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In diesem Abenteuer kommen die kleinsten Helden der Fantasy groß raus! Westendtal, die Heimat der Halblinge, schmiegt sich sanft in die Täler der Schroffen Berge. Doch Unheil zieht herauf: Die Herrscherin der dämonischen Erinyen will die Nordlande erobern und ihre Armee in Westendtal stationieren! Die Halblinge brauchen Hilfe. Eine Gruppe von fünf Wagemutigen macht sich auf in die Berge, um den legendären Bronn Sternenfaust zu finden: den einzigen Abenteurer des kleinen Volkes, der einst dorthin zog, um ein Bündnis mit den Drachen zu schließen ...
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Seitenzahl: 756
C. S. West
DERKAMPF DERHALBLINGE
Roman
BASTEI ENTERTAINMENT
Vollständige E-Book-Ausgabe
des in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes
Bastei Entertainment in der Bastei Lübbe AG
Originalausgabe
Copyright © 2013 by Bastei Lübbe AG, Köln
Lektorat: Sabine Biskup
Textredaktion: Andrea Kalbe
Kartenzeichnung: Markus Weber, Guter Punkt, München
Titelillustration: © Dleoblack
Umschlaggestaltung: Guter Punkt, München
Datenkonvertierung E-Book: Urban SatzKonzept, Düsseldorf
ISBN 978-3-8387-4566-4
Sie finden uns im Internet unter
www.luebbe.de
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Der Kampf der Halblinge
Ich bin das Feuer, ihr seid die Asche, die ich hinterlasse.Ich bin der Hieb, ihr seid die Wunde, die ich schlage.Ich bin Zervana von Myrador – meine Geißel schwebtüber euch allen.
Grimmig und mit eisernem Willen kämpfte sich die Gestalt den Berg hinauf. Mit jedem Schritt wallte der lange zerschlissene Umhang, der die bleiche Haut nur teilweise verbarg, um ihre Beine. Ihre Haare, hüftlang und so schwarz wie die Nacht, wehten im Wind. Ein leises, kaum wahrnehmbares Zischen ging von der glimmenden Fackel aus, die sie in der Hand trug und die mit ihrem Lebensodem verbunden war. Doch nicht nur die Fackel stellte im Ernstfall eine todbringende Waffe dar, sondern auch die Geißel, die in einem ledernen Halfter an ihrer Hüfte steckte. Beide Gegenstände waren bezeichnend für eine ihrer Art, und keine Angehörige ihres Volkes würde jemals ohne sie losziehen. Zielstrebig setzte die Frau den Aufstieg fort und presste die Kiefer aufeinander, was ihr scharf geschnittenes Gesicht nahezu besessen wirken ließ. Die Sonne erklomm gerade den östlichen Horizont, um ihre wärmenden Strahlen über die Welt zu schicken. Doch dies erleichterte den Aufstieg nicht. Der Weg war beschwerlich, beschwerlicher als die finstere Gestalt gedacht hatte, doch eine Umkehr kam nicht infrage. Sie wollte einen Blick nach Norden und Nordwesten werfen, und außerdem hatte dieser Marsch für sie – die Eroberin – auch eine symbolische Bedeutung. Der Anstieg wurde steiler und der Fels brüchiger. Immer wieder lösten sich kleine Steinchen, die polternd nach unten fielen. Die Gestalt kümmerte das nicht. Unaufhaltsam näherte sie sich dem Gipfel des Aratols – dem höchsten Punkt der Hohen Wand von Myrador. Das Heulen des Windes wurde zu einem wütenden Brüllen, das einen unbedachten Wanderer in eine der unzähligen Schluchten reißen konnte. Als die Frau endlich den Fuß auf den Gipfel setzte, schlug ihr der Sturm mit brutaler Wucht ins Gesicht. Der zerfetzte schwarze Umhang bauschte sich auf, flatterte, als hätte sich eine wütende Bestie darin verbissen, um ihn wegzureißen.
Dennoch richtete sie sich zu ihrer vollen Größe auf, trotzte den wilden Angriffen der Natur mit eisernem Willen. Die bleichen, schlanken Finger der linken Hand schlossen sich fest um den Griff der Geißel an ihrer Hüfte. Die rechte Hand hob die Fackel, deren knisterndes Feuer auch der tobende Sturm nicht zu löschen vermochte, so weit empor, wie es ihr möglich war. In diesem Moment löste sich die Sonne vom Horizont und erfasste sie mit ihren Strahlen. Stolz hob sie den Kopf, ihr Haar tanzte mit dem Umhang im Wind um die Wette. Die Morgensonne erwärmte die bleichen welken Hautpartien, die nicht durch Kleidung verdeckt waren.
Sie verengte die Augen zu Schlitzen, und ihr Blick richtete sich nach Nordosten, dorthin, wo Eren-Danan, das Reich der Elfen, noch in seinem morgendlichen Schlummer lag. Langsam glitten ihre dunklen Augen nach Westen hinüber und ruhten schließlich auf Arbor: dem Land der Menschen. Es lag unter einem Morgennebel verborgen, der ebenso träge anmutete wie die Bewohner dieses Landes.
Nun, da sie die Herrscherin über Myrador war, würden diese Länder sehr bald schon fallen. Und die Körper ihrer Bewohner würden von den Geißeln ihrer Streiterinnen geschunden werden und dann den Feuern ihrer Fackeln erliegen. Die Schmerzensschreie, vom mitleidlosen Wind bis in die Steppe des Ostens getragen, würden dort ungehört verhallen.
Zufrieden sog sie die kühle Luft ein, nickte grimmig und machte sich wieder an den Abstieg. Es galt, einen neuen Weg zu beschreiten: einen Pfad, der ihrem Volk Sieg und Eroberungen und ihrem Namen einen Platz in der Geschichte bescheren würde.
Dunkler Rauch stieg auf am bewaldeten Südhang der Schroffen Berge. Behäbig legte sich der Qualm über die Wipfel der Tannen, als wollte er sich gar nicht in den Himmel erheben. Er schien förmlich von den spitzen Nadeln aufgespießt zu werden. So zumindest sah es für Jorim Borkenfeuer aus. Der Halbling mit den braunen, dichten Locken, die ihm bis auf die Schultern fielen, saß auf einem herabgebrochenen Ast – dem Ast, der die halbe Veranda seines Baumhauses mit sich in die Tiefe gerissen hatte. Eigentlich wollte Jorim gerade seine Behausung wieder in ihren ursprünglichen Zustand zurückführen, doch die Geschehnisse im Norden von Westendtal hatten ihn abgelenkt.
Nachdenklich blickte er nun nach oben und dorthin, wo seine östliche Veranda einmal gewesen war. Der nördliche, westliche und südliche Wohnbereich waren intakt geblieben, und die Leiter, die zum Baumhaus führte, stand auch noch dort, wo sie hingehörte. Trotzdem war das Ganze kein schöner Anblick. Es passte einfach nicht zu der übrigen gemütlichen Behausung, die sich um den dicken Stamm der uralten Eiche herumzog. Das Wohnzimmer mit den beiden für Behaglichkeit sorgenden Kaminen, vor denen man die Füße hochlegen konnte, und das der Morgensonne zugewandte Schlafzimmer mochten so gar nicht mit dem zerstörten Balkon harmonieren. Ebenso wenig der ausladende Kochbereich oder das Badezimmer, in dem der reinliche Halbling mit Wasser versorgt wurde, das von oben herab durch das Blätterwerk in einen großen Zuber floss. Nein, die Veranda sollte schleunigst repariert und bei dieser Gelegenheit gleich um eine Bank erweitert werden, auf der man sein Pfeifchen schmöken konnte.
Dennoch schweifte Jorims Blick nun wieder nach Norden, und obwohl es nicht selten geschah, dass das Rauchorakel befragt wurde, grübelte er doch darüber nach, welch wichtige Entscheidung der Rat heute wohl zu treffen hatte. Gewöhnlich zog man das Orakel hinzu, wenn schwerwiegende Entscheidungen anstanden, die vom Ältestenrat nicht gefällt werden konnten – oder wenn dieser nicht imstande war, sich zu einigen. Obwohl der Rat aus den Vorsitzenden der fünf Trinktische von Westendtal bestand – alles altehrwürdige Halblinge, erprobte Denker und Trinker, die mindestens einhundert Sommer gesehen haben mussten –, garantierte dies keineswegs eine schnelle Entscheidung. Und deshalb griff man in der Regel nur allzu rasch auf das Rauchorakel zurück. Immerhin verlockte die Pfeife mit dem riesigen Brennraum, den fünf langen, geschwungenen Holmen und den mit hübschen Intarsien verzierten Mundstücken geradezu zum Schmauchen. Dass man dabei auf einer von Felsen und Nadelbäumen umsäumten Lichtung verweilen konnte, machte die Sache noch angenehmer. Wie es schien, saßen auch heute wieder die fünf Ältesten auf der hölzernen Plattform und hatten gar emsig gepafft, bis die hohe Kuppel über der Pfeife endlich mit so viel Rauch gefüllt war, dass man den Mechanismus auslösen und den Rauch hinausströmen lassen konnte. Dies war der Zeitpunkt für den Rat, den Rauch zu begutachten und die Entscheidung herauszulesen – ein Vorgang, der ein höchst komplexes Wissen erforderte und für Jorim, der gerade Mal dreißig Sommer gesehen hatte, eines der größten Rätsel von Westendtal war.
»Ach du heiliges Wildschwein, was ist denn hier geschehen?«
Die Stimme riss Jorim aus seinen Gedanken. Er sprang von dem Ast auf und wandte sich um.
»Enna, sei gegrüßt!«, rief er seiner Schwester zu.
Die blonde Halblingsfrau stemmte die Hände in die Hüften und betrachtete stirnrunzelnd den dicken, herabgefallenen Ast der alten Eiche. Dann ließ sie ihren Blick hinauf zu Jorims beschädigtem Baumhaus wandern.
»Habe ich dir nicht von Anfang an gesagt, du sollst dir eine ordentliche Hütte bauen oder dich in einem der Erdwälle von Hügelwald niederlassen?« Enna schüttelte den Kopf, sodass ihr blonder Zopf hin und her wippte. »Aber nein, mein Bruder muss sich ein Haus in einem der ältesten und morschesten Bäume von ganz Eichenhain bauen!«
Jorim klopfte sich einige Rindenreste vom Hosenboden, dann sah er seine Schwester mit gerunzelter Stirn an.
»Sag mal, Enna, bist du nur gekommen, um über mein Baumhaus zu wettern – auf dessen Veranda du nebenbei bemerkt selbst gern ein wenig tatenarm ruhst –, oder gibt es noch einen anderen Grund?«
Jorim zog eine der dichten, buschigen Brauen in die Höhe, die über seinen dunkelbraunen Augen thronten, und betrachtete Enna mit ernster Miene. Es dauerte nicht lange und Ennas Mundwinkel begannen zu zucken, ehe sie lauthals loslachte. Wie immer war ihr Lachen so ansteckend, dass auch Jorim mit einfiel.
»Nun ja, ich wollte schon ein wenig über deine Behausung herziehen«, erwiderte sie honigsüß, deutete dann aber nach Norden, wo man deutlich den dicken Rauch erkennen konnte. »Siehst du das? Sie haben mal wieder das Orakel befragt.«
Jorim nickte bedächtig und strich sich über sein bartloses Kinn. »Ja, ich sehe es«, antwortete er und gab sich dabei betont gelangweilt.
»Worum es diesmal wohl geht?« Enna schürzte die Lippen und sah Jorim abwartend an.
»Ganz sicher nur etwas vollkommen Belangloses«, entgegnete er.
Enna legte den Kopf schräg und musterte ihn neugierig mit ihren grünen Augen. »Du möchtest also nicht wissen, worüber sie beratschlagen?«
»Eigentlich nicht, nein.« Jorim schielte auf seine Schulter und schnippte mit dem Zeigefinger einen Käfer weg.
»Wirklich nicht?« Ennas Stimme hatte einen herausfordernden Klang angenommen. Jorim bemühte sich indes, ernst zu bleiben, und schüttelte den Kopf. Seine Schwester ließ ihn nicht aus den Augen.
»Schwindler!«, rief sie plötzlich mit einem lauten Lachen und stürmte auch schon los – und Jorim hinterher. Nicht zum ersten Mal wunderte er sich, wie leichtfüßig Enna mit ihren pelzigen Füßen über umgestürzte Baumstämme hinwegsetzte. So manch anderes Halblingsmädchen stellte sich da bedeutend ungeschickter an. Häufig fragte er sich auch, weshalb Enna noch keinen Partner an ihrer Seite hatte. Immerhin war sie nur einen Sommer jünger als er, hatte ein ansehnliches Gesicht mit leuchtenden, grünen Augen und erfreute das Halblingsauge mit ihren hübschen großen Füßen und dem langen Zopf, der gerade jetzt, wo sie durch Eichenhain gen Norden rannten, fröhlich auf und ab hüpfte. Der alte Vern Flusstaucher hatte einst sogar gesagt, Enna sei im Abgang ebenso süß wie der Tabak aus dem fünfblättrigen Sternenreiter – was auch immer der betagte Halbling damit gemeint haben mochte.
»Beeil dich, Bruderherz, sonst ist der Rauch fort, ehe wir ihn erschnuppert haben!«, rief Enna, ohne sich umzudrehen. Jorim gab sich Mühe, sie einzuholen. Er wich einem tief hängenden Ast aus, sprang über die dicke Wurzel einer knorrigen Eiche und schlüpfte kurz darauf zwischen zwei mit Moos bewachsenen Findlingen hindurch. Ein aufgescheuchtes Eichhörnchen erklomm mit empörtem Gezeter den nächsten Baum.
Eichenhain lag in der Mitte von Westendtal auf einem Hügel übersät mit Eichen. Jorim hatte sein Baumhaus auf der höchsten Stelle gebaut, und deshalb ging es nun ständig bergab. Trotzdem war es noch ein weiter Weg nach Nordbruch, das sich in die Tannenwälder schmiegte, die unmittelbar südlich der Schroffen Berge lagen. Dort befand sich auch das Rauchorakel, und dieses war nun ihr Ziel. Jorim hatte Enna mittlerweile eingeholt und warf immer wieder einen Blick nach Norden. Tatsächlich schwelte dort der Rauch noch immer über den Bäumen. Endlich erreichten sie den nördlichen Rand von Eichenhain. Das Land war hier von vielen Senken durchzogen, in denen zahlreiche Halblingsfamilien ihre Behausungen gebaut hatten. Meist bestanden diese aus einem Erdwall, der mit einer kuppelartigen Holzkonstruktion versehen war, die das Dach bildete. Im Gegensatz zu Hügelwald, wo die Halblinge in geräumig ausgestalteten Hügeln wohnten, lebten sie in Eichenhain, Westendweiler und Flusstal vorwiegend in solch kleinen Häuschen mit runden Kuppeldächern, die häufig mit Moos und Borke bedeckt waren. Manch ein findiger Halbling, so wie Jorim, hatte ein Baumhaus als Wohnstätte gewählt oder residierte gar im Inneren einer mächtigen abgestorbenen Eiche.
In Flusstal waren die meisten Häuser direkt am Wasser errichtet. Das kleine Volk – die Halblinge waren nur etwa drei bis vier Fuß groß – baute hier vorwiegend Getreide an und zermahlte es in den Mühlen, die die Nebenflüsse des Erenin säumten.
Nordbruch war dagegen der am schwächsten besiedelte Bezirk. Dort befanden sich große Lagerräume: für die Fässer mit dem süffigen Bier aus Westendtal, für das Pfeifenkraut aus Hügelwald und den hochprozentigen Schnaps, gemacht aus allem, was sich destillieren ließ. Und dazu gehörten nicht nur allerlei wilde Beeren, sondern auch Kartoffeln und sogar Borke aus Eichenhain. Borkenschnaps war immerhin eines der beliebtesten Getränke in den fünf großen Tavernen von Westendtal.
Beinahe hätte Jorim seine Schwester in vollem Lauf umgerannt, als diese urplötzlich stehen blieb und sich schwer atmend auf den Knien abstützte.
»Was ist los, Enna?«, stieß Jorim verblüfft hervor. »Geht dir etwa die Luft aus?«
Enna schüttelte den Kopf. »Während du heute Morgen nur auf deinem Baumstamm gedöst und dem Lied der Vögel gelauscht hast, bin ich bereits in Flusstal gewesen und habe zwei Säcke Mehl auf meinen Schultern nach Hause getragen.«
Jorim zuckte nur mit den Schultern. »Und wenn schon, da hatte ich immerhin schon das dritte Frühstück verdrückt.«
Enna verdrehte die Augen, ersparte sich aber jeglichen Kommentar und eilte weiter über ausladende Wiesen, auf denen sich die ersten Blumen im Frühlingswind wiegten.
Am Ende kämpften sich beide schweißüberströmt die letzten Schritte durch den dichten Tannenwald von Nordbruch, bis dieser endlich die Sicht auf eine weite Lichtung freigab. Jorim und Enna kauerten sich hinter ein Gebüsch, wo sie zunächst ihren hektischen Atem beruhigten. Dann spähten sie durchs Dickicht.
»Das kann doch gar nicht sein«, flüsterte Enna und schob vorsichtig einen Ast zur Seite. »Der Rauch ist anscheinend genauso entscheidungsfreudig wie der Rat.«
Tatsächlich waberte die Rauchwolke noch immer träge in den Baumspitzen nahe der hohen Holzkonstruktion. Diese überdachte die gewaltige Pfeife mit den fünf Holmen, und in der Mitte befand sich eine Auslassöffnung für den Rauch.
Auch die fünf Ratsmitglieder schienen ratlos zu sein. Da standen Eren Langschild von Nordbruch, Helebert Wassertreter von Westendweiler und Talund Krugbrecher von Hügelwald und starrten den Rauch verdrossen an. Selda Korbflechter – die Vorsitzende von Eichenhain und einzige Frau im Rat – und Brim Mühlenstein aus Flusstal saßen auf einem der vielen Findlinge, die auf der Lichtung verstreut lagen.
»So etwas habe ich in der Tat noch nicht erlebt«, hörte Jorim Selda sagen, wobei sich die Halblingsfrau gedankenverloren eine ihrer ergrauten Locken um den Finger wickelte. In ihrem grünen Kleid sah man sie auf dem mit Moos bewachsenen Felsen kaum.
Talund, einer der wohl beleibtesten Halblinge, die Jorim kannte, stach nicht nur durch seine Körpermaße hervor, sondern auch durch sein rotes Wams. Nachdenklich strich er sich über das Doppelkinn. »Ich sage euch, der Wind ist schuld.«
»Unsinn«, hielt Eren, der für einen Halbling recht hochgewachsen war, dagegen und stemmte beide Fäuste in die Hüften. Dann schüttelte er den Kopf und hielt einen Finger in die Luft. »Die Brise ist frisch wie immer. Es muss am Pfeifenkraut liegen.«
»Genau so ist es«, meinte Brim, der mit verschränkten Armen neben Selda saß. Im Gegensatz zu ihr war er in seinem hellblauen Umhang schon von Weitem zu erkennen. »Warum müssen auch Kornbrecher aus Flusstal plötzlich mit der Herstellung von Pfeifenkraut beginnen? Das hätten sie mal besser bleiben lassen sollen. Das Zeug ist viel zu schwer und beißend«, er deutete mit einem kurzen dicken Finger hinauf zu den Bäumen. »Seht nur, es beißt sich regelrecht an den Tannen fest.«
Allgemeines Gelächter brach aus, und auch Jorim und Enna mussten schmunzeln, hielten sich aber rasch eine Hand vor den Mund. Der Rat mochte es gar nicht, wenn man ihre wichtigen Sitzungen beobachtete oder belauschte.
»Ich habe schon beim ersten Zug die feinwürzige Note aus Hügelwald vermisst«, sagte Eren und streckte seine Zunge aus dem faltigen Gesicht hervor. »Stattdessen hab ich mir die Zunge verschmort, so als hätte ich ein Stück glühender Holzkohle gelutscht.«
»Mir hat es gar die Nasenhaare verkohlt«, warf Helebert ein und rieb sich über die dicke, gerötete Knollennase.
»Ist ja bei dem Gestrüpp, das dir aus der Nase wächst, kein Wunder«, tönte Talund so laut, dass seine ausladende Leibesfülle auf und ab wippte. »Pass nur auf, dass die Kornbrecher es dir nicht abschneiden und auch noch zu Pfeifenkraut verarbeiten.«
Dies sorgte nun für brüllendes Gelächter, dem sich lediglich Selda enthielt. »Ich weiß nicht, für mich sieht die Wolke eindeutig wie ein Eisenfuß aus«, sie sprang von ihrem Findling und tippelte einige Schritte vorwärts. »Seht nur, das dort könnte die behaarte große Zehe von Ludor Nimmersatt sein, und die Ausbeulung über der schiefen Tanne eine seiner geschwollenen Fersen.«
»Pah, ich finde das Ganze unsinnig. Das hilft uns bei der Entscheidung, ob Ludor seinen Namen ändern kann, nicht weiter!«, blaffte nun Brim. »Er sollte einfach weiterhin Nimmersatt statt Eisenfuß heißen. Nur weil er vor Wut mit dem Fuß gegen einen Stapel Hufeisen getreten und sich die Zehen gebrochen hat, muss man doch nicht gleich den Namen ändern, den sich sein Ur-Ur-Urgroßvater verdient hat! So ein Tritt ist doch nichts Besonderes.«
»Das nicht«, gab Helebert zu bedenken, »aber dass eines der Hufeisen danach im Scheunentor steckte, sehr wohl.«
»Ludors Scheunentor war ohnehin morsch«, sagte Selda mit einem Schulterzucken.
»Also ich bin dafür, wir eröffnen einfach ein neues Rauchorakel«, schlug Talund vor.
»Aber dieses Mal verwenden wir ein gaumengefälliges Pfeifenkraut«, murrte Brim.
Zustimmendes Gemurmel folgte, und die fünf begaben sich erneut unter das Dach, um zunächst einmal den Brennraum der Pfeife zu reinigen.
Jorim und Enna tauschten einen Blick und beschlossen, nicht länger abzuwarten. Ein wenig enttäuscht von den Geschehnissen am Rauchorakel machten sie sich auf den Rückweg.
»Je belangloser die Fragen sind, desto weniger können sie sich einigen«, klagte Enna, während die zwei durch die Tannenwälder hangabwärts schritten.
»So ist es. Das Orakel zu befragen, nur weil der alte Schmied sich die Zehen gebrochen hat, so ein Unsinn!« Jorim schüttelte den Kopf. »Ich finde die Tradition, den Familiennamen bei besonderen Ereignissen oder Verdiensten zu ändern, ja gut …«
»Aber nur, wenn es auch wirklich Sinn macht!«, nahm Enna ihm die Worte aus dem Mund.
»Und ich für meinen Teil würde gar nicht wollen, dass unser Name geändert wird«, überlegte Jorim.
»Borkenfeuer ist ja auch ein guter Name!«, pflichtete ihm Enna bei und nahm Anlauf, um über einen kleinen Tümpel zu springen, in dem es von Kaulquappen nur so wimmelte. Enna gelang es knapp, über den Teich hinwegzusetzen, und Jorim musste schmunzeln. »Wenn du jetzt ins Wasser gefallen wärst, würdest du Wassertreter heißen, so wie Helebert.«
»Oder Kaulquappentöter.«
»Wie ruhmreich«, murmelte Jorim und entschloss sich, lieber um den Teich herum zu gehen.
Mittlerweile war es später Nachmittag geworden und die Sonne bereits hinter den Schroffen Bergen verschwunden. Die Dämmerung lag über den Wäldern von Nordbruch, und eine feuchte Kühle strich über die Wangen der beiden Halblinge wie der gehauchte Kuss eines kalten Wesens.
»Was war das?«, rief Jorim plötzlich. Er ergriff Enna am Arm und blieb abrupt stehen.
»Was denn?«
»Da vorne.«
»Ich hab nichts gesehen.«
Jorim nahm Enna bei der Hand und schlich geduckt hinter den nächsten Baum. Langsam ließ er sich in die Hocke nieder und lugte dann um den Baum herum. »Es ist weg.«
»Was ist weg?« Enna runzelte die Stirn.
»Der Schatten.«
Enna packte Jorim an der Schulter. »Was für ein Schatten?«
»Ich weiß es nicht genau. Mir war, als hätte ich jemanden durch die Bäume huschen sehen.«
»Jorim«, meinte Enna beruhigend, »wir sind nicht die Einzigen, die den Rat bei seiner Schmaucherei beobachten.«
»Ja, mag sein«, gab Jorim nervös zurück, »aber das war kein Halbling.«
»Wir leben hier in Westendtal«, klärte ihn Enna auf. »Hier gibt es nur Halblinge – und die Tiere natürlich.«
Gebannt schaute Jorim in den Wald, konnte aber nichts erkennen.
»Außerdem«, fuhr Enna fort, »wimmelt es hier von Schatten, wenn die Sonne hinter den Bergen …« Enna brach ab. Jorim wandte sich zu seiner Schwester um und bemerkte, dass sie hinauf in die Bäume starrte.
Er folgte ihrem Blick. »Was ist da oben?«
»Nichts«, sagte sie ganz leise, ohne den Blick von den Baumkronen abzuwenden. »Und genau das läuft mir den Rücken runter wie eine Armee Waldameisen.«
»Du hast recht. Kein Lüftchen bewegt die Blätter, kein Vogel, weder Eichelhäher noch Fink, pfeift, und kein einziges Eichhörnchen ist zu sehen.«
Enna rückte dichter an Jorim heran. »Es ist still geworden im Wald, Jorim, viel zu still. Selbst der Geruch von Harz und Moos ist fort.«
Sie drängten sich aneinander, während sie umherspähten, und Jorim war dankbar für die braune Kleidung, die er trug. Lediglich Ennas helles Hemd machte ihm Sorgen.
Angestrengt versuchten die Geschwister in der zunehmenden Düsternis etwas auszumachen. Doch sie konnten lediglich ein paar huschende Schatten erkennen. Eine ganze Weile wagten sie nicht aufzustehen, drückten ihre Rücken fest gegen den Baumstamm.
Da richtete sich Enna plötzlich auf und deutete mit dem Zeigefinger in die Luft. »Da!«
»Was war das?«, fragte Jorim.
»Ein Eichelhäher.«
»Zu klein für einen Häher, Enna.«
Sie lauschten noch einen Augenblick, konnten aber nichts Verdächtiges hören.
»Komm schon Jorim, wenn überhaupt etwas da draußen war und wir es uns nicht nur eingebildet haben, dann ist es jetzt weg. Mir ist, als fühle sich der Wald wieder normal an.«
Jorim sog die Luft ein. »Du hast recht. Es fühlt sich … besser an.«
»Dann lass uns gehen, bevor es ganz finster wird.«
Vorsichtig erhoben sie sich und schlichen weiter in Richtung Eichenhain. Dabei wandten sie sich immer wieder um, spähten nach links und rechts. Die Schatten eroberten nun den Wald, und mehr als einmal glaubte Jorim ein leises Rascheln zu hören oder meinte gar das flüchtige Aufblitzen eines Augenpaars zu erkennen, das ihn beobachtete.
Enna rieb sich über die Arme, als fröstelte sie. »Ich weiß nicht, wie es dir geht, aber ich muss das Leben in mir wieder mit einem ordentlichen Schluck Borkenschnaps entfachen.«
Jorim sah Enna an. »Rimbors Taverne?« Enna grinste und nickte. Schon liefen sie schnellen Schrittes in süd-östliche Richtung. Dort lag am Ostrand von Eichenhain ein rauschendes Birkenwäldchen, in dem Rimbor Birkenast das älteste Trinkhaus von ganz Westendtal führte. Immer noch auf der Anhöhe von Eichenhain gelegen, hatte man von der Taverne aus einen guten Blick nach Flusstal. Im Sommer, wenn die Tage lang waren, konnte man gar beobachten, wie die Sonne hinter den Schroffen Bergen versank und sich die langen Schatten gen Flusstal streckten. Nach und nach fiel dann das Glitzern der Flüsse der Nacht zum Opfer, bis es die Morgensonne wieder zu neuem Leben erweckte und so das Auge jener Halblinge erfreute, die die Nacht durchgezecht hatten – sofern die Feiernden dann noch klaren Blickes waren.
Begeistert rieb sich Jorim die Hände, als er die Lichter von Rimbors Tavernenhäuschen in der Dunkelheit ausmachte. Von Vorfreude erfüllt schritten sie noch schneller voran. Kurz bevor sie die Tür öffneten, hielt Enna an und deutete hinauf zu den Kronen des Birkenwäldchens. »Hörst du das?«
Jorim nickte. »Ja, es regt sich wieder ein Lüftchen in den Bäumen. Alles ist so, wie es sein soll.« Er seufzte zufrieden und stieß die Tür auf, wo die beiden von fröhlichem Gesang empfangen wurden:
… Eins, zwei, nein, nimm gleich vier,Destilliert ist Schnaps, gebraut ist Bier.Der Trunk so klar und süffig fein,So würzig mild, trink nicht allein!Wenn eines mühsam’ Tages Ende,Zur lang ersehnten Schattenwende,Dein Durst dich plagt mit garst’ger Pein,Sollst du mit Freunden im Trinkhaus sein.Drum trinkt ihr Brüder, trinkt ihr Schwestern,Ihr Väter, Mütter, Töchter all,Denn Arbeit, Mühsal waren gestern,Spült Sorgen runter in einem Schwall!
Jorim wurde es bei den vertrauten Klängen warm ums Herz. Rasch hatte sein kundiges Auge einen Tisch erspäht, an dem für ihn und Enna noch Plätze frei waren.
»Tisch auf, Rimbor, tisch auf!«, rief er dem Wirt zu, während er eintrat. »Eile ist geboten! Bring uns einen, zwei, ach was vier vom wärmenden Borkentropfen und zwei Krüge von dem Freude spendenden Dunklen.«
»Hoho, da ist einer durstig!«, rief Rimbor und klapperte mit den Krügen. Rimbor Birkenast war für einen Halbling recht groß geraten, und die meist schwarze Kleidung und der seltsame Schlapphut ließen ihn sonderbar und älter erscheinen, als er eigentlich war. Rimbor zählte nämlich nur wenige Sommer mehr als Jorim. Beim Gedanken daran, wie Rimbors Familie einst zu dem Namen Birkenast gekommen war, musste Jorim schmunzeln: Es hieß, sein Urahn Elegrin habe eine Liebschaft mit einer ansehnlichen Halblingsdame namens Isa gehabt. Um eine lauschige Nacht zusammen zu verbringen, waren sie in dem Birkenwäldchen verschwunden, wo jetzt die Taverne stand. Als Isa dann anfing sich zu entkleiden, soll Elegrin vor Verzückung zurückgetaumelt und über einen heruntergebrochenen Birkenast gestolpert sein. Durch den Sturz hatte er gar seine Sinne verloren, doch erwachte glücklicherweise wieder unter Isas leidenschaftlichen Küssen. Danach beschloss er, seiner erlebnisreichen Nacht – die angeblich noch aus mehr als einem Birkenast und einem Kuss bestanden haben soll – ein Denkmal zu setzen. So hatte er damals in dem Birkenwäldchen diese liebliche Taverne errichtet, die vor vielen, vielen Sommern den Namen Elegrins Taverne trug und heute eben Rimbors Taverne hieß.
Stöhnend ließen sich Jorim und Enna nun am Tisch nieder.
»Na, ihr beiden hattet wohl einen beschwerlichen Tag?«, wollte Ludor Nimmersatt wissen – der vom Schicksal geplagte Schmied, dessen Namenswechsel vorher beim Rauchorakel diskutiert worden war.
Etwas verlegen rieb sich Jorim den Nacken. »Nun, also wir waren …«
»In Flusstal, Mehlsäcke holen«, warf Enna ein, ehe Jorim sie beide noch in eine missliche Lage brachte.
»Ah, verstehe.« Damit gab sich Ludor anscheinend zufrieden. Er bekam glitzernde Augen, als Rimbor zwei Humpen Bier und vier Gläser des beliebten Borkenschnapses mit lautem Gepolter auf dem Tisch abstellte. Jorim rümpfte die Nase, denn Ludor stank nach verbranntem Horn. Jedes Mal wenn er einem Pony ein Eisen in die Hufe brannte, stand er mitten im schwelenden Rauch, hielt es aber anscheinend nicht für nötig, sich danach gründlich zu waschen.
»Ich hoffe, Jorim hat dich die Säcke nicht alleine schleppen lassen«, sagte da Elvor Sternenfaust und rutschte ein wenig dichter an Enna heran. »Beim nächsten Mal kannst du dich getrost an mich wenden. Für dich trage ich jeden Sack, und sei er noch so schwer«, er blickte kurz zu Jorim, »… wohin auch immer du befiehlst.«
Jorim verzog das Gesicht, denn er mochte Elvor, den Enkel des legendären Bronn Sternenfaust, nicht sonderlich. Bescheidenheit, wie sie vielen Halblingen zueigen war, gehörte nicht gerade zu Elvors Tugenden. Er hielt sich für besonders wichtig und wollte stets überall dabei sein. Sein Großvater Bronn war einer der wenigen Halblinge, die in der Kriegskunst bewandert und in ganz Westendtal bekannt waren. Vor mehr als achtzig Sommern hatten Bronn und seine tapferen Recken Westendtal verlassen, um die Drachen in den Suravan-Bergen zu suchen. Obwohl sie niemals zurückgekehrt waren und niemand etwas über ihren Verbleib wusste, hatte man ihnen in vielen Liedern so manche Heldentat angedichtet. Nicht selten prahlte auch Elvor mit dem Namen Sternenfaust oder benutzte ihn, um die ein oder andere Halblingsdame damit zu beeindrucken. Außerdem war er der Meinung, dass seine wilde, schwarze Lockenpracht jedes Halblingsmädchen schwach werden ließ. Zähneknirschend musste Jorim zugeben, dass Elvor tatsächlich gut aussehend, sein Gesicht fast schon fein geschnitten war. Zudem imponierte er mit einem für einen Halbling recht stattlichen und trainierten Körper. Dass dieser Kerl ausgerechnet Enna immer wieder schöne Augen machte, empfand Jorim als besonders lästig. Nun ärgerte er sich darüber, dass er vorhin nur die beiden leeren Stühle an dem Tisch, jedoch nicht Elvor gesehen hatte.
»Gib dir keine Mühe, Elvor«, erwiderte Enna indes trocken, »ich weiß mit Säcken jeglicher Art umzugehen.«
»Wohl gesprochen«, sagte da Ombur Felsenschlag lachend, ein ergrauter Halbling von gebeugter Gestalt, der zusammen mit dem eher stillen Jul Mühlenstein ebenfalls an ihrem Tisch saß. Ombur hob seinen Krug und prostete Enna, Jorim, Ludor und Jul zu. Elvor ließ er außen vor. »In einem Schwall!«
»In einem Schwall!«, entgegneten Enna und Jorim gleichzeitig, hoben die Gläser mit Borkenschnaps in die Höhe und leerten sie in einem Zug.
Jorim schob das Glas von sich und schnappte sich sogleich das nächste. Das wärmende und belebende Gefühl des Borkentrunks in seinem Bauch wollte er keinesfalls vorübergehen lassen. »Bei der kalten Stille im Wald von Nordbruch brauch ich gleich noch einen.«
Ludor richtete sich auf. »Was wolltet ihr denn da?«
»Oh, na ja«, Jorim zuckte mit den Schultern. »Holz für mein Baumhaus holen.«
»Ich dachte, ihr wart in Flusstal?«, warf Elvor ein.
Enna strich sich eine blonde Locke aus dem Gesicht. »Waren wir auch. Vorher eben.«
»Und weshalb verwendet ihr nicht einfach das harte Holz aus Eichenhain?«, hakte Ludor nach und musterte sie misstrauisch.
»Ist doch jetzt völlig egal«, rief der alte Ombur, beugte sich vor und nickte Jorim und Enna aufmunternd zu. »Nun sagt schon: Was war los in Nordbruch?«
Auch Elvor, Jul und Ludor horchten gespannt auf. Jorim blickte kurz zu Enna, zuckte mit den Schultern und nahm noch einen kräftigen Schluck von dem dunklen Bier, bevor er zu erzählen begann. Er berichtete davon, was er gesehen oder eigentlich auch wieder nicht gesehen hatte, beschrieb die Stille im Wald und die merkwürdigen vorüberhuschenden Schatten.
»Ha, lauscht auf, lauscht auf«, rief Elvor Sternenfaust begeistert und schnippte mit den Fingern. »Das ist doch mal ein feines Schauermärchen für ein Trinkgelage!«
»Das ist kein Märchen, Elvor, sondern eine Tatsache«, erwiderte Jorim gereizt.
»Dort oben in Nordbruch hat es die Sonne sehr eilig, hinter den Bergen zu verschwinden«, sagte Ludor nachdenklich, wobei er sich über das stoppelige Kinn rieb, »… und schnell herrschen Schatten und Dunkelheit in den Tannenwäldern.«
»Eben«, Elvor winkte ab, »da mag man schon mal den Schatten einer wankenden Tanne für eine finstere Gestalt halten.«
»Und außerdem«, fügte Ludor hinzu und hob einen schwieligen, rußgeschwärzten Finger, »Westendtal ist ein entlegener und vergessener Ort in den Südlanden. Für uns interessiert sich niemand, also verirrt sich auch niemand hierher. So war es schon immer.«
Um seine Worte zu bekräftigen, nickte der grauhaarige Schmied eifrig, hob das Glas und trank. Auch Elvor sprach seinem Humpen ordentlich zu, doch nicht ohne vorher Enna zuzuzwinkern. Die streckte ihm, zu Jorims Überraschung, blitzschnell die Zunge heraus und sah sich dann verschämt um, ob sie auch niemand beobachtet hatte.
»Verirrt, das ist es!«, polterte der alte Ombur und kniff seine kleinen, dunklen Augen zusammen. »Es könnte sich doch ein garstiger Mensch oder, noch schlimmer, ein großspuriger Elf hierher verirrt haben. Ihr solltet die Worte der beiden Borkenfeuer nicht so leichtfertig abtun.«
»Ach was«, tönte Elvor, »ich nehme Enna morgen einfach bei der Hand und durchwandere mit ihr die schrecklichen Schatten von Nordbruch.« Er hob seinen Krug und zwinkerte ihr erneut zu. »An meiner Seite würdest du keine Angst verspüren«, prahlte er und trank.
»An deiner Seite würde ich gar nichts spüren«, konterte Enna, doch Elvor gab sich unbeeindruckt.
»Lass es uns doch versuchen.«
»Eher verhungere ich!«
»Ist er denn so schlimm?«, fragte Ombur lachend.
»Schlimmer«, gab Enna zurück.
»Also, ich glaube«, begann nun der schüchterne Jul und rutschte nervös auf seinem Stuhl umher, »Jorims Geschichte könnte durchaus wahr sein.« Rasch leckte er sich die Lippen, seine großen, runden Augen huschten zwischen den am Tisch Sitzenden hin und her. Jul Mühlenstein war ebenso alt wie Enna, hatte eine recht blasse Haut und eine eher dünne Statur, was seinen wohlgerundeten Bauch umso mehr zur Geltung brachte. Seine blonden Haare hingen ihm wirr in die Stirn und auf Jorim wirkte er immer so zerknirscht, als wäre er gerade zwischen zwei Mühlsteine geraten.
»Natürlich ist unsere Geschichte wahr«, sagte Jorim mit Nachdruck. »Immerhin wissen wir, was wir erlebt haben, nicht wahr, Enna?« Er sah Enna an, und seine Schwester nickte zustimmend.
»Genauso ist es.«
»Aber woher willst du das denn wissen?«, wandte sich Elvor nun an Jul. »Du musst doch andauernd die alten Mühlen in Flusstal am Laufen halten und siehst kaum was von der Welt.«
»Lasst ihn ausreden!«, fegte Enna die Einwände beiseite und beugte sich in Juls Richtung. »Also, Jul, hast du auch etwas gesehen?«
Mittlerweile waren an den anderen Tischen die Gespräche verstummt, und viele lauschten mehr oder weniger gebannt, was es zu berichten gab.
Unsicher ließ Jul seinen Blick durch die Taverne schweifen.
»Nun sag schon«, forderte ihn Enna auf und gab ihm einen ermunternden Stups.
»Da waren Spuren«, begann er.
»Was für Spuren?«, fragten Ludor und Ombur gleichzeitig.
»Fußspuren, jedoch nicht von Halblingen.«
»Waren es vielleicht Hoppelhasen?« Elvor grinste süffisant.
»Nein, Spuren von zweibeinigen Wesen«, fuhr Jul unbeirrt fort. »Stiefelabdrücke waren es, so groß wie die eines Menschen und vorne ungewöhnlich spitz zulaufend. Ich habe sie in Hügelwald gesehen.«
»Ha«, ertönte da eine kratzige Stimme, die nur zu Vern Flusstaucher gehören konnte. Vern war der älteste Halbling und hatte das Höchstalter von einhundertfünfzig Sommern sogar schon um zehn Sommer überschritten. Er hatte alle Haare auf seinem Kopf verloren, bis auf einen schmalen weißen Kranz, der ihm zu einem Zopf gebunden bis auf den Rücken hing. Im Gegensatz dazu wuchsen ihm ganze Haarbüschel aus Nase und Ohren, die – genau wie sein Fußpelz – so weiß waren wie die Haare auf seinem Kopf. Auf einen Stock gestützt schlurfte er näher, seinen Hocker hinter sich herziehend. Milchig-trübe Augen blickten ins Leere, denn Vern war blind.
»Das sind bestimmt diese grässlichen Unwesen aus dem fernen Süden«, rief Vern mit zittrig erhobener Faust. »Wie heißt dieses Volk noch mal?« Er runzelte die Stirn so sehr, dass Jorim sich wunderte, wie man so viele Falten in ein einziges Gesicht bringen konnte.
»Wovon sprichst du, Vern?«, wollte Ludor wissen und wedelte mit den Händen umher, sodass Jorim rasch seine Nase über das Schnapsglas hielt, um dem penetranten Geruch nach Horn zu entgehen.
»Borkendreck und Pfeifenasche«, fluchte Vern und kratzte sich am Kopf. »Ich erinnere mich nicht – und obendrein habe ich jetzt auch noch vergessen, an was ich mich nicht erinnern kann.«
Das führte zu noch größerer Verwirrung unter den Halblingen, doch Jorim half Vern auf die Sprünge.
»Du hast von grässlichen Unwesen aus dem Süden gesprochen.«
»Ach ja, die Unwesen«, wiederholte Vern. »Die leben im Süden und tragen Stiefel, die so spitz sind, dass sie damit ein Wildschwein aufspießen können.«
»An die Stiefel erinnerst du dich, aber nicht an den Namen dieses Volkes?«, rief Rimbor, der Wirt, über die Theke hinweg und schüttelte den Kopf.
»Wurdest wohl von einem solchen Stiefel in die Hinterbacken getreten«, gluckste Elvor, was zu allgemeinem Gelächter führte, von Jorim, Enna, Jul und Ombur abgesehen.
»Er meint die Erinyen von Myrador, ein boshaftes Frauenvolk, bei dem Männer nichts zu sagen haben!«
Augenblicklich trat Stille ein. Alle Blicke wanderten zum Kamin, wo nur noch kleine Flammen in der rot pulsierenden Glut loderten. Daneben saß Nespur Fährtenauge, ein äußerst kundiger Spurenleser, der bereits viel umhergereist war. Langsam legte er noch zwei Scheite Holz nach und wartete, bis die Flammen sich darum schlossen. Obwohl Nespur bereits einhundertfünf Sommer zählte, war sein Haar immer noch tiefschwarz und wallend. Nicht ein einziges graues Haar war darin zu sehen. Über dem linken Auge trug er eine Augenklappe aus dunklem Leder. Hose und Hemd waren so schwarz wie sein Haar, ebenso die dicke Lederweste, die er trug. Jorim kannte ihn nicht anders. Waren die meisten Halblinge bestenfalls mit Harke, Rechen oder einem Dreschflegel bewaffnet, so zierten Nespurs Gürtel stets zwei lange Dolche. Nespur redete nicht viel, doch wenn er es tat, schwiegen alle voller Ehrfurcht.
»Aber die Erinyen sind ein aussterbendes Volk, das weiß doch jeder«, brach Ludor das Schweigen.
»Dennoch habe ich die Spuren gesehen«, sagte Jul, schwieg aber schnell wieder, als er damit die Aufmerksamkeit einiger auf sich zog.
»Das ist doch alles Unsinn!«, rief nun Rimbor dazwischen. »Schatten, Stiefelabdrücke, Erinyen. Trinkt lieber und lasst die Welt dort draußen, wo sie ist, nämlich weit weg von Westendtal!«
Zustimmendes Gemurmel ertönte, und der ein oder andere Tavernenbesucher kam Rimbors Aufforderung nach und leerte seinen Krug. Jorim schüttelte den Kopf, Enna schnaubte verächtlich und Jul zuckte hilflos mit den Schultern.
»Lasst es gut sein«, brummte Ombur und tätschelte beruhigend Jorims Schulter.
»Narren«, krächzte Vern. »Sie kennen nicht die Dunklen, die im Süden leben. Borkendreck und Pfeifenasche, sag ich nur.«
»Auch ich habe die Spuren gesehen!« Abermals kehrte Stille ein. Nespur Fährtenauge stand auf und trat langsam näher. Die Flammen hatten sich nun in das Holz gefressen und ihr Knistern erfüllte den Raum. »Am Westufer des Erenin bin ich auf eine Fährte gestoßen.« Sein ausgestreckter Arm wies in die Richtung, in welcher der Erenin gemächlich an Flusstal vorüberströmte. »Ich folgte ihr bis nach Hügelwald, dann zog ich weiter zur Gräsernen Furt. Ob es Erinyen waren, kann ich nicht sagen, doch die Abdrücke sahen so aus, wie Jul sie beschrieben hat.« Nespur hob einen Finger und sein Blick wanderte abschätzend über die Halblinge. »Das ist die Wahrheit, und keiner sollte an meinen Worten, denen von Jul oder an denen des Borkenfeuers zweifeln.«
Das tat auch niemand mehr – zumindest nicht laut. Nespur wartete einen Moment, dann trank er aus und verließ ohne ein weiteres Wort die Taverne.
Betretenes Schweigen breitete sich aus, unsichere Blicke wurden getauscht. Doch nur für eine kurze Weile.
»In einem Schwall!«, unterbrach Elvor die Stille. »In einem Schwall«, ertönte es, und das fröhliche Trinken und Beisammensein wurde fortgesetzt. Dennoch entging Jorim nicht, dass der ein oder andere Halbling nun ein klein wenig nachdenklicher an seinem Bier nippte.
Auch er und Enna leerten schließlich ihre Krüge, verabschiedeten sich und machten sich auf den Heimweg.
Eine sternenklare Nacht erwartete die beiden, als sie vor die Tür traten. Jorim sog die Luft ein, und als er ausatmete, konnte er seinen Atem deutlich sehen. Die Nacht war kalt, ein leiser Wind brachte die Birkenblätter zum Rascheln, und das Mondlicht ließ die Stämme der Birken ebenso silbrig schimmern wie die vielen Flüsse in Flusstal, die man von dieser Anhöhe aus sehen konnte. Wie feine, silberne Adern durchzogen sie die schwarze Nacht und speisten den Bezirk Flusstal mit ihrem Leben spendenden Nass.
Ennas Häuschen lag nicht allzu weit von Jorims Baumhaus entfernt, und von Rimbors Taverne aus konnten sie ohnehin denselben Weg nehmen. So zogen sie gemeinsam los und ließen die Lichter des Gasthauses hinter sich.
»Ich wüsste gerne, was die gute Selda als Vorsitzende unseres Trinktisches davon halten würde«, meinte Jorim, nachdem sie eine Weile schweigend nebeneinander hergegangen waren. Er dachte an ihren Platz, der heute am Stammtisch, gleich an der Eingangstür des Trinkhauses, leer geblieben war.
»Wahrscheinlich befragen sie und die anderen Ratsmitglieder noch immer das Rauchorakel«, erwiderte Enna. »Als ob es nichts Wichtigeres gäbe.«
»Nespur hat die gleichen Spuren gesehen wie Jul«, sinnierte Jorim und stieg über eine dicke Wurzel. »Irgendetwas geht hier vor sich. Ich habe ein ungutes Gefühl.«
»Ich auch, Jorim, ich auch.«
Wie um ihre Worte zu bekräftigen, erklang in der Ferne der Ruf eines Käuzchens. Normalerweise liebte Jorim es, bei Einbruch der Dämmerung auf der Veranda seines Baumhauses zu sitzen, ein Pfeifchen zu rauchen und den Geräuschen der Nacht zu lauschen oder die wundersamen, leisen Flugmanöver der Fledermäuse zu beobachten. Heute jedoch lag etwas Unheilvolles darin – fast klang der Ruf des Käuzchens verzweifelt.
Wieder stieß der Vogel seinen Schrei aus, und Enna blieb stehen. »Klingt irgendwie schaurig«, flüsterte sie und sah sich unbehaglich um.
»Lass uns weitergehen«, entgegnete Jorim. »Die ganzen Geschichten haben unsere Sinne verwirrt. Morgen sieht der Tag bestimmt ganz anders aus.«
»Hoffentlich hast du recht«, wisperte Enna, und sie wanderten weiter.
Ein ausgetretener Pfad führte sie tiefer in den Eichenwald hinein. Der Blätterbaldachin breitete sich immer dichter über ihnen aus, und nur noch selten drangen die Strahlen des Mondes hindurch. Ein kurzes Stück herrschte vollkommene Dunkelheit, bis sich der Wald wieder etwas lichtete und sie zumindest den Weg vor sich erkennen konnten. Dann hörten sie das wohlbekannte Plätschern eines kleinen Baches, über den eine geschwungene Holzbrücke hinwegführte. Unmittelbar dahinter teilte sich der Pfad. Von dort aus verlief ein Weg nach Süden – diesen musste Enna nehmen. Der andere führte in nördliche Richtung; das war Jorims Weg. An diesem Abend jedoch wollte er seine Schwester nach Hause begleiten.
Während sie über die Brücke gingen, verursachten ihre nackten Füße kaum Geräusche auf dem Holz. Jorim blickte nach links, wo das sprudelnde Bächlein über einige dicke Felsen hüpfte und im Mondlicht glitzerte. Schon wollte er wieder wegsehen, da erregte etwas am Ufer seine Aufmerksamkeit. Jorim blieb stehen, dann machte er einen Schritt zurück.
»Was ist?«, fragte Enna.
Jorim hörte ihre Stimme wie aus weiter Ferne. Angespannt spähte er nach unten. Irgendetwas war dort, das ihm einen Schauder über den Rücken trieb. Seine Hände krampften sich so fest um das Geländer, dass seine Finger schmerzten.
Langsam trat Enna näher. Wie in Trance deutete Jorim zu der Uferstelle. »Dort, neben dem Farngebüsch. Siehst du es auch?«
Ihr Blick folgte seinem zitternden Finger. Dann schlug sie die Hände vor den Mund und unterdrückte einen Aufschrei. Dort unten neben einem Farngebüsch befanden sich mehrere Fußabdrücke, die genau so aussahen, wie Jul sie beschrieben hatte: von der Größe eines menschlichen Fußes und ungewöhnlich spitz zulaufend.
Jorim konnte fühlen, wie Ennas Finger sich in seinen Unterarm krallten. »Lass uns gehen, Jorim!« Ihre Stimme bebte vor Angst.
»Wir müssen nachsehen«, entgegnete er.
Er griff ihre Hand und zog sie mit sich. Sie verließen die Brücke und schlichen sich behutsam ans Ufer. Langsam gingen sie auf das Farngebüsch zu. Ihr Atmen erschien Jorim ungewöhnlich laut. Er hatte das Gefühl, als hielte der ganze Wald die Luft an.
Sie erreichten die Fußabdrücke. Jorim holte tief Luft, presste die Lippen aufeinander und schob die Farnwedel beiseite. Das Entsetzen, das ihn packte, hätte nicht größer sein können: Vor ihm lag eine Gestalt, zusammengekrümmt und grausig zugerichtet. Die Kleidung war an vielen Stellen zerfetzt, die Haut, die darunter hervorschimmerte, glänzte dunkel und feucht. Das Gesicht war verzerrt, als hätte es etwas unsagbar Schreckliches gesehen. Eine Hand hielt einen Stein fest umschlossen, die andere war wie zur Abwehr erhoben, die Finger grotesk gekrümmt.
Jorims Mund wurde staubtrocken, Enna drückte sich an ihn und schluchzte laut auf.
»Nun wissen wir, weshalb der Platz am Stammtisch heute leer geblieben ist«, flüsterte Jorim nach einer halben Ewigkeit, wie es ihm schien. Zu ihren Füßen lag der geschundene Körper von Selda Korbflechter, einstiges Ratsmitglied und Vorsitzende von Eichenhain.
Weiter im Osten, im Bezirk Flusstal an den Ufern eines Seitenarms des Erenin, warfen die Flammen eines Feuers ihren rötlichen Schimmer auf das mehr als halblingshohe Schilf. Auf seinem ansehnlichen Bauch liegend, robbte Toram Otterschreck durch das Gras, schob sich Stück für Stück dem Feuer entgegen, das dort in unmittelbarer Nähe loderte. Der verlockende Duft von Gebratenem stieg ihm in die Nase und ließ ihm das Wasser im Munde zusammenlaufen. Er hob den Kopf, bog das Schilf auseinander und spähte hinüber. Sein Herz machte vor Freude einen Sprung, denn niemand war dort. So band sich Toram rasch die roten Haare zurück und langte nach seinem Taschenmesser. In verzückter Vorfreude auf den Braten leckte er sich die Lippen. Gerade als er losstürmen wollte, legte sich eine Hand um seinen Mund, eine andere packte mit eisernem Griff seine Schulter und drückte ihn mit erstaunlicher Kraft zu Boden. Das Messer glitt ihm aus der Hand, und plötzlich wurde er grob auf den Rücken gedreht. Erschrocken blickte er in ein Gesicht, das zur Hälfte von schwarzem Haar bedeckt wurde und über dessen linken Auge eine Lederklappe prangte. Ein Finger hatte sich über die Lippen des nächtlichen Besuchers gelegt und bedeutete Toram zu schweigen.
»Nespur?«, flüsterte der Halbling dennoch.
»Schweig, Toram Otterschreck, oder der Tod ereilt dich mit Gewissheit.«
Toram gefror das Blut in den Adern. Nespur war ihm unheimlich, doch die Dringlichkeit, die in seinen Worten lag, beunruhigte ihn noch viel mehr. Mit seinem einen Auge lugte der Fährtenleser durch das Schilf, und die Flammen des Feuers tanzten gespenstisch über sein Gesicht. Endlich löste sich Nespurs Hand von Torams Mund, und der rothaarige Halbling atmete ein wenig auf. Er drehte sich wieder dem Lagerfeuer zu und wollte sich schon beklagen, da wies Nespurs Finger nach links und legte sich dann abermals auf seine Lippen. Toram runzelte die Stirn, denn die Dunkelheit schien sich plötzlich zu bewegen. Doch dann sah er sie: Es waren zwei Gestalten von schaurigem Äußeren, die sich da aus der Düsternis lösten und mit großen Schritten, fast schwebend, auf das Feuer zuhielten. Schwarze Umhänge umflossen ihre hochgewachsenen, schlanken Körper, die Toram auf etwa sieben Fuß schätzte. Zunächst dachte er, die Gewänder hätten helle Flecke, doch der Feuerschein offenbarte ihm, dass es sich dabei um fahle Haut handelte, die durch zahlreiche Löcher zu sehen war. Langes, schwarzes Haar floss über die schmalen Schultern der Gestalten. Und jede hatte zwei Gegenstände bei sich, die Toram mit Staunen erfüllten: In einem Halfter an ihrer Hüfte hing eine Peitsche mit mehreren Schnüren, und in der Hand trug jede von ihnen eine glimmende Fackel.
»Was zum …« Weiter kam er nicht, denn schon hatte Nespur die Hand wieder auf seinen Mund gelegt, ohne den Blick von den ungewöhnlichen Wesen abzuwenden.
Eine mit Eisen beschlagene Stiefelspitze stocherte in der Glut des Feuers herum, worauf knisternde Funken nach oben flogen und kurz darauf in der kühlen Luft erstarben. Die zweite Gestalt ging in die Hocke, streckte eine bleiche Hand nach dem Braten aus und nahm ihn samt Spieß vom Feuer. Toram konnte hören, wie sie daran schnüffelte. Dann biss sie in das Fleisch, spuckte den Bissen aber gleich wieder aus und warf den Braten achtlos beiseite. Er landete unmittelbar vor Toram und Nespur im Schilf. Toram hätte die Hand danach ausstrecken können, hielt dies aber im Augenblick doch für ein wenig gewagt.
»Verbranntes Fleisch«, zischte eine Stimme, die für Torams Ohren weiblich klang. »Es ist eine Schande, den Lebenssaft aus dem Fleisch herauszubrennen, und eine Beleidigung für den Gaumen ist es obendrein!«
»Du bist wählerisch, Esradal«, entgegnete die andere Gestalt langsam und mit ruhiger Stimme. Dann fuhr sie plötzlich mit der Peitsche in der Hand herum und holte aus. Es gab einen lauten Knall, Toram schrak zusammen, und kurz darauf schossen die Geißeln in Richtung der beiden Halblinge. Mit aufgerissenen Augen beobachtete Toram, wie sich die spitzen metallenen Widerhaken an den Enden der ledernen Schnüre treffsicher in das Bratenfleisch gruben und es zurückrissen – direkt in die ausgestreckte Hand der hochgewachsenen Gestalt, deren Gesicht größtenteils von der Nacht verdeckt wurde. Auch sie kostete nun von dem Fleisch, kaute darauf herum und nickte anerkennend. »Nicht viel ist uns bekannt über das Volk der Halben«, schnurrte sie, »aber Speisen würzig zuzubereiten, scheint eine ihrer Gaben zu sein.«
»Dann iss, Moydana. Ich werde mir saftigeres Fleisch suchen – später, wenn die Nacht am dunkelsten ist.«
Mit dem Rücken zu Toram und Nespur ließen sich die beiden fremdartigen Gestalten am Feuer nieder. Die eine starrte reglos vor sich hin, die andere aß ohne ein Geräusch zu verursachen. »Fast schon zu schade, die Halben auszurotten«, sagte sie schließlich.
»Doch das wogende Meer aus Gras in der Gräsernen Furt eignet sich einfach zu gut für unser Vorhaben, in die Nordlande überzusetzen«, antwortete die andere mit dem Namen Esradal. »Das Gebiet dort ist flach und ragt weit in die Meeresenge von Dovan hinein.«
»Wenn unsere Streiterinnen hier einfallen, werde ich mir einen als Sklaven nehmen«, hörte Toram Moydana sagen. »Er soll mir dann mein Mahl zubereiten und so lange leben, wie es mir gefällt.«
Esradal schnaubte abfällig. »Es wird wenig Zeit bleiben für Vergnügungen dieser Art. Zervana dürstet es nach Krieg und Eroberungen. Die Menschen aus Arbor und die Elfen aus Eren-Danan vertrieben zu haben ist ihr nicht genug.«
»Nun, unsere neue Herrscherin ist eben nicht nur strebsam, sondern beweist auch Weitsicht«, erwiderte Moydana.
»Wie meinst du das?«
Toram sah, wie Moydana den Kopf Esradal zuwandte und genüsslich kaute. Kurz offenbarte der Schein des Feuers ein sehr feines Gesicht von unsagbarer Schönheit, doch dann meinte Toram eine unvergleichliche Bösartigkeit in den dunklen Augen aufblitzen zu sehen. In diesem Moment drehte Moydana ihren Kopf schon wieder dem Feuer zu. »Zervana hat die Südlande erobert, doch viele der Menschen und Elfen sind über die Meeresenge von Dovan in die Nordlande geflohen.«
»Das ist mir nicht entgangen«, zischte Esradal.
»Gut, denn dann weißt du auch, dass dort Zwerge und, schlimmer noch, die Nordelfen leben.«
Esradal deutete ein Nicken an. »Sprich weiter.«
»Während die Elfen von Eren-Danan meist Gelehrte und Heiler sind und in der Kriegskunst wenig bewandert, sind ihre Verwandten aus dem Norden ein kriegerisches Volk, so sagt man. Zervana fürchtet, die Geflohenen könnten mit einer Armee aus Eren-Umdil zurückkehren, vielleicht sogar mit einem Heer tobender, hässlicher Zwerge aus Grimbor.«
»In der Tat«, stimmte Esradal zu, »eine Gefahr, die sie nicht unterschätzen sollte.«
»Und genau aus diesem Grund wird Zervana vorher zuschlagen und in den Nordlanden einfallen, um auch diese Länder zu unterwerfen. Doch dazu muss sie unsere Streiterinnen über die Enge von Dovan bringen …« Moydana breitete die langen Arme aus. »Und welcher Ort würde sich besser eignen, um unser Heer zu stationieren und Schiffe zu bauen, als die Gräserne Furt? Zervana wird erfreut sein, wenn wir ihr von dieser Stelle berichten. Wenn nebenbei das Volk der Halben ausgerottet wird, ist das für sie nicht von Belang.«
Toram glaubte nicht, was er da hörte. Er konnte fühlen, wie ihm seltsam kalt wurde, und als er in Nespurs Gesicht blickte, sah er auch dort Ungläubigkeit. In der Tat konnte er sich nicht daran erinnern, den Fährtenleser jemals so entsetzt gesehen zu haben.
»Wenn sie nur auf die widerwärtigen Ghule verzichten würde«, drangen erneut Worte an Torams Ohr. »Ich wage noch immer zu hoffen, das Bündnis mit den Totenessern ist nur ein Gerücht«, meinte Esradal, und ihre Stimme verwob sich fast mit dem Knistern der Flammen. »Wir sind Erinyen, wir sind stark, unsere Armee zählt beinahe zwanzigtausend und wir brauchen sie nicht. Außerdem verlieren wir durch die Verhandlungen wertvolle Zeit.«
»Ich habe mit Yorak gesprochen, vor vielen Tagen bereits«, entgegnete Moydana. »Es hat lange gedauert, unser Volk wieder erstarken zu lassen. Wie Yorak mir erzählt hat, will Zervana unbedingt vermeiden, dass wir bei einer großen Schlacht in den Nordlanden wieder aufgerieben werden.«
»Und aus diesem Grund braucht sie die Ghule«, schloss Esradal.
»So ist es. Ein weiterer höchst raffinierter Zug, mit dem sie Weitsicht und wahre Größe beweist wie noch keine Herrscherin vor ihr.«
Eine Fledermaus, die bereits seit einer Weile über den Köpfen der Erinyen kreiste, stieß plötzlich herab, offenbar um einen Falter zu fangen, bevor dieser in den Flammen verbrannte. Doch in einer fließenden Bewegung erhob sich Moydana, ihr Umhang wallte durch die Luft, und sie fing das unglückselige Geschöpf der Nacht. Kurz loderte die Fackel auf, ein Piepsen ertönte, dann ein Zischen – und ein Häufchen Asche rieselte zu Boden.
Toram schluckte schwer, seine Hände waren feucht geworden. Er legte Nespur eine Hand auf den Rücken und brachte seinen Mund ganz dicht an dessen Ohr. »Ich habe genug gehört, lass uns gehen.«
Nespur schüttelte nur den Kopf und wedelte mit dem Zeigefinger vor Torams Mund hin und her.
Plötzlich hörte Toram ein flatterndes Geräusch und schaute in die Richtung des Feuers. Nur noch eine der Erinyen stand hoch aufgerichtet im Feuerschein – die andere war verschwunden. Doch sogleich entdeckte Toram sie am Rande des Schilfs, nur wenige Schritte von seinem und Nespurs Versteck entfernt. Er duckte sich tief in den nassen Grund, während er das Krabbeln einer Spinne an seinem Hals ignorierte. Die Erinya zeichnete sich vor dem Mond ab, wie Gestalt gewordene Dunkelheit. Schon schnellte die gefährliche Peitsche nach vorne und schlug in das Schilf. Ein Hieb riss die Halme zu Torams Linken, der nächste die zu seiner Rechten in Fetzen. Er schloss die Augen, hoffte inständig, die Widerhaken würden sich als Nächstes nicht in sein Fleisch bohren.
»Hör auf, das Schilf zu töten«, drang Moydanas Stimme durch die Nacht. »Es ist kein würdiger Gegner. Lass uns weiterziehen und Zervana Kunde bringen.«
»Mir war, als hätte ich ein Geräusch gehört«, meinte Esradal. Noch ein letztes Mal knallte die Peitsche, dann war es vorüber. Toram wagte nicht, den Kopf zu heben.
»Sie sind weg«, hörte er Nespur nach einer halben Ewigkeit sagen. »Und der Braten, den ich so sorgsam zubereitet und mit Wildentenkraut gewürzt habe, ebenso.«
»Das war dein Lagerfeuer?«, wunderte sich Toram. Nespur nickte.
»Woher wusstest du, dass sie kommen würden?«
»Der Wind hat es mir geflüstert.« Damit erhob sich der Fährtenleser und trat aus dem Schutz des Schilfdickichts hervor. Toram blickte ihm erstaunt nach, dann beeilte er sich jedoch, ihm zu folgen.
Nespur trat ans Feuer, ließ sich in die Hocke nieder und betastete die Fußabdrücke, während Toram den vollständig abgenagten Knochen aufhob und beäugte.
»Wie jene, die ich in Hügelwald gesehen habe«, murmelte Nespur. Dann richtete sich sein Blick auf Toram. »Komm, lass uns gehen. Die fünf aus dem Rat haben Entscheidungen zu treffen.«
Am nächsten Morgen waren Wolken aufgezogen. Sie hatten sich während der letzten Atemzüge der Nacht über die Meeresenge von Dovan nach Süden geschoben und wurden nun von den gezackten Spitzen der Schroffen Berge regelrecht durchbohrt. Dort hingen sie und warteten auf den Wind, der sie weiter ihres Weges treiben würde. Noch fiel kein Regen vom Himmel, doch er würde nicht mehr lange auf sich warten lassen.
Und so verfinsterten die dräuenden Wolken die Herzen der Halblinge von Westendtal ebenso wie die dramatischen Ereignisse der vergangenen Nacht.
Jorim und Enna waren nach ihrem schrecklichen Fund sogleich zu Rimbors Taverne zurückgerannt und hatten davon berichtet. Zunächst waren sie auf Unglauben gestoßen, doch schnell hatten die anderen ihr Entsetzen erkannt und waren ihnen zum Ort des grausigen Geschehens gefolgt. Die Wahrheit war unumstößlich: Selda Korbflechter war tot. Ermordet von Wesen, die den Halblingen nicht bekannt waren. So war während der Nacht helle Aufregung ausgebrochen in dem sonst so verträumten Ländchen namens Westendtal, und nun, im Morgengrauen, hatten sich die verbleibenden vier Ratsmitglieder zusammen mit Jorim und Enna Borkenfeuer in Nordbruch auf der Lichtung des Rauchorakels eingefunden. Natürlich waren noch andere Halblinge gekommen, unter ihnen Elvor Sternenfaust, Ombur Felsenschlag und Jul Mühlenstein. Weitere würden sicher folgen, wenn sie die Kunde von den Ereignissen erst erreicht hatte.
Selda Korbflechter hatte man an der Felsenpforte bei Westendweiler aufgebahrt, von wo aus die Halblinge ihre Toten den Wellen des Wilden Meeres übergaben. Das Volk der kleinen Leute glaubte nämlich, dass dort, wo Sturm und Wasser sich trafen, die Seelen ihrer Verstorbenen von den Winden in die Grünen Gefilde des Jenseits getragen würden.
»Man mag viele Sommer und Winter zurückzählen«, ertönte nun die volle Stimme von Talund Krugbrecher, der wie die anderen Ratsmitglieder auf einem der umherliegenden Findlinge saß. »Doch einen solch erbarmungslosen und grausamen Mord wird man in der Geschichte Westendtals nicht noch einmal finden!«
Zustimmendes Nicken folgte seinen Worten, wie Jorim beobachten konnte. Selbst Elvor, der selten um Worte verlegen war, verhielt sich still – wenigstens für den Augenblick.
»Wir Ratsmitglieder sind uns einig, dass ein solches Verbrechen nicht von Halblingshand ausgeführt wurde, sondern von Kreaturen der Finsternis, die durch unser Land geschlichen sind.«
Niemand widersprach, doch so manch einer runzelte die Stirn. Elvor sah zu Jorim und Enna herüber, wandte aber den Blick rasch wieder ab.
»Aber wir gehen davon aus, dass – so tragisch dieser Vorfall auch ist – es sich um einen Einzelfall handelt, wie er sich in unserer Geschichte hoffentlich nie wieder ereignen wird.«
»Wie könnt ihr so etwas sagen?«, rief Enna und sprang auf. »Wir haben euch doch von unserem Erlebnis im Wald von Nordbruch berichtet, und Jul«, sie deutete auf den zurückhaltenden Halbling mit den großen Augen, »hat die Stiefelabdrücke gesehen. Vielleicht halten sich die Fremden noch immer in Westendtal auf und das Töten geht weiter!«
Talund öffnete den Mund zum Protest, doch Juls Großvater Brim Mühlenstein kam ihm zuvor. Er hatte mit seinem Enkel keinerlei Ähnlichkeit, war er doch rund wie ein kleiner Braunbär und mit Haaren von derselben Farbe.
»Sie hat recht, Talund, und ich sehe das genauso. Jetzt nicht zu handeln wäre leichtfertig.«
»Und was bitte sollen wir tun?«, warf Helebert ein, sein Gesicht wie immer hoch gerötet.
»Nun«, Eren räusperte sich, »wir könnten den Bewohnern wenigstens raten, nachts nicht durch Wälder und Auen zu streifen.«
»Das wäre zumindest ein Anfang«, meinte Brim.
»Und wenn die Fremden tagsüber genauso unterwegs sind?«, gab Jorim zu bedenken.
»Eben, wir wissen doch gar nichts über sie.« Enna blickte finster drein und schnitzte emsig mit ihrem kleinen Messer an einem Stück Holz herum, als müsse sie ihrem Zorn über die Versammlung Luft machen.
»Wir sollten in jedem Bezirk einen Wachtrupp aufstellen«, schlug der junge Elvor Sternenfaust vor. »Zehn Halblinge stark.«
»Und wenn das nicht reicht?«, wandte Helebert ein. »Ich habe Selda gesehen. Grausig war sie zugerichtet, kann ich euch sagen, sehr grausig! Ihre Haut war zerfetzt und an vielen Stellen verkohlt. Normale Kleidung bot ihr bei dem Angriff keinen Schutz. Welche Waffe das auch angerichtet hat, sie muss schrecklich gewesen sein.«
»Ich würde mich einem Wachtrupp anschließen!«, rief Jorim dazwischen und erhob sich. Schweigen breitete sich aus und alle richteten ihre Augen auf ihn. Enna blickte ihn mit offenem Mund an.
»Ha, dann sind wir schon zwei«, freute sich Elvor.
»Drei!« Enna reckte ihr Kinn trotzig nach vorne und stellte sich neben ihren Bruder.
»Das ist doch lachhaft«, wetterte Talund und zupfte an seinem roten Wams herum. »Wir sollten die Sache nicht größer machen, als sie ist.«
»Würdest du das auch zu Selda sagen?«, donnerte eine Stimme. Alle wandten die Köpfe zum Rand der Lichtung um, von wo Nespur Fährtenauge, gefolgt von Toram Otterschreck, auf die Versammelten zukam.
Nespur hob die Hand und deutete auf Talund. »Du wirst sterben, Talund Krugbrecher!«, rief er laut.
»Was?«, rief Helebert. »Wie kommst du auf …«
»Du auch!«, unterbrach Nespur ihn, während sein eines Auge Helebert fixierte. »Und du und du und du! Wir alle werden sterben!« Sein Finger wanderte von einem Halbling zum nächsten.
»Gibt es auch einen triftigen Grund für deine düstere Annahme, Nespur Fährtenauge?«, wollte Brim wissen.
»Den gibt es. Erinyen waren in Westendtal. Ich selbst habe sie gesehen.«
»Da haben wir es doch!«, rief Talund. »Du sagtest, sie waren. Sicher hatten sie sich nur verirrt und kommen nie wieder!«
Nespur kniff sein Auge zusammen, und Jorim bemerkte an den verunsicherten Blicken der Anwesenden, dass die meisten Talunds Worte anzweifelten.
»Sie werden wiederkommen«, sagte Nespur. »Ein Heer von Zwanzigtausend wird in Westendtal einfallen. Toram und ich haben es mit eigenen Ohren gehört. Die Erinyen haben Arbor und Eren-Danan unterworfen. Und sie wollen nun ihren Feldzug nach Norden fortsetzen in die Lande Grimbor und Eren-Umdil. Westendtal bietet für sie den perfekten Ausgangspunkt: Sie wollen hier ihr Heer stationieren und von hier aus über die Meeresenge von Dovan übersetzen.«
Eine bedrückende Stille folgte Nespurs Worten, bis Toram hinter ihm hervortrat. Der Halbling mit den roten Haaren nickte zustimmend und klemmte sich eine widerspenstige Locke hinters Ohr. »Es ist wahr, wir haben die Erinyen beobachtet. Fürchterliche Wesen sind das, bewaffnet mit lodernden Fackeln und einer mit Widerhaken bewehrten Geißel! Was auch immer diese erwischt, die garstigen Haken bohren sich erbarmungslos hinein.«
»Das erklärt Seldas Verletzungen«, flüsterte Enna ihrem Bruder zu.
»Allerdings«, meinte Jorim, ohne den Blick von Nespur zu wenden. »Doch was können wir gegen ihre Pläne unternehmen?«
Jorim konnte in den Gesichtern eines jeden Halblings Entsetzen und Ratlosigkeit sehen. Eine bedrückende Stille trat ein. Keiner achtete auf den Regen, der inzwischen eingesetzt hatte und klopfend auf der Holzkuppel des Rauchorakels landete.
»Das sind wahrlich schlimme Neuigkeiten.« Es war Brim, der das Schweigen brach, sich auf seinem Fels nach vorne beugte und nachdenklich die Stirn runzelte. »Was können wir tun? Gegen Zwanzigtausend?«
»Wachen bilden, zehn Halblinge stark«, blaffte Talund. »Dass ich nicht lache!«
»Wir könnten durchaus auch deinem Ratschlag folgen und gar nichts tun«, konterte Elvor. Jorim hätte ihm, dem Nachfahren des legendären Bronn Sternenfaust, dafür am liebsten auf die Schulter geklopft, hätte er nicht so weit von ihm entfernt gestanden. Bei dem Gedanken an Bronn wurde Jorim nachdenklich.
»Wir Halblinge sind keine Krieger und den Erinyen auch noch zahlenmäßig unterlegen«, überlegte Eren laut.
»Vielleicht sollten wir fliehen«, schlug Helebert vor.
»Und wohin bitte?«, hörte Jorim Elvor rufen. »Wenn es wahr ist, dass die Menschen und Elfen tot oder nach Norden geflohen sind und sich ihre Länder bereits in den Händen der Erinyen befinden, wo könnten wir dann Zuflucht finden?«
»Vielleicht sollten wir in die Nordlande fliehen und die Nordelfen und Zwerge vor den Erinyen warnen«, meldete sich Jul zu Wort.
»Guter Vorschlag, darüber sollten wir ernsthaft nachdenken«, pflichtete Helebert ihm bei.
»Und ihnen Westendtal überlassen?«, fragte Nespur erbost. »Und mit welchen Booten würdet ihr überhaupt die Meeresenge von Dovan passieren wollen? Dort jagen oft die Stürme des Wilden Meeres hindurch.« Damit machte er die Hoffnung einer Flucht nach Norden rasch zunichte. Jorim wusste, Nespur hatte recht. Das Halblingsvolk besaß lediglich ein paar kleine Ruderboote für den Fischfang und zur Überquerung des Erenin, um die verschiedenen Mühlen zu erreichen, die seine Ufer säumten.