen geschwärzt gewesen, oder es wären Verfärbungen an Mund, Augen und Händen aufgetreten. Keines dieser Symptome konnte ich feststellen.«
»Danke«, sagte er, senkte das Kinn und faltete die Hände, wobei die Zeigefinger aneinandertippten. »Wir können davon ausgehen, dass Moriarty argwöhnte, du könntest ihn eines Tages vergiften –«
»Er hat es mir gesagt, er hatte immer den Wein in Verdacht«, unterbrach ich ihn.
»Aber offensichtlich wusste er nicht, welches Gift du benutzen würdest. Er hatte den Flakon nicht entdeckt. Lass uns noch mal darauf zurückkommen, was der Mörder deines Vaters sagte. Dass Moriarty seinen Männern verboten hat, dir etwas anzutun, ist ziemlich interessant, findest du nicht?«
Da ich James kannte, die Spielchen, die er gespielt hatte, war ich nicht sicher, ob seine Aussagen überhaupt auf irgendetwas hindeuteten. All diese Lügen, die einander verschleierten, Schicht auf Schicht. Ich spießte ein Stück Fleisch auf, kaute, ging verschiedene Szenarien durch.
»Als James seine geschwärzten Fingerkuppen sah, muss er gewusst haben, welches Gift ich benutzt habe und dass das Arsen ihn umbringen würde. So wie ich ihn einschätze, hätte er gewollt, dass ich als seine Mörderin so lange wie möglich leide. Was die Sache für ihn verkompliziert haben könnte, ist, dass die Mörderin gleichzeitig die Mutter seines ungeborenen Kindes ist. Er musste einen Kompromiss eingehen, wenn er wollte, dass sein Kind am Leben bleibt. Aber warum mir drei Jahre geben, um es aufzuziehen, das ist doch unnötig. Warum es mir nicht gleich nach der Geburt wegnehmen und mich dann töten? Es bräuchte nur eine vertrauenswürdige Amme.«
»Hm …« Holmes legte die Stirn in Falten. »Wenn ich ein kleines Kind entführen wollte, wann wäre dann der beste Zeitpunkt? Wenn ich eine Bande Rohlinge dafür bezahlte, würde ich sicherstellen, dass das Kind alt genug ist, um eine hastige und möglicherweise lange Reise unter rauen Bedingungen zu überstehen.«
»Das könnte die drei Jahre Gnadenfrist erklären«, stimmte ich zu.
»Und wenn das Kind gar nicht das ist, worauf er es abgesehen hatte?«, sinnierte er.
»Warum sollte …« Ich driftete ab, meine Gedanken rasten, sammelten Stücke auf und bauten das Bild um. »Angenommen, das ungeborene Kind war ihm gleichgültig, was durchaus plausibel ist, wäre das Ultimatum nur dazu da, mich zu quälen. Er gestattet mir, es zur Welt zu bringen, es zu lieben und drei Jahre in Angst zu leben, nur um es mir dann wegzunehmen und mir den ultimativen Schmerz zuzufügen: den Tod meines eigenen Kindes.«
»Exakt! Wir müssen uns für beide Möglichkeiten wappnen.« Mit diesen Worten holte er seinen Tabakbeutel heraus und drehte sich eine Zigarette. Ich hatte schon lange die Lust am Rauchen verloren.
»Ich kann nicht glauben, dass er erwartet hat, ich würde sein Kind wirklich lieben. Aber andererseits …«
»Ja?«, sagte Holmes. Geschickt drehte er den Tabak in ein Papier. Er hielt ein Stück Zunder hoch, sog an der Zigarette und entzündete sie.
»Ich glaube, James wollte sein Kind. Es gab Anzeichen dafür. Er war ungehalten, als ich versuchte, es abzutreiben. Er schien … verletzt.«
Mit gerunzelter Stirn sog er an der Zigarette. Bestimmt vermisste er seine Pfeife. Der flackernde Blick hinter Tabakrauch, die zusammengepressten Lippen, die verhärteten Gesichtszüge, alles an ihm war in ständiger Bewegung. Er war tief in Gedanken versunken.
Nach einer ganzen Weile drückte er die Zigarette im Gras aus. »Was du brauchst, ist eine Fehlgeburt.«
»Ich hätte schon viel früher eine gebraucht. Aber jetzt gerade passt es mir auch.«
»Das ist natürlich nicht, was ich meine.«
»Aber das ist, was ich meine«, sagte ich.
Er schloss die Augen und lehnte sich zurück.
Eine Fehlgeburt … Ich dachte an Moran, der uns möglicherweise verfolgte. Wenn ich eine Fehlgeburt hätte und er davon erführe, würde ihn das nicht von unserer Spur ablenken, im Gegenteil. Dass James seinen Männern befohlen hatte, mir nichts anzutun, bis sein Kind drei Jahre alt wäre, hielte Moran nicht davon ab, Holmes zu jagen.
»Wir müssen schnellstmöglich Moriartys Prokuratoren aufsuchen«, sagte er. »Als Moriartys Witwe und zukünftige Mutter seines Kindes steht dir ein Anteil seines Besitzes zu. Wir sollten außerdem in die Wege leiten, alle seine Vermögenswerte auf einen Treuhandfonds zugunsten seines zukünftigen Erben zu transferieren, so könnten wir Moriartys Netzwerk sämtliche finanzielle Unterstützung entziehen. Das wird mit Sicherheit ihren Eifer erheblich dämpfen.«
»Bist du sicher, dass du Watson nicht mitteilen willst, dass du am Leben bist und es dir gut geht?«, fragte ich.
Sein Gesicht verdunkelte sich. Offensichtlich wollte er das Thema nicht noch einmal diskutieren. »Ja.«
Ich schaute ihn schräg an, hakte aber nicht weiter nach. Es war seine Entscheidung, und mit Sicherheit war es keine leichte.
»Was ist mit Mycroft?«
»Er ist eingeweiht. Ich habe ihm auf dem Weg von Meiringen nach London ein Telegramm geschickt. Und ich habe vor, ihn schon bald erneut zu kontaktieren. Wir werden seine Hilfe brauchen.« Er warf mir einen prüfenden Blick zu: »Und du glaubst nicht, dass es machbar ist? Eine vorgetäuschte Fehlgeburt?«
»Nein.« Ich unterzog meine Hände einer eingehenden Inspektion. »Ich müsste meinen Bauch vor Moran verstecken und gleichzeitig James’ Prokuratoren davon überzeugen, dass ich schwanger bin. Nur ein Telegramm an Moran oder an James’ Familie, und wir würden sofort auffliegen.«
»Es ist tatsächlich ein Risiko. Aber ich glaube, ich kann es zu unserem Vorteil nutzen.«
»Und wie?«
»Zu viele Möglichkeiten im Moment«, sagte er und zupfte an einigen Stückchen Laub, die an seinem Schuh hingen. »Das Wichtigste ist, Moran glauben zu lassen, das Kind sei noch vor der Geburt gestorben. Er wird den anderen diese traurige Nachricht überbringen, und sowie er davon erfahren hat, dass du dein Erbe erhalten hast und Moriartys gesamtes Geld in einem Treuhandfonds gelandet ist, muss er versuchen, die Prokuratoren von dem Tod des Kindes zu überzeugen. Moran weiß, dass er ohne Moriartys Geld ein Nichts ist. Wir müssen es so einrichten, dass niemand ihm glaubt. Wir müssen seinen Ruf ruinieren. Aber noch wichtiger ist es, seine Komplizen zu identifizieren. Und dabei kann uns der gute Colonel helfen.« Holmes grinste.
Ich nickte nur und versuchte, mich auf dieses neue Ziel zu konzentrieren. »Es sollte relativ einfach sein, an eine Totgeburt aus einem Krankenhaus in London zu kommen. Mycroft könnte sich darum kümmern.«
Holmes zog eine Augenbraue hoch, Sarkasmus lag in seiner Stimme. »Ich bin sicher, er wird entzückt sein.«
»Denkst du manchmal darüber nach, dass andere Menschen dich für herzlos halten könnten?«, fragte ich.
»Es ist Zeitverschwendung, darüber nachzudenken, was andere Menschen denken könnten. Man muss sich die Leute nur ansehen. Eine Meinung hier, eine andere dort, und nur selten basieren sie auf Fakten. Das Herz ist ein Ding, das schlägt und Blut ins Gehirn pumpt. Ganz offensichtlich habe ich beides – Herz und Hirn.«
»Ich weiß, dass du beides hast«, sagte ich leise.
»Ich muss dich enttäuschen, Anna. Ich vermeide Emotionen, wo immer es geht. Für mich stellen sie eine inakzeptable Ablenkung dar. Ich bin ein Intellektueller. Der Rest sind Körperfunktionen.« Er lehnte sich zurück und steckte sich noch eine Selbstgedrehte an.
»Blödsinn!«
Zigarettenrauch schoss ihm aus den Nasenlöchern. Die grauen Augen blitzten amüsiert.
»Ich kann es beweisen«, sagte ich.
»Eine Kampfansage? Sehr schön.« Er setzte sich auf, gespannt bis in die letzte Faser.
Ich ging zu ihm hinüber und kniete mich vor ihm ins Gras, das Gesicht dicht vor seinem. »Kokain.«
Seine Pupillen weiteten sich, als spüre er das Rauschmittel durch seine Adern fließen. »Ich habe die Einstichnarben auf deinen Unterarmen gesehen, Holmes. Offensichtlich bist du beidhändig veranlagt, wirklich beeindruckend. Sich Kokainlösung mit der linken Hand zu injizieren ist eine echte Kunst.« Ich griff nach seinem rechten Handgelenk, knöpfte die Manschette auf und schob sie hoch. Er erstarrte. Langsam fuhr ich mit dem Zeigefinger die bleiche Haut entlang und zählte die Einstichstellen. Er wand sich aus meinem Griff.
»Darf ich daraus schließen, dass deine emotionale Landschaft, sagen wir, eher komplex ist? Genau genommen derart komplex, dass dein Verstand sie unter Kontrolle halten muss. Du bis ein äußerst kontrollierter Mann, Holmes. Aber ich frage mich, wie du warst, bevor du die volle Kontrolle übernommen hast. Vielleicht war das zu der Zeit, als du so oft Kokain gespritzt hast, dass deine Unterarme vernarbten? Das hier sind alte Einstiche. Du scheinst es nicht länger zu brauchen. Oder sollte ich sagen: Du brauchst es, kontrollierst dieses Bedürfnis aber?«
Sein Gesicht war zur Maske erstarrt. Einzig seine Augen verrieten den inneren Aufruhr.
»Du lässt andere glauben, du seist nicht zu Gefühlen fähig. Das passt wunderbar zu deiner Maske. Aber ich glaube dir nicht. Kokain ist nur ein Beispiel. Du hast es genommen, weil du es brauchtest. Die Droge löst eine sehr starke Emotion aus, nicht wahr? Wenn sie erst einmal in den Blutkreislauf gelangt ist, fühlt man intensiven Genuss und sehr wahrscheinlich auch sexuelle Erregung. Man spürt eine Welle der Erfüllung, es ist, als sei man besser und intelligenter als alle anderen. Du hast das ständige Bedürfnis, der Beste zu sein, und diese Emotion hat dich fest im Griff.«
Hitze stieg an seinem Hals auf. »Interessante Beobachtung«, krächzte er. »Aber du lässt die Tatsache außer Acht, dass nur mein Geist nach Stimulation verlangt. Liegt kein Fall vor, muss ich meine geistigen Fähigkeiten mit Kokain beleben. Ansonsten –«
»Die andere Emotion«, schnitt ich ihm das Wort ab, »die dich zu kontrollieren scheint, ist die Angst vor mir.« Ich rückte weg von ihm und näher ans Feuer. Seine Pupillen waren geweitet; er saß völlig regungslos da. »Nicht zu vergessen, Neugier und Leidenschaft – die beiden treibenden Kräfte jedes brillanten Wissenschaftlers.«
Sein Unterkiefer malmte.
»Ich werde nicht weiter mit dir über Gefühle reden, es bringt dich zu sehr aus der Fassung«, sagte ich.
»Im Gegenteil. Es könnte mir nicht gleichgültiger sein.« Er stand auf, trat den Zigarettenstummel aus und verschwand in die Dunkelheit.
Wir standen auf einem Hügel. Das Moor breitete sich vor uns aus, weit und weich und grün, darunter heimtückischer Schlamm. Das Meer lag gute acht bis zehn Meilen weiter südlich, doch ich konnte das Salz schon förmlich riechen.
»Ich gehe voran«, sagte ich.
»Nein. Du hältst dich hinter mir.«
»Ich bin leichter, trage mein Gepäck auf dem Rücken, wodurch ich besser das Gleichgewicht halten kann, und ich weiß, wie man sich in sumpfigen Gegenden bewegt. Wenn du vor mir gehst, noch dazu mit der großen Tasche über deiner Schulter, versperrst du mir die Sicht.« Ich schob mich an ihm vorbei und wanderte hügelabwärts direkt hinein ins Moor, einen Ort, den die meisten Menschen meiden wie der Teufel das Weihwasser.
Wir gingen schweigend. Holmes’ Füße gaben gelegentlich ein schmatzendes Geräusch von sich, er setzte sie nicht immer dorthin, wo ich meine Spuren hinterließ.
Ich lauschte dem Gesang der Vögel, sie trällerten Lieder für ihre Partner, die wahrscheinlich auf der Brut hockten, aufgeplustert und mit halb geschlossenen Augen. Spürten sie, wie die Küken sich unter der harten Schale bewegten und mit den Flügelstummeln an der Innenseite kratzten? Mein Kind schien gerade zu schlafen. Wie würde es sich anfühlen, wenn es so groß geworden war, dass ich kaum noch [36]meine Füße sähe? Wenn sein Kopf sich gegen den Muttermund senken würde und die tretenden Füße –