Der Kanarienvogelbaum - Helle Stangerup - E-Book

Der Kanarienvogelbaum E-Book

Helle Stangerup

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Beschreibung

Auf der Suche nach Freundschaft gerät Kasper eines Tages in einen ungewöhnlichen Garten, in dem unglaubliche Dinge vor sich gehen. – Eine Geschichte für alle, die an Träume glauben, und für alle, die Träume brauchen.-

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Seitenzahl: 35

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Helle Stangerup

Der Kanarienvogelbaum

Saga

Kasper hatte Angst, als er an der Mauer hochkletterte. Sein Herz klopfte, und seine Hände waren feucht.

Jeden Tag kam Kasper auf dem Weg zur Schule an der Mauer vorbei; sie war über hundert Meter lang. Beim Supermarkt fing sie an und bei den Reihenhäusern hörte sie auf. Die neue Siedlung hieß Sonnenpark, obwohl es da gar keinen Park und keine Bäume gab. In Wirklichkeit war alles neu dort, wo Kasper wohnte – die Häuser, die Schule, der Supermarkt und die Tankstelle – einfach alles, abgesehen von der Mauer.

Die Mauer war aus großen grauen Quadersteinen gebaut, und aus den Ritzen wuchsen die merkwürdigsten Pflanzen. Lange Zweige hingen wie die Lianen zur Erde; die Blätter sahen aus wie große graugrüne Kannen. Da waren auch wuchernde Heckenrosen, die im Juni kleine rote Blüten bekamen. Zwischen den Steinen wuchsen Moos und Farnkraut. Aber die Mauer hatte keine Tür, und niemand wußte, was dahinter war. In der Schule meinte jemand, eine alte verrückte Frau wohne hinter der Mauer, andere sagten, es sei wohl ein verhexter Garten. Aber obgleich keiner richtig an die Geschichten glaubte, hatte es trotzdem noch niemand gewagt, über die Mauer zu klettern, um zu sehen, was es da drinnen, hinter den Quadersteinen, den Lianen, dem Moos und dem Farnkaut, wirklich gab.

Alles ist so rätselhaft und geheimnisvoll und vielleicht auch gefährlich, dachte Kasper, und ganz anders als zu Hause. Die Mutter war immer traurig, und der Vater redete immer von Problemen, die ihm über den Kopf wuchsen. Kasper hatte Angst vor seinem Vater, aber es war eine andere Angst als jetzt, wo er Angst hatte, weil es so aufregend war.

Kasper griff mit der einen Hand nach der verrosteten Eisenspitze oben auf der Mauer. Er wollte schon umkehren, aber dann fielen ihm die Rechenaufgaben ein, die er nicht gemacht hatte, und in der ersten Stunde würden sie ein Diktat schreiben.

Kasper beschloß, die Schule zu schwänzen. Er zog sich auf die Mauer und schaute sich um.

Vor ihm lag ein riesiger Garten mit Beeten, Bäumen und Sträuchern, aber auch voller Unkraut. Der Rasen war nicht gemäht, und alles wuchs kreuz und quer durcheinander, wie in einem Urwald.

Treibhäuser waren auch in dem Garten. Zwei bestanden aus einfachen Glaswänden, die schräg gegen die Mauer gelehnt waren. Das dritte aber stand mitten auf einer Wiese mit einem hohen spitzen Dach. Die Treibhäuser hatten zum Teil keine Scheiben, und Weinreben wuchsen aus den Öffnungen, und die Blätter sahen aus wie Hände, die sich der Freiheit draußen entgegenstreckten.

Kasper setzte sich auf die Mauer. Unter ihm wuchsen Brennesseln und Bärenklau, aber weiter drinnen im Garten sah Kasper Lavendelbeete; sie waren schnurgerade und säuberlich gejätet an einem geharkten Kiesweg entlang angelegt. Und da stand eine alte Gartenbank, von der die Farbe abblätterte.

Kasper zögerte. Das Ganze wirkte ein bißchen merkwürdig. Niemand war zu sehen, und doch mußte es hier jemanden geben. Kasper konnte es gleichsam spüren, daß es irgendwo zwischen den verfallenen Treibhäusern und den Lavendelbeeten ein lebendes Wesen gab. Da war etwas, er konnte es nur nicht sehen von dort, wo er jetzt gerade saß – die Straße mit den Autos hinter sich, mitten zwischen der neuen Welt und dem alten Garten. Kasper hatte die Beine angezogen, so daß er das Kinn auf die Knie stützen konnte. Jetzt streckte er die Beine aus, stieß sich ab und landete mit einem großen Sprung unten im Garten hinter den Brennesseln und dem Bärenklau. Kasper hatte wieder Angst, genau wie am Anfang, als er an der Mauer hochgeklettert war. Vielleicht stimmte es doch, daß hier eine alte verrückte Frau wohnte, und wer wußte, was der alles einfallen mochte? Oder vielleicht war hier alles wirklich verhext?

Kasper schaute verstohlen zur Mauer; zurück konnte er nicht, dann mußte er durch die Brennesseln und den Bärenklau. Und was war, wenn er nun überhaupt nicht mehr herauskam?

Plötzlich wünschte er sich, in der Schule beim Diktat zu sitzen, fast hätte er sich lieber ausschimpfen lassen, weil er die Rechenaufgaben nicht gemacht hatte, als gerade hier zu stehen.