Der Jungfrauenstein - Michael Mortimer - E-Book

Der Jungfrauenstein E-Book

Michael Mortimer

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Beschreibung

Im Jahr 1769 macht Daniel Solander, ein Schüler des Naturkundlers Linné, auf Neuseeland eine außergewöhnliche Entdeckung: er findet einen Stein, der über ungeheure Kräfte verfügt. Mehr als 200 Jahre später erhält die junge Studentin Ida einen mysteriösen Anruf von ihrer Großmutter Alma, die in Moskau als Wissenschaftlerin tätig ist. Sie soll vom Nobelpreisträger Anatolij Lobov beim feierlichen Bankett ein Kästchen in Empfang nehmen. Kaum hält Ida die Box in Händen, stirbt Lobov unter seltsamen Umständen vor ihren Augen. Bald darauf wird Ida von der schwedischen Polizei gesucht. Doch was befindet sich in dem Kästchen, dass Menschen bereit sind, dafür über Leichen zu gehen?

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Zum Buch

Im Jahr 1769 macht Daniel Solander, ein Schüler des Naturkundlers Linné, auf Neuseeland eine außergewöhnliche Entdeckung: Er findet einen Stein, der über ungeheure Kräfte verfügt. Mehr als 200 Jahre später erhält die junge Studentin Ida einen mysteriösen Anruf von ihrer Großmutter Alma, die in Moskau als Wissenschaftlerin tätig ist. Sie soll vom Nobelpreisträger Anatolij Lobow beim feierlichen Bankett ein Kästchen in Empfang nehmen. Kaum hält Ida die Box in Händen, stirbt Lobov unter seltsamen Umständen vor ihren Augen. Bald darauf wird Ida nicht nur von der schwedischen Polizei gesucht. Doch was befindet sich in dem Kästchen, dass Menschen bereit sind, dafür über Leichen zu gehen?

Zum Autor

MICHAEL MORTIMER ist das Pseudonym der beiden erfolgreichen schwedischen Autoren Daniel Sjölin und Jerker Virdborg.

DANIEL SJÖLIN, Jahrgang 1977, veröffentlichte 2002 seinen Debütroman. Im Jahr 2007 wurde er für »Världens sista roman« mit dem renommierten August-Preis ausgezeichnet. Er arbeitet auch als Literaturkritiker und war viele Jahre Moderator der literarischen TV-Sendung »Babel«.

JERKER VIRDBORG, Jahrgang 1971, veröffentlichte 2001 sein erstes Buch, einen Band mit Erzählungen, 2002 gelang ihm der Durchbruch mit seinem Roman »Svart krabba«. Neben seiner Arbeit als Schriftsteller ist Virdborg auch als Kulturjournalist tätig. Bei btb erschien 2010 sein Roman »Felsland«.

MICHAEL MORTIMER

DER JUNGFRAUENSTEIN

RomanAus dem Schwedischenvon Susanne Dahmann

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.Der Verlag weist ausdrücklich darauf hin, dass im Text enthaltene externe Links vom Verlag nur bis zum Zeitpunkt der Buchveröffentlichung eingesehen werden konnten. Auf spätere Veränderungen hat der Verlag keinerlei Einfluss. Eine Haftung des Verlags ist daher ausgeschlossen.

Die Originalausgabe erschien 2013 unter dem Titel »Jungfrustenen« bei Norstedts, Stockholm.

Dieses Buch ist E.S.E.P.I.A. gewidmet.

1. Auflage

Deutsche Erstausgabe Juli 2016,

btb Verlag in der Verlagsgruppe Random House GmbH,

Neumarkter Str. 28, 81673 München

Copyright © 2013 by Michael Mortimer.

Published by agreement with Norstedts Agency

Umschlaggestaltung: semper smile, München

Umschlagmotiv: © Claire Walsh/Arcangel Images

Satz: Uhl + Massopust, Aalen

MK · Herstellung: sc

ISBN 978-3-641-16024-1V001www.btb-verlag.de

www.facebook.com/btbverlag

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Aber so wie der Mensch ein Teil der Natur ist, so ist sein Krieg gegen die Natur ohne Frage ein Krieg gegen sich selbst.

Rachel Carson

Die Wölfe werden bei den Lämmern wohnen und die Parder bei den Böcken liegen. Ein kleiner Knabe wird Kälber und junge Löwen und Mastvieh miteinander treiben.

Jesaja 11,6

Zwischen dem Humanismus und dem Erhalten der Natur flammt der Blitz der Gegensätzlichkeit auf. Der Fluch unserer Zeit ist es, dass niemand wagt, sein Licht zu schauen.

Oleg Kusnetsow, The Posthuman Era

Prolog

Zum Glück schien niemand sie zu bemerken. Sie standen ganz allein oben auf einer der Galerien in der Blauen Halle und sahen auf die übrigen Nobelpreisgäste hinab. Die Ordnung, die bis gerade eben in den Tischreihen unter ihnen geherrscht hatte, war aufgehoben, seit der Dessertgang beendet worden war. Mit dem König und seiner Tischdame an der Spitze schritten sämtliche Gäste des Ehrentischs bedächtig die Treppe hinauf zum Goldenen Saal. Auf die Kolonne aus Preisträgern, Ministern und anderen Würdenträgern folgte eine schwer überschaubare Menge aus Gästen in Fräcken und bunten, paillettenbesetzten Kleidern. Augenblicklich verstopfte die Schlange die Marmortreppe, die in den zweiten Stock hinaufführte. Zur Unterhaltung beim Schlangestehen wurde fast schon tanzbare Jazzmusik gespielt. Währenddessen wurden bewegte Laserbilder auf die Backsteinwände projiziert – Blumenstängel, Baumstämme und Blattadern –, und die kreisenden Projektionen wölbten sich höher und immer höher hinauf und näherten sich dem Geländer der Galerie.

Lobow zog etwas aus der Tasche – eine Plastiktüte, in der sich etwas Viereckiges befand, ein grünes Kästchen mit einem Messingverschluss, das Ida zunächst an eine jener Pappschachteln erinnerte, in denen früher Zirkel aufbewahrt worden waren. Allerdings war dies hier breiter und dicker und sah irgendwie selbst gebastelt aus.

»Was ist das?«

»Psst!«

Er sah sich um und begann dann wieder zu sprechen – Englisch mit russischem Akzent: »Es ist das Beste für Sie, wenn Sie nichts wissen. Bringen Sie dieses Kästchen in Sicherheit, bis Sie aufgefordert werden, es mir wiederzugeben. Das wird vermutlich in zwei Tagen der Fall sein.«

Sie nahm das Kästchen entgegen. Es war unerwartet schwer. Was hatte ihre Großmutter am Morgen gleich wieder gesagt? Dass es auf keinen Fall geöffnet werden durfte.

»Was ist denn da drin?«, erkundigte sie sich nichtsdestoweniger.

Lobow blickte ernst drein.

»Das dürfen Sie nicht sehen.«

»Aber irgendetwas muss ich doch erfahren dürfen … Es ist doch etwa nicht … gefährlich?«

Er sah sie nachdenklich an, als täte sie ihm leid. Seine Augen waren vom Wein ein wenig glasig. Er schien sich in ihrem Blick zu verlieren.

»Das ist jetzt wahrscheinlich nicht klug von mir«, begann er, »aber werfen Sie einen winzigen Blick hinein. Nur um Ihrer schönen Augen willen, Ida. Und wenn Sie versprechen, niemals mit irgendjemandem darüber zu reden.«

»Ehrenwort.«

»Sie müssen wissen: Der Inhalt dieser Schachtel ist bar jeder Beschreibung.«

Wovon in aller Welt redet dieser Mann?, dachte sie.

Vorsichtig fummelte Lobow an dem Kästchen, als bestünde es aus einem besonders empfindlichen Material. Dann nahm er es in beide Hände und atmete konzentriert ein und wieder aus.

»Sie dürfen nur ein paar Sekunden hinsehen. Sind Sie bereit?«

Sie nickte und spürte, wie ihr Herz auf einmal schneller schlug. Von den Gästen unten im Tanzsaal klang vereinzelt Applaus herauf, und aus den Augenwinkeln konnte sie erkennen, dass die Laserprojektionen unter ihnen zusehends näher krochen – die Blumenstängel und Blätter hatten sich in Schneeflocken und kristalline Muster verwandelt, das Licht wurde von der Decke reflektiert und begann allmählich zu blenden. Im selben Augenblick öffnete Lobow den zierlichen Messingverschluss und zog den Deckel auf.

Sie wollte eben einen Blick in das Kästchen werfen, als sie beide plötzlich von einem intensiven Licht angestrahlt wurden. Lobow zuckte zusammen – die Laserprojektionen waren über den Rand der Balustrade gekrabbelt und hatten sie erfasst. Im nächsten Moment entwich dem Kästchen ein harter, konzentrierter grüner Lichtstrahl, und alles um sie herum erschien für einen Augenblick unangenehm, ja unerträglich gleißend, als würden sie sich im Epizentrum einer vollkommen lautlosen Lichtexplosion befinden. Sie schaffte es nicht zu denken, schaffte es nicht einmal, schützend den Arm vor ihr Gesicht zu heben.

Was ist hier los?

Woher kommt dieses Licht?

Aus seinem Kopf?

Die Lichtexplosion mochte eine oder vielleicht auch nur eine halbe Sekunde angedauert haben, doch für sie hatte es sich angefühlt wie ein über die Maßen lang gedehnter Augenblick. Als das Gleißende wieder abnahm, sah sie, dass Lobow zu ihren Füßen kauerte. Er hielt immer noch das Kästchen in der Hand, hatte aber das Gesicht davon abgewandt.

Auf den Wänden um sie herum waren Farben, überall Farben. Erst dachte sie, es wäre wieder diese Laserprojektion – doch dann erkannte sie, dass die Muster unendlich viel schärfer waren als die des Lasers: Sie glichen Sinuswellen, Fraktalen und seltsamen Schriftzeichen, und all das schien von dem Kästchen auszugehen. Sie konnte immer noch nicht erkennen, was darin lag, sah nur das gebündelte Licht, das daraus hervorstrahlte. Als ein weiterer Laserstrahl das Kästchen traf, entfuhr ihm ein pulsierender Blitz, der zu glühen schien – und da erst bemerkte sie, dass Lobow am ganzen Leib zitterte und vor Schmerzen laut aufstöhnte.

Wieder wurde sie geblendet, dann verschwand das Licht abrupt, als das Kästchen wieder zuschlug. Es war ihr nicht gelungen zu sehen, was darin gelegen hatte. Lobow presste sich die Hand auf die Augen. Aus dem Goldenen Saal hallte weit entfernter Applaus zu ihnen herüber.

Gott, nein, dachte sie, was passiert hier gerade?

Lobows Körper kippte kaum merklich nach hinten, und da sah sie es – seine Brille war auf der Innenseite voller …

… Blut?

Sie blinzelte wieder und wieder und konnte es schließlich deutlich sehen: Hinter den Brillengläsern schien ein mächtiger Blutstrom zu fließen. Aus den Augenhöhlen …

Als wären die Augen … explodiert?!

Sie wollte etwas rufen, bekam aber keinen Ton heraus, konnte kaum atmen.

Schwankend versuchte Lobow, sich aufzurappeln, schaffte es halb, sie streckte die Arme aus, dann fiel er – ganz langsam, und doch konnte sie ihn nicht packen –, er fiel nach hinten und schlug mit dem Kopf gegen ein Scheinwerferstativ, das daraufhin umfiel und schwer auf seinen ausgestreckten Körper krachte, während er selbst mit der linken Schläfe hart auf den Marmorboden aufschlug.

Sie riss die Augen auf und schlug die Hand vor den Mund, musste einen überwältigenden Brechreiz unterdrücken.

Was war hier los?

Sie wollte ihren Augen nicht trauen. Sein Körper lag jetzt stocksteif da, er rührte sich nicht mehr.

Er sieht aus, als wäre er …

Als sie neben ihm in die Hocke ging, stürzte ein Techniker mit Pferdeschwanz auf sie zu.

»Was zum Teufel macht ihr hier oben?«, brüllte er und sah erst nur das Scheinwerferstativ.

Dann entdeckte er Lobow – und verstummte augenblicklich.

»Arzt«, stieß sie hervor. »Einen Arzt …«

Der Typ machte auf dem Absatz kehrt und rannte los. Sie selbst saß lediglich da und starrte Lobow an, wagte nicht, ihn zu berühren, sondern flüsterte bloß immer wieder: »Einen Arzt … Arzt …«

Da hörte sie es.

Lobow stöhnte.

Er lebt!

»Nicht die Polizei«, stöhnte er, und Blut sickerte aus seinem Mundwinkel. »Was immer Sie tun … geben Sie das Kästchen Ihrer Großmutter, nicht der Polizei … Sagen Sie ihr, dass ich sie liebe … Versprechen Sie mir … nichts der Polizei geben …«

»Ich verspreche es«, flüsterte Ida.

»Sagen Sie Alma, dass ich sie liebe, dass ich sie immer geliebt habe …«

Er sprach wie durch dichten Nebel. Unwillkürlich nahm sie seine Hand fest in beide Hände.

Im selben Moment schien sein Körper sich zu entspannen, und ein Gurgeln stieg aus den Tiefen seiner Kehle empor.

Aus dem Treppenhaus in ihrem Rücken hörte sie aufgeregte Stimmen und herbeieilende Schritte.

Nein, nein, nein …

1.

Piep!

Piep!

Piep!

Oh Mann, konnte das nicht mal aufhören?

In Ida Nordlunds sechzehn Quadratmeter großem Zimmer auf dem Studentbacken im Stockholmer Stadtteil Gärdet hatte der Handywecker soeben seine Arbeit aufgenommen. Vor dem Fenster lauerte ein pechschwarzer schwedischer Dezembermorgen. Ohne die Augen aufzuschlagen, streckte sie verschlafen die Hand aus, tastete das kalte Fensterbrett über dem Bett ab und brachte schließlich mit dem Daumen das Telefon zum Schweigen.

Sie blieb im Grenzland zwischen Wachen und Dämmern liegen.

Es kann unmöglich schon halb acht sein, dachte sie. Sonst wäre ich doch nicht dermaßen müde … Warum habe ich den Wecker überhaupt so früh gestellt? Was für ein Tag ist heute? Mittwoch?

Nein, Dienstag. Na, dann ist ja gut. Um zehn Uhr Biochemie, und dann … nichts mehr. Abgesehen vom Prüfungskolloquium.

Als hätte sie je nicht für eine Prüfung gebüffelt.

Nein, die Weckzeit musste noch von gestern Morgen stammen. Jetzt schlaf ich erst mal noch eine Runde.

Locker bleiben. Heute stand nichts Besonderes an. Vielleicht eine leichte Trainingsrunde im Studenten-Fitnessstudio. Ich sollte mehr trainieren, damit ich nicht so mager aussehe. Und dann vielleicht einen Kaffee mit … Tja, mit jemandem aus dem Kurs.

Aber mit wem?

Oder ich könnte mich jetzt langsam mal zusammenreißen und die Wohnheimküche mit dem siffigen Boden und den vielen ungespülten Tellern aufsuchen, Cornflakes mit Dickmilch essen … fantastisch.

Andererseits: Er steht ja gerne mal früh auf. David. Mit dem schönen lockigen Haar, der immer so fröhlich und nett wirkt. Mit seinen weißen Zähnen. Ist er nicht dienstags auch immer früh wach? Oder war das mittwochs? Vielleicht sollte ich ihn wirklich fragen, dachte sie, ob er nicht Lust hätte, kommende Woche mit zu dieser Weihnachtsfeier zu gehen.

Wie oft haben wir denn überhaupt schon miteinander geredet? Höchstens ein paarmal, seit er im September eingezogen ist. Die meiste Zeit habe ich dagesessen und verstohlen beobachtet, wie er seine Nudeln kochte, während ich meine aß.

Sie drehte sich halb im Bett um und fragte sich kurz, wie lange sie selbst jetzt schon hier wohnte, auf diesem heruntergekommenen Flur – waren es schon zweieinhalb Jahre oder doch weniger? Sie erinnerte sich noch daran, wie sie an einem heißen Augusttag hier eingezogen war und zusammen mit Lasse Bananenkartons die Treppe heraufgeschleppt hatte. Und wie er sie dann väterlich unten in Östermalm zu einer Quattro Stagioni eingeladen hatte. Östermalm, mitten in der Hauptstadt – und sie war dabei, sie, die kleine Ida aus Jämtland.

So eine begabte Schülerin, die sollte unbedingt nach Stockholm gehen. Das hatte sie sich während der gesamten Schulzeit anhören müssen. Aber trotzdem – Gärdet und Östermalm, das war schon was!

Und wie dann Lasse in seinem alten Volvo wieder heim nach Östersund gefahren war. Und wie einsam sie sich die erste Zeit gefühlt, sich dann aber allmählich an das Stockholmer Tempo gewöhnt und begriffen hatte, dass die Leute hier auch nicht wesentlich anders tickten als daheim in Jämtland. Es gab von ihnen einfach nur viel mehr. Trotzdem hatte sie ständig Angst, sich zu blamieren. Dieser Stress in der U-Bahn, die Furcht, das Gesicht zu verlieren, versehentlich auf der Rolltreppe links zu stehen und auf diese Weise allen zu offenbaren, dass man in Wahrheit ein Landei war – gerade so, als würden Haltung oder Kleidung einen verraten.

Zum Glück ging diese Phase schnell vorbei, die Kanten schliffen sich ab, und irgendwann war man plötzlich selbst Teil des Stockholmerischen, des Distanzierten und Desinteressierten, man passte sich der Geschwindigkeit an, tauschte die gleichen flüchtigen Blicke aus, benutzte die gleiche zurückhaltende Sprache und wurde kühl, höflich, abweisend.

Doch wenn man wollte, konnte man sich in die Natur zurückziehen. Hagapark, Lill-Jansskogen, Djurgården oder Järvafältet – das alles brauchte man sich einfach nur zu nehmen.

Und dann das Studium am Karolinska Institutet. Ja, das ist tatsächlich wie für mich gemacht. Allerdings ist es jetzt, nachdem Marina die Reißleine gezogen hat, nicht mehr annähernd so unterhaltsam. Wir beide waren die Einzigen dort, die ein bisschen anders waren, die nicht richtig zu den übrigen Seminarteilnehmern passten – und gerade deshalb umso mehr dort hinpassten. Wir waren Teil des Studiengangs … aber nur, solange wir zusammen waren.

Jetzt sitze ich in den Pausen meist allein herum, dachte sie und rollte sich unter der Decke zusammen, bis das Nachthemd im Nacken spannte. Und bin zum Mauerblümchen geworden, das sich kaum mehr zu Wort meldet. Nicht mal während der Kneipenabende der Studentenvereinigung, wenn ich ein, zwei Bier getrunken habe. Das Biomäuschen aus Norrland. Biophysik – das ist beim besten Willen nichts, womit man in den schicken Nachtclubs am Stureplan angeben könnte, wenn man sich dort jemals hintraute.

Nein, jetzt bin ich nur noch eines dieser stillen, langweiligen, schüchternen Mädchen.

Ganz anders als er – David. Wenn er jetzt hier läge und man sich einfach nur ganz fest umarmte …

Und sanft glitt sie wieder in den Schlaf.

Piep!

Piep!

Mit einem Ruck war sie wieder wach. Was war bloß mit diesem verdammten Wecker los?

Schlagartig wurde ihr klar: Das war gar nicht der Wecker. Es war ein Anruf. Auf dem Fensterbrett leuchtete das Telefondisplay und spiegelte sich in der Fensterscheibe.

Irgendjemand rief sie an.

Sie hatte schon fast vergessen, wie das klang.

Der Anruf kam aus dem Ausland, Landesvorwahl 007, gefolgt von einer langen Ziffernfolge. Erst wollte sie nicht einmal rangehen.

Bestimmt hatte sich jemand verwählt.

Aber aus dem Ausland?

Dann fiel es ihr wie Schuppen von den Augen.

Landesvorwahl 007 … Das konnte doch wohl nur sie sein, oder nicht?

Richtig. Als sie auf die Gesprächstaste drückte und ihren Namen nannte, vernahm sie die unverkennbare alte Frauenstimme. Und obwohl der Radiowecker 06:18 anzeigte, war sie auf einen Schlag hellwach.

»Ida, wie geht es dir?« Almas Stimme klang fröhlich und erwartungsvoll.

»Oma! Wo steckst du?«

»Entschuldige, dass ich dich nicht schon früher angerufen habe. Ich bin mal wieder in Moskau.«

»In Moskau? Warum hast du dich denn nicht gemeldet?«

»Es war so viel los … so viele Sachen auf einmal«, erwiderte Alma, und in ihrer Stimme schwang plötzlich ein Unterton mit, der Ida fremd war.

Sie klang angespannt.

»Wann kommst du wieder heim?«

»Das weiß ich nicht. Ich muss wohl noch eine Weile hierbleiben, hab ein paar Sachen zu erledigen. Es geht um …«

»… die Forschung?«

»Ja.«

Immer diese Forschung, dachte Ida. Was immer es war – nie war für etwas anderes Zeit.

»Ich brauche deine Hilfe«, sagte Alma dann, und da war er wieder, dieser seltsame Tonfall.

Aha, da kann man also plötzlich doch von sich hören lassen, wenn man Hilfe braucht. Und dann auch noch um diese Uhrzeit!

»Es geht eigentlich eher um eine Vorsichtsmaßnahme, aber trotzdem … Wir brauchen Hilfe.«

»Wer ist denn ›wir‹?«

»Ich. Und ein guter Freund von mir. Mit dem ich … hier zusammenarbeite … er …«

»Du arbeitest mit einem anderen Forscher zusammen?«

»Ja.«

Wieder änderte sich der Tonfall. Klang sie etwa verlegen?

»Habt ihr was miteinander oder was?«

Alma lachte kurz auf. »Vielleicht.« Dann wurde sie wieder ernst. »Wir brauchen deine Hilfe, Ida. Und zwar noch heute. Ich hoffe, du hast Zeit.«

»Oh. Aha. Ja …«

»Gut. Aber zuallererst speicher dir diese Telefonnummer ab, damit du mich später noch mal anrufen kannst, wenn nötig.«

»Ich hab sie auf dem Display.«

»Sicher?«

»Ja.« Sicherheitshalber starrte Ida noch mal auf die Nummer hinab. Leicht zu merken, dachte sie. Fast ein Palindrom: 007-98414897. »Was ist denn nun so superwichtig, dass ihr mich dringend braucht?«, fragte sie dann fast scherzhaft. Als sie hinüber zum Schreibtisch starrte, auf dem Examensliteratur und Seminarskripte in einem großen Haufen lagen, fühlte sie sich schon ein bisschen ausgeschlafener.

Diesmal veränderte sich Almas Stimme nicht, als sie antwortete – sie klang immer noch angespannt, wachsam: »Ida. Das hier ist wirklich wichtig. Ganz im Ernst.« Ida wartete, bis Alma mit bedächtiger und ernster Stimme fortfuhr: »Du musst etwas abholen.«

2.

Knappe anderthalb Stunden später rollte Ida vorsichtig den spiegelglatten Studentbacken hinunter. Ihr altes lila-weißes Fünfgang-Crescent fühlte sich genauso klapprig an wie immer. Sie radelte an der Umgehungsstraße entlang und dann weiter zum Stora Skuggan, passierte die alte Sommerfrische der Engelska Villan und fuhr dann quer durch den Stockholmer Ekopark. Der Stadtpark lag wie ein großer Halbmond um die Stadt und verband die teuren Villen im Königlichen Djurgården mit den heruntergekommenen Mietskasernen im nur wenige Kilometer entfernten Migrantenviertel Rinkeby.

Jetzt muss ich also meine Pläne für den heutigen Tag über den Haufen werfen, dachte sie, während sie ganz vorsichtig über die vereisten Joggingwege durch den Lill-Jansskogen rollte, dann über die Verkehrsknotenpunkte Roslagstull und Norrtull abkürzte, um zu guter Letzt zum Karolinska Institutet hinaufzustrampeln.

Sie schloss das Fahrrad direkt vor dem Eingang an, betrat die Cafeteria und setzte sich mit einer Tasse Kaffee auf ihren Stammplatz in der Ecke, um dann nichts weiter zu tun, als in ihre aufgeschlagenen Biophysikbücher zu starren.

Was hatte Alma noch gesagt?

Du sollst etwas abholen.

Sei pünktlich.

Setz dich einfach nur in die Cafeteria. Nichts weiter.

Verhalte dich passiv.

Alles andere passiert ganz von allein.

3.

Ida schielte zu den anderen Tischen hinüber, wo Studenten über ihren Laptops saßen, Seminarliteratur lasen oder sich unterhielten – alles sah genauso aus wie immer.

Doch urplötzlich versiegte das gedämpfte Murmeln.

Quer durch das Lokal schritt ein kleiner Trupp aus Professoren und anderen hohen Tieren aus dem Institut. Sie alle hatten sich um einen mageren alten Mann mit einer großen Brille geschart. Unter seinem weiten Überrock trug er einen Frack. Mehrere Studenten flüsterten einander etwas zu oder starrten ihn einfach nur an.

Ein Frack?, dachte Ida. Wahrscheinlich einer der Nobelpreisträger! Tatsächlich hatte sie so etwas in der Zeitung gelesen. Der Preis für Physik war einem Russen zuerkannt worden. War das vielleicht der Mann?

Die Gruppe besorgte sich am Tresen Kuchen und Kaffee, dann wanderte sie wieder zurück durch die Cafeteria. Als sie sich ihrem Tisch näherten, kam Ida nicht umhin, den Mann neugierig zu mustern. Er war runzlig, bucklig und schien nicht sonderlich gut zu Fuß zu sein. Der Mann schlenderte auf einige Studenten zu, um sie zu begrüßen, und Ida versuchte, sich wieder in ihre Bücher zu vertiefen. Aus der Gruppe hob jemand zu einer Vorstellung an, und die Mienen der Studenten hellten sich auf wie die von Schulkindern, die zum ersten Mal ihrer Lehrerin die Hand gaben. Doch, ganz sicher war das ein Nobelpreisträger. Aber dieses Theater führen die hier doch jedes Jahr auf, dachte sie, das gehört eben zum KI …

Es wurde zusehends stiller in der Cafeteria, immer mehr Studenten starrten zu der Gruppe hinüber. Der Mann schien freundlich zu sein, schüttelte noch mehr Hände. Ida sah auf ihre Bücher hinab.

Verhalte dich passiv.

Im selben Moment schob sich ein Schatten neben ihren Tisch.

Er stand direkt vor ihr. Der Nobelpreisträger.

Einer der Professoren in der Gruppe trat ein Stückchen vor. »Er möchte Sie begrüßen – das hier ist Anatolij Lobow, der diesjährige Nobelpreisträger für Physik.«

Langsam stand sie auf und griff nach seiner zerbrechlichen Hand. »Hello. Pleasure to meet you! My name is Ida Nordlund.«

»Hello, Ida«, antwortete er mit fester Stimme und einem unverkennbar russischen Akzent. Er schien sie mit dem Blick regelrecht zu durchbohren, beugte sich vor und tat so, als würde er ihre Seminarliteratur begutachten, während er ihr gleichzeitig in schlechtem Englisch zuraunte: »Ein Missverständnis, Ida … Entschuldigen Sie. Nicht sicher hier … Unsere Feinde … verfolgen mich überallhin … Alma wusste das nicht, als sie angerufen hat.«

Ida sah ihn verunsichert an.

Was redete er denn da?

Er blätterte in ihrem Buch und tat so, als würde er sich für eine Grafik über die Transposon-Transposition interessieren. Er sah besorgt und misstrauisch aus.

»Wir müssen uns woanders treffen. Das ist sicherer. Sie müssen mir helfen … heute Abend.« Dann hob er wieder die Stimme und sprach von etwas völlig anderem: »Ah, Biophysik. Sie haben wirklich schöne Augen, meine junge Dame … Ich hab’s ja immer gesagt: All die jungen Damen, die Biophysik studieren, haben schöne Augen!«

Die Gefolgschaft lachte höflich, und Ida errötete, während sie gleichzeitig immer noch versuchte zu verstehen, was er gemeint hatte.

»Die gleichen Augen wie Alma«, flüsterte er jetzt wieder. »Als sie jung war … Alma sah genauso aus wie Sie jetzt.«

Ohne sich zu verabschieden, drehte er sich um und ging zurück zu seinen unterwürfigen schwedischen Kollegen – und dann geradewegs aus der Cafeteria hinaus, ohne einen Schluck von seinem Getränk oder auch nur einen Bissen von dem Kuchen genommen zu haben.

Das Gemurmel schwoll wieder an, und Ida blieb mit ihrer Tasse Kaffee sitzen. In ihrem Kopf drehte sich alles.

Was hatte er gesagt? Alma, als sie jung war?

Er hatte Alma gekannt, als sie jünger gewesen war?

Und was meinte er mit all den anderen Sachen? The enemies – die Feinde?

Eilig zog sie sich auf die Toilette zurück und versuchte, Alma zu erreichen.

Sie ging nicht ans Telefon. Sie drückte auf Wahlwiederholung – ohne Erfolg. Beim zweiten Mal hinterließ sie ihr eine Nachricht: »Ruf mich an, so schnell du kannst.«

Ein paar Minuten später, als sie gerade ihren Kaffee ausgetrunken hatte, blinkte das Handy, und sie dachte noch: Gut, endlich ruft sie zurück, und ich erfahre, was hier eigentlich los ist.

»Hallo, mein Name ist Håkan Jönsson«, tönte eine gestresste Stimme aus dem Hörer, »ich rufe vom Institut für Physik an. Ich habe mit der Nobelstiftung gesprochen und für Sie einen freien Platz beim Nobelbankett heute Abend organisieren können. Der diesjährige Nobelpreisträger für Physik, Anatolij Lobow, hat Sie eingeladen – er hat sich ausdrücklich gewünscht, dass Sie kommen.«

Erst einmal verschlug es ihr die Sprache. Sie musste an all das denken, was Alma und Lobow gesagt hatten.

Es ist wirklich wichtig.

The enemies.

Wir brauchen deine Hilfe.

Das Nobelbankett? Was geht hier eigentlich vor?

»Ja, natürlich«, stammelte sie, »ich komme … gerne.«

»Gut«, erwiderte Håkan Jönsson, »wir schicken einen Boten mit der Einladungskarte. Wie lautet Ihre Adresse?«

Schleunigst packte sie ihre Bücher zusammen, verließ die Cafeteria und lief zu ihrem Fahrrad zurück. Sie kam sich vor, als wäre sie betrunken, und konnte kaum einen klaren Gedanken fassen.

Sie entriegelte das Fahrradschloss und machte sich umgehend auf den Weg.

Das Nobelbankett – das kann doch nicht wahr sein! Was treibt Alma denn da?

Und was soll ich bloß anziehen?

Als sie am Nordfriedhof vorbeifuhr, wo sie einen schnellen Blick ausgerechnet auf das hohe Grabmonument Alfred Nobels erhaschen konnte, spürte sie plötzlich, wie das Vorderrad hart auf dem eisigen Boden aufsetzte.

Oh nein, ein Platten!

Ich hab nicht mehr genügend Zeit, um das Rad heim nach Gärdet zu schieben …

Kurz entschlossen kettete sie es an einem Laternenpfahl an der nächstgelegenen Bushaltestelle an. Vom Ende der Straße näherte sich ein roter Stadtbus.

Perfekt, den nehme ich.

Sowie sie in den Bus gestiegen war und eine freie Sitzbank ergattert hatte, kochten die Fragen in ihr wieder hoch.

Dann kennen Alma und Lobow sich also seit, na ja, seit sechzig Jahren oder so? Aber was soll ich abholen? Und wer sind diese Feinde?

Und was in aller Welt soll ich heute Abend anziehen?

Der Bus fuhr am Roslagstull vorbei und bog in den Valhallavägen ein, während sie grübelte und grübelte und, ohne es zu merken, mit dem Fingernagel an einem Aufkleber knibbelte, der direkt neben den Überresten eines eingetrockneten Snusbeutelchens klebte.

Carl von Linné

Carl von Linné wurde am 13. Mai 1707 als Carl Nilsson Linnæus in Råshult in der schwedischen Provinz Småland geboren. Seine Eltern waren Christina Brodersonia und Pfarrer Nils Ingemarsson Linnæus. Auch Carl sollte ursprünglich Pfarrer werden, doch sein Interesse für Botanik erregte die Aufmerksamkeit eines Lehrers, und so wurde er 1727 zum Studium an die Universität Lund geschickt.

Schon bald wechselte er nach Uppsala, und einige Jahre später trat er die erste einer langen Reihe von Reisen quer durch Schweden an. Auf diesen Reisen kartografierte er Blumen, Berge sowie ur- und frühgeschichtliche Denkmäler der jeweiligen Landschaften. In der Provinz Dalarna lernte er 1733 die Arzttochter Sara Elisabeth Moraea kennen. Er hielt um ihre Hand an, allerdings verlangte ihr Vater, Linné müsse vor der Hochzeit erst noch sein Examen ablegen. Daraufhin reiste Linné in die Niederlande, wo er 1735 das bahnbrechende Werk Systema naturae verfasste, ein Buch, das den Grundstein für die heutige Systematik aller Lebewesen legte: geordnet nach der Artverwandtschaft der Pflanzen und Tiere untereinander. Linnés System wird bis heute weltweit angewendet.

Im Juni 1739 heirateten Linné und Sara Elisabeth, und drei Jahre später wurde er zum Professor für Botanik an der Universität Uppsala ernannt. Das Ehepaar Linné bekam sieben Kinder. Im Jahre 1757 wurde Carl Linnaeus in den Adelsstand erhoben und nahm den Namen von Linné an.

Mit den Jahren scharte er eine große Anzahl Scholaren um sich, die sogenannten »Linné-Apostel«, die er später auf unterschiedliche Forschungsreisen um die ganze Welt entsandte und unter denen einige sich besonders hervortaten, so beispielsweise Pehr Kalm, der 1748 bis 1751 nach Nordamerika reiste, Fredrik Hasselquist, der Palästina und Teile Kleinasiens besuchte, Carl Peter Thunberg, der nach Japan, Südafrika und Sri Lanka reiste, sowie Daniel Solander, der zunächst 1768 bis 1770 an der Seite von James Cook ans Tote Meer und nach Neuseeland fuhr und darüber hinaus nach Island, auf die Färöer- und die Orkneyinseln. Linné brachte seinen Aposteln bei, wie wichtig sowohl Sorgfalt als auch Begeisterung seien, und lehrte sie, gründliche und korrekte Beobachtungen anzustellen.

Linné lebte den größten Teil seiner späten Jahre in Uppsala. Die Sommer verbrachte er auf seinem Gut Hammarby unmittelbar südlich der Stadt. Am 10. Januar 1778 um acht Uhr morgens erlitt er einen Schlaganfall, den er nicht überlebte.

Carl von Linné war ohne Zweifel der bedeutendste Naturforscher seiner Zeit. Bis heute ist er der Schwede mit den meisten Einträgen bei Wikipedia, wo seine Biografie und Arbeiten in rund 110 Sprachen behandelt werden, was unter anderem daran liegt, dass er sämtliche Organismen, die zu seiner Zeit bekannt waren, systematisierte – einen derart unermüdlichen Arbeitseinsatz hat sowohl vor wie auch nach seiner Zeit kein zweiter Wissenschaftler mehr geleistet. Sämtliche natürlichen Erscheinungen wurden von Linné in Klasse, Ordnung, Gattung, Art und Varietät eingeteilt. Linnés Buch Species plantarum (1753) stellt die erste Publikation mit einer bis heute gültigen Nomenklatur bekannter Pflanzen dar, während die zehnte Auflage von Systema naturae (1758) als erste Publikation mit bis dato gültiger zoologischer Nomenklatur gilt.

Linné unternahm überdies den Versuch, Felsen, Mineralien und Fossilien in ein sogenanntes »Mineralienreich« einzuordnen. Manche Einteilungen erscheinen aus heutiger Sicht eher seltsam; so gruppierte er beispielsweise auch Nieren- und Gallensteine in das Reich der Mineralien ein. Auch die verschiedenen Arten von »Rassen« der Spezies Mensch versuchte er zu klassifizieren. Des Weiteren beschäftigte er sich mit Fabelwesen wie der Hydra, dem Satyr und den Troglodyten. Nichtsdestoweniger schlug mit seiner Forschung die Wissenschaft einen neuen Weg ein, der anders war als alles, was bis dato von religiösen Autoritäten gelehrt worden war.

Eine der Grundregeln Linnés besagt, dass alle Arten einen zweiteiligen wissenschaftlichen Namen tragen – den Gattungsnamen und das sogenannte Epitheton wie beispielsweise in Digitalis purpurea (Fingerhut). Später wurde das Moosglöckchen (Linnaea borealis L.) nach Carl von Linné benannt. Sein Konterfei zierte lange Zeit den schwedischen Einhundertkronenschein, bis er 2015 von Greta Garbo abgelöst wurde. Gut Hammarby wird heute von der Universität Uppsala als Museum unterhalten. Linné wurde in der Domkirche zu Uppsala beigesetzt.

Quelle: Wikipedia

4.

Schläge in schneller Abfolge, hart, dumpf – direkt auf die Scheibe des Busses. Irgendjemand schrie: »Oh my God, did you see that?«

Da erst sah auch Ida die eisigen Schneebälle. Mindestens fünf Stück waren es, sie klebten einen Moment lang an der Scheibe und glitten dann einer nach dem anderen am Glas hinab und fielen in den Schneematsch an der Straße zum Stadshuset, dem Rathaus der schwedischen Hauptstadt, in dem das Nobelbankett stattfinden sollte.

Der Fahrer bremste nicht einmal ab, sondern fuhr einfach weiter über die Brücke. Sie saßen in einem Doppeldeckerbus mit schönen Holzpaneelen und Auslegeware im Mittelgang. Wie sehr sich dieser Bus doch von dem abgenutzten Exemplar unterschied, mit dem Ida früher am Tag unterwegs gewesen war! Ihr Bus war der fünfte in der Reihe, war am Grand Hôtel gestartet und dann am Hauptbahnhof und am Sheraton vorbeigefahren. Vor den Glasscheiben lauerte die Dezemberkälte, und der Mondschein ließ das Wasser des Riddarfjärden wie flüssiges Silber schimmern, während die Backsteinfassade des Stadshuset im Schein der zahlreichen Fackeln rostrot glühte.

Sie sah sich um. Ein paar pelzbekleidete Amerikanerinnen diskutierten schon wieder das Programm des Abends, und auch die anderen festlich Gekleideten an Bord saßen inzwischen wieder mit glücklichen, erwartungsvollen Mienen auf ihren Plätzen.

Was in aller Welt hatte sie selbst zwischen all diesen vornehmen Menschen zu suchen? Und war unter ihnen vielleicht einer, der sie beschattete? Schon seit dem Morgen hatte sie das Gefühl, einen heißen Kopf zu haben und merkwürdig aufgedreht zu sein, hatte aber mit niemandem darüber reden können. Viermal hatte sie noch versucht, ihre Großmutter zu erreichen – vergebens.

Dann endlich war am Nachmittag eine SMS gekommen:

Lobow wird verfolgt, aber niemand weiß, wer du bist oder dass du ihn kennst. Heute Abend auf dem Fest wird er dir etwas geben: ein Kästchen. Wir glauben, dass es derzeit nur bei dir sicher ist. Sprich mit niemandem darüber, dass du es bekommen hast oder dass du ihn kennst. Mach das Kästchen NICHT AUF! Wir vertrauen dir. Übermorgen werdet ihr euch wieder treffen, irgendwo in Sthlm, und dann gibst du es ihm zurück. Pass gut darauf auf. Der Inhalt ist unersetzlich. Seine Verfolger dürfen es auf keinen Fall und um keinen Preis der Welt in ihren Besitz bringen. Viel Spaß auf dem Fest! Alles Liebe, Alma

Sie hatte die SMS ein halbes Dutzend Mal gelesen.

Seine Verfolger … Das klang ja fast wie ein … Tja, was? Wie Leute, die einen überfielen und ausraubten?

Und dann die Sache mit dem Kästchen – was für ein Kästchen war das?

Okay, halt, jetzt nicht nervös werden, ermahnte sie sich.

Ihr Blick blieb am Hut einer der fein gekleideten Damen hängen. An der Krempe steckten ein paar Federn – Fasanenfedern, wie unschwer zu erkennen war.

Fasan, genau – Phasianus colchicus.

Was noch?

Anemone pulsatilla? Gewöhnliche Kuhschelle.

Briza media … irgendwas? Verdammt, auf jeden Fall Zittergras.

Ranunculus acris? Scharfer Hahnenfuß.

Artemisia absinthium? Wermutkraut.

Jetzt reicht’s – sie schob die Gedanken beiseite, die immer gleichen Verhöre mit Lasse, all die lateinischen Namen.

Aber Phasianus colchicus klang gut, musste man schon sagen – einfach Fasan und Punkt, und hier waren also die Federn eines Vertreters, der sich hatte opfern müssen, der gefangen und gerupft worden war.

Dann ein paar kleine Jungs, die mit Schneebällen nach einem schicken Bus geworfen hatten. Und ich, die gut essen und bei einem Ereignis dabei sein würde, von dem Tausende andere nur träumen konnten.

Sie sah wieder aus dem Fenster.

Immer noch klebten dort die Spuren der Schneebälle. Sie drehte sich nach vorne um und sah, dass sie sich dem Stadshuset näherten. All die festlich gekleideten Leute um sie herum wirkten jetzt noch aufgekratzter als zuvor, als hätten sie den ganzen Weg über heimlich Champagner getrunken. Sie konnte immer noch niemanden entdecken, der sie im Visier zu haben schien.

Wenn nur Marina dort am Stadshuset wartet, dachte sie. Sonst wird das hier nicht gut ausgehen.

Sie sah aus dem Fenster in die Dunkelheit und auf ihr beschlagenes Spiegelbild.

Aha, ich sehe also genauso aus wie Alma? Na gut, offensichtlich.

Ein Rumpeln ging durch den Bus, eine heftige Bremsung, und sie war drauf und dran, in den Fasanenhut der Amerikanerin zu fallen, als eine Hand sie um die Taille fasste und auffing.

»Ui, das hätte übel ausgehen können!«

Ein junger Mann mit gescheiteltem dunklem Haar und einem warmen Blick aus braunen Augen.

»Danke«, stieß sie hervor.

»Wenn Sie hingefallen wären, hätten Sie womöglich nachher nicht mehr tanzen können.«

»Da haben Sie recht.«

Sie konnte nicht anders, als ihn noch einmal anzusehen. Wie alt er wohl sein mochte? Fünfundzwanzig, dreißig? Nein, wahrscheinlich etwas älter. Vermutlich ein wenig über dreißig, aber mit einem jungenhaften Gesicht. Fünfunddreißig vielleicht?

Sie wollte eben etwas sagen, als die Türen auch schon aufgingen und die Passagiere ungeduldig aus dem Bus drängelten.

Als sie es hinaus in die Kälte geschafft hatte, war von dem Dunkelhaarigen nichts mehr zu sehen.

5.

Sowie sie ausgestiegen war, entfernte Ida sich von den übrigen Passagieren. Ein Stück weiter hinten an dem ausladenden Backsteingebäude loderten riesige Fackeln. An der Ecke konnte man das goldene Monument sehen, das Birger Jarl darstellte, den Gründer Stockholms. Die erleuchteten Kolonnaden warfen ihren Widerschein auf den samtschwarzen Wasserspiegel des Riddarfjärden, während die langen Reihen gotischer Fenster sanft unter dem Nachthimmel schimmerten.

Wo ist sie bloß? Sie wird doch nicht zu spät kommen?

Wie soll das nur funktionieren?, dachte sie mit einem Mal, wo bin ich da bloß reingeraten?

Das schaffe ich nicht allein.

Dann erspähte sie direkt bei den Fahnenmasten auf der anderen Seite eine untersetzte, schwarz gekleidete Gestalt.

Das konnte nur sie sein: Marina.

Ida war zutiefst erleichtert.

Marina, ja. Wirklich schade, dass sie das Studium geschmissen hatte. Sonst würden wir uns heute noch so häufig sehen wie früher. Und hallo, jetzt in irgendeiner Buchhaltungsabteilung zu sitzen, nur weil ihre Eltern gemeint hatten, dass sie endlich ein festes Einkommen haben müsste?

Neben Marina stand eine große, gut gefüllte Coop-Tüte auf der Erde. »Mein Gott, hätten die nicht etwas kühleres Wetter bestellen können?« Sie spuckte aus.

»Wie geht’s?«, fragte Ida.

»Doch, doch, alles im grünen Bereich.« Sie fing an, in der Tüte zu kramen. »Ich weiß wirklich nicht, wie das gehen soll. Also, dein Haar war ja noch nie deine große Stärke.«

Ida ging schweigend in die Hocke, und Marina bürstete ihr das Haar und versuchte sich dann an einer Art Hochsteckfrisur.

»Was hast du denn damit gemacht? Ist das Stahlwolle oder so?«

Beide lachten.

»Ich hab nun mal solche Haare …«

»Sei jedenfalls froh, dass du zu diesem Fest gehen darfst. Da gibt’s das beste Essen! Wie bist du überhaupt an eine Einladung gekommen? Warst du auch bei der Preisverleihung?«

»Nein, nein, im Konserthuset war ich nicht«, erwiderte Ida schnell und merkte, wie wieder Angst in ihr aufstieg. »Das ist eine längere Geschichte, ich kann dir das jetzt nicht erklären.«

Marina sah sie an und zuckte mit den Schultern. »Und ich darf währenddessen die Waschküche scheuern, weil die Hunde drin waren und jede Menge Dreck gemacht haben.«

»Klingt auch abendfüllend.«

»Obwohl … Danach probier ich oben auf dem Dachboden den neuen Sender aus, darauf freue ich mich jedenfalls.«

Immer dieser Amateurfunk. Wenigstens hatte sie ihr altes Hobby noch, das war doch was. Und ihre Funk-Freunde.

»Das glaub ich gerne.«

»Vielleicht kann ich ja noch mal probehalber diese Typen aus Göteborg anfunken, weißt du noch?«

Ida lächelte.

»Oder«, fuhr Marina fort, »deinen Stiefvater … oben in Norrland. Wie heißt er gleich wieder?«

»Lasse, na klar – aber das ist nicht mein Stiefvater, sondern mein …«

Tja, wie sollte sie es ausdrücken – Ersatzvater?

»Mach das besser nicht. Ich weiß nicht mal mehr, ob sein Funkgerät noch in Betrieb ist.«

Wann hab ich eigentlich das letzte Mal mit Lasse gesprochen?, fragte sie sich. Das ist sicher schon einige Wochen her. Hoffentlich geht es ihm dort oben in Jämtland gut – mit seinem Schneeskooter und all den Arbeiten im Wald, was immer er dort den ganzen Tag lang macht. Abends hockt er bestimmt überwiegend vor der Glotze, nehme ich an.

Mit einem Mal war ihr wieder bewusst, wie sehr sie ihn vermisste. Ich muss mich wieder bei ihm melden. Schleunigst.

Marina kramte ein Schminktäschchen hervor und bat Ida, die Augen zu schließen, während sie Grundierung und Lidschatten auflegte.

»Du wirst auf jeden Fall nicht die Hässlichste sein heute Abend, das steht fest. Wenn du nur deine Haare in den Griff kriegst … Hast du die Frau des Verteidigungsministers gesehen? Ach ja, und hier.« Sie reichte Ida ein Paar hochhackige Schuhe mit rotem Schnörkelmuster. »Ich weiß«, beeilte sich Marina zu sagen. »Aber sie sehen teuer aus, wie ich finde. Hättest du was anderes lieber gehabt?«

»Ist schon in Ordnung.«

»Wenn sie nur passen … Blasen sind nicht schön, vor allem wenn man tanzen will.«

Wie wahr, dachte Ida und merkte, dass sie trotz aller Furcht in sich hineinlächelte: Wenn man nur jemanden fände, mit dem man tanzen könnte …

»Zeig dich mal.« Marina schob ihr ein letztes Mal die Frisur zurecht und drückte ihr dann eine Fake-Krokotasche in die Hand. »Besser kriegen wir es nicht hin, glaube ich. Aber du siehst gar nicht schlecht aus, ganz und gar nicht. Und die Pickel bist du ja inzwischen los.«

Ida bedankte sich und sah auf die Uhr.

»Aber komm, irgendwas musst du mir verraten. Wie bist du an die Einladung gekommen?«, fragte Marina.

»Reiner Zufall. Im Institut gab es eine Verlosung. Das machen sie offenbar jedes Jahr am KI, damit ein paar glückliche Studenten hingehen können. Schieres Glück, dass ich das große Los gezogen habe.«

»Aha, also das klingt ja schon ein bisschen crazy. Aber ihr Studenten habt es einfach gut.«

»Ja, wir Studenten, die wir unser Studium fertig machen, haben es gut.«

Marina grinste schief.

»Touché. Viel Spaß wünsch ich dir. Und pass mit den Absätzen auf!«

Sie schlenderten zusammen auf das Stadshuset zu, wo sich inzwischen eine kleine Schlange gebildet hatte.

»Hier«, sagte Marina noch und reichte ihr ein winziges Necessaire, das Ida in die Abendtasche quetschte. »Falls du noch was nachbessern musst. Bis bald!«

Dann verschwand sie wieder in Richtung Tegelbacken. Ida legte eine Hand auf den Dutt am Hinterkopf und drückte vorsichtig darauf. Doch, es hielt.

Verlosung im Institut? Zumindest hatte das einigermaßen glaubwürdig geklungen. Allerdings war sie jetzt auch noch genötigt gewesen, ihre beste Freundin anzulügen.

Dann werde ich langsam mal reingehen – was mich wohl erwartet?

6.

Die Sicherheitsprozedur am Eingang dauerte eine Ewigkeit. Ein paar Wachleute, die schlecht Englisch sprachen, hatten sich von einer wütenden Dame mit mächtiger gefärbter Haarpracht in eine Diskussion verwickeln lassen, was den Einlass verzögerte. Hinter der Frau mit der Riesenmähne stand ein kräftiger Mann mit verbissenem Gesichtsausdruck. Er trat ungeduldig von einem Fuß auf den anderen und hielt ein Paar Kopfhörer in der Hand. Der Frack saß schlecht, wie Ida bemerkte.

»He is not on the list, Madam«, stammelte der Sicherheitsmann mit starkem schwedischem Akzent. »Wir haben keinerlei Informationen über ihn. Aber Sie können sich darauf verlassen, dass unsere Sicherheitskräfte dort drinnen sich um alle kümmern.«

Ein paar Amerikaner verfolgten den Auftritt und lachten unverhohlen.

»Hunde und Bodyguards müssen leider draußen bleiben!«

Die Frau mit dem gefärbten Haar errötete und flüsterte ihrem blonden Leibwächter etwas zu, der sich daraufhin dem Besucherstrom entgegen hinaus in die Kälte zurückkämpfte, während Ida sich gegenüber zwei Einheiten aus Wachmännern auswies und am Ende ein schmales Platzierungsbüchlein erhielt, worin sämtliche Tische eingezeichnet waren. Nach einer Weile fand sie ihren Platz außen an einem der Seitentische unter den Arkaden und ein ganzes Stück entfernt vom Ehrentisch. Sie sah sich um, als hoffte sie tatsächlich, jemand Bekannten zu entdecken – eher unwahrscheinlich, dachte sie bei sich – und tauschte dann in einer Nische, in der kleine Spiegel hingen, vor denen sich diverse Amerikanerinnen die Nasen puderten, ihre Straßenschuhe gegen die rot gemusterten hochhackigen.

»Da sind Sie ja«, ertönte eine Stimme, und als sie aufsah, erkannte sie den dunkelhaarigen Mann aus dem Bus wieder.

»An welchem Tisch sitzen Sie?«

Sie schlug das Büchlein auf, und er zeigte ihr seinen Platz an einem der anderen Tische.

»Leider ein bisschen zu weit weg für eine Unterhaltung«, sagte er und lächelte, »aber vielleicht können wir nach dem Essen gemeinsam auf eine Zigarette nach draußen verschwinden?«

Ida betrachtete erneut sein Haar und diese Augen … den geraden Rücken, die perfekt gebundene Fliege.

»Waren Sie schon auf vielen Nobelfesten?«, fragte sie.

»Ob Sie es glauben oder nicht: Dies hier ist mein erstes«, lachte er. »Ich bin von Haus aus Arzt. Aber ich habe einen Onkel, der weiß, wie man es anstellt. Er kennt irgendeine Tante im Büro der Akademie, und die hat es dann für mich eingestielt. Wir sehen uns später, da oben!«

Er verschwand im Gewühl, das immer dichter wurde, und sie sah sich erneut um. Eine Handvoll rundlicher Frauen mittleren Alters in glitzernden Kleidern rauschte an ihr vorbei, gefolgt von groß gewachsenen Sicherheitsleuten, die jemanden aus der Königsfamilie zu begleiten schienen.

Mit kurzen, langsamen Schritten begab sie sich zu ihrem Tisch, der nach wie vor verwaist war.

Himmel, wo bin ich hier nur reingeraten?, fragte sie sich.

7.

Der Kalix-Kaviar glitzerte dunkelrot neben den grünen Dillstängeln. Behutsam kostete sie die Fenchelcreme – mit dem kleineren Besteck, das sie ein Stückchen weiter vorn zwischen den Fingern hielt in der Hoffnung, dass es halbwegs kontrolliert und vornehm aussähe.

Die Konversation am Tisch plätscherte unaufgeregt vor sich hin. Ida war am Rand platziert worden, ein Japaner namens Dr. Takekawa war ihr Tischherr. Gegenüber saß ein magerer Amerikaner, dessen Namen sie gleich wieder vergessen hatte; die Tischkarte war so platziert, dass sie sie nicht lesen konnte. Den Tisch der Ehrengäste konnte sie von ihrer Position aus nicht erkennen. Dafür blickte sie direkt auf eine Wand, an der zwei Feuerlöscher hingen.

Schräg gegenüber saß die Frau mit den gefärbten Haaren. Sie hatte sich als operative Leiterin der biotechnischen Forschung am altehrwürdigen russischen ITEB-Institut in Puschkino bei Moskau vorgestellt, das eng mit dem KI zusammenarbeitete. Sie lächelte milde vor sich hin und sah sich interessiert um.

»So what is your main subject?«, fragte der magere Amerikaner, der ihr gegenübersaß.

»Biophysik«, antwortete Ida auf Englisch.

»Oh, wie interessant! Haben Sie Thomas Steitz gelesen?«

Der Name war ihr unbekannt.

»Der Typ aus Cambridge mit den Ribosomen?«

»Doch, richtig, von dem hab ich schon mal gehört …«

Als das Gespräch weiterplätscherte, erklärte der Mann, er bewundere die skandinavische Forschungstradition, vor allem den dänischen Atomphysiker Niels Bohr. Sie stellte ein paar Fragen zur Situation an amerikanischen Fakultäten. Obwohl sie sich keines größeren Fauxpas bewusst war, schien er ihre höflichen, kurzen Gesprächsbeiträge und Antworten nicht sonderlich interessant zu finden. Ihr Wein- und das Wasserglas wurden mehrmals frisch aufgefüllt, dann wurde auf großen, heißen Tellern mit Goldrand Hirschschulter serviert. Als sie den ersten Bissen nahm, war das Fleisch kalt. Mehrmals zog sie die Korsage ihres raschelnden Kleids zurecht, damit die Männer keine allzu tiefen Blicke in ihr Dekolleté warfen. Mit Dr. Takekawa sprach sie lange über das schwedische Klima, schwedische Traditionsgerichte und darüber, wie schwedisch es doch sei, darüber zu sprechen, was überhaupt schwedisch war, ehe er letztlich dazu überging, ihr sein Forschungsgebiet zu erläutern. Es hatte wohl mit Nanotechnik zu tun – und seine Forschung schien außerordentlich große Verdienste zu versprechen. Schon bald mischte sich auch die Frau mit dem gefärbten Haar in das Gespräch ein. Sie hatte mehrere Gläser Wein getrunken und klang zusehends offensiv, als sie einwandte, die Herausforderungen der Nanotechnik lägen ganz woanders, und durchblicken ließ, dass das Projekt des Japaners sich offenbar an der Grenze zum Unseriösen befinde.

»Entschuldigung, aber was sagen Sie da?«, fragte Dr. Takekawa laut, und es entspann sich eine längere Diskussion, die sich selbst mit halbem Ohr engagiert anhörte. Die Frau hielt an ihrem Ausgangspunkt fest: »Diese Art von Pseudoforschung wird bald Geschichte sein. Die Nanotechnik muss für wesentlichere Zwecke eingesetzt werden, nicht für Kosmetika und Reklamebroschüren.«

»Und was zählt Ihrer Meinung nach zur wesentlicheren Forschung?«, entgegnete Dr. Takekawa, der jetzt sichtlich empört war.

»Natürlich dem Menschen den Blick für seinen eigenen Rang in der Schöpfung zu öffnen«, antwortete die Frau. »Uns selbst in Relation zu den Lebensbedingungen der Tiere zu setzen und unser vermessenes Selbstbild durch ein demütiges zu ersetzen.«

Ida hatte keine Ahnung, was die Frau damit meinte, doch der Japaner war sichtlich verblüfft und wollte eben etwas einwenden, als sie vom offiziellen Trompetensignal unterbrochen wurden. Vor seinem Mikrofon am Ehrentisch räusperte sich der König heiser und sprach dann mit weit aufgerissenen Augen einen etwas linkischen Toast zu Ehren des großen Stifters Alfred Nobel.

Nachdem das Anstoßen erledigt war und das Gemurmel wieder zugenommen hatte, ertönte in der Blauen Halle Geigen- und Akkordeonmusik, und es marschierten drei kleine, bärtige, dickbäuchige Männer herein, deren Anblick beim schwedischen Anteil des Publikums allgemeines anerkennendes Zischeln hervorrief. Als Verbindungsmann inmitten des Orchesters stand ABBA-Gründer Benny Andersson und entlockte seiner Ziehharmonika eine wehmütige Melodie, während auf der Wand in seinem Rücken Laserstrahlen eine Sommerlandschaft mit Maibaum, Heringstellern und Dampfschiffen zeichneten. Durchaus gewagt, im Dezember den schwedischen Sommer zum Thema zu machen, dachte Ida, aber schön war es trotz allem.

Sowie Applaus aufbrandete, sprang der Japaner auf, um zur Herrentoilette zu eilen. Die Frau mit dem gefärbten Haar machte eine vergnügt ergebene Miene in seine Richtung und verzog den Mund.

»Männer. Sind so fantastisch in vielem, können aber nichts einstecken.« Dann hob sie ihr Glas. »Skål!«, sagte sie auf Schwedisch, wobei sie den å-Laut akzentfrei aussprach.

Ida prostete ihr zu und lobte sie dafür.

»Ich hab ein Ohr für Sprachen, bin offenbar nur in der falschen Abteilung gelandet«, erklärte die Frau. »Ich mag vor allem eure seltsamen, langen und schwermütigen u-Laute. So wie in ›huuuus‹.«

»Wirklich? Darüber hab ich noch nie nachgedacht.«

»Das hört man nirgends sonst auf dieser Welt«, fuhr die Frau fort und spitzte wieder die Lippen: »Huuuus!«

Endlich entspannte sich die Stimmung am Tisch, und auch der Amerikaner, der Ida gegenübersaß, schürzte die Lippen und versuchte, den Vokal zu formen, was zu entzücktem Kichern und herzlichem Lachen führte. Die Frau mit dem gefärbten Haar amüsierte sich sichtlich – bis ihre Aufmerksamkeit mit einem Mal von etwas anderem in Bann geschlagen wurde. Ihr Blick wurde beinahe starr, und Ida wusste intuitiv, dass hinter ihrem Rücken irgendetwas vor sich ging.

Bedächtig wandte sie sich um.

Es war Lobow. Sein Gesichtsausdruck war verglichen mit dem am Vormittag völlig verändert. Er sah erschrocken aus und ging, ohne ein Wort zu sagen, an ihrem Tisch vorüber.

»Sind Sie miteinander bekannt?«, fragte die Frau neugierig und stellte ihr Weinglas ab. »Wissen Sie, wer das ist?«

Im selben Moment kam Dr. Takekawa von der Toilette zurück.

Almas Nachricht!

Sag niemandem, dass du ihn kennst!

Ida schüttelte den Kopf.

»Nein. Wer war das?«, fragte sie sicherheitshalber.

»Der diesjährige Physik-Preisträger«, erwiderte der Japaner kurz angebunden. »Anatolij Lobow. Faszinierender Mann.«

Mit nur wenigen Sätzen gelang es ihnen, die gute Stimmung am Tisch wiederherzustellen. Sie tranken mehr Wein, und Miranda, wie die Frau mit der gefärbten Mähne sich vorstellte, fragte unvermittelt, welches Souvenir man sich am besten von diesem Fest mitnehmen solle, das von allen – und dies trotz der grenzwertig unerträglichen Eintönigkeit – das »Fest der Feste« genannt werde.

Dann ergriff Miranda selbst die Initiative: Der Japaner und der Amerikaner sollten doch jeder zwei Serviettenringe mit Nobelemblem mitnehmen.

»Ein Ring reicht schließlich nicht für ein Candle-Light-Dinner«, erklärte Miranda und lachte. Dann reichte sie Ida den Pfefferstreuer, während sie selbst den Salzstreuer in ihre Abendtasche gleiten ließ. »So werden Sie nie wieder vergessen, dass es irgendwo auf der Welt eine russische Lady mit einem schwedischen Nobelsalzstreuer gibt.«

Ein paar Damen an einem etwas weiter entfernten Tisch sahen zu ihnen herüber. Miranda und Ida schauten einander an – eine Sekunde verging, und dann brachen beide in Gelächter aus.

8.

Ida merkte, wie ihr langsam schwindlig wurde. Die stickige Luft, die Unterhaltung auf Englisch, der Wein …

Nachdem der Hauptgang abgeräumt worden war und man sich ein wenig die Beine vertreten durfte, entschuldigte sie sich und schlenderte hinüber in die Eingangshalle, wo sich vor der Damentoilette bereits eine Schlange gebildet hatte. Als sie nach langem Warten und einem kurzen Besuch auf der Toilette wieder die Backsteinwand entlangeilte, trat vom anderen Säulengang her der dunkelhaarige junge Mann aus dem Bus wieder auf sie zu.

»Das sind ja Sie! Wie fanden Sie das Essen?«, fragte Ida.

Vielleicht war sie ein wenig übereifrig, aber sie spürte, dass ihre anfängliche Furcht vor diesem Abend inzwischen wie weggeblasen war – der Wein hatte sie merklich entspannt.

»Ehrlich gesagt«, erwiderte der Dunkelhaarige und bot ihr eine Zigarette an, während sie die Treppe hinab in Richtung der Raucherecke im Innenhof gingen, wo die Dezemberkälte sie sogleich umfing, »mit diesem Menü wollten sie auf Nummer sicher gehen, oder? Ich meine, mit einem Klacks Kaviar kann man schließlich nichts verkehrt machen.«

»Vielleicht hatten Sie auch nur einen langweiligen Tisch erwischt.«

»Gab es denn auch spannende Tische?«

Sie lachte.

»Und dann diese Lightshow – ein Laser-Maibaum? Hallo? Was für ein Kitsch!«

Sie kicherte wieder. Er war fast ebenso süß wie überheblich. Er stellte sie einem Paar in ihrem Alter vor, das jedoch bald über die niedrigen Temperaturen fluchte und wieder hineinflüchtete.

»Sie haben sich ja noch die Haare hochgesteckt«, meinte er. »Hübsch!«

»Danke.«

Sie rauchten und sahen durch den Säulengang auf den Riddarfjärden hinaus, der jetzt noch schwärzer aussah als zuvor.

»Gehen Sie später mit auf die Absackerparty? Hier sind ja doch bloß alte Leute, die außerdem noch muffig riechen.«

Sie lachten.

»Es gibt Minibusse, die uns zum KI bringen. Allerdings wird es ganz sicher spät werden. Hier!« Er reichte ihr sein Handy. »Tippen Sie mir Ihre Nummer ein, dann kann ich Sie nachher kurz anrufen.«

»Okay.«

»Wirklich nett, Sie kennenzulernen«, sagte er. »Sie sind irgendwie ziemlich speziell, wissen Sie? Irgendwas mit Ihren Augen … Ich heiße übrigens Paul.«

Da – jemand, der direkt hinter ihnen stand, in der Türöffnung zur Wärme. Bucklig und schmal.

Es war Lobow.

Er sah fast schon erleichtert aus, wenn auch noch immer wachsam. Er warf Ida einen verstohlenen Blick zu und hüstelte diskret.

Ida gab Paul das Handy zurück. »Dann bis später … Ich muss schnell zur Toilette.«

»Klar«, sagte Paul.

Er blieb auf der Raucherterrasse stehen, während sie in die Wärme zurückkehrte. Lobow war bereits vorausgegangen. Er schien genau darauf zu achten, dass sie ihm in gebührendem Abstand folgen konnte, und so gingen sie an ein paar Arkaden und weiter am Stehtisch des Schwedischen Fernsehens vorbei, wo einer der Moderatoren in einem schlecht sitzenden Frack den Zeigefinger auf den Knopf im Ohr gelegt hatte und währenddessen in einem Manuskript Kürzungen vornahm. Ein Sicherheitsmann kam auf Lobow zu und wies ihn darauf hin, dass sich die Toiletten und die Raucherecke in der entgegengesetzten Richtung befänden, doch Lobow tippte nur auf sein Namensschild und legte die Hand auf die Nobelmedaille in seiner Tasche. Der Wachmann trat sogleich einen Schritt zurück, und auch Ida schlüpfte schnell an ihm vorbei, ehe er wieder seinen Posten einnahm.

Vor dem Zugang zur Küche stand ein weiterer Wachmann, doch auch den schob Lobow beiseite und wartete ein Stück den Gang hinab auf Ida. Als sie ihn eingeholt hatte, verschwand er mit ihr durch eine Schwingtür.

Dahinter an den Wänden stand eine ganze Phalanx aus Kellnern, die auf ein Kommando zu warten schienen, um dann in einer Reihe loszupreschen. Sie blickten Ida und Lobow irritiert entgegen, doch niemand sagte etwas.

Was hat er vor?, fragte sie sich. Müsste er nicht darauf achten, dass wir nicht zusammen gesehen werden? Vielleicht hat er ja schon ein bisschen was getrunken.

Die Küche selbst lag ein Stück weiter, doch man konnte von dort Geklapper und Rufe hören. Sie kamen an einer kleinen Filmleinwand vorbei, auf der ein Instruktionsvideo lief – die Sequenz für die Dessertteller, in der gezeigt wurde, in welchem präzisen Winkel das Zweiglein Preiselbeerreisig im Verhältnis zur Eispraline platziert werden sollte.

»Es tut mir leid, dass ich Ihnen solche Umstände mache, aber ich muss sichergehen, dass der russische Botschafter uns nicht sieht«, sagte Lobow leise auf Englisch, während er sich nervös umschaute. »Seien Sie gewiss, dass Sie mir und Ihrer Großmutter einen großen Dienst erweisen.«

Eine ältere Kellnerin kam auf sie zu, erklärte ihnen, dass es hier einen direkten Ausgang gebe, und zeigte zu der Wand am kurzen Ende des Gangs, doch Lobow öffnete eine andere Tür neben einem großen Warenaufzug.

Dahinter befand sich eine schmale, abgewetzte Marmortreppe, die in drei Umdrehungen zu einer dicken Metalltür hinaufführte. Langsam stiegen sie die Treppe hoch. Die Tür stand offen, und sie traten hinaus auf die oberste Galerie direkt unter dem Backsteindach. Bis unten waren es sicherlich fünfundzwanzig Meter.

Lobow sah sich die ganze Zeit um, stieg vorsichtig über Kabel und Lampen und marschierte dann an einem Lichtpult vorbei. Dies alles wird wahrscheinlich für die Lichtshow gebraucht, dachte Ida.

»So«, sagte er schließlich beinahe atemlos, während er erneut über die Schulter blickte. Inzwischen lag in seinem Gesichtsausdruck noch etwas anderes – nicht nur Wachsamkeit und ein wenig Trunkenheit, nein, da war noch mehr. Angst?

»Die Frau an Ihrem Tisch, kennen Sie die?«

»Die mit den Haaren?«

»Die mit der Perücke.«

»Perücke?«

»Zufällig weiß ich, dass es eine Perücke ist. Und dass sie Miranda heißt.«

»Ja. Miranda. Nein, ich kenne sie nicht.«

»Halten Sie sich von ihr fern. Unglaubliches Pech, dass Sie ausgerechnet an ihrem Tisch gelandet sind! Wahrscheinlich ist sie die Einzige, die es hereingeschafft hat. Aber ich glaube nicht, dass sie etwas gemerkt hat.«

»Was soll sie denn gemerkt haben?«

Lobow sah Ida unverwandt ins Gesicht.

»Hören Sie, es ist wirklich wichtig, dass sie nicht erfährt, dass wir einander kennen. Sie hat so einiges auf dem Kerbholz … Was Sie gleich von mir bekommen werden, will sie in ihren Besitz bringen, verstehen Sie? Und dafür würde sie alles tun. Alles, verstehen Sie? Ich war auf dem Weg zu Ihnen, um Sie zu warnen, aber als ich sie erkannte, bin ich abgebogen. Sie haben ihr hoffentlich nicht gesagt, dass Sie mich kennen oder wie Sie auf dieses Fest gekommen sind?«

ENDE DER LESEPROBE