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In 'Der Junker von Ballantrae: Eine Wintergeschichte' von Robert Louis Stevenson wird die Geschichte zweier Brüder erzählt, die im schottischen Adel des 18. Jahrhunderts gegensätzliche Wege einschlagen. Der literarische Stil des Buches ist von Stevenson's charakteristischem Detailreichtum und emotionaler Tiefe geprägt. Durch die Verwendung von historischen Fakten und Ereignissen schafft der Autor eine authentische Atmosphäre, die den Leser in die Welt der schottischen Geschichte eintauchen lässt. Der Roman kombiniert Abenteuer, Spannung und eine fesselnde Handlung mit moralischen Dilemmata und psychologischer Tiefe. Dies macht 'Der Junker von Ballantrae' zu einem einzigartigen Werk innerhalb des historischen Romans.
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Inhaltsverzeichnis
Die volle Wahrheit über diese sonderbaren Ereignisse hat die Welt lange erwartet, und die öffentliche Neugier wird sie sicher willkommen heißen. Es fügte sich, daß ich auf das innigste mit den letzten Jahren und mit der Geschichte des Hauses verknüpft war, und es lebt kein Mensch, der gleich mir imstande wäre, diese Dinge klarzustellen, und gleichzeitig so begierig, sie wahrheitsgemäß zu erzählen. Ich kannte den Junker; über viele Einzelheiten seines Lebenslaufes habe ich authentische Berichte zur Hand; ich segelte mit ihm fast allein auf seiner letzten Reise; ich machte jene Winterfahrt mit, von der so manche Gerüchte ins Ausland gelangten, und ich war anwesend beim Tode des Mannes. Was meinen verstorbenen Lord Durrisdeer anlangt, so diente ich ihm ungefähr zwanzig Jahre und liebte ihn. Ich schätzte ihn um so mehr, je genauer ich ihn kennenlernte. Alles in allem glaube ich, daß es nicht richtig wäre, wenn so viele persönliche Zeugnisse verlorengingen; die Wahrheit ist eine Schuld, die ich dem Andenken meines Lords abzutragen habe, und ich glaube, meine alten Tage werden ruhiger dahinfließen und mein weißes Haar wird leichter auf den Kissen ruhen, wenn diese Dankespflicht erfüllt ist.
Die Duries von Durrisdeer und Ballantrae waren eine angesehene Familie im Südwesten seit den Tagen Davids I. Ein Vers, der noch jetzt in dem Lande bekannt ist:
Die Duries waren ein tapfres Geschlecht, Sie ritten mit Speeren in manches Gefecht!
trägt das Kennzeichen des Alters. Und der Name erscheint auch in einer anderen Strophe, die man allgemein Thomas von Ercildoune selbst zuschreibt. Ich weiß nicht, wie weit das stimmt und mit welchem Recht manche diese Verse auf die Ereignisse meiner Erzählung beziehen:
Zwei Duries von Durrisdeer – Der eine ins Feld, der andre getraut: Ein böser Tag für den Freiersmann, Ein grausiger für die Braut.
Auch ist die amtliche Geschichtsschreibung voll von ihren Taten, die nach unserer heutigen Denkungsweise nicht sehr lobenswert erscheinen. Die Familie hatte ihren vollen Anteil an den Glücks-und Unglücksfällen, denen die berühmten Häuser Schottlands von jeher unterworfen waren. Aber alles das überschlage ich, um zu jenem bemerkenswerten Jahre 1745 zu gelangen, in dem der Grund zu dieser Tragödie gelegt wurde.
Zu jener Zeit lebte im Hause von Durrisdeer nahe St. Bride am Ufer des Solway eine Familie von vier Personen. Das Haus war der Hauptsitz des Geschlechtes seit der Reformation. Mein alter Lord, der achte seines Namens, war noch nicht hochbetagt, aber er litt frühzeitig unter den Unzuträglichkeiten des Alters. Sein Platz war an der Seite des Kamins, wo er in einem gefütterten Hausrock lesend saß. Er richtete wenige Worte an die Menschen und niemals ein verletzendes an irgend jemand, er war das Vorbild eines alten zurückhaltenden Hausherrn. Und doch war sein Geist wohlgenährt mit Studien, und man schätzte ihn in dem ganzen Gebiet für klüger ein, als er sich den Anschein gab. Der Erbe oder Junker von Ballantrae, in der Taufe James genannt, erbte von seinem Vater die Liebe zu ernsthaften Büchern und daneben auch einiges von seinem Taktgefühl; aber was beim Vater wirkliche Klugheit war, wurde beim Sohn schwarze Heuchelei. Sein Benehmen nach außen kann man nur als gemein und wüst bezeichnen: er saß bis in die späte Nacht bei Wein und Karten und hatte in der ganzen Gegend den Ruf eines Mannes, der jungen Mädchen gefährlich sei. Bei allen Zusammenstößen war er an erster Stelle, aber wenn er auch immer in der vordersten Front war, zog er sich doch immer vorteilhaft aus der Affäre, und seine Genossen bei losen Streichen mußten gewöhnlich die ganze Zeche bezahlen. Dies Glück oder vielmehr diese Verschlagenheit trug ihm manches Übelwollen ein, aber bei dem Rest der Bevölkerung erhöhte es sein Ansehen, so daß man große Dinge von ihm erwartete in der Zukunft, wenn er reifer geworden wäre. Er hatte einen recht schwarzen Fleck auf seinem Namen, aber die Sache wurde damals vertuscht und durch Legendenbildung so entstellt, bevor ich dorthin kam, daß ich mich scheue, sie hier zu erzählen. Es ist wahr, für einen so jungen Menschen war es eine verabscheuungswürdige Tat, und wenn die Gerüchte falsch sind, war es eine niedrige Verleumdung. Ich betrachte es als bemerkenswert, daß er sich stets brüstete, er sei unversöhnlich. Man nahm ihn beim Wort, so daß er zu allem Überfluß unter seinen Nachbarn bekannt war als ein Mann, mit dem schlecht Kirschen essen sei. Ein junger Edelmann also, der im Jahre 1745 noch nicht vierundzwanzig Lenze zählte und doch bereits weit über seine Jahre hinaus im weiten Umkreis berüchtigt war.
Um so weniger war es zu verwundern, daß man von dem zweiten Sohn, Mr. Henry, meinem verstorbenen Lord Durrisdeer, bisher wenig gehört hatte. Er war weder sehr schlecht noch sehr begabt, sondern ein ehrenhafter und anständiger junger Mann wie viele seiner Nachbarn. Ich sagte, man hatte wenig von ihm gehört, aber man kann es besser so ausdrücken: es wurde wenig von ihm gesprochen. Unter den Lachsfischern im Firth war er gut bekannt, denn er liebte den Fischsport außerordentlich. Dann war er auch ein ausgezeichneter Pferdearzt und bekümmerte sich fast von Jugend auf lebhaft um die Bewirtschaftung der Ländereien. Wie schwer das war angesichts der Umstände, in denen sich die Familie befand, weiß niemand besser als ich. Mit allzu wenig Berechtigung kann ein solcher Mann in den Ruf eines Tyrannen und Geizhalses geraten. Die vierte Person im Hause war Miß Alison Graeme, eine nahe Verwandte, eine Waise, die Erbin eines großen Vermögens, das ihr Vater durch Handelsgeschäfte erworben hatte. Dies Geld wurde dringend benötigt zur Aufbesserung der Finanzen meines Lords. Der Besitz war mit Hypotheken hoch belastet, und infolgedessen wurde Miß Alison bestimmt zur Gattin des Junkers, worüber sie sehr froh war. Eine andere Frage ist es, wie er sich dazu stellte. Sie war ein hübsches Mädchen und für jene Zeit sehr beherzt und eigenwillig, denn der alte Lord hatte selbst keine Tochter, und da die Lady schon lange tot war, wurde sie aufgezogen, so gut es eben ging.
Zu diesen vier Menschen gelangte eines Tages die Nachricht von der Landung des Prinzen Charlie, und sie gerieten sofort heftig aneinander. Mein Lord als alter Ofenhocker war durchaus fürs Abwarten. Miß Alison war gegenteiliger Ansicht, weil ihr alles romantisch erschien, und der Junker, der, wie ich hörte, nicht oft mit ihr übereinstimmte, war diesmal ganz ihrer Meinung. Das Abenteuer reizte ihn, soweit ich verstehe, er sah allerlei Möglichkeiten, das Vermögen seines Hauses zu vergrößern, und trug sich mit der Hoffnung, seine persönlichen Schulden auszugleichen, die weit größer waren, als man vermutete. Was Mr. Henry anbelangte, so sagte er anscheinend zunächst sehr wenig, seine Rolle begann erst später. Die drei stritten sich einen ganzen Tag lang, bevor sie sich entschlossen, einen mittleren Kurs zu steuern. Der eine Sohn sollte ausreiten, um König Jakob beizustehen, der alte Lord und der zweite Sohn sollten zu Hause bleiben, um die Partei König Georgs zu ergreifen. Das war ohne Zweifel der Entschluß des alten Lords und, wie man weiß, die Rolle, die viele angesehene Familien damals spielten.
Aber nachdem der erste Streit beigelegt war, erhob sich sofort ein zweiter. Der Lord, Miß Alison und Mr. Henry waren alle der Meinung, daß es Aufgabe des jüngeren Sohnes sei, hinauszuziehen, aber der Junker, ruhelos und eitel, war unter keinen Umständen bereit, zu Hause zu bleiben. Der Lord flehte ihn an, Miß Alison weinte, und Mr. Henry brauchte sehr deutliche Worte: alles vergeblich.
»Der direkte Erbe von Durrisdeer muß mit dem König reiten!« sagte der Junker.
»Wenn wir ein männliches Spiel trieben«, antwortete Mr. Henry, »hätte es Sinn, so zu sprechen. Aber was tun wir? Wir spielen mit falschen Karten!«
»Wir retten das Haus von Durrisdeer, Henry«, sagte der Vater.
»Und siehe«, sagte Mr. Henry, »wenn ich gehe, und der Prinz gewinnt die Oberhand, kannst du leicht mit König Jakob Frieden schließen. Aber wenn du gehst, und die Expedition erleidet einen Fehlschlag, reißen wir Besitz und Titel auseinander. Und was wird dann aus mir?«
»Du wirst Lord Durrisdeer sein«, sagte der Junker, »ich setze alles auf eine Karte.«
»Ich liebe ein solches Spiel nicht!« rief Mr. Henry. »Ich werde in einer Lage sein, die kein Mann von Vernunft und Ehre ertragen kann. Ich werde weder Fisch noch Fleisch sein!« rief er aus. Und etwas später drückte er sich noch deutlicher aus, als er vielleicht beabsichtigte. »Es ist deine Pflicht, hier bei deinem Vater zu bleiben«, sagte er. »Du weißt sehr wohl, daß du der Lieblingssohn bist.«
»Wie?« sagte der Junker. »So spricht der Neid! Willst du in meine Fußtapfen treten, Jakob?« fragte er und legte einen häßlichen Nachdruck auf dies Wort.
Mr. Henry ging ohne Antwort zu geben am unteren Ende der Halle auf und ab, denn er wußte ausgezeichnet zu schweigen. Plötzlich kam er zurück.
»Ich bin der Jüngere, und ich muß gehen«, sagte er. »Mein Lord hier ist der Herr, und er sagt, daß ich gehen muß. Was sagst du dazu, mein Bruder?«
»Ich sage dies, Harry«, antwortete der Junker, »daß es nur zwei Wege gibt, wenn hartnäckige Leute aneinandergeraten: Zweikampf – ich denke, daß keiner von uns Lust hat, so weit zu gehen – oder Entscheidung durch den Zufall. Hier ist ein Goldstück. Wollen wir es entscheiden lassen?«
»Ich will dadurch stehen und fallen«, sagte Mr. Henry. »Kopf: ich gehe; Wappen: ich bleibe.«
Die Münze wurde hochgeworfen. Die Münze fiel und zeigte die Wappenseite.
»Das ist eine Lehre für Jakob«, sagte der Junker.
»Wir alle werden das bereuen«, antwortete Mr. Henry und stürzte aus der Halle.
Miß Alison ergriff das Goldstück, das soeben ihren Geliebten ins Feld gesandt hatte, und schleuderte es durch das Familienwappen in dem großen bemalten Fenster.
»Wenn du mich so liebtest, wie ich dich liebe, wärst du geblieben!« rief sie aus.
»Ich könnte dich, Liebste, nicht lieben so sehr, liebt’ ich Kampf und Ehre nicht mehr!« sang der Junker.
»Ach!« rief sie. »Du hast kein Herz, ich hoffe, du wirst getötet!«
Sie eilte aus dem Raum und lief weinend auf ihr Zimmer.
Es scheint, daß der Junker sich in heiterster Haltung zum Lord wandte und sagte: »Sie muß ein Teufel von einem Weib sein!«
»Ich glaube, du bist ein Teufel von einem Sohn«, rief der Vater aus. »Du, der du immer mein Lieblingssohn gewesen bist, zu meiner Schande sei es gestanden! Niemals habe ich eine gute Stunde mit dir erlebt, seit du geboren bist, nein, niemals eine gute Stunde«, und er wiederholte es zum dritten Male. Ob es die Leichtsinnigkeit des Junkers oder sein Ungehorsam oder Mr. Henrys Wort vom Lieblingssohn war, was den alten Lord so aufbrachte, weiß ich nicht, aber ich neige zu der Ansicht, daß es das letztere war, denn nach allen Berichten, die mir zur Verfügung stehen, begann er von dieser Stunde an, Mr. Henry mehr zu beachten.
Alles in allem ritt der Junker in ziemlich böser Stimmung gegen seine Familie nordwärts, woran sich die anderen mit großem Kummer erinnerten, als es zu spät schien. Durch Drohungen und Begünstigungen hatte er ungefähr ein Dutzend Leute um sich versammelt, zumeist Söhne von Pächtern. Sie waren alle ziemlich betrunken, als sie aufbrachen und den Hügel bei der alten Abtei lärmend und singend hinaufritten, die weiße Kokarde am Hut. Es war ein verzweifeltes Abenteuer für eine so kleine Schar, fast ganz Schottland ohne Unterstützung zu durchqueren. Man glaubte das um so mehr, als gerade damals, da dies Dutzend Leutchen den Hügel hinaufkletterte, ein großes Schiff aus der Flotte des Königs mit flatterndem Wimpel in der Bucht lag und sie durch die Mannschaft eines einzigen Bootes hätte aufreiben können. Am nächsten Nachmittag mußte Mr. Henry abreisen, nachdem der Junker einen genügenden Vorsprung gewonnen hatte. Ganz allein ritt er von dannen, um der Regierung König Georgs sein Schwert zur Verfügung zu stellen und ein Handschreiben seines Vaters zu überreichen. Miß Alison wurde in ihrem Zimmer eingeschlossen, bis beide fortgezogen waren. Sie weinte fast ununterbrochen, nur nähte sie die Kokarde an des Junkers Hut, die (wie John Paul mir erzählte) von Tränen durchtränkt war, als er sie ihm hinuntertrug.
In der ganzen nächsten Zeit blieben Mr. Henry und der alte Lord ihrem Plan treu. Daß sie jemals etwas unternommen hätten, ist mehr, als ich weiß, und ich glaube auch nicht, daß sie sich sehr energisch um die Sache des Königs bemühten. Sie hielten sich an ihren Treuschwur, wechselten Briefe mit dem Lord-Präsidenten, weilten ruhig zu Hause und hatten wenig oder keine Verbindung mit dem Junker, solange die Zwistigkeiten dauerten. Auch war er seinerseits nicht sehr mitteilsam. Miß Alison sandte ihm zwar stets Stafetten, aber ich weiß nicht, ob sie jemals eine Antwort erhielt. Einst ritt Macconochie für sie hin und fand die Hochländer vor Carlisle, wo der Junker in hoher Gunst stand beim Prinzen. Er nahm den Brief, wie Macconochie erzählte, öffnete ihn, überflog ihn, den Mund gespitzt wie ein Mann der flötet, und steckte ihn in seinen Gürtel. Als das Pferd aufbäumte, fiel er unbeachtet zur Erde. Macconochie hob ihn auf und nahm ihn an sich, und ich selbst habe ihn in seinen Händen gesehen. Selbstverständlich kamen Nachrichten nach Durrisdeer, wie sich eben Gerüchte im Lande verbreiten, eine Sache, die mir immer wunderbar vorkam. Auf diese Weise erfuhr die Familie allerlei von der Gunst, in der der Junker beim Prinzen stand. Man behauptete, das habe seinen Grund in einer höchst sonderbaren Kriecherei eines so stolzen Mannes, der allerdings noch mehr Ehrgeiz besaß. Er soll sich zu seiner hohen Stellung hinaufgearbeitet haben, indem er den Irländern schmeichelte. Sir Thomas Sullivan, Oberst Burke und alle andern waren sein täglicher Umgang, wodurch er seinen eigenen Landsleuten entfremdet wurde. Bei allen kleinen Intrigen hatte er seine Hand im Spiel, stellte Lord Georg tausendmal Fallen, fügte sich immer den Ansichten des Prinzen, ob sie nun gut oder schlecht waren, und scheint wie ein Spieler, der er sein ganzes Leben lang war, weniger bedacht gewesen zu sein auf die Durchführung der Kämpfe, als auf die Gunst, die er bei glücklichem Ausgang erlangen konnte. Im übrigen benahm er sich im Felde sehr tapfer, was niemand anzweifelte, denn er war kein Feigling.
Die nächste Nachricht kam von Culloden und wurde von einem der Pächtersöhne nach Durrisdeer gebracht, dem einzig Überlebenden, wie er erklärte, von allen denen, die damals singend den Hügel erklommen hatten.
Durch einen unglückseligen Zufall hatten gerade an jenem Morgen John Paul und Macconochie das Goldstück gefunden, das die Ursache alles Übels war, und das in einem Gebüsch versteckt lag. Sie waren vor der Tür gewesen, wie die Leute von Durrisdeer es nennen, nämlich in der Schenke, und so war wenig von dem Goldstück übriggeblieben und noch weniger von ihrem Verstand. Was konnte John Paul also anderes tun, als in die Halle zu stürzen, wo die Familie bei Tisch saß, und die Nachricht herauszubrüllen, daß Tam Macmorland soeben an der Pforte erschienen sei, und wehe! niemand mit ihm?
Sie hörten das Wort wie Menschen, die zum Tode verurteilt werden. Nur Mr. Henry führte die Hand zum Gesicht, und Miß Alison legte den Kopf auf die Hände. Der alte Lord war grau wie Asche.
»Ich habe noch einen Sohn«, sagte er. »Und, Henry, ich will dir Gerechtigkeit widerfahren lassen – der bessere ist mir geblieben.«
Eine sonderbare Sache, das in einem solchen Augenblick zu sagen, aber mein Lord hatte Mr. Henrys Rede niemals vergessen, und er trug Jahre der Ungerechtigkeit auf seinem Gewissen. Trotzdem war es eine sonderbare Sache, und mehr, als Miß Alison hingehen lassen konnte. Sie wurde heftig und tadelte den Lord wegen seiner unnatürlichen Worte und Mr. Henry, weil er hier in Sicherheit säße, während sein Bruder erschlagen läge, sich selbst aber, weil sie ihrem Geliebten beim Abschied böse Worte gegeben hatte. Sie nannte ihn den Besten von allen, rang die Hände, bekannte laut ihre Liebe und rief seinen Namen aus, so daß die Dienerschaft erstaunt dreinblickte.
Mr. Henry stand auf und hielt sich am Stuhl fest. Nun war er grau wie Asche.
»Oh«, schrie er plötzlich, »ich weiß, du hast ihn geliebt!«
»Die Welt weiß es, so wahr mir Gott helfe!« rief sie, und dann sagte sie zu Mr. Henry:
»Aber ich allein weiß, daß du ihn in deinem Herzen verraten hast!«
»Gott weiß«, murmelte er, »es war verlorene Liebesmühe auf beiden Seiten.«
Die Zeit floß nun in diesem Hause dahin ohne viel Ereignisse, nur waren jetzt drei statt vier, was immer wieder an den Verlust erinnerte. Das Geld Miß Alisons war, wie man vor Augen halten muß, für das Besitztum dringend erforderlich, und da der eine Bruder tot war, wurde es bald zu einer Herzensangelegenheit des alten Lords, den anderen Sohn mit ihr verheiratet zu sehen. Tagein, tagaus versuchte er auf sie einzuwirken. Er saß zur Seite des Kamins, den Finger in seinem lateinischen Buch, die Augen mit einer Art liebenswürdigen Eindringlichkeit auf ihr Gesicht gerichtet, wie es dem alten Herrn so gut stand. Wenn sie weinte, tröstete er sie wie ein bejahrter Mann, der schlimmere Zeiten erlebt hat, und nun auch über Kümmernisse ruhiger denkt. Geriet sie in Zorn, begann er wieder in seinem lateinischen Buch zu lesen, aber immer mit einer höflichen Ausrede. Bot sie ihm, wie es öfter geschah, ihr Geld zum Geschenk an, bewies er ihr, wie wenig das mit seiner Ehre zu vereinen sei, und gab ihr zu bedenken, wenn sie darauf beharrte, daß Mr. Henry dies ohne Zweifel ablehnen würde. Sein Lieblingswort war:non vi sed saepe cadendo, und seine ruhige Beharrlichkeit verringerte ohne Zweifel allmählich ihren Widerstand. Gewiß hatte er großen Einfluß auf das junge Mädchen, da er beide Eltern bei ihr vertreten hatte, weshalb sie auch mit dem Geist der Duries erfüllt war und große Zugeständnisse an das Wohlergehen von Durrisdeer machen wollte, wenn sie sich auch nicht dazu verstanden hätte, glaube ich, meinen armen Herrn zu heiraten. Aber sonderbarerweise kam ihm der Umstand zu Hilfe, daß er außerordentlich unbeliebt war.
Das war das Werk Tam Macmorlands. Tam war ein harmloser Bursche, aber er hatte eine große Schwäche: eine lose Zunge, und da er der einzige Mensch in der Gegend war, der mit draußen gewesen oder vielmehr wiedergekommen war, fand er leicht Gehör. Wer im Kampf unterlegen ist, will mir scheinen, ist immer geneigt, andern zu erzählen, daß er verraten wurde. Nach Tams Bericht waren die Rebellen bei jeder Gelegenheit und von jedem ihrer Offiziere betrogen worden, sie waren verraten worden bei Derby, sie waren verraten worden bei Falkirk. Der Nachtmarsch war ein Verräterstück von Lord Georg, und die Schlacht von Culloden ging verloren durch den Verrat der Macdonalds. Die Gewohnheit, stets von Verrat zu reden, bemächtigte sich dieses Narren so sehr, daß er schließlich Mr. Henry auch nicht mehr schonte. Nach seiner Ansicht hatte Mr. Henry die Burschen von Durrisdeer verraten, er hatte versprochen, mit mehr Leuten zu folgen, und statt dessen war er zum König Georg geritten.
»Ach, und am nächsten Tage!« pflegte Tam auszurufen. »Der arme gute Junker und die armen feinen Kerle, die mit ihm ritten, waren kaum jenseits der Klippe, als er sie im Stich ließ, der Judas! Nun, er hat seinen Weg gemacht, er ist Lord, trotz allem, aber unter der Hochlandheide liegt mancher kalte Leichnam!«
Bei diesen Worten pflegte Tam, falls er betrunken war, in Tränen auszubrechen.
Wenn einer lange genug redet, findet er Glauben. Die schlechte Meinung vom Benehmen Mr. Henrys verbreitete sich allmählich in der ganzen Gegend. Leute, die das Gegenteil wußten, aber keine genauen Einzelheiten kannten, sprachen darüber, und man hörte und glaubte es. Unwissende und Übelwollende verbreiteten es als Evangelium. Mr. Henry wurde allmählich gemieden. Kurze Zeit darauf begann das gemeine Volk zu murren, wenn er vorüberging, und die Frauen, die immer am kühnsten sind, weil sie sich am sichersten fühlen, begannen ihm Vorwürfe ins Gesicht zu schleudern.
Der Junker wurde zum Heiligen erklärt. Man entsann sich, daß er die Pächter niemals bedrückt hatte, was er tatsächlich auch nie tat, es sei denn, daß er viel Geld ausgab. Er war vielleicht ein wenig wüst, sagte das Volk, aber wieviel besser war ein natürlicher und wilder Kerl, der bald ruhiger geworden wäre, als ein dürrer Geizhals, der seine Nase in die Abrechnungsbücher steckte, um die armen Pächter zu bedrücken. Eine Dirne, die ein Kind vom Junker hatte und nach allen vorliegenden Berichten sehr schlimm von ihm behandelt worden war, machte sich sogar zur Vorkämpferin seiner Ehre. Eines Tages schleuderte sie einen Stein gegen Mr. Henry.
»Wo ist mein guter Junge, der dir vertraute?« schrie sie.
Mr. Henry hielt sein Pferd an und sah sie mit weißen Lippen an. »Nun, Jeß«, sagte er, »auch du? Du solltest mich besser kennen!« Denn er hatte ihr mit seinem Gelde ausgeholfen.
Das Weib ergriff einen zweiten Stein, als wollte sie ihn werfen, und er riß die Hand, die die Reitpeitsche hielt, nach oben, um sein Gesicht zu schützen.
»Was? Du willst ein Mädel schlagen, du dreckiger …?« schrie sie und lief heulend von dannen, als ob er sie gezüchtigt hätte.
Am nächsten Tage breitete sich das Gerücht wie Lauffeuer in der Gegend aus, Mr. Henry habe Jessie Broun fast zu Tode geprügelt. Ich erzähle das, um klarzumachen, wie die Lawine wuchs, und wie eine Verleumdung die andere hervorbrachte, bis mein armer Herr so verschrien war, daß er das Haus zu hüten begann gleich dem alten Lord. In der ganzen Zeit beklagte er sich selbstverständlich daheim niemals. Der Urgrund des Skandals war eine zu heikle Angelegenheit, und Mr. Henry war sehr stolz und ein außergewöhnlich hartnäckiger Schweiger. Der alte Lord muß schließlich durch John Paul, falls durch niemand sonst, davon gehört oder wenigstens die Änderung in der Lebensweise seines Sohnes beobachtet haben. Wahrscheinlich aber war auch er nicht unterrichtet, wie stark die Feindschaft war, und was Miß Alison betrifft, so kümmerte sie sich überhaupt nicht um Gerüchte und brachte ihnen keinerlei Interesse entgegen, wenn man sie ihr zutrug.
Als die Empörung ihren Höhepunkt erreicht hatte (später verringerte sie sich, und niemand wußte warum), fand eine Wahl statt in der Stadt St. Bride, die ganz nahe bei Durrisdeer liegt, am Swiftsee. Irgendeine Unruhe machte sich unter den Leuten bemerkbar, aber ich vergaß, was es war, wenn ich es jemals gewußt habe. Man erzählte allgemein, es würde vor Anbruch der Nacht blutige Köpfe geben, der Sheriff habe sogar Soldaten angefordert von Dumfries. Der alte Lord war dafür, daß Mr. Henry anwesend sein solle, er stellte ihm vor, es sei notwendig für das Ansehen des Hauses, sich einmal wieder zu zeigen. »Man wird bald behaupten«, sagte er, »daß wir die Führung in unserem Gebiete verlieren.«
»Eine merkwürdige Führung, die ich übernehmen soll«, sagte Mr. Henry, und als sie ihn um eine Erklärung baten, fügte er hinzu: »Ich will euch die volle Wahrheit sagen, ich darf mein Gesicht draußen nicht blicken lassen.«
»Du bist der erste dieses Hauses, der das sagt«, rief Miß Alison.
»Wir wollen alle drei gehen«, sagte der alte Lord, und tatsächlich zog er seine Stiefel an, das erstemal seit vier Jahren, und ein schwieriges Geschäft für John Paul. Miß Alison erschien im Reitkleid, und alle drei machten sich auf den Weg nach St. Bride.
Die Straßen waren voll vom Pöbel aus der ganzen Gegend. Kaum hatten die Leute Mr. Henry erblickt, als sie zu zischen begannen. Dann fingen sie an zu brüllen, und man hörte Schreie wie Judas! und »Wo ist der Junker?« und »Wo sind die armen Kerle, die mit ihm hinausritten?« Selbst ein Stein wurde geschleudert, aber die meisten verurteilten das, zum Glück für den alten Lord und Miß Alison. Nach zehn Minuten wußte der Lord, daß Mr. Henry recht gehabt hatte. Er sagte kein Wort, warf sein Pferd herum und ritt heim, das Kinn auf der Brust. Auch Miß Alison sprach nicht. Ohne Zweifel dachte sie aber um so mehr nach, und ohne Zweifel war ihr Stolz verletzt, denn sie war eine gebürtige Durie, und ebenso gewiß rührte es an ihr Herz, ihren Vetter so unwürdig behandelt zu sehen. In jener Nacht legte sie sich nicht schlafen. Ich habe meine Lady oft getadelt. Aber wenn ich mich jener Nacht erinnere, verzeihe ich ihr gern alles. Am nächsten Morgen kam sie in aller Frühe zum alten Lord, der an seinem gewohnten Platz saß.
»Wenn Henry mich noch will«, sagte sie, »kann er mich jetzt haben.« Zu Henry selbst redete sie anders: »Ich bringe dir keine Liebe entgegen, Henry, aber, Gott weiß es, alles Mitleid der Welt.«
Der erste Juni 1748 war der Tag ihrer Hochzeit. Im Dezember desselben Jahres langte ich an den Toren des großen Hauses zum erstenmal an, und von diesem Zeitpunkt an berichte ich über die Ereignisse, die unter meinen eigenen Augen geschahen, wie ein Zeuge vor Gericht.
Inhaltsverzeichnis
Ich vollendete meine Reise gegen Ende eines kalten Dezembermonats. Es war harter, trockener Frost, und wer sollte mein Führer sein, wenn nicht Patey Macmorland, der Bruder Tams! Er war ein strohköpfiger, barfüßiger Bursche von zehn Jahren und schwätzte mehr üble Dinge, als ich sonst jemals gehört habe, weil er schon beizeiten aus dem Faß seines Bruders geschöpft hatte. Ich war selbst noch nicht sehr alt, der Stolz hatte noch nicht die Überhand gewonnen über die Neugier, und wahrscheinlich hätte jedermann interessiert gelauscht, wenn er an jenem kalten Morgen das ganze Geklatsch der Gegend gehört hätte und ihm alle Plätze gezeigt worden wären, an denen sonderbare Dinge geschehen waren. Als wir durch die Moore gingen, hörte ich Erzählungen von Claverhouse, und als wir auf der Höhe der Klippen waren, Geschichten vom Teufel. Bei der Abtei vernahm ich manches von den alten Mönchen und mehr noch von den Schmugglern, die die Ruinen als Lagerplatz benutzen und deshalb in Schußweite von Durrisdeer an Land gehen. Die Duries und der arme Mr. Henry wurden bei jeder Verleumdung an erster Stelle genannt. So war mein Geist mit Vorurteilen beladen gegen die Familie, in deren Dienst ich treten sollte, und ich war fast überrascht, als ich Durrisdeer selbst sah, das an einer schönen, geschützten Bucht liegt, zu Füßen des Abteihügels. Das Haus ist geräumig nach französischer oder vielleicht italienischer Art gebaut, ich verstehe nichts von dieser Kunst. Das Besitztum ist von Gärten, Wiesen, Gebüsch und Bäumen so schön umgeben, wie ich es sonst nie gesehen habe. Das Geld, das hier unnützerweise verbaut war, hätte die Familie allein wieder auf einen grünen Zweig bringen können, aber so kostete es ein Vermögen, um alles in Ordnung zu halten.
Mr. Henry kam selbst zur Pforte, um mich willkommen zu heißen: ein großer, dunkelhaariger junger Herr (die Duries sind alle schwarzhaarig) von unbedeutendem und nicht sehr liebenswürdigem Gesichtsausdruck, von starkem Körperbau, aber keiner ebenso starken Gesundheit. Er nahm mich ohne Stolz bei der Hand und führte mich mit einfachen und freundlichen Reden ins Haus. Er leitete mich zur Halle in meinen Wanderstiefeln, um mich dem alten Lord vorzustellen. Es war noch hell, und das erste, was ich sah, war ein Stück durchsichtiges Glas inmitten des Familienwappens in dem bunten Fenster. Ich empfand das als eine Verunstaltung des Raumes, der sonst so hübsch war, mit seinen Familienbildern, der getäfelten Decke, den Leuchtern und dem geschnitzten Kamin, an dessen einer Ecke der alte Lord saß und in seinem Livius blätterte. Er war wie Mr. Henry, von demselben einfachen Benehmen, nur feiner und liebenswürdiger, und auch sein Gespräch war tausendmal unterhaltender. Er stellte mir, wie ich mich entsinne, viele Fragen, über das Kolleg in Edinburgh, wo ich gerade mein Examen bestanden hatte, und über die verschiedenen Professoren, die er mitsamt ihren Leistungen eingehend zu kennen schien. Da wir also über Dinge sprachen, von denen ich genau Bescheid wußte, vermochte ich in meiner neuen Umgebung bald frei zu reden.
Mitten im Gespräch trat Mrs. Henry ein. Ihr Zustand war weit vorgeschritten, da die kleine Katharine in ungefähr sechs Wochen erwartet wurde, so daß ich von ihrer Schönheit auf den ersten Blick keinen starken Eindruck erhielt. Sie behandelte mich auch mit mehr Herablassung als die anderen, und so stellte ich sie an den dritten Platz in meiner Hochschätzung.
Nicht lange dauerte es, bis alle Geschichten Patey Macmorlands mir unglaubwürdig erschienen und ich ein ergebener Diener des Hauses Durrisdeer wurde, was ich seither immer blieb. Vor allen liebte ich Mr. Henry. Mit ihm arbeitete ich und fand in ihm einen anspruchsvollen Herrn, der alle Freundlichkeit aufsparte für jene Stunden, in denen wir unbeschäftigt waren. Im Büro des Verwalters belud er mich nicht nur mit Arbeit, sondern beobachtete mich auch mit sonderbarem Mißtrauen. Schließlich blickte er eines Tages mit einer gewissen Scheu von seinen Papieren auf und sagte: »Mr. Mackellar, ich glaube, ich muß Ihnen sagen, daß ich mit Ihnen sehr zufrieden bin.« Das war das erste Wort der Anerkennung. Von diesem Tage an war sein Mißtrauen gegenüber meiner Arbeit vermindert, und bald hieß es Mr. Mackellar hier und Mr. Mackellar dort bei der ganzen Familie. Ich habe auf Durrisdeer nun fast meine ganze Arbeit nach eigener Zeiteinteilung und nach eigenem Belieben erledigt ohne jemals wegen eines einzigen Pfennigs Differenzen zu bekommen. Selbst damals, als Mr. Henry mich noch antrieb, schlug mein Herz schon für ihn, allerdings teilweise aus Mitleid, denn er war ein unaussprechlich unglücklicher Mensch. Manchmal geriet er über den Ziffern in tiefes Nachdenken und starrte ins Buch oder aus dem Fenster, und der Ausdruck seines Gesichtes und die Seufzer, die er ausstieß, erregten in mir starke Neugier und Mitgefühl. Eines Tages waren wir im Verwaltungsbüro noch spätabends bei der Arbeit, wie ich mich entsinne. Dieser Raum liegt ganz oben im Hause und bietet einen Ausblick über die Bucht und eine kleine bewaldete Landzunge auf der langen Sandbank. In der untergehenden Sonne sahen wir die Schmuggler in großer Zahl mit ihren Pferden, wie sie am Strande hin und her eilten. Mr. Henry starrte nach Westen, und ich wunderte mich, daß er nicht von der Sonne geblendet wurde. Plötzlich runzelte er die Stirn, rieb sich die Brauen mit der Hand und wandte sich lächelnd mir zu.
»Sie erraten nicht, woran ich dachte«, sagte er. »Ich dachte, wieviel glücklicher ich wäre, wenn ich mit diesen Verbrechern reiten und mein Leben aufs Spiel setzen könnte.«
Ich antwortete ihm, daß ich schon bemerkt hätte, er sei in schlechter Laune; man habe ja die Gewohnheit, andere zu beneiden und sich einzubilden, ein Wechsel in der Lebensführung biete Vorteile. Dabei zitierte ich Horaz, wie ein junger Mann, der frisch von der Universität kommt.
»Ja, so ist es«, sagte er, »und nun wollen wir wieder zu unseren Abrechnungen zurückkehren.«
Erst kurze Zeit vorher hatte ich Wind bekommen von den Dingen, die ihn so schwer bedrückten. Tatsächlich konnte ein Blinder sehen, daß ein Schatten über dem Hause lag, der Schatten des Junkers von Ballantrae. Tot oder lebendig (und man glaubte damals, er sei tot) war dieser Mann der Rivale seines Bruders: sein Rivale draußen, wo kein gutes Wort über Mr. Henry gesprochen wurde und man nichts hörte als Mitleid mit dem Junker und Loblieder auf ihn; und sein Rivale zu Hause, nicht nur beim Vater und bei seiner Frau, sondern sogar bei den Dienstboten.
Zwei alte Bedienstete waren die Anstifter: John Paul, ein kleiner, glatzköpfiger, feierlicher und dickbäuchiger Mensch, der immer von Frömmigkeit redete und alles in allem ein ganz zuverlässiger Diener war. Er war der Führer unter den Anhängern des Junkers. Niemand durfte sich so weit vorwagen wie John. Es machte ihm Vergnügen, Mr. Henry öffentlich verächtlich zu machen, wobei er oft üble Vergleiche brauchte. Der alte Lord und Mrs. Henry tadelten ihn zwar, aber nie so scharf, wie sie gemußt hätten, und er brauchte nur sein tränenüberströmtes Gesicht zu erheben und seine Klagen über den Junker – »seinen Jungen«, wie er ihn nannte – auszustoßen, um alle zu versöhnen. Was Mr. Henry betrifft, so ließ er alles stillschweigend hingehen, indem er manchmal traurig und manchmal auch böse dreinblickte. Er wußte, daß er mit einem Toten nicht in Wettbewerb treten konnte, und einen alten Diener wegen übergroßer Anhänglichkeit zu tadeln war ihm unmöglich. Dafür fehlte ihm jede Ausdrucksmöglichkeit.
Macconochie war der Anführer der anderen Partei, ein alter, übelbeleumdeter, fluchender, zänkischer und trunksüchtiger Hund. Ich habe oft darüber nachgedacht, wie sonderbar die menschliche Natur ist, und warum diese beiden Diener zu Lobrednern von Männern wurden, die das gerade Gegenteil von ihnen selbst darstellten. Sie schwärzten ihre eigenen Fehler an und machten sich lustig über ihre eigenen Tugenden, soweit sie sie bei ihren Herren sahen. Macconochie hatte alsbald meine stille Zuneigung ausgekundschaftet, zog mich ins Vertrauen und schimpfte stundenlang über den Junker, so daß selbst meine Arbeit darunter litt.
»Sie sind alle verrückt hier«, pflegte er auszurufen, »und der Teufel soll sie holen! Der Herr Junker – wer ihn so nennt, soll verrecken! Mr. Henry ist jetzt unser Herr! Sie waren alle nicht begeistert für den Junker, als er sie noch in seinen Klauen hatte, das kann ich Ihnen sagen! Verflucht sei sein Name! Niemals habe ich ein gutes Wort von seinen Lippen gehört noch sonst jemand, immer nur Schimpfen und Poltern und freches Fluchen – der Teufel hole ihn! Seine Bosheit war ohnegleichen, und das soll ein Gentleman gewesen sein! Haben Sie von Wully White dem Weber gehört, Mr. Mackellar? Nein? Nun, Wully war ein eigenartiger Heiliger, ein trockener Kerl, keiner von meiner Sorte, ich konnte ihn nicht ansehen. Aber er war in seiner Art sehr tüchtig, und eines Tages machte er dem Junker Vorwürfe wegen seiner Missetaten. Gewiß eine edle Angelegenheit für den Junker von Ballantrae, sich mit einem Weber herumzuschlagen, nicht wahr?«
Macconochie lächelte spöttisch und sprach den vollen Namen des Junkers nie aus, ohne seinen Haß fühlen zu lassen.
»Aber so war’s, eine feine Sache: er polterte vor der Tür des Mannes, erschreckte ihn durch Schreie und warf Schießpulver auf seinen Herd und Feuerwerk durch sein Fenster, bis der alte Mann glaubte, der Teufel wolle ihn holen. Um die Sache kurz zu machen: Wully wurde verrückt. Schließlich konnten sie ihn nicht mehr von den Knien bringen, er jammerte und betete und trieb es so fort, bis er erlöst wurde. Es war glatter Mord, das sagte jeder. Fragt nur John Paul, er war tief beschämt über dies Spiel, denn er ist ja ein so frommer Christ! Eine große Tat für den Junker von Ballantrae!«
Ich fragte ihn, wie der Junker selbst darüber gedacht habe. »Wie soll ich das wissen?« antwortete er. »Er hat nie darüber gesprochen.«
Und dann begann er wieder zu schimpfen und fluchen und ab und zu ein »Junker von Ballantrae« näselnd herauszustoßen. In einer solchen vertraulichen Stunde zeigte er mir auch den Brief von Carlisle, auf dem noch der Huftritt des Pferdes zu sehen war. Das war unsere letzte geheime Unterredung, denn er sprach sich damals so mißliebig über Mrs. Henry aus, daß ich ihn scharf zurechtwies und von Stund an fernhielt.
Der alte Lord war gleichmäßig liebenswürdig gegen Mr. Henry. Er zeigte sich sogar manchmal recht dankbar, klopfte ihm auf die Schulter und sagte, als ob er es allen Menschen mitteilen wollte: »Ein guter Sohn ist dies!« Und er war ohne Zweifel dankbar, denn er besaß Vernunft und Gerechtigkeitsgefühl. Aber ich glaube, das war alles, und ich bin sicher, daß Mr. Henry ebenso dachte. Die Liebe gehörte ganz und gar dem verstorbenen Sohn. Allerdings kam das selten zum Ausdruck und in meiner Gegenwart nur einmal. Der alte Lord fragte mich eines Tages, wie ich mit Mr. Henry fertig würde, und ich berichtete ihm die Wahrheit.
»Nun wohl«, sagte er und blickte seitwärts in das brennende Feuer; »Henry ist ein guter Junge, ein sehr guter Junge. Haben Sie gehört, Mr. Mackellar, daß ich noch einen Sohn hatte? Ich fürchte, er war nicht so tugendhaft wie Mr. Henry, aber bedenken Sie, er ist tot! Zu seinen Lebzeiten waren wir alle sehr stolz auf ihn, sehr stolz. Wenn er auch manchmal nicht so war, wie wir es gewünscht hätten – nun, vielleicht haben wir ihn mehr geliebt!« Dabei blickte er sinnend ins Feuer, und dann sagte er sehr lebhaft zu mir: »Aber ich bin erfreut, daß Sie so gut mit Mr. Henry auskommen, er wird Ihnen ein gütiger Herr sein.« Dann öffnete er sein Buch – immer ein Zeichen, daß ich entlassen war. Aber er las wohl nur wenig und verstand noch weniger, das Schlachtfeld von Culloden und der Junker beherrschten seine Gedanken, und die meinen waren belastet mit einer unnatürlichen Eifersucht auf den toten Mann zugunsten von Mr. Henry, die schon damals in mir wuchs.
Von Mrs. Henry werde ich zuletzt sprechen, so daß solche Ausdrücke für mein Gefühl zunächst noch unbegründet herb erscheinen mögen. Der Leser soll selbst urteilen, wenn ich von ihr erzählt habe. Aber zunächst muß ich über ein anderes Geschehnis berichten, das mich vertrauter machte mit den Verhältnissen. Ich war noch nicht sechs Monate auf Durrisdeer, als John Paul krank wurde und das Bett hüten mußte. Nach meiner Ansicht war Trunksucht die Ursache seines Leidens, aber man pflegte ihn wie einen kranken Heiligen, und er benahm sich auch so. Selbst der Geistliche, der ihn besuchte, bekannte, daß er erbaut sei von ihm. Am dritten Tage der Krankheit kam Mr. Henry zu mir mit Leichenbittermiene.
»Mackellar«, sagte er, »ich möchte Sie um einen kleinen Gefallen bitten. Wir bezahlen eine kleine Rente, die John abzuliefern pflegt, und da er krank ist, weiß ich niemand, den ich damit beauftragen könnte, als Sie. Die Sache ist recht unangenehm, ich selbst könnte das Geld aus verschiedenen Gründen nicht eigenhändig hintragen. Macconochie, der ein Schwätzer ist, darf ich nicht schicken, und – ich möchte, daß Mrs. Henry von der Sache nichts erfährt.« Er wurde rot bis über die Ohren, als er das sagte.
Um die Wahrheit zu gestehen, glaubte ich, es handle sich um einen Fehltritt Mr. Henrys selbst, als ich feststellte, daß ich einer gewissen Jessie Broun das Geld hintragen sollte. Um so tiefer war der Eindruck, als ich die Wahrheit erfuhr.
Jessie wohnte in einer üblen Seitengasse von St. Bride. Der Bezirk war von Pöbel bewohnt, größtenteils von Schmugglern. Zuerst begegnete ich einem Mann mit verbeultem Schädel, und dann auf halbem Wege hörte ich in einer Kneipe radaulustige und singende Burschen, obgleich es noch nicht neun Uhr war in der Frühe. Ich hatte nie schlimmeres Pack gesehen, selbst nicht in der großen Stadt Edinburgh, und hatte große Lust umzukehren. Jessies Zimmer paßte ganz zu ihrer Umgebung, und sie selbst war auch nicht besser. Sie wollte mir keine Quittung geben, die Mr. Henry mich beauftragt hatte zu verlangen – denn er war sehr pedantisch –, bis sie Schnaps geholt und ich ein Glas mit ihr getrunken hätte. Die ganze Zeit benahm sie sich leichtfertig und kindisch, indem sie zeitweilig die Manieren einer Lady nachäffte und dann wieder allerlei unsinnige Redensarten gebrauchte, bis sie mir Liebesanträge machte, die mich anwiderten. Von dem Gelde sprach sie in tragischen Worten.
»Blutgeld ist es!« sagte sie. »Das ist meine Ansicht, Blutgeld für einen Verrat! Sehen Sie nicht, wie ich heruntergekommen bin? Ach, wenn mein guter Junge wieder hier wäre, dann wäre alles anders. Aber er ist tot, er liegt im Hochland begraben! Der gute Junge, der gute Junge!«
Sie hatte eine verrückte Art, von ihrem guten Jungen zu sprechen, sie rang die Hände und verdrehte die Augen, als ob sie bei wandernden Schauspielern in die Lehre gegangen wäre. Ich hatte die Empfindung, daß ihr ganzer Kummer nur vorgetäuscht war, und daß sie das Geschäft betrieb, weil ihre Schande jetzt alles war, auf das sie stolz sein konnte. Ich will nicht behaupten, daß sie mir nicht leid tat, aber mein Mitleid war mit Verachtung gepaart, und schließlich hörte es ganz auf. Das geschah, als sie mich als Zuhörer satt hatte und schließlich ihren Namen unter die Quittung setzte. »Hier!« sagte sie, stieß höchst unweibliche Flüche aus und forderte mich auf zu gehen und die Quittung dem Judas hinzutragen, der mich gesandt hätte. Zum ersten Male hörte ich damals diese Bezeichnung auf Mr. Henry angewandt, ich war verdutzt über die plötzliche Heftigkeit ihrer Ausdrücke und verließ den Raum wie ein getretener Hund unter dem Hagel ihrer Verwünschungen. Aber selbst dann war ich noch nicht frei, denn die Hexe riß das Fenster auf, lehnte sich heraus und fuhr fort mich zu lästern, während ich die Gasse hinunterschritt. Die Schmuggler kamen aus der Wirtshaustür, begannen ebenfalls zu spötteln, und einer besaß die Unmenschlichkeit, einen wütigen kleinen Hund auf mich zu hetzen, der mich in die Wade biß. Das war eine üble Lehre, wenn ich noch einer bedurft hätte, um solch wüste Gesellschaft zu meiden. Ich ritt nach Hause mit Schmerzen vom Biß und sehr verstimmt in meinem Herzen. Mr. Henry war im Verwaltungszimmer und tat so, als ob er arbeitete, aber ich merkte, daß er ungeduldig auf den Bericht über meinen Gang wartete.
»Nun?« fragte er, sobald ich eintrat, und als ich ihm erzählt hatte, was geschehen war, und daß Jessie die Unterstützung nicht verdiente und sehr undankbar sei, sagte er: »Sie ist mit mir nicht befreundet, aber, Mackellar, ich darf mich nur weniger Freunde rühmen, und Jessie hat Ursache ungerecht zu sein. Ich will nicht verschweigen, was die ganze Gegend weiß: sie wurde von einem Mitglied unserer Familie sehr schlecht behandelt.« Es war das erstemal, daß er andeutungsweise von dem Junker sprach, und ich glaube, auch das war ihm noch zuviel, denn gleich darauf fügte er hinzu: »Ich hätte lieber nichts sagen sollen, es könnte Mrs. Henry und meinem Vater weh tun«, und wieder wurde er rot.
»Mr. Henry«, sagte ich, »wenn ich mir erlauben darf, Ihnen einen Rat zu geben, so würde ich diese Frau laufen lassen. Was nützt einer solchen Person Ihr Geld? Sie ist weder nüchtern noch sparsam, und was ihre Dankbarkeit betrifft, so könnten Sie eher Wein aus Granit zapfen, und wenn Sie Ihre Freigebigkeit beschränkten, hätte das keine anderen Folgen, als daß die Waden Ihrer Boten geschont würden.«
Mr. Henry lächelte. »Ihre Wade tut mir wirklich leid«, sagte er mit angemessenem Ernst.
»Erwägen Sie bitte«, fuhr ich fort, »daß ich Ihnen diesen Rat nach reiflicher Überlegung gebe, obgleich mein Herz anfangs für die Frau eingenommen war.«
»Das ist es, sehen Sie!« antwortete Mr. Henry. »Und denken Sie daran, daß ich sie einst als sehr niedliches Mädel kannte. Übrigens habe ich Rücksicht zu nehmen auf den Ruf meiner Familie, wenn ich auch wenig davon spreche.«
Dann brach er die Unterredung ab, die erste, die wir in solcher Vertraulichkeit führten. Aber am Nachmittag schon bekam ich Gewißheit, daß sein Vater über die ganze Sache vollständig unterrichtet war, und daß Mr. Henry das Geheimnis nur seiner Frau gegenüber wahren wollte.
»Ich fürchte, Sie hatten heute ein unangenehmes Geschäft zu erledigen?« sagte der Lord zu mir. »Und da es in keiner Weise zu Ihren Pflichten gehört, wünsche ich Ihnen meinen Dank auszusprechen und gleichzeitig ans Herz zu legen, falls Mr. Henry es nicht getan hat, daß es sehr wünschenswert wäre, wenn meine Tochter nichts davon erführe. Gedanken über Tote, Mr. Mackellar, sind doppelt peinlich.«
Zorn brannte in meinem Herzen, und ich hätte dem Lord ins Gesicht sagen können, wie wenig angebracht es sei, das Bild des Toten im Herzen von Mrs. Henry zu hegen, und wieviel besser es wäre, das falsche Götzenbild zu zerstören. Schon damals sah ich ziemlich genau, wie es mit meinem Herrn und seiner Frau stand.
Meine Feder ist wohl imstande, eine einfache Geschichte klar niederzuschreiben, aber ich zweifle, ob es mir gelingt, die Wirkung von unendlich vielen kleinen Einzelheiten wiederzugeben, deren jede für sich nicht wert ist berichtet zu werden, und die Geschichte von Blicken und die Bedeutung von Worten, die an sich nicht viel sagen, klarzumachen. Auf einer halben Seite soll ich das Wesentliche aus achtzehn Monaten berichten.
Der Fehler, um es geradeheraus zu sagen, lag ganz bei Mrs. Henry. Sie hielt es für ein Verdienst, ihre Einwilligung zur Ehe gegeben zu haben und sah sie wie ein Märtyrertum an, worin der alte Lord sie bestärkte, mit oder ohne Wissen. Auch ihre Treue gegenüber dem Toten hielt sie für ein Verdienst, obgleich diese Treue einem zarteren Gewissen eher als Untreue gegenüber dem Lebenden erschienen wäre, aber auch hier fand sie Unterstützung bei dem Lord. Ich glaube, er war glücklich, über seinen Verlust sprechen zu können, und schämte sich vor Mr. Henry, dabei zu verweilen. Ohne Zweifel veranlaßte er zumindest eine Art Gruppenbildung in dieser Familie von drei Köpfen, und ausgeschlossen wurde dabei der Ehemann. Es scheint eine alte Sitte gewesen zu sein, daß der Lord seinen Wein beim Kamin einnahm, wenn die Familie allein in Durrisdeer war, und anstatt sich zurückzuziehen, pflegte Mrs. Allison einen Stuhl heranzuziehen und sich mit ihm allein zu unterhalten. Auch als sie die Frau meines Herrn geworden war, wurde diese Gepflogenheit beibehalten. Die innige Vertrautheit des alten Herrn mit seiner Tochter wäre an sich sehr schön gewesen, aber ich war ein zu überzeugter Parteigänger Mr. Henrys, um nicht über seinen Ausschluß erbost zu sein. Häufig genug sah ich, wie er offensichtlich einen Entschluß faßte, den Tisch verließ und zu seiner Frau und Lord Durrisdeer ging, die ihn ihrerseits stets herzlich willkommen hießen, sich ihm wie einem aufdringlichen Kind zuwandten und ihn mit so schlecht verborgenem Eifer ins Gespräch zogen, daß er bald wieder bei mir am Tisch war, wo man nur das leise Gemurmel der Stimmen am Kamin hören konnte – so groß ist die Halle von Durrisdeer. Dort pflegte er nun zu sitzen und die anderen zu beobachten, und ich mit ihm. Manchmal, wenn das Haupt des alten Herrn sorgenvoll nickte, wenn seine Hand den Scheitel Mrs. Henrys berührte oder die ihre wie zum Trost seine Knie streichelte; und wenn sie tränennasse Blicke wechselten, zogen wir die Schlußfolgerung, daß das Gespräch wieder einmal den alten Gegenstand streifte und der Schatten des Toten in der Halle war.
Es gibt Stunden, in denen ich Mr. Henry den Vorwurf mache, daß er alles zu geduldig ertrug, aber man muß sich erinnern, daß er aus Mitleid geheiratet wurde, und daß er sein Weib unter solchen Bedingungen hinnahm. Er fand in der Tat auch wenig Ermutigung, Widerstand zu leisten. Einst bemerkte er, er habe einen Mann ausfindig gemacht, der in der Lage sei, das bunte Fenster auszubessern, eine Angelegenheit, die ohne Zweifel zu seinen Obliegenheiten gehörte, da er alle geschäftlichen Angelegenheiten erledigte. Aber für des Junkers Freunde war das Glas wie eine Reliquie, und beim ersten Wort über eine Ausbesserung stieg Mrs. Henry das Blut ins Gesicht.
»Ich bin erstaunt über dich!« rief sie aus.
»Ich bin erstaunt über mich selbst!« sagte Mr. Henry mit größerer Bitterkeit, als ich sie jemals bei ihm bemerkt hatte.
Nun mischte sich der alte Lord mit weicher Rede ins Gespräch, so daß vor Abschluß der Mahlzeit alles vergessen schien, aber als sich das Paar nach dem Essen wie gewöhnlich zum Kamin zurückgezogen hatte, sahen wir, wie Mrs. Henry ihren Kopf weinend auf seine Knie legte. Mr. Henry setzte sein Gespräch mit mir über irgendeine Wirtschaftsangelegenheit fort. Er konnte kaum über andere Dinge sprechen als geschäftliche und war nie ein guter Gesellschafter, aber an diesem Tage hielt er hartnäckig aus, während sein Blick immer wieder zum Kamin wanderte und seine Stimme eine andere Tonlage annahm, ohne daß er seinen Vortrag abbrach. Die Scheibe jedoch wurde nicht ersetzt, und ich glaube, er betrachtete das als schwere Niederlage.
Ob er nun energisch genug war oder nicht – gütig genug war er, weiß Gott. Mrs. Henry bekundete ihm gegenüber eine Art der Herablassung, die bei einem Weibe meine Eitelkeit aufs höchste verletzt hätte, er aber sah alles wie eine Gunstbezeugung an. Sie hielt ihn immer in einer gewissen Entfernung, vergaß ihn, erinnerte sich dann plötzlich seiner und wandte sich ihm zu, wie man es bei Kindern zu tun pflegt. Sie überhäufte ihn mit kühler Liebenswürdigkeit und tadelte ihn, indem sie die Farbe wechselte, mit zusammengebissenen Lippen wie jemand, der unter einer Schande leidet, jagte ihn umher mit einem Blick ihrer Augen, wenn sie sich nicht beherrschte, und wenn sie sich zusammennahm, dankte sie ihm für die natürlichsten Aufmerksamkeiten, als ob es sich um unerhörte Gunstbezeugungen handelte. Alldem begegnete er mit unermüdlicher Dienstbeflissenheit, er verehrte, wie man im Volk sagt, gewissermaßen den Boden, auf dem sie wandelte, und seine Liebe leuchtete aus seinen Augen wie helles Feuer. Als die kleine Katharine geboren wurde, hielt er sich für verpflichtet, in ihrem Zimmer am Kopfende des Bettes zu verweilen. Dort saß er, wie man mir erzählte, weiß wie ein Bettlaken, Schweiß tropfte von seiner Stirn, und das Taschentuch in seiner Hand war zusammengeknäult zu einer kleinen Kugel. Viele Tage lang konnte er den Anblick des Kindes nicht ertragen, und ich bezweifle, ob er sich der jungen Dame gegenüber jemals so benahm, wie er gemußt hätte. Wegen dieses Mangels natürlicher Gefühle wurde er heftig getadelt.