Der Kampf um Frieden - Lia Nilges - E-Book

Der Kampf um Frieden E-Book

Lia Nilges

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Beschreibung

»Für Hoffnung ist es nie zu spät. Nicht, solange noch ein einzelnes Herz im Takt der Freiheit schlägt.« Elias Abras verteidigt die Armen und Schwachen gegen die Willkür des Königs, bis er dafür zum Tode verurteilt wird. Doch seine bevorstehende Hinrichtung ist nicht das Schlimmste, das an jenem Tag geschieht. Ein alter Feind kündigt seinen Rachefeldzug an. Nach über zweitausend Jahren in Gefangenschaft hat der einstige Drachengott nur noch ein Ziel: die Vernichtung Galemnas. Dem Tod knapp entrungen, ruft Elias sechs Abenteurer zusammen, um dem gemeinsamen Feind die Stirn zu bieten. Unter ihnen Waisen, Ratsherren und Krieger aus unterschiedlichen Völkern, doch die Hoffnung auf ein Morgen eint sie. Da der offene Kampf gegen einen Ex-Gott keine erfolgversprechende Option ist, bleibt ihnen nur eine Wahl: Sie müssen die Artefakte für das Bannritual finden … Im Wettlauf mit der Zeit stellen sie sich der Frage nach der wahren Bedeutung von Freiheit und welche Rolle sie in dieser Geschichte spielen wollen.

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Seitenzahl: 384

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Elias Abras
Der Beginn einer langen Reise
Die Jagd
Von den Anfängen
Abschied nehmen
Für Galemna
Zuwachs
Erstes Ziel – Insel im hohen Norden
Aramil zu Steinbruch
Die Schale des Eises
Schlacht um Dhunan
Die Schale des Wassers
Krisenbesprechung
Reise in den Fernen Osten
Feindseligkeiten
Die Schale des Feuers
Die letzte Gelegenheit
Die Schale des Blitzes
Die Brücke des Prüfstands
Dem Sieg so nah
Die Nacht vor dem Ritual
Der Kampf um Frieden
Der Preis des Friedens
Die Siegesfeier
Danksagung

Lia Nilges

Freiheitskämpfer

Band I

Der Kampf um Frieden

Content Notes

Lebensmüdigkeit

Selbsthass

krankhafter Leistungsdruck

zerrüttete Familienverhältnisse

Für alle, die nicht aufhören, an ein Morgen zu glauben.

Für alle, die Freiheiten erkämpfen und sich für Frieden auf der Welt einsetzen.

1. Auflage 2024

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über dnb.dnb.de abrufbar.

© 2024, Lia Nilges

Lektorat: © Daniela Siemen

Cover Design: © Jaqueline Kropmanns

Druck und Distribution im Auftrag der Autorin:

tredition GmbH, Heinz-Beusen-Stieg 5, 22926 Ahrensburg, Deutschland

Softcover 978-3-347-97778-5

Hardcover 978-3-347-97779-2

e-Book 978-3-347-97780-8

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Für die Inhalte ist die Autorin verantwortlich. Jede Verwertung ist ohne ihre Zustimmung unzulässig. Die Publikation und Verbreitung erfolgen im Auftrag der Autorin, zu erreichen unter: Lia Nilges, Gehlingsweg 28, 41749 Viersen, Deutschland.

Vorwort

Wer in Frieden lebt, kann sich frei entfalten. Wem dies nicht vergönnt ist, der muss seine Ketten sprengen. Nichts ist für immer, und kein Moment geschieht ein zweites Mal. Demnach gilt es, die Zeit, die uns gegeben ist, möglichst sinnvoll zu nutzen. Denn unser Leben könnte jeden Moment enden. Ohne Vorwarnung und ohne eine Möglichkeit, es zu verhindern. Oft scheinen Angelegenheiten aussichtslos und ungerecht, aber die Kunst ist es, die Ereignisse, die einem widerfahren, so zu nehmen, dass aus Problemen Gelegenheiten werden. Immer das Gute an einer Situation zu sehen und nicht stehen zu bleiben. Denn wenn wir alle stehen blieben, wenn jeder aufgäbe und niemand mehr den Mut besäße, seine Hand zu erheben, um für Freiheit und Frieden einzustehen, wenn wir Tyrannei und Unterdrückung untätig geschehen ließen, was wären wir dann noch? Davon handelt auch »Der Kampf um Frieden«.

Einführung in die Welt Galemna

Willkommen in Galemna! Einer Welt voller Magie, verschiedener Völker und ihrer Götter. Um dir den Einstieg in die große neue Welt zu erleichtern, verrate ich dir zunächst die Schöpfungsgeschichte. Wenn du ohne dieses Vorwissen starten möchtest, fühl dich frei, bis zum Kapitel Elias Abras auf Seite 9 vorzublättern. Dort kannst du direkt mit der Geschichte beginnen. So oder so wünsche ich dir viel Spaß beim Lesen.

Am Anfang war die Zeit, Tsiressa. Aus ihr entstanden der Beginn – Kira – und das Ende – Kyrill. Kira strahlte, wie die Sonne höchst selbst. Ihr Wesen erhellte das Nichts mit weißen Wellen aus reiner göttlicher Energie. Kyrill hingegen war wie der Mond. Er verbreitete kein eigenes Licht. Wo er war, da waberten tiefdunkle Schatten der Nacht. Zunächst wussten sie nichts von der Existenz der jeweils anderen Entität. Sie umkreisten Tsiressa still auf derselben Bahn, verdammt dazu, sich niemals zu begegnen. Doch in ihnen brannte ein Verlangen nach Veränderung. Mit jedem Tag im Nichts wurde es stärker. Da musste einfach mehr sein! So begaben Kira und Kyrill sich auf die Suche nach einander.

Sie verließen ihre vorgegebene Bahn und fanden sich bald. Einem Sog folgend, hielten sie aufeinander zu, bis sie miteinander kollidierten. Eine gewaltige Explosion aus Licht und Schatten erschütterte das Nichts. Unzählige silberne Splitter lösten sich aus den Entitäten. Kira und Kyrill erkannten, dass sie widersprüchlicher, gegensätzlicher nicht sein könnten, aber es war ihnen nicht möglich, aufzuhören. Immer wieder sorgten ihre Annäherungsversuche für weitere Explosionen, aus deren Bruchstücken sich die Welt Galemna bildete. Tsiressa hingegen ließ dem Schicksal seinen freien Lauf. Sie beobachtete nur still, was in den folgenden Götterjahren geschah.

Sobald Wälder und Berge, Flüsse und Seen, Wüsten und Moore entstanden waren, legte die Ur-Göttin allerdings eine schützende goldene Sphäre um die junge Welt Galemna. »Erschaffet, wonach euch ist«, sprach sie zu den Schöpfergöttern. »Doch, was auch immer hier entsteht, soll die Waage halten zwischen Leben und Tod, Neubeginn und Vergänglichkeit. Ich werde darüber wachen, denn ich bin das Gleichgewicht, euer Gewissen und das Schicksal Galemnas«, fuhr sie fort. Kira und Kyrill stimmten zu. Keiner von ihnen würde sich verändern müssen. Sie mussten nicht eins werden. Lediglich darauf achten, dass die eigene Macht niemals größer würde als die des anderen. Beruhigt über die Erkenntnis der beiden zog sich Tsiressa zurück in die goldene Sphäre, welche sie fortan Zeitpalast nannte. Während im Inneren die Welt Galemna sich über viele Götterjahre hinweg entwickelte, entstanden außerhalb des Zeitpalastes weitere Gottheiten – Vertreter diverser Völker, Magie und der Natur. Mit ihnen fügte sich jeweils eine neue Sphäre in den Ring um Tsiressa herum ein. Ganz außen, am Rande des Geschehens, kreisten Kira und Kyrill.

Sobald die Anzahl der Götter auf insgesamt neun angestiegen war, gründeten jene das Götterkonzil, welches es sich zur obersten Maxime machte, nie nach mehr zu streben als dem, das einem jeden von ihnen zustand. Dies markierte den Übergang vom ersten in das zweite Zeitalter Galemnas …

Elias Abras

»Herr Abras?« So redet er ihn immer an. Als sei er nicht überzeugt von dem, was er hier macht. Er hat sich selbst aufgegeben. Dieser Mann, der sich Gefängniswärter schimpft, genießt nicht, was er leistet. Womöglich würde er lieber mit seinem Weib zusammen im Garten sitzen und seinen Kindern zuschauen, wie sie im Vorhof munter miteinander spielen, aber er unterwirft sich dem König. Seine einzige Sorge besteht darin, wie lange seine Familie noch von der Willkür des Herrschers verschont bleiben wird.

Eine ganze Weile sinnt Elias so nach, bis er endlich auf den breitschultrigen Mann vor sich reagiert. »Was?«, fragt er trocken, während er aus seiner Sitzhaltung heraus aufschaut.

»Der König will Euch sprechen. Kommt«, antwortet sein Gegenüber mit beherrschter Stimme und zieht ihn dabei grob am Arm hoch. Diesmal leistet Elias keinen Widerstand. Er lässt sich schlicht von dem Wärter abführen. Dieser Mann kann auch nichts dafür, dass er mit einem so schwachen Willen geboren wurde.

Lange Momente des Schweigens verstreichen, in denen die beiden Männer durch die Gänge des Zellentraktes wandern, in welchen Elias mittlerweile seit fünfzehn Wochen eingesperrt ist. Er ist gespannt, was ihn dieses Mal erwartet. Möglicherweise die Todesstrafe. Vielleicht lässt der König aber auch Gnade walten oder er lässt ihn elendig in der Zelle verenden. So viele Möglichkeiten, doch Gewissheit wird es erst später geben. Störend hallen die Schritte auf dem kalten Fußboden in Elias‘ Ohren wider. Erbärmlich kahl wirken die grauen Steinwände der Gänge, und nicht ein Sonnenstrahl findet seinen Weg hinein. Der Gefangene hat längst sein Gefühl für die Tageszeit verloren. Ist es morgens oder schon mittags? Zumindest recht kurz nach einem wenig erholsamen Schlaf.

Abrupt bleibt der Gefängniswärter stehen und zwingt Elias mit einem fester werdenden Griff dazu, es ihm gleichzutun. Seine freie rechte Hand ballt er zu einer Faust und klopft gegen das massive Portal, vor welchem die beiden warten. Sobald es schwerfällig von zwei Wachen aufgezogen wird, erblickt Elias einen riesigen Saal. Hohe Wände sowie mit Gold verzierte Säulen umrahmen den glatt polierten Marmorboden, und zum Thron hin sind es nur wenige Schritte. Wenige Schritte, die der Wärter ihn wie ein Tier hinter sich her schleift. Kurz vor den Stufen zum Thron wird er auf die Knie hinab gedrückt. Der König, Elmar III., Monarch des Königreichs Ibayas, ein alter Mann vom Geschlecht der Menschen, schaut mit herablassendem Ausdruck auf Elias nieder. Seine giftgrünen Augen fixieren den Gefangenen, sein ergrautes Haar umrahmt das fahle, faltige Gesicht sowie die schlanken Schultern. Genau dieser Blick trifft den deutlich jünger wirkenden Elias schmerzhaft.

Einst, vor etwa acht Dekaden, waren Elmar und er die besten Freunde, die man sich hätte vorstellen können. Sie haben gemeinsam anderen in Not geholfen. Von nichts und niemandem haben sie sich einschüchtern lassen. Und nun? Nun schaut Elmar zu Elias herunter, als sei all dies nie geschehen. Als kenne er seinen einst so guten Freund nicht mehr. Als wisse er nur von der Straftat, die dieser begangen hat. Etwas, das schon so oft begangen wurde. Erst jetzt, wo der König dem seit Jahren stetig schwelenden Widerstand des Volkes nicht mehr Herr zu werden vermag, bedarf es offenbar eines Exempels zur Abschreckung. Elias wendet seinen güldenen Blick ab, starrt auf den Boden und hofft, Elmar würde ihn schlicht hier und jetzt zum Tode verurteilen. Doch statt ihm diesen einen unausgesprochenen Wunsch zu erfüllen, sagt jener: »Lasst den Gefangenen los!«

Daraufhin löst der Wärter seinen Griff und macht einen kleinen Schritt von Elias weg.

»Steh auf!«

Der Gefangene gehorcht anstandslos und erhebt sich langsam. Seinen ungepflegten braunen Schopf gesenkt, bis Elmar ihm den Befehl gibt, ihn anzusehen.

»Mein Freund, schrecklich ist es, dass wir uns unter solchen Umständen wiedersehen. Du weißt, was du getan hast. Das können nicht einmal die Götter ungeschehen machen«, redet Elmar mit einer Gelassenheit, mit welcher er wohl hofft, Elias zur Unterwerfung zu bewegen.

Dessen Antwort folgt offenbar kaum verwunderlich: »Ich habe für Recht und Freiheit gekämpft, den Stummen eine Stimme gegeben und jene beschützt, die unter dem Geiz der Krone leiden. So wie wir es uns einst geschworen haben, Bruder.« Dieses Bruder kommt mit solch einer Verachtung aus Elias‘ Mund heraus, dass er es bereuen würde, wäre er sich seiner Handlungen und Worte nicht so sicher.

Elmar lacht. Es ist ein Lachen der Unsicherheit, aber nach außen hin klingt es nur verständnislos. »Diese Zeiten sind vorbei, Elias. Das ist kein Kinderspiel mehr. Du hast einer Verbrecherbande zur Flucht vor der Festnahme verholfen.«

»Das waren Waisen, die du zu dem gemacht hast, was sie nun sind. Sie haben lediglich etwas zu Essen gestohlen, nachdem du mit Haus Sonntal ihre Heimat zerstört hast.«

»Wen interessieren diese Bälger schon?«, kommentiert der Monarch unberührt.

Elias schnaubt verächtlich. »Genau das ist dein Problem, Elmar. Du ignorierst die Sorgen niederer Leute. Wenn sie nicht gehorchen, dann lässt du sie dafür büßen.«

»Wie wagst du es, mit deinem König zu reden?!«, fährt Elmar wütend aus seiner Haut und erhebt sich, so ruckartig es einem Greis eben möglich ist.

»Mein König? Dir gebührt nicht mein Gehorsam. Niemandem!«

Elmar atmet fest aus, besinnt sich und strafft seine Haltung wieder, ehe er befiehlt: »Knie nieder, und ich werde dich schnell töten!«

Doch es ertönt nur ein fassungsloses Lachen, bevor Elias‘ Worte bestätigen, was dieser bereits durch seine Körperhaltung ausstrahlt: »Eher sterbe ich elendig in einer kalten Zelle ohne Essen und Trinken, als dass ich vor dir auf die Knie falle.«

Enttäuschung zeichnet den Ausdruck des Königs. Harsch entgegnet er: »Dann büße, für was du getan hast!« Im nächsten Augenblick deutet er auf ihn und taxiert den Gefängniswärter mit einem fordernden Blick. »Bringt ihn in seine Zelle! Heute Abend werden wir ihn hinrichten.«

Über Elias‘ Lippen gleitet ein unaufhaltsames Lächeln, aber es zeugt nicht von Erleichterung, sondern von Gehässigkeit. Genau das ist es, was er geplant hat. Elmar annehmen lassen, dass er nicht schon längst aufgegeben hat und der Tod nur eine Erlösung für ihn ist. Triumph steigt im Freiheitskämpfer auf. Elmar ist auf den Bluff reingefallen. Die Annahme, er sei nach wie vor voller Eifer, war ein Trugschluss. Elias ist komplett leer. Seine Lebensflamme, die einst ein so großes Inferno war, ist nunmehr ein kleiner Funke, der darauf wartet, endgültig erstickt zu werden.

Auf dem Weg zurück zur Zelle und darin sinnt Elias über eine Zeit, die längst vergangen ist. Die Jahre, in denen der König und er Freunde waren, in denen Elmar nicht die Krone trug und sich von der Macht seines Amtes hat übermannen lassen. Es waren gute Zeiten. Voller Tatendrang und Erfolgserlebnissen waren sie. Dem Gefühl, etwas zu bewegen. Spuren auf der Welt zu hinterlassen, die den eigenen Tod überdauern. Ein Lebensabschnitt, der sich so nicht mehr wiederholen würde.

Weiter erinnert Elias sich an seine ebenso aufregende Zeit bei den Elfen. In seiner Jugend hat sich das nördlichste aller Königreiche Galemnas zu einer zweiten Heimat für ihn entwickelt. Dessen Bewohner wurden zu so etwas wie Vertrauten. Selbst, wenn er seit Elmars Verrat niemanden mehr so nahe an sich herangelassen hat, dass er ihn mit Überzeugung einen Freund nennen würde. Für ihn ist es wie gestern, dass das Volk der Werwölfe die Hauptstadt der Elfen angriff. Zu der Zeit war er frisch geprüfter Magier. In der Schlacht um Callanbuin hat er einen Sohn des elfischen Kriegsministers gerettet. Seitdem verband ihn und dessen Familie ein enges Band, obgleich es stets von höflicher Anerkennung geprägt war. Die Familie Amakiir führt seit Generationen ein strebsames Leben. Ihr Ruf eilt ihnen bis über die Grenzen des Elfenreiches voraus. Sie stehen für Werte wie Ehre, Perfektion und Gehorsam. Werte, mit denen Elias sich zeit seines Lebens nur bedingt identifizieren konnte. Innerhalb des Reiches gelten die Amakiir als die besten Kämpfer. Das wird von der elfischen Gesellschaft sogar erwartet, da der Familiengründer einer der vier Helden Galemnas ist. Er war derjenige, der im Jahre null des dritten Zeitalters die Schlacht gegen den Verbannten geleitet und sich am Ende für die Welt Galemna geopfert hatte. Der jüngste Nachfahre, Ysuran Amakiir, hat vor Dekaden seine Heimat verlassen, und damit brach er ebenso den Kontakt zu Elias ab. Dennoch ist er ihm gut in Erinnerung geblieben.

Gedankenverloren schweift der Blick des Gefangenen durch den kahlen Raum, in welchem er sitzt. Wie schön wäre es, jetzt im Elfenwald zu sein, statt hier, in diesem kalten, dreckigen Loch. Lieber bekäme er sich mit seinem alten Lehrmeister über eine kontroverse Magietheorie in die Haare, anstatt hier auf seinen sicheren Tod zu warten, aber inzwischen fehlt ihm die Kraft dazu. Seine Tochter und die Waisen sind mit Sicherheit längst über alle Berge. Vorausgesetzt, sie haben auf ihn gehört und Isgor verlassen, während er die Wachen mit seinen Zaubern aufhielt. Schwer ausatmend lässt er seinen Kopf gegen die Zellenwand sinken. Der Gang zum König war anstrengend. Schon seit Tagen hat er aus Protest nichts mehr gegessen. Er will es endlich hinter sich bringen. Diese Welt ist ohnehin nur voller Selbstsucht und Verrat.

Auf einmal lenkt ihn ein silber-goldenes Flimmern in einer der Zellecken ab. Wie von Zauberhand bildet sich dort das Trugbild eines jungen Urelfen. Mit dessen bernsteinfarbenen, aufmerksamen Augen schaut er zu Elias herab, während er selbstbewusst sein Kinn anhebt und seine Arme vor der unbedeckten Brust verschränkt. Er trägt eine dunkelblaue, robuste Hose sowie Stiefel und Armschützer aus dunklem Leder. In den Halterungen an seinem gekreuzten Waffengurt ruhen zwei schlanke Elfenklingen. Das lange silberne Haar reicht dem sehnig-muskulösen Krieger ungebunden bis zu den Schulterblättern. Sein Teint ist, typisch für Urelfen, gräulich. Elias seufzt resigniert. Es ist nur eine Einbildung. Sein Geist spielt ihm einen Streich. Zu schade. Es wäre wünschenswert, Ysuran jetzt hier zu wissen. Der Mut und die Entschlossenheit, mit welcher der AmakiirSohn jeden seiner Tage zu beschreiten schien, sucht bis heute seinesgleichen. Fraglich, ob seine Anwesenheit irgendetwas bringen würde, aber es würde Elias zumindest ein Gefühl von Geborgenheit geben.

Erneut wird Elias aus seinen Gedankengängen gerissen, als er das Klimpern eines Schlüsselbundes vernimmt. Es ist wieder der Gefängniswärter, der hektisch die Zellentüre öffnet. Grob zerrt er den Gefangenen hinaus. Ohne dabei nur ein Wort zu verlieren, schleift er Elias am Arm mit sich. Sie streifen durch einen weiteren, neuen Gang. Dieser endet nach anstrengenden Schritten an einer schweren Metalltüre, hinter der Stimmen erklingen. Stimmen aller Art. Sie reden durcheinander, sodass er sie nicht versteht.

Ruckartig öffnet der Wärter die Türe und führt den Gefangenen auf den großen sandigen Platz dahinter. Sobald die Menschenmenge die beiden Männer entdeckt, bricht eine Stille der Empörung herein. Sie kennen Elias, das Gesicht der Aufstandsbewegung des einfachen Volkes. Viele von ihnen verdanken ihm ihr Leben. Beim Blickkontakt mit den Leuten sieht er sein eigenes Leben von Anfang bis Ende an sich vorbeiziehen. Alle Informationen, die er jemals aufgenommen hat, nimmt er noch einmal auf. Jedes Bild, das seine Augen einst wahrgenommen haben, entsteht erneut vor seinem inneren Auge. Sein Blick verharrt ziellos in der Menge, während der Wärter ihn auf einen Steg führt. Gegenwehr leistet Elias auch jetzt nicht. Es hat ohnehin keinen Zweck mehr. Jetzt würde es wenigstens endlich zu Ende gehen.

Als Elmar zu reden ansetzt, tastet der müde Blick des Verurteilten die Gesichter der Anwesenden ab. Von dem ganzen Gerede des Königs bekommt er kaum etwas mit. Enttäuschung, Trauer, Angst, Hoffnung und Verzweiflung schlagen ihm entgegen. Es ist, als warten alle darauf, dass er sich selbst rettet, so wie er schon viele andere vor der Willkür der Krone gerettet hat. Aber wie sähe das aus, nachdem er seine eigene Konsequenzbereitschaft stets so hochgehalten hatte? Nein! Die Leute sollen ihn so in Erinnerung behalten, wie sie ihn kennen. Für sie wird es so aussehen, als werde er Galemna mit erhobenem Haupt verlassen. Er wird für das Volk Ibayas, für Frieden und Freiheit sterben. So wie er es sich einst geschworen hatte.

Erst das Gewicht des um seinen Hals gelegten Stricks lässt Elias wieder realisieren, was um ihn herum geschieht. Der Henker schreitet just zum Hebel hinüber. Ein letzter, rückversichernder Blick zum König, welcher nur wie ferngesteuert nickt. Der Todgeweihte hört schon das Knarzen der ledernen Handschuhe des Mannes neben sich, als ein lauter Ruf mitten aus der Menschenmenge ertönt. »Gnade! Habt Gnade mit ihm!«

Sofort ruckt Elias‘ Aufmerksamkeit dorthin. Zwischen all den schockiert starrenden Menschen ist ein junger Mann aufgestanden. Der Verurteilte braucht nicht lange, um zu begreifen, wer da gerade seine Hinrichtung unterbricht. Sich wiederholend, ruft Ysuran Amakiir seine Worte dem Menschenkönig entgegen. Mit jedem Mal schließen sich ihm ein paar Leute an. Nach wenigen Momenten steht das ganze Volk auf der Tribüne und fordert: »Gnade! Gnade!« Immer wieder, wieder und wieder. Obwohl Elias ihn in diesem Augenblick nicht sieht, merkt er förmlich, wie sich Angst in Elmar ausbreitet. Die Bürger werden lauter. Absichernd verteilt sich die aus dem Hintergrund tretende Palastwache. Sie beziehen Stellung zwischen der auflebenden Menge und ihrem Regenten. Es bleibt friedlich. Bevor irgendjemand sich dazu genötigt fühlen kann, mehr als nur Worte sprechen zu lassen, sinkt die Hand des Henkers schlapp vom Hebel hinunter. Elias‘ Aufmerksamkeit verharrt auf Ysuran, welcher den Blick erleichtert erwidert. Über sein kaum gealtertes Gesicht gleitet schon ein Lächeln, ehe auch Elias es sich nicht nehmen lassen kann.

Für eine kurze, doch gefährliche Zeit ist seine Flamme erloschen, aber jetzt lodert sie wieder auf. Sein Wille kehrt zurück. Wenige Atemzüge später brennt das Inferno in ihm lichterloh. Entschlossen springt Ysuran über die Brüstung und läuft zu seinem alten Bekannten herüber. Der Ansatz der Palastwache, den auswärtigen Störenfried aufzuhalten, wird mit einer simplen Handgeste Elmars unterbunden. Bei Elias angekommen, legt der Urelf sofort den Strick ab und umarmt ihn ungefragt.

»Danke, Ysuran«, lacht Elias daraufhin leise und schließt sein Gegenüber kurz schwerfällig in die Arme.

»Ich habe dir geschworen, dass ich mich eines Tages revanchieren würde.«

»Ich weiß. Im Leben hätte ich nur nicht gedacht, dass du heute hier sein würdest.«

Das freudige Wiedersehen der beiden Männer wird abrupt unterbrochen, als Elmar den Befehl gibt, ihn anzusehen. Sie reagieren mit einem Seitenblick zum Monarchen. Dieser ist in der Zwischenzeit näher an sie herangetreten und schaut stoisch drein. »Wie ergreifend … Ihr wollt eine Darbietung?«, grollt er. Dann kichert er wirr. Mit Unverständnis mustert Elias ihn. Elmar ist wie ausgewechselt. Furchterregend grinst er.

Wie aus dem Nichts kommt heftiger Wind auf dem Exekutionsplatz auf. Die Haare der Leute wehen in diesem wild umher, und der Staub auf dem Boden wirbelt unkontrolliert hoch. Fragend wirft Ysuran Elias einen Blick zu. Ein lautes Lachen von vorne lenkt die Aufmerksamkeit des Urelfen aber sofort wieder auf den Menschenkönig. Sein Lachen hallt über den kompletten Platz hinweg. Schrecken breitet sich unter den Anwesenden aus. Dieses Lachen. Dieses eine Lachen, das schon verhallt ist. Das ist nicht die Lache des Königs. Nicht einmal seine Stimme ist es. Dafür klingt sie zu tief und polternd. »Sterbliche Galemnas, hört mir zu! Lange genug habe ich gewartet. Lange genug habe ich in diesem Loch gesessen, in das mich eure Vorfahren und eure lächerlich kleinen Götter verbannt haben. Jetzt werdet ihr dafür büßen. Ihr werdet meinen Zorn schon bald spüren, und diesmal wird mich niemand aufhalten.«

Das Volk erschrickt. Einige Bürger suchen fluchtartig den Ausgang des Platzes. Manche von ihnen versuchen, zu König Elmar zu gelangen.

»Wir werden alle sterben«, schreien Einzelne panisch.

Weitere rufen: »Du Feigling! Wir bringen dich um!« Und andere wiederum brüllen dem König entgegen: »Ihr habt Euch mit ihm verbündet. Wie könnt Ihr nur?«

Mit einem Mal hat die Wache alle Hände voll zu tun, um die aufgebrachte Menge in Schach zu halten.

Nur einen Mann lassen sie in die Nähe des Königs. Ebendieser Mann, Sir Aramil zu Steinbruch, hat seinen blutroten Blick absichernd auf Ysuran gerichtet. Jener wirkt erstarrt und erwidert den Blickkontakt offenbar rückversichernd. In seinem Gesichtsausdruck liegt wahrhaftiger Schrecken.

Durch die visuelle Ablenkung versteht der Urelf zu spät den tieferen Sinn der, leise von Elias gesprochenen Worte.

»Verzeih mir, Elmar.«

Jene Aussage kommt von Herzen, doch greift Elias neben sich an den Griff der Elfenklinge und rammt diese nach wenigen zügigen Schritten direkt in den Brustkorb des besessenen Menschenkönigs. Bevor der Urelf zu reagieren vermag, wendet Elias schon hektisch herum, hastet von Elmar weg. Im Augenwinkel sieht er die Gestalt Sir Aramils als verschwommenen Schatten an sich vorbei schnellen, Ysuran zu dessen Rettung grob mit sich reißend. Es folgt ein ohrenbetäubend lauter Knall. Eine Druckwelle breitet sich von König Elmar aus. Sie zerbirst große Teile des Stegs. Dann herrscht auf einmal Stille. Desorientiert richtet Elias sich auf. Es fiept und rauscht in seinen Ohren. Links von sich sieht er den Henker sich ebenso wieder erheben. Rechts steht Sir Aramil, so als hätten seine Knie niemals den Boden berührt. Ysuran daneben atmet feste durch.

»Alles gut«, beteuert Ysuran. Sein Lächeln zeugt dabei keineswegs von Freude.

Wie auf ein geheimes Signal hin, wenden er und die anderen Männer ihre Köpfe in Richtung der Zuschauerplätze. Das Volk ist offenkundig außer sich. Wildes Gedränge ist entstanden. Durch das Stimmgewirr sind kaum noch einzelne Sätze zu verstehen. Die Leute sind vollkommen überfordert mit dem jüngst Erlebten, und die Palastwache ruft nach Verstärkung.

»Sie werden die Tore schließen. Schnell!«, zischt Elias auf den sich ihm bietenden Anblick hin und gibt Ysuran dessen Waffe zurück. Einvernehmlich nicken die beiden und Sir Aramil sich zu.

Kaum gesagt, verfallen die drei in einen Lauf vom Exekutionsplatz und dem Palast weg, weiter durch das Stadtinnere. Sir Aramil passt sich dabei der Geschwindigkeit der anderen beiden an. Wenig später bleibt Elias an einer Straßengabelung stehen und ruft den anderen beiden hinterher: »Wir treffen uns am Haupttor.« Dann vollführt er eine Geste, so als wolle er mit beiden Händen die Luft vor sich auseinanderziehen. Prompt bildet sich ein glimmendes Portal vor ihm, durch das er hindurch eilt, während Ysuran und Sir Aramil weiter gen Gasthaus im Stadtzentrum laufen. Ein Kribbeln durchzuckt Elias‘ Körper für den Moment der Portalnutzung, ehe er auf dem Hinterhof seiner am Stadtrand gelegenen Behausung in Isgor wieder heraustritt.

Mit einem langgezogenen Pfeifen ruft er seinen treuen Rappenhengst herbei. Dieser kommt sogleich angaloppiert und umtänzelt ihn freudig. »Guter Junge«, raunt er dem kräftigen Pferd zu, dessen Hals streichelnd. Dann zieht er sich allerdings auch schon auf den Pferderücken hoch und verleitet es mittels Schenkeldruck zum Trab. Es zu satteln würde jetzt zu lange dauern. Mit einem gekonnten Satz gelangt das trainierte Reitpferd über den flachen Zaun des Hinterhofes. Im Galopp trägt es seinen Reiter die wie leer gefegten Straßen entlang, in Richtung Haupttor. Da viele entweder ihren Handwerken nachgehen oder noch auf dem Exekutionsplatz sind, kann Elias rücksichtslos an den zahllosen Gassen vorbei und über die Straßenkreuzungen preschen.

Kurz davor schließen Ysuran und Sir Aramil, inzwischen ebenso beritten, zu ihm auf. Zwei Wachhabende stellen sich ihnen entschlossen in den Weg und kreuzen mahnend die Hellebarden. Hektisch tauscht das Reitertrio Blicke untereinander. Dann treiben sie ihre Pferde nur mehr an und lassen diese über die Köpfe der sich davon überrumpelt wegduckenden Wachen springen.

Außerhalb der Stadt verfallen die trainierten Reittiere sofort wieder in einen strammen Galopp. Eilig steuern sie die Handelsstraße nach Norden an. In der befestigten, auf einem Hügel thronenden Stadt hinterlassen sie einen toten König, Schrecken und einen aufgewühlten Haufen Menschen, um den sich die hiesige Wachmannschaft trotz eigener Irritation jetzt kümmern muss.

Der Beginn einer langen Reise

Erst nach einigen Stunden des zügigen Ritts zügeln Elias, Ysuran und Aramil ihre Pferde. Am Horizont sehen sie die Sonne untergehen und alles um sie herum in ein warmes Licht tauchen. Das Schnauben der Rösser unter ihnen übertönt für einen Moment die idyllische Stille des Abends. Aramil wirft absichernd einen Blick über seine breite Schulter und observiert den zurückliegenden Weg. Offenbar haben sie keine Verfolger. Abschätzend schaut er zu seinen beiden Wegbegleitern. »Wollt ihr hier rasten?«

Sie nicken einverstanden und steuern den Rand der gut ausgebauten Handelsstraße an. Etwas abseits davon steigen sie von ihren Pferden ab. Während Ysuran in der nahen Umgebung einige Äste für ein nächtliches Lagerfeuer sammelt, hebt Aramil mit seinen kräftigen Händen eine kleine Kuhle im eher weichen Boden aus. Elias hingegen lässt sich schwer ausatmend an einem nahen Baum nieder und lehnt sich gegen dessen Stamm. Erschöpft, aber wachsam schaut er zu Aramil hoch. Dieser gesellt sich kurzerhand ihm gegenüber dazu und erwidert den Blickkontakt. Es wird still, während beide sich nur gegenseitig mustern. Elias‘ Teint wirkt sehr blass und erstaunlich makellos, wenn man vom Dreck absieht, der ein eindeutiges Indiz für die mangelnde Hygiene im Kerker Isgors ist. Dafür, dass er gemäß den Gerüchten bereits acht oder neun Dekaden alt sein soll, wirkt er eher wie Anfang, vielleicht Mitte vierzig. Von seiner Mutter weiß man, dass sie eine Menschenfrau war. Sein Vater ist der Öffentlichkeit ein Geheimnis. Aramils Gedankengänge werden unterbrochen, als Elias das Schweigen bricht. »Seit wann seid Ihr Ysurans Begleiter, wenn ich fragen darf?«

»Seit fast fünfzig Jahren«, erfolgt zügig die Antwort. Aramil wirft dem Magier einen aufgeschlossenen Blick zu.

»Darf ich auch wissen, in welchem Verhältnis Ihr zu Ysuran steht?«

Bei jener Frage zieht sich die schmale Oberlippe in seinem Gesicht hoch und entblößt spitze Reißzähne. Im ersten Moment zuckt Elias alarmiert zusammen. Dem Vampir fällt dies zwar auf, doch geht er nicht darauf ein, und so entspannt sich der Magier wieder etwas. »Wir lernen voneinander. Ysuran ist ein ausgezeichneter Kämpfer, aber sein Stolz steht ihm das ein oder andere Mal im Weg. Nun, und ich lerne durch ihn das Leben in einer Gesellschaft von Sterblichen.«

Ein wenig überrascht, und doch verstehend nickt Elias. Vage lächelt er. »Der Stolz liegt in seiner Familie.« Als Ysuran mit beiden Armen voller Hölzer zurückkehrt, spricht Elias jedoch einen anderen Gedanken aus. »Wie sieht es eigentlich mit Wachehalten aus?«

»Ich schlafe nicht und jagen werde ich morgen früh. Wenn Ihr mir allerdings nicht traut, könnt Ihr gerne auch wach bleiben.«

Die Antwort des mit einem großen Zweihänder bewaffneten Vampirs zwingt Elias dazu, unschlüssig seine Miene zu verziehen. Ahnend, dass sein Gesichtsausdruck ihn nur allzu offensichtlich verraten hat, winkt er beschwichtigend mit einer Hand ab und meint: »Nein, nein. Ich will Euch mein Vertrauen geben. Immerhin lebt Ysuran noch.«

Dieser lässt daraufhin nur schmunzelnd erste Äste in die vorbereitete Feuerkuhle fallen und macht es sich dann neben seinen Wegbegleitern gemütlich. Aramil nickt bloß beipflichtend, während Elias das Holz mit einem konzentrierten Blick auf magische Weise anzündet. Damit ist das Gespräch der Männer beendet, und sie widmen sich wieder ihren eigenen Gedanken.

Bald schon legt Elias sich schlafen, obgleich er dem Untoten nicht seinen Rücken zukehrt. Ysuran versinkt auch recht bald in einen tiefen Schlaf. Aramil hingegen starrt nachdenklich in die nächtliche Ferne.

Eine ganze Weile denkt er über das nach, was Galemna bevorsteht. So wie alle anderen Augenzeugen kennt auch er nicht die Stimme, die durch den König gesprochen hat. Aber die übermittelte Nachricht spricht für sich. Der Ex-Gott Larino plant einen Rachefeldzug gegen Galemna. Es grenzt an eine Ironie des Schicksals. Für seine Rückkehr hätte er sich wohl kaum einen besseren Zeitpunkt aussuchen können. Nach über 2000 Jahren gibt es im Grunde niemanden mehr, der sich noch daran erinnert, wie man ihn seinerzeit aufgehalten und verbannt hat.

Zudem sorgen die wachsenden politischen Anspannungen im Königreich Ibayas dafür, dass eine erneute Zusammenarbeit der freien Völker zunehmend unwahrscheinlich ist. Das jüngste Volk Galemnas hat noch nie viel für die langlebigeren und alteingesessenen Nachbarn übriggehabt. Die Einigkeit, welche es vor ihrer Zeit zwischen den Wesen auf Galemna gegeben hatte, hat stark unter dem Aufstreben der Menschen gelitten. Jetzt, wo die Menschen sich untereinander noch nicht einmal mehr einig sind, ist an eine Verbündung gegen das Böse wohl kein Denken mehr.

Angst empfindet Aramil dennoch nicht. Weder um seine eigene Existenz noch davor, Leute sterben zu sehen. Der Tod ist seit Jahrhunderten sein steter Begleiter. Lediglich vor einem Tod graut es ihm. In den vergangenen Jahrzehnten ist zwischen Ysuran und ihm ein Band entstanden, welches es nur sehr selten gibt. Sie sind mehr als Lehrer und Schüler, nicht nur Freunde. Jeder vertraut dem anderen blind, und sie würden beide für den jeweils anderen bis in den Tod – oder das, was man eben dem Tod gleichsetzen kann – gehen. Sie verstehen sich ohne Worte, und könnte Aramil fühlen, so würden sie wohl auch das gemeinsam tun. In Ysuran hat Aramil erstmalig jemanden gefunden, den er guten Gewissens seinen Freund nennen kann.

Die Sonne geht schon früh auf, und so bricht das Trio ebenso zeitig auf. Weitere vier Tage reiten sie durch die Lande, ohne viel miteinander zu reden. Jeder für sich denkt über das Erlebte und das ihnen womöglich noch Bevorstehende nach. Der eine mehr, der andere weniger. Die Tagesstunden vergehen darüber wie im Flug, und die Nächte ziehen sich in bedächtiger Stille.

Am Nachmittag des vierten Tages nach Isgor erreicht das Trio einen Waldrand. Die Reichsgrenze zwischen dem Königreich Ibayas und jenem der Elfen. Das Reichsgebiet der Wild- und Urelfen erstreckt sich weit hoch bis an die Nordküste Galemnas. Die allermeiste Vegetationsart darin besteht aus ebendiesem uralten Wald. Die drei Männer reiten unbeirrt weiter, denn sie wissen, dass König Thandor sie willkommen heißen wird. Je tiefer sie sich in den Wald hineinbegeben, desto langsamer kommen sie voran. Es ist der Ortskunde aller drei zu verdanken, dass sie sich nicht gar dabei verirren.

Am Morgen des siebten Tages nach Isgor wird die Ruhe der Reisenden gestört. Seit wenigen Augenblicken sieht Aramil sich skeptisch um. Seine feine Nase hat unweigerlich einen markanten Geruch wahrgenommen. Abstoßend muffig liegt er in der Luft, scheint den anderen beiden Herren aber nicht aufzufallen. Der Vampir merkt, wie es ihm schwerfällt, den unliebsamen Geruch vom Rest der unzähligen Duftnoten im sommerlichen Wald zu trennen. Es wirkt so, als tarne sich, was auch immer es ist, in der Natur.

Bevor er weiter darüber nachdenken kann, springen auf einmal drei schwarze Wölfe aus dem hohen Dickicht. Die Pferde der Reiter steigen erschrocken und wiehern. Binnen weniger Herzschläge haben die Angreifer das Trio umzingelt und fletschen dabei knurrend ihre Zähne.

»Ysuran!«, ruft Aramil und positioniert sich rechts von Elias.

Der Urelf versteht sofort und lenkt sein Pferd an die linke Flanke. Beide Kämpfer ziehen ihre Waffen und begeben sich in Verteidigungshaltung. Elias begreift ebenso schnell. Sobald der Rappe unter ihm wieder auf allen vier Hufen gelandet ist, taxiert der Magier die Werwölfe. Dabei rührt er sich nicht ein bisschen.

Abschätzend stieren die Gegner zu den berittenen Männern hoch. Sie halten sich geduckt, wie auf dem Sprung. Dann, wenige Herzschläge später, materialisiert sich eine flammende Kugel in der Luft vor dem mittleren Reiter. Kaum haben sie die drohende Gefahr gewittert, schnellt das Flammengeschoss auch schon geradeaus los und trifft unumgänglich sein Ziel. Durch die Wucht des magischen Angriffs wird einer der Werwölfe niedergerissen und geht in Flammen auf. Hektisch wälzt er sich über den Boden und jault qualvoll. Die zwei anderen setzen zum schnellen Konter an, die Nähe des berittenen Vampirs meidend. Knurrend springen sie stattdessen Ysurans Pferd an. Jenes steigt erschrocken nach oben. Trotzdem trifft den Reiter eine gegnerische Pranke in die linke Flanke. Sich krümmend, schlägt er mit seinem Schwert nach dem Angreifer. Röchelnd stürzt der an der Kehle Getroffene zu Boden. Der andere heult unter den Tritten des Schlachtrosses auf. Nur mit Mühe vermag Ysuran sich im Sattel zu halten. Die Not seines Kameraden erkennend, treibt Aramil sein Pferd umgehend an und führt es von hinten an den letzten Gegner heran. Ein kraftvoller Hieb des Zweihänders trennt den Kopf der Bestie vom Rest des Körpers und beendet den Kampf.

Skeptisch betrachtet Aramil nun Ysuran. Der sitzt inzwischen stöhnend im Sattel und hält sich die blutende Flanke. Schweiß rinnt ihm über die Stirn. Sein Gesicht ist vor Schmerzen verzogen. Leise fluchend sitzt Aramil ab und geht zügig rückwärts. Ein nur flüchtiger Blick zu Elias verrät ihm, dass der Isgoraner selbst ratlos ist.

»Macht was«, knurrt Aramil mit rauer Stimme. Besorgt mustert Elias den Vampir, ehe er an Ysuran, der weiterhin mit seinen Schmerzen kämpft, herantritt.

Auf einmal ertönt eine helle Frauenstimme aus dem Schatten des Waldes und lenkt die Aufmerksamkeit auf sich. »Kann ich den Herren behilflich sein?«

Sofort lenken die Männer ihre Blicke in die vermutete Richtung. Sie entdecken eine schlanke, jung anmutende Frau inmitten des Dickichts. Ihre welligen Haare fallen ihr sanft bis zur weiblichen Hüfte herunter und ihr Teint ähnelt der Farbe des Waldbodens. Bekleidet ist die Fremde mit einem kurzen Rock aus Blättern und Wurzeln sowie einem ähnlich aufgemachten, bauchfreien Oberteil. Zögerlich macht sie kleine Schritte auf die Männer zu.

Skeptisch sieht sie zum Verletzten herüber, während der Blutsauger möglichst besonnen antwortet: »Ich hoffe es.«

Trotz ihrer sichtlichen Zweifel an der Gesinnung Aramils schreitet sie auf ihn zu und schaut berechnend zu Elias. Wortlos sieht dieser ihr entgegen und nickt nur vage, zusichernd. Daraufhin schenkt sie ihm ein herzliches Lächeln und wendet sich sodann Ysuran zu. Für einen kurzen Augenblick betrachtet die Wildelfe aufmerksam den blanken Oberkörper des Urelfen, bis ihr Augenmerk an dessen linker Flanke hängen bleibt. Sein Oberkörper ist auf der Seite vollkommen blutverschmiert. Noch immer presst er seine Hände gegen die klaffende Wunde, um den Blutfluss wenigstens etwas zu mindern. »Wir müssen ihn in die Stadt bringen. Hier kann ich ihm nicht helfen«, spricht die Wildelfe bei diesem Anblick direkt aus.

Die drei Herren willigen wortkarg ein, und so begeben sie sich kurz darauf auf den Weg in die Wildelfenstadt. Der Weg ist nicht weit. Doch er führt hoch in die Bäume. Ihre Reittiere lassen die Abenteurer daher unten im Wald stehen. Während Elias seine Magie dazu verwendet, Ysuran und sich zu den Plattformen der Baumstadt hoch schweben zu lassen, nutzen die Wildelfe und Aramil die herkömmliche Art des Kletterns. Vorsichtig stützt der Magier dann seinen Kameraden für die letzten Schritte vom Stadtrand hin zur nahen Heilerstube der Gastgeberin. Aramil bleibt auf gebührendem Abstand zu den anderen.

Die kleine Gruppe stoppt an der Türschwelle der in den riesigen Baum ragenden Behausung.

»Ich werde mich um ihn kümmern. Seht Euch doch derweil hier um«, schlägt die Hausherrin mit einem sanften Lächeln auf ihren Lippen vor. Dabei schaut sie vornehmlich Elias an, welcher ihre Geste mit einem seichten Stirnneigen quittiert. »Wie ist dein Name?«, fragt er allerdings noch, woraufhin sie sich mit »Sirha« vorstellt. Dann wenden Elias und Aramil herum.

Breite Brücken aus gewundenen Ästen führen sie über tiefe Abgründe hinweg. Die Häuser der Einwohner fügen sich natürlich in Ast- und Blätterwerk der massiven Bäume ein. Ohne Eile folgen sie den Straßen in das Innere der Wildelfenstadt. Bei den Einwohnern stoßen sie auf Argwohn. Skeptisch werden die Besucher gemustert. Die jüngeren Wildelfen wirken zum Teil eher gespannt. Zunehmend trauen sie sich aus ihren Behausungen heraus. Einer der Wildelfen dreht sich zu seinen Freunden herum und meint: »Wahnsinn! Ein echter Vampir. Den spreche ich an.«

Erschrocken flüstert ein Mädchen aus der kleinen Gruppe Elfen ihm zu: »Tu das nicht! Du kennst ihn doch gar nicht. Irlam, sei vernünftig!«

Aber der junge Wildelf stiefelt schon unbeirrt los, auf den Blutsauger und dessen Begleiter zu.

»Er wird ihn umbringen«, keucht das Wildelfenmädchen nur noch fassungslos und hält sich selbst die Augen zu.

»Ich glaube das ja eher nicht«, widerspricht ihr Irlams jüngere Schwester in ganz zuversichtlicher Manier. Ihren Blick lässt sie dabei auf ihren Bruder gerichtet. »Der Reißzahn ist doch nicht so dumm und macht das hier in aller Öffentlichkeit. Ich würde mir erst Sorgen machen, wenn die beiden ohne den komischen Menschen da irgendwohin gehen«, plaudert sie munter weiter. Dabei bedenkt sie nicht die schwachen Nerven ihrer Mitelfe. Diese sackt daraufhin halb in sich zusammen. Nur im letzten Moment schafft sie es, sich an einem tief hängenden Ast festzuhalten, bevor ihre Knie den Boden berührt hätten. Irritiert sehen die anderen Elfen zu ihr, schmunzeln dann aber doch amüsiert, nur um wieder gebannt nach vorne zu schauen.

Dort kommt Irlam gerade bei Elias und Aramil an, welche folglich stehen bleiben.

»Einen Jenna gesegneten Tag, die Herren«, grüßt der Braunhäutige mit einem breiten Grinsen im Gesicht. Aramils Instinkt sagt ihm sofort, dass der Knabe sich aufspielt. Doch für den Moment gedenkt der Kämpfer, noch nicht darauf einzugehen. Somit begrüßt er sein Gegenüber ebenso höflich: »Den Göttern zum Gruß, junger Mann.«

Elias nickt seinerseits nur freundlich und entgegnet mit einem schlichten »Guten Tag«.

Überschwänglich fährt der Knabe fort, da er merkt, dass sich die beiden Herren gesittet verhalten. »Man nennt mich hier Irlam«, stellt er sich vor und tätigt dabei eine einladende Geste in Richtung Elias und Aramils. Diese nicken ihm höflich zu.

»Aramil. Die Freude ist ganz meinerseits.«

»Elias Abras, angenehm.«

Der Magier gibt sich dabei nur kurz angebunden. Still beobachtet er Aramil im Gespräch mit Irlam.

Der spricht auf einmal gestochen scharf, als er fragt: »Darf ich erfahren, was Euch beide hier in unseren bescheidenen Wald führt?« Insgeheim ruht sein olivfarbener Blick auf dem bald zwei Köpfe größeren Vampir, so als warte er förmlich darauf, dass dieser etwas Feindseliges unternimmt.

»Unser Kamerad musste einen Abstecher hierhin machen. Wir warten nur auf ihn«, antwortet Aramil. Seine Körperhaltung strahlt Ruhe aus, doch eine unverkennbare Anspannung liegt in der Luft. Der Vampir lächelt gekünstelt, was Elias‘ Eindruck nur verschärft.

Anstatt aber sich davon einschüchtern zu lassen, redet Irlam unbeirrt weiter: »Ah, Ihr seid also zu dritt unterwegs, interessant.« Sein Interesse ist genauso gestellt wie das Lächeln Aramils. »Darf ich Euch denn dann in der Zwischenzeit etwas herumführen?«, fährt er fort.

»Es wäre uns eine ausgesprochene Freude. Nicht wahr, Herr Abras?«

Elias nickt bloß stumm. Beiläufig wirft er einen Blick über seine Schulter. Im Hintergrund hat sich eine kleine Gruppe Jugendlicher versteckt, die offenbar der Meinung ist, heimlich zu sein. Ob der Erkenntnis rollt er bloß mit den Augen, folgt dann aber schweigsam den Männern vor sich.

Einen guten Stundenlauf lang wandert das Trio aus Gastgeber und Gästen durch das, was die Wildelfen ihre Straßen nennen. Die Äste der Bäume sind ineinander verworren. Sie bilden breite Brücken zwischen den Gebäuden. An fast jeder dritten Abbiegung hält Irlam an, um den Gästen etwas zu seiner Heimat zu erklären. Es sind an den Haaren herbeigezogene Fakten, einzig um das Gespräch am Laufen zu halten. Zumindest ist das Elias‘ Eindruck vom Rundgang.

Sein Trott wird jäh unterbrochen, als es diesmal Aramil ist, welcher zuerst an einer Stelle stehen bleibt. Abrupt wendet der Vampir sich Irlam zu und legt ihm unscheinbar eine Hand auf die elfische Schulter. Dabei drückt er ein wenig fester als nötig zu. »Ich denke, wir werden gleich wieder aufbrechen, aber hab Dank für die Führung, Irlam«, sagt er dabei verräterisch freundlich. Gezielt bleckt er seine Zähne, wie zu einem Grinsen. Sein Plan geht auf. Im Angesicht der langen Reißzähne zuckt der junge Wildelf erschrocken zusammen und starrt mit großen Augen hinauf. Schadenfreude tritt in die bleichen Gesichtszüge des Vampirs. Dann verrät Gekicher die Freunde im Hintergrund. Da nun alle Blicke auf sie fallen, kommen sie aus ihrer Deckung hervor und lachen munter über Irlams Mimik.

Die Gelegenheit nutzt Elias, um mit ernstem Gesichtsausdruck zu Aramil hochzusehen und leise zu zischen: »Musstet Ihr das tun, Sir?« Die Empörung des Magiers ist kaum von der Hand zu weisen.

Aramil wirkt nach wie vor unbekümmert. »Ich habe ihn lediglich berührt«, versucht er zu beschwichtigen, doch der unwesentlich kleinere Mann neben ihm lässt sich nur schwer überzeugen.

»Ich fürchte, Ihr habt Eure Instinkte nicht unter Kontrolle, Sir. Entschuldigt bitte, dass ich das so direkt sage«, fährt Elias leise fort und winkt Aramil mit sich.

Da entringt sich nun doch ein kurzes Seufzen der Kehle des Angesprochenen. »In Ordnung. Ihr habt recht. Ich sollte noch mal jagen gehen.«

Erleichtert über die Einsicht des auf Schritt folgenden Blutsaugers atmet Elias auf. Dank des eher spontanen Rundgangs durch die Baumstadt finden die beiden recht bald wieder zurück zur Heilerstube am Stadtrand.

~ In Traumwelten ~

Dröhnendes Grollen. Scharf schneidet das Kreischen einer hörbar großen Kreatur durch seine Gedankenwelt. Purpurn glühende Augen mit geschlitzten Pupillen manifestieren sich in der Dunkelheit vor dem Träumer. Sie starren ihn von weit oben herab an und scheinen bis in seine Seele hineinzuschauen.

»Mein Gebieter«, lässt der Träumende grüßend verlauten. Dann sinkt er auf die Knie und verneigt sich tief vor dem schwarzen Wyrm. Seine Stirn berührt dabei bald den düster wabernden Boden unter ihm. Schweigend wartet er die Befehle des Herrn ab.

Jene Befehle donnern ihm bar jeglicher Freundlichkeit entgegen. »Diese dreckige kleine Made von Magier – ich will ihn tot sehen. Kümmere dich darum, Yem! Bereite meine Ankunft vor! Es wird nicht mehr lange dauern. Ich kann es spüren.« Voller Vorfreude zieht Larino genüsslich die Luft ein, ehe er sie in einem Schwall glühend heißen Rauchs wieder ausatmet.

Yem-you-shan zuckt zusammen, als das vertraute Brennen unangenehm über seine frei liegende Haut zieht. »Ich kümmere mich darum, mein Gebieter«, versichert er seinem Gegenüber. Nach wie vor richtet er sich nicht auf. Nicht einmal aus dem Augenwinkel heraus betrachtet er den ohnehin viel größeren ExGott.

»Enttäusche mich nicht!« Wieder dieses Grollen in seiner Stimme. Der gehörnte Kopf des Herrn kommt bedrohlich näher. Yem-you-shan rührt sich keinen Millimeter. Nur sein Blick richtet sich nun doch einmal weitmöglichst nach oben aus. So schaut er geradewegs in stierenden Purpur. Erdrückend lange sagt nun auch er nichts mehr. Unmöglich abzuschätzen, wie viel Zeit vergeht. Es kommt dem Diener wie eine halbe Ewigkeit vor. Neuerlich seine Ergebenheit betonend, neigt Yem tief sein Haupt ab.

Dann fährt Larino endlich fort. »Gut so. Du weißt ja, was ansonsten passiert.« Mit jenen Worten durchzieht ein bohrender Schmerz den Brustkorb des Menschen. Ein gellender Schrei löst sich unweigerlich aus seiner Kehle. Atemlos bricht er zusammen und keucht. Kalter Schweiß tritt auf seine Stirn. Ein Schauer fährt ihm über den Rücken. Sein Herz pocht wie verrückt. Hilflos windet er sich in seiner Agonie. Nur am Rande vernimmt er ein Schnauben. Dann ist der Spuk auf einmal wieder vorbei. Wie paralysiert bleibt er liegen. Unfähig, sich zu bewegen. Sein Körper ist taub. Mit dem Wegfall des Schmerzes hat er auch jegliches andere Gefühl verloren.

Erst das Erwachen in der Wachwelt lässt ihn wieder aufatmen. Es wäre zu einfach, das alles auf einen bösen Traum zu schieben. Die Worte seines Herrn waren eindeutig und mit Sicherheit nicht ohne Grund ausgesprochen. Yem-you-shan hatte in Isgor miterlebt, was passierte, als dieser Elias Abras seine Majestät von Ibayas vor den Augen aller ermordet hatte. Um ein Haar feiert er das. Der König hatte sowieso schon seit Jahrzehnten nichts mehr auf die ärmeren Schichten seiner Bevölkerung gegeben. Geschah ihm also nur recht, dass jemand seinem erbärmlich selbstverliebten Leben ein Ende bereitete. Doof nur, dass es ausgerechnet jemand mit Verbindungen in die Sphäre der Ur-Göttin Tsiressa sein musste. Damit ist der berüchtigtste Freiheitskämpfer Galemnas gleichzeitig zu einem Idol und Feind Yems geworden. Zu schade …

Die Jagd

Kaum, dass Elias und Aramil an der Heilerstube angeklopft haben, öffnet sich die leicht rundlich geformte Türe nach außen und offenbart die bekannte Wildelfe. Noch im nächsten Augenblick deutet sie einladend herein. Freundlich meint sie dazu: »Ihr könnt nun eintreten.«

Elias nickt dankbar und folgt der Einladung. Erst als er merkt, dass Aramil zögert, wendet er im Flur des Baumhauses herum. Fragend sieht er seinen Begleiter an. Unweigerlich fällt sein Blick dabei direkt auf dessen Augen, deren Farbe sich auf wundersame Weise intensiviert zu haben scheint. Oder ist es nur das dämmrige Licht des Hausflures, welches das Blutrot so hervorhebt? Er stockt. Sirha neben ihm hat den Atem angehalten.

Aramils Frage durchbricht schließlich die quälende Stille »Wie geht es ihm?«

Kleinlaut bringt Sirha ein »Er ist über den Berg« hervor. Nach kurzem Zögern ergänzt sie noch: »Er wird allerdings ein paar Tage Erholung brauchen. Derzeit schläft er im Behandlungszimmer.« Hinter ihrer Stirn rasen sichtlich die Gedanken hin und her. Gebannt liegt ihr Augenmerk auf dem Untoten. Wie in böser Vorahnung. Doch ihre Befürchtung wird nicht wahr.

Statt, dass der Vampir seine Fassung an Ort und Stelle verliert, nickt er nur beherrscht, wirft Elias einen kurzen, bittenden Blick zu und wendet sich dann ab. »Ich bleibe in der Nähe.« Mit jenen Worten verschwindet er zügig aus dem Blickfeld der verwirrt Zurückbleibenden. Wenige Schritte führen ihn zum Stadtrand. Dort springt er, ungeachtet der Baumhöhe, in einem Satz hinunter und landet sicher auf beiden Füßen.

Im umliegenden Wald herrscht derweil Totenstille. Nicht ein einziger Vogel zwitschert. Kein Wind weht durch die Blätter. Die hungrigen Augen des Vampirs nehmen nur nebenbei wahr, wie schön die Natur um ihn herum eigentlich ist. So unberührt von der Zivilisation. In den anmutigsten Größen sowie verschiedensten Formen erstrecken sich die Pflanzen über das Areal. Aramil aber sucht mit all seinen Sinnen nach Leben. Tieren, die hier durch diesen Wald laufen. Durch seine Nase ziehen die Gerüche von Harz, Schlamm, Blüten wie auch vielem mehr. Eine ganze Weile lang pirscht er durch das Dickicht, ohne dabei einen Laut zu produzieren.