Der Kaplan - Klaus Mann - E-Book

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Klaus Mann

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Beschreibung

Klaus Manns vollständiges Drehbuch "Der Kaplan" wird gerahmt von Originalbeiträgen zur Entstehungsgeschichte von Film und Drehbuch, zu den verwickelten deutsch-italienischen Beziehungen und zum Zusammenspiel von Krieg und Kino. Weitgehend unbekannt ist, dass Klaus Mann an der Entstehung von Roberto Rossellinis neorealistischem Filmklassiker "Paisà" (1946) sehr aktiv beteiligt war. Der Film schildert in sechs Episoden den Vormarsch der Alliierten und die Befreiung Italiens von Faschismus und deutscher Besatzung. Unter dem Titel "The Chaplain" ("Der Kaplan") schrieb Mann ein vollständiges Drehbuch für die vorletzte Episode, angesiedelt in der Nähe des Futa Passes im nördlichen Apennin, wo der Autor als Angehöriger der 5th Army im Winter 1944 /45 stationiert war. Sein tieftragischer Text über die Begegnung eines im Grunde pazifistischen amerikanischen Militärkaplans mit einem "buckligen" faschistischen Jugendlichen wurde nicht realisiert. Diktatur und Krieg prägten Leben und Werk des italienischen Regisseurs und des deutsch-amerikanischen Schriftstellers auf entscheidende, zugleich sehr unterschiedliche Weise. Klaus Manns letzter großer literarischer Text wird in diesem Band betrachtet durch ein Kaleidoskop unterschiedlicher künstlerischer und geisteswissenschaftlicher Disziplinen. Mit Auszügen aus Klaus Manns Fragment gebliebenem Roman "Der letzte Tag" (1949) und Originalbeiträgen u.a. von Lucia Chiarla, Didi Danquart, Susanne Fritz, Carlo Gentile, Alberto Gualandi, Fredric Kroll, Friedrich Lohmann, Chiara Sambuchi, Georg Seeßlen.

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Klaus Mann

Der Kaplan

Ein Drehbuch fürRoberto Rossellinis Filmklassiker Paisà

Herausgegeben und mit einem Vorwort von Susanne Fritz

WALLSTEIN VERLAG

Inhalt

Vorwort

Klaus MannThe Chaplain / Der Kaplan

Fredric KrollDer Kaplan: Klaus Manns Zusammenarbeit mit Roberto Rossellini am Film Paisà

Carlo GentileFuta-Pass, Weihnachten 1944.Eine historische Situationsbeschreibung

Susanne Fritz»What are we fighting for?«

Georg SeeßlenKlaus Mann, Roberto Rossellini, das Opfer und der Krieg.Einige Steine für ein filmgeschichtliches Mosaik

Filmen im Kriegsgebiet. Hoffnungsmomente im Schrecken?Ein Gespräch mit Filmregisseur Didi Danquart

Bleibt in Krieg, Krise, Katastrophe die Kunst auf der Strecke – oder kann und muss sie neu erfunden werden?Ein Gespräch mit den Filmregisseurinnen Lucia Chiarla und Chiara Sambuchi

Friedrich LohmannMenschenliebe im Krieg. Theologische und ethische Überlegungen zu Klaus Manns Drehbuch

Alberto GualandiApokalyptischer Humanismus.Macht und Ohnmacht der Vernunft in Klaus Manns letzten Werken

Fredric KrollKlaus Manns The Last Day: Eine Einführung

Klaus MannThe Last Day

Beiträgerinnen und Beiträger

Impressum

Vorwort

Anfang August 1945, wenige Wochen vor seiner Entlassung aus der US Army, wohnt Klaus Mann in Rom einer Voraufführung von Roberto Rossellinis Roma città aperta vor geladenen Gästen bei und ist überaus angetan. An den folgenden Tagen kommt es zu intensiven Gesprächen und bald zu einer vertraglichen Übereinkunft, die für den deutsch-amerikanischen Schriftsteller eine leitende Position in Rossellinis Drehbuchteam vorsieht. Der unter dem Titel The Seven from the U. S. geplante Film soll die Befreiung Italiens von Faschismus und deutscher Besatzung durch die Alliierten von Süd nach Nord in sieben Episoden erzählen. Im fertigen Film, der als Paisà 1946 in die Kinos kommt, fehlt die vorletzte Episode (bzw. war während der Dreharbeiten ausgetauscht worden), zu der Klaus Mann das vollständige Drehbuch geschrieben hatte, sein Titel: The Chaplain, Der Kaplan.

Wie gestaltete sich die Zusammenarbeit zwischen Rossellini, seinem bereits erprobten Team und dem »Neuling« Klaus Mann, der als Exilant, glühender Antifaschist und einziger aktiver Kriegsteilnehmer Erfahrungen in die Arbeit einbrachte, die sich von denen seiner italienischen Kollegen in vielem unterschieden? Welche Gründe mögen im Einzelnen zum Bruch geführt haben? Fredric Kroll, der als junger Doktorand das Typoskript des Chaplain 1970 im Nachlass Klaus Manns in Zürich entdeckte, untersucht in seinem Beitrag die Geschichte einer vielversprechenden Begegnung zweier großer Künstler, deren Methoden und Sichtweisen sich als unvereinbar herausstellten, aber auch den unerbittlichen Konkurrenzkampf innerhalb des Drehbuchteams, in dessen Folge Klaus Manns Spuren aus dem Film getilgt wurden.

Bereits in seiner Literarizität erweist sich Der Kaplan als wenig »kompatibel« mit Rossellinis spontaner und improvisatorischer Arbeitsweise, mit der er seine sehr persönlich geprägten neorealistischen Spielfilme aus Versatzstücken der vorgefundenen Wirklichkeit schuf. Noch mehr aber unterschieden sich der Regisseur und der Schriftsteller in ihrem Blick auf die jüngste Geschichte. Der Katholik Rossellini inszenierte (verkürzt gesagt) das italienische Volk als Italiani brava gente und Opfer der deutschen Invasion und des furchtbaren Krieges auf italienischem Boden. Klaus Mann legte hingegen als Beobachter von außen den Finger in die Wunde und zeichnete ein komplexeres Bild, in dem ein Teil der italienischen Bevölkerung als Faschisten und Kollaborateure der Nazibesatzung am Elend des Zweiten Weltkriegs mitschuldig waren und die alliierten Befreier keinesfalls nur vorbildlich agierten. Sein Drehbuch um den amerikanischen Militärgeistlichen Martin, der in seiner Weihnachtspredigt vor der kämpfenden Truppe von der Feindesliebe spricht, und den faschistischen, die Hilfe der Amerikaner ablehnenden Jungen Ernesto fiel darum aus Rossellinis Gesamtkonzept und blieb ein Solitär, ein Außenseiter wie sein Autor selbst. Die gescheiterte Zusammenarbeit mit den Italienern, in die er sich mit großem Elan geworfen hatte, wurde so zu einem (weiteren) persönlichen Desaster, von dem er sich nur unzureichend erholen sollte.

Wie präsentiert man einen Text, der nicht dafür verfasst worden war, gedruckt zu werden, sondern vielmehr verfilmt? Der einerseits literarische Qualität besitzt und zweifellos für sich stehen könnte, zugleich aber auch erklärungsbedürftig bleibt, da er als eine Geschichte von mehreren Geschichten gedacht war, die aufeinander aufbauen und einander ergänzen sollten? Der dazu in einem historischen Kontext steht, der vielen von uns, die Italien lieben, doch eher unbekannt ist? Der am Futa-Pass zwischen Bologna und Florenz angesiedelt ist, in einer abgelegenen Gegend, wo neben der so atemberaubenden wie unwirtlichen Berglandschaft die größte deutsche Kriegsgräberstätte Italiens mit fast einunddreißigtausend Toten eine der wenigen »Touristenattraktionen« darstellt?

So werfen Klaus Manns Text, die Hintergründe seiner Entstehung und sein Schicksal als nicht realisiertes Filmskript Fragen auf, die eine nähere Betrachtung verdienen. Wir haben Autorinnen und Autoren unterschiedlicher wissenschaftlicher und künstlerischer Disziplinen um Antworten beziehungsweise Diskussionsbeiträge gebeten.

Der Historiker Carlo Gentile schildert die brutale, von Massakern an der italienischen Zivilbevölkerung begleitete deutsche Besetzung Italiens 1943–45 sowie den verlustreichen Vormarsch der Alliierten und setzt Klaus Manns persönliche Erfahrungen im nördlichen Apennin zu den wirklichkeitsnah geschilderten Ereignissen und Figuren des Drehbuchs in Zusammenhang. Seine aus dem Film eliminierte Episode, insbesondere die Figur des faschistischen Jugendlichen Ernesto, der von der alliierten Spionageabwehr erschossen wird, deutet Gentile als eine »erinnerungspolitische Leerstelle« im italienischen Gedächtnis.

Wie lässt sich ein militärisches Eingreifen »im Namen des Guten« rechtfertigen, das mit Blutvergießen und dem Tod zahlloser Unschuldiger einhergeht? Wie wird nicht nur der Krieg, sondern auch der Frieden gewonnen? Klaus Manns Weg vom Pazifisten zu einem Befürworter des bewaffneten Kampfes gegen Hitlerdeutschland »mit schlechtem Gewissen« beleuchtet der evangelische Theologe und Ethiker Friedrich Lohmann. In seinem Aufsatz stellt er die Positionen wichtiger Theologen vor, die um eine christliche Stellungnahme zur Bekämpfung der Gewalt mit Mitteln der Gewalt bis hin zu einer Rechtfertigung der Flächenbombardements deutscher und japanischer Städte ringen; eine seinerzeit in den Vereinigten Staaten von Amerika mit einiger Heftigkeit geführte Debatte, die Klaus Mann mit großer Anteilnahme verfolgte und die ihn später zur Figur des protestantischen Militärkaplans Martin inspiriert haben könnte.

Wie kommt ein Mensch an den Punkt, sich für das »Böse« zu entscheiden? Alberto Gualandi nähert sich Klaus Mann als Philosoph und entdeckt dessen »apokalyptischen Humanismus«, ein Menschenbild, das ihm erlaubt, selbst seinen schlimmsten menschlichen wie politischen Gegnern auf einer tieferen Ebene zu verzeihen. Gualandi unterzieht u. a. die berühmten Romane Mephisto und Treffpunkt im Unendlichen einer philosophischen Analyse und zeigt eindrücklich, wie der Autor gerade auch seinen moralisch fragwürdigen Figuren wie Hendrik Höfgen und Ernesto mit kritischer Empathie folgt.

Mit Georg Seeßlen haben wir einen profilierten Cineasten um Lektüre des Kaplan gebeten, der in seinem Beitrag drei unterschiedlichen Darstellungsversuchen des alliierten Befreiungskampfes in Italien nachspürt. Neben Mann und Rossellini bringt er den amerikanischen Filmregisseur John Huston ins Spiel, dessen schonungsloser Dokumentarfilm The Battle of San Pietro unter Pazifismusverdacht fiel, ehe der Film mittels einer nachgedrehten Erklärung des Oberbefehlshabers der 5. Armee, General Mark W. Clark, eine Rechtfertigung des Kriegseinsatzes erhielt. Ist es überhaupt möglich, einen Anti-Kriegsfilm zu drehen, zeichnet sich eine solche Möglichkeit in einem fiktiven Dreieck Mann-Rossellini-Huston ab?

Neben historischen und theoretischen Exkursen werfen wir einen Blick in die Praxis und sprechen mit zeitgenössischen Filmemacherinnen und Filmemachern über Klaus Manns Drehbuch aus »filmpraktischer« Sicht. Mit dem Dokumentar- und Spielfilmregisseur Didi Danquart unterhält sich die Herausgeberin über dessen 1993 während der Blockade Sarajewos entstandenen Dokumentarfilm Wundbrand, seine Erfahrungen als Filmregisseur in einem Kriegsgebiet und über Roberto Rossellinis Kriegstrilogie, deren letzter Teil, Deutschland im Jahre Null, womöglich nationalsozialistisches Gedankengut transportiert, anstatt es über dessen Darstellung zu entkräften. Mit Chiara Sambuchi und Lucia Chiarla kommen zwei Vertreterinnen der jüngeren Generation Filmschaffender zu Wort; beide sind in Italien geboren und aufgewachsen und leben heute in Berlin. In ihren Dokumentar- und Spielfilmen rücken sie vermeintliche Randthemen und Randfiguren ins Zentrum und erzählen damit viel über die Mitte der Gesellschaft und deren Verdrängungsmechanismen. Beide sehen in Italien einen großen »Nachholbedarf« in Anbetracht einer nur zögerlichen Aufarbeitung von Faschismus und Kolonialismus. Eine Aufgabe, die auch Kunst- und Filmschaffenden zukomme.

Die Herausgeberin beschäftigt sich in ihrem Beitrag mit Klaus Manns Schwäche für Vulkane, die dieser mit Roberto Rossellini teilte, und mit der Frage, wie sich vergleichbar unberechenbare, zerstörerische Kräfte in uns Menschen bändigen lassen. Klaus Mann stellte als Schriftsteller in Uniform seine Wortkunst in den Dienst der psychologischen Kriegsführung. Was aber richten Appelle des Friedens und der Vernunft aus inmitten von Gefechtslärm und Blutvergießen? Mit Klaus Mann stellt sie die Frage: What are we fighting for?

Ausgehend von einem nicht realisierten Drehbuch ist einiger Diskussionsstoff zusammengekommen, der die Brisanz dieses noch weitgehend unbekannten Werks Klaus Manns deutlich macht. Den Text in seiner vollen Länge vorzustellen und ins Zentrum zu rücken stellt auch eine posthume Wiedergutmachung dar. Dass Roberto Rossellinis berühmter Filmklassiker Paisà, für den das Drehbuch einst geschrieben worden war, dabei ein wenig ins Hintertreffen gerät und von unseren unabhängig voneinander arbeitenden Autorinnen und Autoren mitunter recht kritisch beurteilt wird, war dabei weder beabsichtigt noch zu vermeiden. Die eine oder andere thematische Überschneidung zwischen den einzelnen Beiträgen ergab sich aus dem allen gemeinsamen Stoff; dank der unterschiedlichen Perspektiven ergänzen sie einander.

Nach den ausführlichen Analysen und Kommentaren war es der Herausgeberin zusammen mit Fredric Kroll wichtig, Klaus Mann selbst noch einmal zu Wort kommen zu lassen. So bildet dessen erschütternder, Fragment gebliebener Roman The Last Day den Abschluss. Fredric Kroll, der das teils handschriftliche und schwer entzifferbare, teils maschinengeschriebene Konvolut 1970 im Nachlass Klaus Manns barg, stellt hier seine »Lesefassung« des unvollendeten Romans vor, dessen Entstehungszeit in die letzten Lebenswochen vor dem Suizid des Autors im Mai 1949 fiel.

Die Vorarbeiten und schließlich die Realisation dieses Buches waren ein langer Prozess. Die Herausgeberin dankt allen Mitstreitern von Herzen. An allererster Stelle Fredric Kroll, dem intimsten Kenner Klaus Manns und dessen Werks, ohne den diese Publikation, die er in allen Phasen beratend begleitet hat, nicht zustande gekommen wäre. Fredric Kroll hatte der Herausgeberin Auszüge aus dem Drehbuch bereits vor fünfundzwanzig (!) Jahren zu lesen gegeben, seither unzählige Gespräche mit ihr darüber geführt und u. a. gemeinsam mit ihr zur Publikation der italienischen Ausgabe Il Cappellano. Appennini. Natale 1944 (Bologna, 2018) beigetragen. So kehrte Klaus Manns Geschichte in den Landstrich zurück, wo der Autor sie gewissermaßen am eigenen Leib erlebt und sein Drehbuch angesiedelt hatte. (Das breite regionale wie überregionale Presseecho in Italien war überaus erfreulich.)

2015 überraschten die Herausgeber des Männerschwarm Verlags Fredric Kroll anlässlich seines siebzigsten Geburtstags mit der Festschrift Treffpunkt im Unendlichen: Fredric Kroll – ein Leben für Klaus Mann. Darin wurden auch bisher unveröffentlichte Texte Klaus Manns erstmalig übersetzt und abgedruckt, die dem Jubilar ganz besonders am Herzen lagen, vor deren Veröffentlichung Verlage bis dahin aber zurückgeschreckt waren. Dem Herausgeber Detlef Grumbach und dem Übersetzer Joachim Bartholomae, dessen vorzügliche Übertragungen aus dem amerikanischen Original ins Deutsche wir hier abdrucken dürfen, sei hier sehr herzlich gedankt.

Zu den Quellen: Die Originaltexte Klaus Manns sowie die hier abgedruckten Flugblätter liegen im Klaus-Mann-Archiv in der Monacensia München. Neben dem einundsiebzig durchnummerierte Seiten umfassenden Typoskript des Drehbuchs findet sich dort auch ein elfseitiges Treatment des Autors, in dem er die Handlung und wichtigsten Dialoge umreißt. In seinem Entwurf zeichnet er die Figur des Ernesto als vollständig von faschistischer Ideologie durchdrungen, fanatisch, arrogant und siegessicher bis zur Hysterie. Was er denn zu tun gedenke, wenn die Nazifaschisten verlieren würden, will Kaplan Martin von ihm wissen. Dann würde er Selbstmord begehen, wie es die Japaner vormachten; Selbstmord sei im Fall der Niederlage die einzige richtige Antwort. Im schließlich ausgeführten Drehbuch zeigt sich Ernesto zwar ebenso indoktriniert, doch weitaus verletzlicher, unsicherer und offener. Offenbar milderte Klaus Mann den aggressiven Fanatismus seiner Figur deutlich ab, um ihr eine Chance auf Veränderung, ja auf Rettung einzuräumen (nicht zuletzt auch, um die Sympathie des Publikums für den jungen Extremisten nicht zu verspielen). Dass diese Hoffnung von kurzer Dauer ist, sich nicht erfüllt, wiegt umso schwerer.

Wir danken allen, die sich auf das Abenteuer eingelassen, sich mit Klaus Mann und Roberto Rossellini ausgiebig beschäftigt und eigens für diesen Band geäußert haben. Dank ihres Engagements ist ein Kaleidoskop entstanden, das heute, fünfundsiebzig Jahre nach Ende des Zweiten Weltkriegs, mit jeder Drehung ein neues überraschendes Bild auf die Geschichte wirft.

Susanne Fritz

Abb. 1: Titelblatt von Klaus Manns The Chaplain,© Münchner Stadtbibliothek / Monacensia.

Klaus Mann

The Chaplain / Der Kaplan

Apennin, Weihnachten 1944

1. STRADA STATALE 65 …: In der Nähe des FUTA PASSES, hoch oben im Apennin.

Die Kamera schwenkt zunächst über ein weites, ödes Panorama ziehender Nebelschwaden, dichter Wolken und schroffer Felsen – eine endlose Abfolge von Bergrücken, Tälern und Gipfeln: eine erbittert monotone, einschüchternde und doch großartige Szenerie.

Die Kamera fährt auf ein baufälliges Gebäude zu – ein bescheidener Bau aus Holz und Backstein, der an einer der Kurven der sich in Serpentinen windenden Nationalstraße steht. Jetzt ist er verfallen und verlassen, doch früher einmal muss er eine Raststätte für Autofahrer gewesen sein. Die roten Mauern weisen Spuren von Artilleriebeschuss auf. Ein großes Schild, gut sichtbar in der Mitte der lädierten Front des Hauses angebracht, verkündet (auf Italienisch) »FUTA PASS« und die Höhe über NN (in Metern).

Von dem zerbombten Gebäude schwenkt die Kamera zur Nationalstraße – eine recht breite Straße, die sich durch tiefe Täler schlängelt, steile Abhänge hinauf und über schmale Bergrücken, oft gefährlich nah am felsigen Abgrund. Es ist eine gute, solide gebaute Straße, doch jetzt ist sie von einem Matsch aus Lehm und schmelzendem Schnee bedeckt. MATSCH und NEBEL – das ist es, was die Kamera in dieser Einführungssequenz in erster Linie zeigen und hervorheben soll. Die ganze Szene besteht aus nichts anderem als Matsch und Nebel, soweit das Auge blickt. Die stark befahrene, verstopfte Straße ist so matschig, dass die Fahrzeuge kaum vorankommen; der Nebel ist so undurchdringlich, dass den Fahrern jede Sicht genommen ist – sie sehen die Hand vor Augen nicht. Und doch bewegen die Wagen sich vorwärts – durch ein Chaos aus Wolken, Schmutz und Sturm.

Die Kamera konzentriert sich nun auf die nicht abreißende Kolonne militärischer Fahrzeuge – eine endlose Prozession, die sich in beiden Richtungen langsam und beschwerlich durch den Matsch vorarbeitet. Es sind Transporter und Lastkraftwagen in allen Größen und Formen, Jeeps, Mannschaftswagen, Offizierslimousinen und Krankenwagen. Die Fahrzeuge, die in nördlicher Richtung fahren, bringen Mannschaften und Ausrüstung an die Front bei Bologna, und in südlicher Richtung werden die Erschöpften und Verwundeten zu den Krankenhäusern und Hauptquartieren in der Etappe gebracht. Die Kamera zeigt die harten, angespannten Gesichter der Männer, die in den Norden gebracht werden – und in der anderen Fahrtrichtung die apathischen und benommenen Menschen, die von der Front kommen: einige von ihnen schlafen, andere starren blicklos vor sich hin, allesamt reglos und schweigend.

Die Kamera folgt der Kolonne, die in nördlicher Richtung fährt, und die Detonationen des Artilleriefeuers, die anfangs nur als fernes Grollen vernehmbar waren, sind deutlicher und unheilverkündender zu hören.

Die Kamera fährt auf einen amerikanischen Jeep zu, der gerade ein italienisches Straßenschild passiert, dessen einer Pfeil nördlich in Richtung Bologna zeigt, der andere südlich nach Florenz. In dem Jeep sitzen ein junger Lieutenant und zwei Sergeants, deren Uniformen und Gesichter mit Schlamm beschmiert sind; sie betrachten das Schild.

SERGEANT: »Oh Mann, ich wünschte, ich wäre wieder im guten alten Florenz! Sie nicht auch, Sir?«

LIEUTENANT: »Zum Teufel, nein, Weihnachten in Bologna – das war’s, was wir erreichen wollten!«

DER ZWEITE SERGEANT (schnaubt verächtlich): »Weihnachten in Bologna – von wegen!«

DER ERSTE SERGEANT: »Wer will denn schon nach Bologna?«

DER ZWEITE SERGEANT: »Ich weiß, wo ich gern sein würde, gerade jetzt …«

LIEUTENANT: »Jetzt reicht’s, Bursche! E i n Wort von dir, du wärst Weihnachten gern zu Hause, dann knallt’s!«

Die Wagenkolonne, die zeitweilig zum Halten gekommen war, setzt sich wieder in Bewegung. Durch den Nebel zeichnet sich die Silhouette eines halb zerstörten Dorfs ab. Der Jeep mit den drei Soldaten schleicht die Hauptstraße entlang – vorbei an der zerstörten Kirche und anderen mehr oder weniger beschädigten, erbärmlichen Häusern. Am Straßenrand stehen einige Dorfbewohner – überwiegend alte Leute und Kinder, alle in ihrer schwarzen Sonntagskleidung – und sehen den vorbeifahrenden Wagen zu. Sie sind weder feindselig noch freundlich – nur müde, hungrig, verfroren und irgendwie beeindruckt von dieser furchtbaren Zurschaustellung schlammbedeckter militärischer Macht. Hin und wieder winkt ein Kind mit seiner kalten, roten kleinen Hand und piepst: »Caramelli, Joe! Chewing Gum!« – Vor einem Gebäude, das einen repräsentativeren und besser erhaltenen Eindruck macht als die anderen, stehen einige JUNGE MÄNNER im Alter zwischen 16 und 18 Jahren. Einer von ihnen hebt den Arm und macht mit zwei Fingern das Victory-Zeichen. Der LIEUTENANT im Jeep bemerkt den Gruß und lächelt ihm zu – ein müdes, aber herzliches Lächeln.

LIEUTENANT: »Habt ihr den da gesehen? Guter Junge.«

SERGEANT: »Seht euch den Kerl da drüben an! Finsterer Typ, oder?«

Er zeigt auf einen anderen JUNGEN MANN – einen BUCKLIGEN, ungefähr 15[1] –, der allein dasteht, ein paar Meter von der Gruppe der anderen Jungen entfernt. Sein Gesicht – grazil geformt und intelligent unter einer Mähne widerspenstiger schwarzer Haare – verrät keine Gefühlsregung, aber seine Augen – sie starren finster auf die amerikanischen Wagen und Soldaten – sind voll von leidenschaftlichem Hass. – Die drei Männer im Jeep lachen über ihn.

LIEUTENANT: »Hallo, du da – Glöckner von Notre Dame! Fröhliche Weihnachten!«

Als der BUCKLIGE nicht reagiert, schneidet der LIEUTENANT im Jeep Grimassen in seine Richtung und äfft fröhlich den finsteren Gesichtsausdruck des jungen Mannes nach. Daraufhin knirscht der BUCKLIGE mit den Zähnen, wendet sich abrupt ab und verschwindet in dem relativ guterhaltenen Gebäude. Die DREI SOLDATEN brechen in lautes Gelächter aus.

Der Jeep fährt weiter – nur, um nach wenigen hundert Metern wieder zum Stehen zu kommen. Dieses Mal wird die ganze Fahrzeugkolonne von einem Konvoi britischer Lastwagen aufgehalten, der in einer Kurve gehalten hat. Mit Bechern aus Blech in den Händen stehen die englischen Soldaten um einen großen Teekessel herum, der am Straßenrand auf einer mobilen Kochstelle steht. Da die britischen Lastwagen die Straße in der einen Fahrtrichtung blockieren, wird die Verkehrslage insgesamt kritisch und die Fahrzeuge verkeilen sich, bis niemand mehr weiterkommt. Auch der Jeep mit den DREI SOLDATEN steckt weiter hinten in der gelähmten Kolonne fest.

LIEUTENANT (zu einem Soldaten in einem Jeep vor ihm): »Hey, Soldat, was ist denn diesmal der Grund, dass wir halten müssen?«

SOLDAT IM ANDEREN JEEP (ohne ihn anzuschauen, lakonisch): »Die Zitronenfresser[2] trinken Tee.«

LIEUTENANT: »Verdammter Mist …«

SERGEANT: »Diese verdammten Zitronenfresser! Für ihren verfluchten Tee halten sie den ganzen Verkehr auf!«

LIEUTENANT (äfft die britische Aussprache nach): »Lästige Sache das, alter Knabe – stimmt’s?«

DER ZWEITE SERGEANT: »Verdammt lästig, genau.«

Im Jeep warten sie ab, wie es weitergeht. Die Kamera folgt ihrem Blick; sie wandert an der Kolonne stehender Lastwagen und wütender Fahrer entlang bis zu der Stelle, wo die »Tommies«, umgeben von fluchenden GIs, in aller Ruhe ihren Tee genießen. Aus den amerikanischen Fahrzeugen ertönen wütende Rufe: »Macht schon!« – »Zum Teufel mit eurem Tee!« – »Wissen die Zitronenfresser nicht, dass wir im Krieg sind?« Ein kräftiger amerikanischer LKW-Fahrer in schmierigen Hosen schreit einen britischen SERGEANT MAJOR an – einen beleibten Kerl Ende vierzig.

LKW-FAHRER: »Was glaubt’s ihr denn, wo ihr seid? Merry old England ist weit weg!«

SERGEANT MAJOR (sehr würdevoll): »Bedauerlicherweise.«

LKW-FAHRER: »Ein Kerl in deinem Alter könnte etwas mehr Grips in der Birne haben! Tee! Widerlich – jawohl, genau. Einfach widerlich.«

SERGEANT MAJOR (gelassen und ruhig): »Regen Sie sich nicht auf, junger Mann. Denken Sie daran, heute ist Weihnachten! Kann ich Ihnen eine Tasse guten, heißen Tee anbieten?«

LKW-FAHRER (zuerst entgeistert, dann wütend): »Zum Teufel, nein. Tee ist was für alte Frauen. Hab ich immer gehasst. Davon kriegt man nur ein komisches Gefühl im Bauch.«

SERGEANT MAJOR: »Falsch. An einem Tag wie heute ist Tee die ideale Erfrischung. Trinken Sie eine Tasse, das wird Sie beleben. Versuchen Sie es.«

LKW-FAHRER (widerstrebend): »Schmeckt bestimmt wie Spülwasser … Aber wenn es nur heiß ist … Ich bin ganz verfroren … Zum Teufel, versuchen wir’s!« (Er nimmt eine Tasse Tee vom SERGEANT MAJOR.)

Die Kamera fährt zurück zu dem Jeep mit den DREI SOLDATEN. Der LIEUTENANT ist ausgestiegen.

LIEUTENANT (zu den beiden Sergeants): »Bis zum Hauptquartier sind es nur noch fünf Minuten. Ich glaube, ich gehe den Rest zu Fuß. Bringt ihr beide den Wagen zurück zur Fahrbereitschaft.«

SERGEANT (brummt): »Wir stecken bestimmt den ganzen Tag hier fest.«

DER ZWEITE SERGEANT: »Diese Zitronenfresser. Tee!«

(Er schüttelt sich.)

LIEUTENANT: »Na, ihr beiden übersteht das schon. Ich will Martins Weihnachtsansprache nicht verpassen.« (Er macht sich auf den Weg, watet entschlossen durch den knöcheltiefen Schlamm.)

SERGEANT (brummt ihm nach): »Will die Weihnachtsansprache nicht verpassen – hä?«

DER ZWEITE SERGEANT: »Was für ein Weihnachten!« SERGEANT: »Tee!« (Er drückt wütend die Hupe des Jeeps und schließt sich dem Hupkonzert der vielen anderen Wagen der Fahrzeugkolonne an.)

2. DIVISIONSHAUPTQUARTIER …: Der LIEUTENANT kommt an einen Militärwegweiser mit dem Hinweis »HQ … Div.« (Die Nummer der Division ist mit Schlamm bedeckt und unleserlich.) Er wendet sich nach links und folgt einem kleineren, ebenfalls schlammigen Weg durch die Felder.

Die Kamera macht einen Schwenk über das HAUPTQUARTIER – eine Zeltstadt, die sich über dem schlamm- und schneebedeckten Feld erstreckt wie die Siedlung eines Nomadenstammes. Am Eingang des Lagers halten zwei MPs Wache – sauber gekleidet, mit weißen Helmen, Gürteln und Handschuhen.

MP (salutiert vor dem Lieutenant): »Die Parole, Sir?«

LIEUTENANT (grinst): »Fröhliche Weihnachten.«

MP (grinst ebenfalls): »Ihnen auch, Sir.«

LIEUTENANT: »Reicht das heute?«

MP (widerstrebend): »Hm, ich weiß nicht, Sir …«

DER ZWEITE MP: »Heute heißt die Parole ›Tea Party‹, Sir.« LIEUTENANT (lacht): »Na, das passt ja …!« (Er geht weiter.)

Die Kamera folgt ihm, wie er weiter durch den Schlamm watet – an einer langen Reihe Zelte entlang. Es gibt Zelte von verschiedener Form und Größe – kleine Dachzelte und gewöhnliche Zweimannzelte für die Mannschaften, aufwändigere Zelte für die Offiziere und noch kompliziertere Konstruktionen für die Divisionshauptquartiere der verschiedenen Waffengattungen wie »G-1«, »G-2«, »G-3«, »C. I. C.«, »Artillery« usw. (alle durch ihre jeweiligen Symbole gekennzeichnet). Weitere Zelte tragen gut sichtbare Kennzeichen wie »EM PX« (Kaufladen der Mannschaften[3]), »OF PX« (Kaufladen der Offiziere), »EM Duschen«, »OF Duschen«, »EM Latrine«, »OF Latrine«, »WAC[4] Latrine« »APO« (Feldpost), »EM Messe«, »OF Messe«, »Messe der Colonels und Generals«, »Duschen der Colonels und Generals«, »Latrine der Colonels und Generals«. – Der LIEUTENANT schaut in einige der Zelte hinein, doch alle sind leer. Es ist Weihnachten. Das ganze Lager – mit Ausnahme einiger Wachsoldaten – scheint im Sanitätszentrum versammelt zu sein, das auch als Kapelle dient. Die Kapelle, der aufwändigste Raum des ganzen Lagers, ist kein Zelt, sondern ein imposantes, wenn auch einfaches Holzhaus mit Dach, Fenstern und Türen.

Der LIEUTENANT tritt ein.

3. INNEN, KAPELLE …:[5] Ein großer Raum – die Wände aus rohem, ungehobeltem Holz, der Boden mit Strohmatten bedeckt. Die Wände und Fenster sind mit Myrtenzweigen und -girlanden geschmückt – der traditionellen Weihnachtsdekoration.

Die Kamera zeigt zuerst den Hintergrund des Raums, wo ein imposanter Weihnachtsbaum steht – sorgfältig geschmückt mit Kerzen, goldenen Sternen, farbigen Papierstreifen usw. Dieser Teil des Raums wirkt wie ein Wohnzimmer oder sozialer Treffpunkt: Ein großes Radio befindet sich dort, ein Plattenspieler, eine Tischtennisplatte und Tische, auf denen Zeitschriften ausliegen (LIFE, TIME, THE STARS & STRIPES, YANK usw.).

Die Kamera schwenkt dann zum anderen Teil des Blockhauses – zum Vordergrund neben dem Haupteingang –, der als Kapelle genutzt wird. Im Zentrum befindet sich ein improvisierter Altar: nur ein Tisch mit weißer Decke und einem großen silbernen Kruzifix. Der Tisch steht auf einer leicht erhöhten Plattform.

DER KAPLAN (CAPT. FRANK MARTIN) steht mit dem Rücken zum »Altar« und schaut in sein Publikum, das im Halbkreis vor ihm sitzt. Die Kamera schwenkt über die Versammlung – alle lauschen der Ansprache des KAPLANS. In einem großen Lehnstuhl in der Mitte der ersten Reihe sitzt der GENERAL (ein Stern) – ein eher unwirsch wirkender Herr in den Fünfzigern: grauer Schnurrbart, buschige Augenbrauen, kalte, lauernde Augen. Zu seinen Seiten sitzen zwei COLONELS. Die restlichen Sitze in der ersten Reihe sind für weitere COLONELS und LIEUTENANT COLONELS reserviert, und in den nächsten drei Reihen sitzen MAJORS, CAPTAINS und LIEUTENANTS. (Die Kamera fährt auf ein gut sichtbares Schild zu, das die Aufschrift trägt: NUR FÜR OFFIZIERE.) – Die MANNSCHAFTSGRADE, vom Master-Sergeant bis zum Rekruten, sitzen weiter hinten, manche von ihnen müssen stehen, da alle Plätze besetzt sind (obwohl im reservierten Bereich einige Stühle frei sind). – Bei den Offizieren sitzen vereinzelte KRANKENSCHWESTERN und ROTKREUZ-MÄDCHEN, und bei den Mannschaften einige WACs (einige mit den Rangabzeichen von Sergeants; viele tragen Brillen).

Als die Kamera die stehenden GIs im Hintergrund des Publikums zeigt, wird die Tür von außen vorsichtig geöffnet und der junge LIEUTENANT schlüpft mit entschuldigendem Lächeln herein.

LIEUTENANT (an einen Soldaten in der Nähe gewandt): »Worüber redet er?«

GI: »Über den Krieg. Und Weihnachten.«

LIEUTENANT (kichernd): »Tolle Kombination.«

Schnitt auf den KAPLAN – dessen Gesicht bisher noch nicht gezeigt wurde. Er ist ein kräftiger, gut erhaltener Mann Ende vierzig mit klaren, sympathischen Konturen – völlig frei von den Manieriertheiten, die man für gewöhnlich mit Geistlichen in Verbindung bringt. Er spricht geradeheraus, einfach, ohne salbungsvolle Betonungen. Er trägt Uniform (ohne die Rangabzeichen eines Offiziers) – die Kalkleiste ist der einzige Hinweis auf seinen Status als Geistlicher.

KAPLAN: »Meine Freunde, lasst mich noch eins sagen, bevor ich schließe – ich weiß ja, dass ihr Leute schon ungeduldig darauf wartet, euch zum Essenfassen anzustellen und den Truthahn nicht zu verpassen …«

Respektvolles Lachen im Publikum. Auch der KAPLAN lächelt leicht; dann wird er ernst und fährt fort.

KAPLAN: »Weihnachten ist hier anders als zu Hause – ich weiß, meine Freunde, es ist kein richtiges Weihnachten hier draußen im Matsch und in der Kälte. Viele von uns fühlen sich heute bestimmt traurig und haben Heimweh. Weihnachten – das war für uns immer ein Symbol für Frieden und fröhliches Beisammensein mit der Familie. Noch eine Kriegs-Weihnacht – noch eine Weihnacht in einem fremden Land: Ich weiß, meine Freunde – es fällt uns allen nicht leicht …«

Die Kamera macht einen Schwenk über das Publikum und fängt einige nachdenkliche Gesichter ein. Ein bulliger First Sergeant beißt sich auf die Lippe, um sich seine Gefühle nicht anmerken zu lassen; ein älterer weiblicher Korporal muss die Brille abnehmen, um sich die Augen zu wischen; ein junger Rekrut, der kaum älter als siebzehn zu sein scheint, hat einen sehnsüchtigen Ausdruck in seinen blauen Kinderaugen. Die Kamera kehrt zum KAPLAN zurück, der in seiner Ansprache fortfährt.

KAPLAN: »Dies ist ein langer, furchtbarer Krieg. Viele von euch haben gehofft, dass diese große Tragödie früher beendet würde. Im vorigen Sommer sah es wirklich so aus, als stünde der Sieg vor der Tür. Aber unsere Hoffnungen haben sich nicht erfüllt: unser Optimismus war nicht gerechtfertigt. Die militärische Entscheidung zieht sich hin – dort, am Rhein, wo die Deutschen eine regelrechte Winteroffensive gestartet haben – und hier oben, in dieser Gebirgswildnis. Wieder einmal haben wir den Fehler gemacht, die Entschlossenheit und die Ausdauer unseres Feindes zu unterschätzen.« (Er macht eine kurze Pause und fährt dann in zuversichtlicherem Tonfall fort:) »Dabei steht eins natürlich außer Frage und ist über jeden Zweifel erhaben – einer Sache können wir trotz zeitlicher Verzögerungen und gelegentlicher Rückschläge sicher sein: Der Sieg wird uns gehören! Wir werden diesen Krieg gewinnen, mit der Hilfe Gottes und im Vertrauen auf Seinen ewigen Ratschluss. Wir werden gewinnen durch unsere Stärke, durch den Patriotismus unserer Bürger und den Mut unserer Soldaten. Wir werden gewinnen, weil wir für die richtige Sache kämpfen – gegen die Mächte des Bösen und der Zerstörung.«

DER GENERAL in der ersten Reihe nickt zustimmend und schlägt leise die Hände zusammen, ein diskreter, aber deutlich sichtbarer Applaus. Die beiden COLONELS zu seinen Seiten ahmen seine Geste nach, aber der Rest des Publikums folgt dem Beispiel nicht. Der KAPLAN fährt fort.

KAPLAN: »Nein, wir brauchen uns vor einer Niederlage nicht zu fürchten. Aber, meine Freunde, lasst uns vor einer anderen Gefahr auf der Hut sein – sie ist nicht weniger tödlich als die Niederlage es wäre! In unserem Kampf könnten wir die Werte und Ideale, für die wir kämpfen, vergessen und verraten: das ist die große – die erschreckende Gefahr, vor der ich euch warnen will, Freunde. Amerikanische Soldaten, denkt immer daran, was in diesem Krieg auf dem Spiel steht: es ist unsere christliche Zivilisation – sie wird bedroht und verletzt durch barbarische Angreifer. Diese Feinde des Friedens und der Menschlichkeit – sie sind dem Untergang geweiht: Sie verdienen es, zugrunde zu gehen, und sie werden zugrunde gehen. Aber reicht die Zerstörung des Bösen aus, um das Überleben der Tugend zu sichern? Was wäre, wenn wir uns im Verlauf dieses grausamen Kampfes selbst mit dem Bazillus infiziert hätten, den zu vernichten wir ausgezogen waren?«

Er hat mit großem Nachdruck und Ernst gesprochen – und scheinbar zeitweise die Anwesenheit der Soldaten vergessen. Nun erinnert ihn ein leises Gemurmel im Publikum daran, wo er ist. Das Gemurmel deutet – wenn auch sehr zurückhaltend – darauf hin, dass seine Zuhörer überrascht sind und seinem Vortrag nicht folgen können. Als der KAPLAN diese Reaktion bemerkt, wird er ein wenig verlegen. Er lächelt ins Publikum, als wolle er sich entschuldigen; dann fährt er fort – und nun wendet er sich direkter, quasi »von Mann zu Mann«, an die Soldaten vor ihm.

KAPLAN: »Nun, Jungs, vielleicht ist nicht ganz klar geworden, was ich meine. Wenn ich dunkel und konfus klinge, dann ist das nur meine Schuld: Es liegt daran, dass ich nicht weiß, wie ich mich am besten ausdrücken soll. Dabei ist das, was ich sagen will, ganz einfach. Ich will euch Männer davor warnen, bittere, unchristliche Gefühle in euch aufkommen zu lassen. Versteht ihr mich jetzt?

Es ist ganz natürlich, je länger der Krieg dauert, desto bitterer und gewalttätiger wächst der allgemeine Hass: Je mehr Tod und Zerstörung – desto mehr Lust auf Vergeltung! Das ist logisch, nicht wahr?

Es mag zwar logisch sein, aber das bedeutet nicht, dass es gut und notwendig ist. Am Hass ist nichts Gutes – nichts Edles und Konstruktives. Glaubt mir, Freunde! Ich bitte euch, mir zu glauben, dass Hass böse ist: er erzeugt Tod – nicht Leben.

Sind Hass, Intoleranz, Selbstgefälligkeit, engstirniger Nationalismus, der Kult roher Gewalt nicht die bösen Wurzeln von Faschismus und Nationalsozialismus? Aber wenn Nationalsozialismus und Faschismus unsere Feinde sind, was ist dann mit jenen bösen Impulsen und Prinzipien, ohne die diese feindseligen Bewegungen niemals entstanden wären? Was ist mit Hass, Grausamkeit, Intoleranz? Auch sie sind unsere Feinde! Auch sie müssen besiegt werden!

Soldaten, ich weiß, es ist schwer, einen boshaften und rücksichtslosen Feind zu bekämpfen – ohne ihn zu hassen. Aber es ist möglich. Versucht es. Versucht, das Hassenswerte an eurem Gegner zu hassen – seine gottlosen Ideen, seine Vorurteile, seine sadistischen Instinkte. Aber hasst nicht den Menschen. Kein Mensch ist ganz und gar hassenswert oder vollkommen böse: genau, wie auch kein Mensch vollkommen gut ist. Sind wir nicht alle nur schwache, fehlbare Geschöpfe? Lasst uns das nicht vergessen – selbst wenn wir gegen diejenigen kämpfen, die wir für schlechter halten als uns selbst.«

An dieser Stelle räuspert sich der GENERAL auf unheilverkündende Weise und tauscht Blicke mit den COLONELS. Der KAPLAN ignoriert diese Bekundung von Überraschung und Missvergnügen und beendet seine Rede:

KAPLAN: »Nun, meine Freunde, das ist es, was ich euch heute sagen wollte. Es sind die vierten Kriegs-Weihnachten: für viele von euch Männern bereits die dritte Weihnacht, die ihr im Ausland feiert. Deshalb glaube ich, dass einige von uns eine kleine Erinnerung daran gebrauchen können, was dieses Fest bedeutet, damit wir es nicht vergessen. Denkt daran, meine Freunde, wir sind hier versammelt, um der Geburt des göttlichen Märtyrers und Kämpfers zu gedenken, dessen Vermächtnis das Evangelium der brüderlichen Liebe ist: Gottes Sohn, der zur Erde gesandt wurde und der Sohn der Menschen wurde, ›damit er Erkenntnis des Heils gebe seinem Volk in der Vergebung ihrer Sünden, durch die herzliche Barmherzigkeit unseres Gottes, durch die uns besuchen wird das aufgehende Licht aus der Höhe, damit es erscheine denen, die sitzen in Finsternis und Schatten des Todes, und richte unsere Füße auf den Weg des Friedens.‹ – Amen. – Lasset uns beten.«

Er betet – den Kopf schweigend gesenkt. Die Versammlung tut es ihm nach. Nach einem Moment ehrfürchtiger Stille nimmt der KAPLAN wieder seine normale Haltung ein und lächelt herzlich in die Versammlung.

KAPLAN: »Euch allen frohe Weihnachten.«

STIMMEN AUS DER VERSAMMLUNG: »Ihnen auch, Kaplan!«

KAPLAN: »Mach uns mal ein bisschen Musik, Jack!«

Ein SERGEANT mit Brille (JACK), der im Hintergrund des Raums am Harmonium sitzt, spielt ein Weihnachtslied. Die meisten SOLDATEN stehen auf und bewegen sich zum Ausgang.

KAPLAN (ruft sie mit einem kleinen Schrei und einer schnellen Bewegung zurück): »Halt – wartet noch ein wenig, Jungs! Fast hätte ich etwas ziemlich Wichtiges vergessen: Und zwar möchte ich allen ganz herzlich[6] danken, die an meiner kleinen Weihnachtssammlung für die italienischen Kinder teilgenommen haben. Eine Menge wunderbarer Sachen sind zusammengekommen: wollene Schals, Handschuhe und Unterwäsche, Konserven, Süßigkeiten – sogar ein paar schöne Spielsachen. Dadurch werden die Kinder ein richtiges Weihnachten haben! Ich weiß, dass sie alle sehr glücklich sein werden. Und ehrlich gesagt, auch ich bin sehr glücklich. Nochmal vielen Dank, Jungs. Ich weiß zu würdigen, was ihr getan habt. – Übrigens findet die Weihnachtsfeier für die Kinder aus dem Dorf heute Nachmittag im Haus des Bürgermeisters statt. Von drei bis fünf Uhr nachmittags gibt es heiße Schokolade – das ist den lieben Damen des amerikanischen Roten Kreuzes zu verdanken.« (Er macht eine Handbewegung in Richtung zweier ROTKREUZ-MÄDCHEN – die sein Kompliment mit Kichern und Erröten quittieren.) »Alle sind eingeladen. Macht’s gut, Jungs. Und esst nicht zu viel Truthahn.«

Alles bewegt sich in Richtung Tür. Auch der KAPLAN nimmt seinen Hut von einem Stuhl und scheint bereit zu gehen: Da kommt der GENERAL in Begleitung eines der COLONELS auf ihn zu.

GENERAL: »Guten Morgen, Kaplan.«

KAPLAN: »Fröhliche Weihnachten, Sir. Hallo, Colonel. Auch Ihnen frohe Weihnachten.«

GENERAL: »Ich würde gern kurz mit Ihnen reden.«

KAPLAN: »Aber natürlich, General. Ganz zu Ihrer Verfügung …«

(Er geht lebhaft und höflich voran zu ein paar Stühlen im Hintergrund des Raums in der Nähe des Weihnachtsbaums.)

SCHNITT AUF:

4. AUSSEN, KAPELLE …: Neben dem Eingang. Die Kamera schwenkt über die MENGE, die aus der offenen Tür heraus kommt: Dann fährt sie auf eine GRUPPE von GIs zu, die ein wenig abgesondert dastehen.

1. GI: »Ich finde, der Alte ist kein schlechter Kerl.«

2. GI: »Kaplan ist Kaplan. Die reden einfach zu viel.«

1. GI: »Nee, der Martin is’ anders. Muss man einfach mögen.«

3. GI: »Nach Feierabend ist der bestimmt kein schnöseliger Moralapostel.«

4. GI: »Nee, dem macht’s nich’ mal was aus, wenn geflucht wird.«

2. GI: »Vielleicht habt ihr recht. Der ist okay.«

1. GI: »Jungs, den Leuten im Dorf wird er fehlen, wenn wir abziehen. Er kümmert sich wirklich um alles.«

4. GI: »Jau, und habt ihr gesehn, wie die Kleinen an ihm dranhängen?«

1. GI: »Er tut ja auch viel für sie. Junge, der Alte hat sich bestimmt ne Menge Arbeit gemacht, um die Sachen für seine Weihnachtssammlung zusammenzubekommen.«

4. GI: »Gehste zur Feier, Tom?«

1. GI: »Kann sein. Hab sonst nix vor.«

2. GI: »Die kleinen Spaghettifresser riechen ganz schön übel, wenn viele davon im selben Raum sind. Waschen sich wohl nie.«

3. GI: »Komischer Kerl, erzählt uns, wir sollen den Feind nicht hassen und so. Wir sind schließlich im Krieg. Was stellt der sich denn vor? Sollen wir uns in die Krauts verlieben?«

3. GI: »Junge, vor ein paar Tagen habe ich Bilder gesehen, von ein paar WACs der Krauts in Frankreich – in die könnt ich mich schon verlieben. D i e würd ich nicht hassen!«

1. GI: »Euer Problem ist, dass ihr beim Denken den Kopf in die Gosse steckt. Warum könnt ihr nicht ein paar höhere Ziele haben, so wie ich?«

Man hört wilde Rufe anderer GIs – sie rennen durch den Matsch und schwenken ihr Essgeschirr: »Los! Essen fassen!«

4. GI: »Hört ihr das, Jungs? Essen! Das ist mein höchstes Ziel seit dem Frühstück!«

2. GI: »Wir müssen zum Zelt, unser Geschirr holen.«

1. GI: »Im Laufschritt marsch!«

Sie rennen davon, dass der Matsch nur so spritzt. Dabei stimmen sie in den allgemeinen Schlachtruf ein: »E s s e n f a s s e n!«

5. INNEN, KAPELLE …: Der Vordergrund ist leer, die Tür geschlossen. Im hinteren Teil des Raums – der GENERAL, der COLONEL, der KAPLAN sitzen in Sesseln in der Nähe des Weihnachtsbaums. Der SERGEANT mit der Brille spielt auf dem Harmonium leise Musik.

GENERAL: »Ich will Sie nicht kritisieren, Kaplan, ist das klar?«

KAPLAN: »Mir wäre lieber, Sie täten es, General.«

GENERAL: »Nun, frei heraus – ich könnte es gar nicht, selbst wenn ich wollte. Für religiöse Fragen bin ich nicht zuständig: Ich habe nicht das Recht, Ihnen in die Quere zu kommen. Ich will Ihnen auch gar nicht in die Quere kommen, ganz ehrlich, Kaplan. Wenn es einen gibt in dieser ganzen Truppe, dem ich vollkommen vertraue, ohne Einschränkung, dann sind Sie das, Martin. Das wissen Sie.«

KAPLAN: »Danke, Sir.«

GENERAL: »Nur diese eine Sache in Ihrer Predigt heute hat mich verwirrt. Ich sage nicht, dass ich anderer Meinung bin. Sie verwirrt mich – das ist alles. Sie wissen, was ich meine.«

KAPLAN: »Mein Satz über die Feinde – und dass wir sie nicht hassen sollten?«

GENERAL: »Genau. Damit komm ich nicht klar. Nicht, dass ich glaubte, der Hass wäre etwas Edles oder Besonderes – natürlich nicht. Ich weiß, dass Hass etwas Scheußliches ist, er ist unchristlich. Aber trotzdem, ich frage mich …«

KAPLAN: »Was fragen Sie sich, General?«

GENERAL: »Nun, sehen Sie … Ich weiß nicht, wie ich es sagen soll … Ich finde nun einmal, die Krauts sind auch nicht gerade besonders christlich.«

KAPLAN: »Nein, das sind sie nicht. Deshalb bekämpfen wir sie; deshalb müssen wir sie besiegen.«

GENERAL: »Aber wird es uns gelingen, sie zu besiegen – ohne Hass? Das ist die Frage, Martin. Das verwirrt mich.«

KAPLAN: »Wir müssen, General – wir m ü s s e n ! Welchen Sinn hätte es, den Antichrist zu besiegen, wenn es in einem unchristlichen Geist geschieht?«

GENERAL: »Ist es denn unchristlich, den Antichrist zu hassen?«

KAPLAN: »Es ist unchristlich zu hassen.«

GENERAL: »Ich weiß, aber …«

KAPLAN: »Ich gebe zu, es ist ein Dilemma.«

GENERAL: »Meinen Sie nicht, dieses ›Dilemma‹, wie Sie es nennen, könnte sich ziemlich … nun ja, ziemlich nachteilig auf den Kampfgeist unserer Soldaten auswirken?«

COLONEL: »Es ist nicht so sehr das Dilemma selbst, was zu Beeinträchtigungen führen könnte – wenn Sie mir die Bemerkung erlauben, General –; es hängt eher davon ab, wie man es anspricht und interpretiert. Meiner Meinung nach ist es nicht notwendig und vielleicht sogar gefährlich, gewisse heikle Themen in einer Predigt vor der kämpfenden Truppe zu sehr hervorzuheben.«

GENERAL: »Ich vermute, der Colonel hat nicht so ganz unrecht. Sehen Sie, Kaplan – ein Soldat der kämpfenden Truppe ist ein rauer, einfacher Kerl, der ein raues, einfaches Leben führt. Über subtile moralische Fragen, wie Sie sie in Ihrer heutigen Rede aufgeworfen haben, macht er sich nicht viele Gedanken, ich denke da besonders an die Unterscheidung zwischen dem Feind als menschlichem Wesen und als Repräsentant gewisser böser Ideen. Für den schlichten kämpfenden Soldaten ist der Feind nichts als der Feind – mehr hat es damit nicht auf sich.«

KAPLAN: »Ich werde gründlich darüber nachdenken, was Sie gesagt haben, Sir. Vielleicht haben Sie Recht. Vielleicht war meine kleine Ansprache heute nicht … nicht psychologisch durchdacht. Mir scheinen diese Dinge vollkommen einfach. Ich befasse mich ständig mit Problemen dieser Art, deshalb rede ich darüber, als ob alle anderen das ebenfalls täten. Das ist vielleicht ein Fehler. Wenn ich in meiner Rede etwas gesagt habe, das einen schlechten Einfluss auf die Moral Ihrer Männer haben könnte, tut mir das leid, glauben Sie mir, General.«

GENERAL (sehr jovial): »Machen Sie sich keine Gedanken, Martin, alter Junge – wirklich, kein Grund zur Sorge! Es war eine schöne Rede – voller Denkanstöße, sehr inspirierend und erbaulich. Und was diese eine Sache angeht – über brüderliche Liebe und die Gefährlichkeit des Hasses – nun, vielleicht gehen Sie in Ihren zukünftigen Predigten etwas weniger ausführlich darauf ein.« (Er blickt auf die Uhr und springt auf.) »Herrje, schon zwölf Uhr! Höchste Zeit, dass ich zu meinen Landkarten und Berichten zurückkehre.«

KAPLAN (der ebenfalls aufgestanden ist, zugleich mit dem GENERAL und dem COLONEL): »Kein Feiertag für Sie, General?«

GENERAL: »Nein, Kaplan, auf mich wartet leider eine Menge Arbeit. Aber vielleicht mache ich auf dem Rückweg einen Abstecher in die Offiziersmesse und genehmige mir einen Drink mit den Jungs. Kommen Sie mit, Kaplan?«

KAPLAN: »Vielen Dank, Sir, aber ich trinke nicht. Außerdem muss ich zur Weihnachtsfeier im Dorf – Sie erinnern sich, für die hiesigen Kinder: Die Gattin des Majors rechnet mit mir als Weihnachtsmann, Zeremonienmeister, Hilfskellner und wer weiß was noch alles.«

GENERAL (lächelnd): »Aber haben Sie nicht gesagt, die Feier beginnt um drei Uhr?«

KAPLAN: »Das stimmt. Aber die Vorbereitungen! Nun, mein Freund Jack hier und ich –« (er zeigt auf den SERGEANT am Harmonium) – »wir müssen den Raum noch dekorieren, damit er ein wenig nach Weihnachten aussieht. Keine leichte Sache, Sir – das können Sie mir glauben!«

Sie gehen zur Tür.

COLONEL: »Wo wir vom Dorf reden, Kaplan – da fällt mir etwas ein, das ich mit Ihnen besprechen wollte. Sie verstehen sich mit den Spaghettis ganz gut, oder?«

KAPLAN: »Ja, ich glaube, das kann man sagen – zumindest mit einigen. Sehen Sie, die Leute haben ihren Priester verloren. Armer Kerl: versuchte, ein paar von unseren Jungs zu verstecken; wurde von der SS geschnappt. Sie haben ihn aufgehängt – mitten auf dem Marktplatz. Als abschreckendes Beispiel.«

GENERAL: »Schweinehunde.«

KAPLAN: »Dadurch hat die Gemeinde jetzt keinen Priester: deshalb versuche ich hin und wieder zu helfen. Nicht, dass ich für solch einen Job besonders qualifiziert wäre – im Gegenteil, mein Italienisch ist nämlich recht dürftig. Aber als befristeter ›Ersatz-Padre‹[7] komme ich wohl ganz gelegen.«

COLONEL: »Aber Sie sind doch kein Katholik.«

KAPLAN: »Das macht ihnen anscheinend nichts aus. Mir übrigens auch nicht. Schließlich sind wir alle Christen.«

COLONEL: »Genau. Ich dachte nur an die Unterschiede im Ritus der beiden Konfessionen … Aber zurück zur Sache. Was ich Sie fragen wollte, Kaplan, war ganz einfach, ob Ihnen unter den Dorfbewohnern einige … nun, einige verdächtige Gestalten aufgefallen sind.«

KAPLAN: »Verdächtige Gestalten? Bestimmt nicht. Wenn mir jemand aufgefallen wäre, hätte ich das gemeldet.«

COLONEL: »Natürlich. Ich dachte nur … nun, um es kurz zu machen, ich bitte Sie, die Augen offen zu halten. Es g i b t nämlich verdächtige Gestalten ausgerechnet in diesem Dorf – ob Sie sie nun bemerkt haben oder nicht.«

KAPLAN: »Tatsächlich? Na, ich nehme an, ihr Jungs vom G-2 würdet auch im Himmel noch Verbrecher finden.«

COLONEL: »Ich hoffe doch – falls der Hl. Petrus zugelassen hätte, dass sich Leute von der 5. Kolonne einschleichen.«

GENERAL: »Im Ernst, Kaplan: Sie müssen zugeben, dass irgendwas an der Geschichte um den verschwundenen Bürgermeister merkwürdig wirkt. Warum ist der Kerl abgehauen, als wir einrückten? Warum ist es nicht möglich, von den Dorfbewohnern etwas über seine Vergangenheit und seinen jetzigen Aufenthaltsort zu erfahren? Ich finde, die Sache stinkt – wenn Sie den Ausdruck verzeihen.«

KAPLAN: »Nach allem, was ich weiß, könnte der Bürgermeister tot sein. Er ist ganz einfach verschwunden: Ich glaube nicht, dass jemand aus dem Dorf uns sagen könnte, was mit ihm passiert ist. Vielleicht wurde er von den Nazis getötet, wie der unglückliche Priester.«

COLONEL: »Vielleicht ist er selbst ein Nazi?«

KAPLAN: »Könnte sein. Aber ehrlich gesagt glaube ich das nicht. Seine Frau scheint jedenfalls nichts Derartiges zu vermuten.«

COLONEL: »Was ist sie denn eigentlich für eine Frau?«

KAPLAN: »La Signora Silotti? Die ist in Ordnung. So zurückhaltend und harmlos, wie man nur denken kann. Eine gläubige Katholikin; ich glaube, sie stand dem verstorbenen Padre sehr nah.«

COLONEL: »Dem, den die SS erschossen hat? Dann ist sie wohl kaum eine Nazi-Sympathisantin.«

KAPLAN (lacht auf): »Signora Silotti – eine Nazi-Sympathisantin! … Entschuldigen Sie, Colonel, aber beim bloßen Gedanken muss ich lachen. Ach, das arme Ding – sie hat keinerlei politische Sympathien oder Antipathien. Wenn Sie das elende kleine Haus der Silottis kennen würden, Gentlemen – Sie würden diese armselige Familie niemals mit subversiven Aktivitäten in Verbindung bringen. Sie besteht ja nur aus der alten Frau – dem unschuldigsten, sanftmütigsten Wesen, das man sich denken kann – und einem unglücklichen, verkrüppelten Jungen, ungefähr siebzehn. Glauben Sie mir, Colonel, diese beiden haben mit den Verschwörungen der 5. Kolonne nichts zu tun.«

COLONEL: »Ich hoffe, Sie haben Recht, Kaplan. – Ich muss mich entschuldigen, General, Sie so lange aufgehalten zu haben.«

GENERAL: »Schon in Ordnung. Aber jetzt sollten wir lieber aufbrechen. Ich wünsche Ihnen frohe Weihnachten, lieber Martin.«

KAPLAN (öffnet den beiden Offizieren die Tür): »Vielen Dank, Sir. Ich bin sicher, mein Weihnachtstag mit den italienischen Kindern wird fröhlicher als Ihrer mit den italienischen Landkarten.«

GENERAL (mit einem Lächeln): »Mag sein, Kaplan, mag sein.«

COLONEL: »Und nicht vergessen, Kaplan, Augen auf! G-2 zählt auf Sie.«

KAPLAN: »Zu viel der Ehre, Colonel. Aber ich versuche, ein paar Spione für Sie zu fangen – als Weihnachtsgeschenk.«

BLENDE

6. AUSSEN, KAPELLE …: GENERAL und COLONEL gehen von der Kapelle zum Jeep des Generals. (Nahaufnahme der Markierung am Heck des Jeeps – ein goldener Stern auf rotem Grund –, die aussagt, dass der Wagen von einem Brigadegeneral genutzt wird.) Der FAHRER des Generals – ein junger Korporal, sehr sauber und ordentlich, trotz Schlamm, Schnee und Sturm – nimmt Haltung an, als sein Chef den Wagen besteigt. Nahaufnahme des weichen Kissens, das der Fahrer auf den Sitz des Generals legt. Der GENERAL setzt sich neben den FAHRER – der COLONEL setzt sich, eher unbequem, auf den Rücksitz.

Die Kamera folgt dem Jeep, der langsam an den Reihen der Zelte vorbeifährt. Der GENERAL unterhält sich mit dem COLONEL, muss jedoch immer wieder den Gruß von Soldaten und Offizieren erwidern.

GENERAL: »Ich hoffe, Martin macht sich nichts draus, dass ich mich in seine Angelegenheiten eingemischt habe. Es ging nicht anders.«

COLONEL: »Ich bin sehr froh, dass Sie mit ihm darüber gesprochen haben, Sir. Es war erforderlich, sehr sogar. Manche Dinge sollte sich auch ein Kaplan nicht herausnehmen dürfen. In meinen Augen hatte die Predigt heute eine beinahe … jawohl, eine beinahe pazifistische Tendenz!«

GENERAL (ständig Grüße erwidernd, mit einer automatischen, aber würdevollen Geste): »Pazifistisch? Das ist ein starkes Wort, Prickert …«

COLONEL: »Ich will nicht sagen, dass er es so g e m e i n t hat. Aber es ging in diese Richtung … ja, in der Tat, es hatte einen pazifistischen Beigeschmack. Es hat mich ziemlich geärgert, Sir.«

GENERAL: »Er ist trotzdem ein toller Kerl, Prickert. Wirklich, ich halte eine Menge von ihm. Und wissen Sie, die Männer tun das auch. Sie sind ganz vernarrt in ihn.«

COLONEL: »Keine Frage, Martin ist beliebt – vor allem bei den einfachen Leuten. Seine Worte haben einiges Gewicht: deshalb ist es so wichtig, die richtigen Worte zu wählen.«

Langsam durchquert der Jeep die »Zeltstadt«. In einer gewissen Entfernung kommt die Offiziersmesse in Sicht.

7. AUSSEN, OFFIZIERSMESSE …: Eine längliche Kombination aus mehreren gewöhnlichen Zelten, die miteinander verbunden sind. Die Kamera schwenkt vom Jeep des Generals und fährt über Gruppen von OFFIZIEREN unterschiedlichen Alters und Dienstgrads, die dem Eingang der Messe zustreben. Von drinnen sind laute Stimmen und Musik zu hören.

Ein MAJOR (an einen Lieutenant-Colonel gewandt): »Im Westen was Neues, Colonel?«

LT.-COLONEL: »Wenig Erfreuliches. Sieht nach einer regelrechten Offensive der Deutschen aus. Frage mich, was die vorhaben.«

MAJOR: »Den Krieg fortführen – was sonst? Das ist alles, was sie wollen: den Krieg am Laufen halten – um jeden Preis!«

LT.-COLONEL: »Und das gelingt ihnen! Sieht so aus, als würde dieser verdammte Krieg ewig dauern.«

MAJOR: »Diese Krauts! Verrückt – ja, das sind sie! … Nur Verrückte, Fanatiker, Verbrecher – allesamt!«

Sie haben den Eingang der Messe erreicht.

MAJOR: »Nach Ihnen, Colonel.«

Beide müssen sich bücken, als sie das Zelt durch eine niedrige, schmale Öffnung betreten, vor der zwei Zeltbahnen hängen.

SCHNITT AUF:

8. INNEN, OFFIZIERSMESSE …: Ein länglicher, voller Raum – halbdunkel, voller Rauch und Lärm. Ein primitiver Holzfußboden. An den Seiten des Zelts hängen Teppiche und einige gerahmte Varga-Girls aus dem ESQUIRE. Kübel mit verstaubten Palmen. Kerzenlicht. (Auf jedem Tisch steht eine brennende Kerze.) Laute Jazz-Musik aus einem großen Radio.

Die Kamera schwenkt über Gruppen trinkender OFFIZIERE – einige in Begleitung von KRANKENSCHWESTERN –, die an kleinen runden Tischen sitzen. Beim Schwenk der Kamera sind Gesprächsfetzen zu hören.

COLONEL (im Gespräch mit einem Lt.-Colonel): »Sie spielen offensichtlich auf Zeit: es m u s s also eine Geheimwaffe geben. Vielleicht die Atombombe?«

LT.-COLONEL: »Die Atombombe? Das glaube ich nicht. Das ist alles nur Propaganda. Mein Schwager hat Chemie studiert – ein Harvard-Mann: ziemlich schlauer Bursche, wissen Sie … Nun, er sagt, das ist einfach nicht möglich – die Kernspaltung, meine ich –: wissenschaftlich unmöglich – sagt mein Schwager …«

LIEUTENANT (an einem anderen Tisch; im Gespräch mit einer Krankenschwester): »Ich habe nicht gesagt, dass sie schöner ist als du, meine Liebe. Alles, was ich gesagt habe, war: Sie hat eine ziemlich gute Figur.«

KRANKENSCHWESTER (ziemlich beleidigt): »Na, wenn ihre Figur so wunderbar ist, warum hast du dann nicht s i e zum Weihnachtsessen eingeladen? Ich bin sicher, sie wäre l i e b e n d g e r n gekommen! Armes Ding, keiner geht mit ihr aus …«

MAJOR (an einem anderen Tisch, im Gespräch mit zwei Captains): »Und ich bleibe dabei, sie werden die V-2 in Italien einsetzen. Kesselring ist ein Fuchs: er wartet auf den richtigen Moment. Alles eine Frage des Timings …«

LIEUTENANT (an einem anderen Tisch, im Gespräch mit anderen Lieutenants): »Junge, das war ’ne heiße Nummer! Ich hab sie in Rom getroffen, im Excelsior. Es heißt, sie wäre eine polnische Gräfin.«

ANDERER LIEUTENANT: »Polnische Gräfin, von wegen! Das war ’ne abgebrühte alte Professionelle, oder ich will verdammt sein!«

LIEUTENANT: »Vielleicht war sie das – wo ist der Unterschied? Jedenfalls war ordentlich was an ihr dran. Junge, diese Kurven …« (Er pfeift bewundernd).

DRITTER LIEUTENANT: »Das reicht, Bruder! Hier im Schlamm will ich nicht über Sex reden. Lasst uns noch was trinken. Hey, Barkeeper – noch drei von den scheußlichen Cognacs!«

BARKEEPER (ein Sergeant – er trägt eine weiße Schürze über der Uniform und antwortet von der Bar aus): »Ja, Sir, noch drei scheußliche Cognacs. Pronto.«

Die Kamera schwenkt zur Bar im Hintergrund des Raums. An der Bar steht eine Gruppe von Offizieren – darunter der junge LIEUTENANT aus der Eröffnungsszene.

CAPTAIN: »Nein, ich bin ziemlich sicher, dass der alte Mann gegen Martins Weihnachtspredigt nichts einzuwenden hatte. Er hat seine eigene Art sich zu räuspern – ungefähr so …« (Er ahmt den General nach.) … »Mensch! Das heißt ganz klar ›no buono‹. Will sagen, ihm reißt gleich der Geduldsfaden.«

LIEUTENANT: »Was war denn falsch an der Predigt? Was ich gehört habe, klang ganz vernünftig.«

CAPTAIN: »’türlich war alles vernünftig. Kaplane sind immer vernünftig, oder? Martin besonders. Ein korrekter Kerl, könnte gar nichts Unvernünftiges anstellen. Nur was er da über den Hass sagt … Nun, wisst ihr, vielleicht ist er ein bisschen z u christlich – wenn man bedenkt, dass wir Krieg haben.«