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Manhattan, Brooklyn, die Bronx, Harlem in den 90er Jahren – hier schlägt das kalte Herz der Riesenstadt New York, hier zeigt sie ihre Fratze. Steve Baum, Bewährungshelfer, kämpft seinen Kampf gegen Kriminalität und Gewalt. Und Darryl King, Crackdealer und Killer, ist der King von Manhattan, dem Steve Baum bei seinem Aufstieg in der Hierarchie der Dealer und Gangster im Wege ist. (Dieser Text bezieht sich auf eine frühere Ausgabe.)
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Seitenzahl: 389
Peter Blauner
Der King von Manhattan
Roman
Aus dem Amerikanischen von Michael Martin
FISCHER Digital
«Wir haben davon auszugehen, daß wir alles selber in die Hand nehmen müssen, und von nichts anderem. Wenn wir wenigen Weißen und Schwarzen mit einem besseren Gefühl für die Gefahr – das wir bei den anderen geduldig wie Liebende geweckt und stärken müssen – jetzt nicht vor unserer Pflicht davonlaufen, schaffen wir es vielleicht gemeinsam, den Rassenwahn zu überwinden, unser Land zum Gipfel zu führen und Geschichte zu schreiben. Wenn wir jetzt nicht aufs Ganze gehen, kommt über uns die Prophezeiung aus dem alten Bibellied der Sklaven: ‹Gott sprach zu Noah durch den Regenbogen, nächstes Mal schick ich Feuer, nicht Wasserwogen!›»
JAMES BALDWIN1962
Jetzt, mit zwei Monaten, wachte die Kleine jede Nacht mindestens zweimal auf. Doch weil Streifenpolizist Frankie Page von vier Uhr nachmittags bis Mitternacht Dienst hatte, durfte er heute ein wenig länger schlafen. Gegen Mittag erwachte er mit einer mächtigen Erektion. Doch seine Frau war schon weg zur Arbeit, und so konnte er nichts dagegen machen außer warten, bis sie sich wieder legte, und vielleicht der Kleinen noch mal das Fläschchen geben.
Kurz nach drei trat der Typ mit den Afrolocken in den Schlafraum des Jungen. Licht brannte keines, und der Boden war mit kriegerischem Plastikspielzeug bedeckt, Ungeheuern aus dem Weltraum und Verwandlungsrobotern. Der Junge, Darryl King, lag mit dem Arm überm Gesicht auf dem Bett.
Der mit den Afrolocken kniete sich über ihn, stieß ihm die Pistole gegen die Brust und brummte:
«Zeit zum Aufstehn!»
Page hatte an vielen Dingen seine Freude, wenn er an so kalten Winternachmittagen zur Arbeit aufbrach, etwa an der stillen Luft und der Ruhe in den Nachbarhäusern. Oder am Schnee auf dem Rasen der Vorgärten. An den Weihnachtsdekorationen vor den Kaufhäusern von Manhattan, wenn er den Midtown-Tunnel Richtung Norden verließ. Von Weihnachten gänzlich unberührt blieb nur sein Polizeirevier in Harlem. Doch dieses Revier war offenbar durch nichts zu erschüttern.
Darryl King, dessen eigene Pistole das gewesen war, die ihm der Afrolook-Typ vorgehalten hatte, machte sich nicht sogleich an seine Arbeit. Dazu war es noch zu früh. Er fuhr zunächst mit der Metro downtown, um ein paar Freunde im Playland-Spielsalon am Times Square zu treffen. Einige von ihnen wollten lieber in eine Sexshow, aber Darryl, gerade achtzehn und auf eine anspruchslose Art gutaussehend, hatte keinen Bock auf dergleichen. Er ging nach hinten in den Spielsalon an das Gerät, mit dem man Crashs simulieren konnte. Wenig später folgten ihm die anderen, weil sie unbedingt wissen wollten, was er dabei hatte.
«Einen achtunddreißiger Revolver», protzte Darryl, schlug kurz den Mantel zurück und zeigte ihn. «Genau wie die Bullen.»
«Gottverdammich», sagte einer der Jungs beeindruckt.
Wieso muß die Polizei eine Frau vor dem eigenen Mann schützen, grübelte Frankie Page am selben Abend, während er vor einem kleineren Sandsteinbau in der 128. Straße in seinem Streifenwagen saß. Wie konnte sie sich vor jemandem bewachen lassen, den sie schließlich mal geheiratet hatte. Schneeflocken rieselten langsam, leuchteten auf, wenn sie durch den Lichtkegel der Straßenlampe wirbelten; sie schmolzen auf der Windschutzscheibe. An den Festtagen gehört die Familie zusammen, dachte er. Hoffentlich hatte er übernächste Woche am zweiten Weihnachtsfeiertag keinen Dienst. Obwohl er die Überstunden brauchen könnte, um das Geschenk für seine Frau abzuzahlen. Das Kinderzimmer hatte bereits ein Vermögen gekostet. Die Beförderung zum Sergeant nächstes Jahr und die Gehaltserhöhung benötigte er so dringend wie Brot.
Darryl King und seine beiden Freunde auf der anderen Straßenseite sah er nicht kommen. Es war nach elf Uhr abends, und es herrschten zehn Grad minus. Um diese Zeit waren nur noch abgetakelte Nutten und Crackdealer auf der Straße, und die standen alle einen Häuserblock weiter, drüben an der Lenox Avenue.
Darryl hatte es eilig und war seinen Freunden um ein paar Schritte voraus. Atemdunst quoll aus seinem Mund, der Revolver steckte im Gürtel unter dem Mantel. Der Streifenwagen war jetzt nur noch einen Block entfernt; er parkte knapp am Rand des Lichtkegels der Straßenlampe.
«Du traust dich ja doch nicht», forderte ihn der größere seiner beiden Freunde heraus. «Soviel Mumm hast du nicht.»
«Wart’s ab», blaffte Darryl King.
Die Standheizung machte Page allmählich benommen, er drehte sie herunter und setzte die Dienstmütze auf. Jemand klopfte ans Seitenfenster, und er blickte auf. Ein schmaler kleiner Schwarzer mit Brikettfrisur und Hasenscharte sah herein und wollte etwas. Page kurbelte das Fenster herunter.
«Hi», sagte der Kleine.
«Was gibt’s?» fragte Page.
Inzwischen schlich Darryl King um den Streifenwagen herum auf die andere Seite. Er lehnte sich an den Türholm und zielte. Jedesmal, wenn er abdrückte, lohte das Innere des Autos auf wie ein Feuerloch.
Später berichtete Darryl der Familie, was gelaufen war. Sie hockten alle vorm Fernseher, über den ein Werbespot für eine Schallplatte mit Weihnachtsliedern flimmerte.
«Peng, flog die Mütze hoch, als ich ihm das erste Ding verpaßte», erzählte Darryl. «Aaron sagt, die Augen sind ihm rausgequollen. Kapiert? Aaron sagt, ‹Scheiße noch mal, ich hab genau gesehen, wie sich ihm die blonden Haare sträubten.›»
Darryls große Schwester Joanna drehte sich phlegmatisch zu ihm um und sah ihm ins Gesicht. «Blond?» hakte sie nach.
Darryl setzte sich auf. «Yeah.»
«Aber Darryl, der Bulle, der unsere Crackbude abgeräumt hat, war doch fast schwarz.»
Es dauerte eine Weile, bis Darryl das verarbeitet hatte. Dann riß er den Mund auf und rollte die Augen zur Decke. «Scheiße», sagte er.
«Genau», bestätigte seine Schwester kopfschüttelnd.
«Verflucht, wie konnte das passieren?»
«Woher soll ich das wissen», grollte seine Schwester. «Aber jetzt haust du dich besser hin. Morgen ist auch noch ein Tag.»
Morgens im Büro der New Yorker Bewährungshilfe spiele ich manchmal mit meinen Kollegen «Heiteres Verbrechenraten». Dabei muß man anhand des Polaroidfotos außen auf der Akte raten, was der neue Kunde verbrochen hat. Mit diesem Spiel baue ich meine Verspanntheit ab und kann mir dabei vormachen, daß mir im Grunde alles scheißegal ist.
Die dicke schwarze Empfangssekretärin Delilah legt ihr Traktätchen der Zeugen Jehovas beiseite und hält mir das erste Foto hin. Ein Latino Anfang Zwanzig mit gewinnendem Lächeln und verträumtem Blick. Er trägt lange Koteletten und preßt das Kinn an, als habe er beim Fotografen gerade einem Mädchen schöne Augen gemacht.
«Sieht sympathisch aus», äußere ich mich.
Delilah schiebt mir das Polaroidfoto zur genaueren Betrachtung über den Tisch. «Weiß nicht», rate ich schließlich. «Urkundenfälschung oder was?»
Delilah liest bereits stirnrunzelnd die Akte auf ihrem Schoß. «Schizophrener Cracksüchtiger», verkündet sie. «Hat seinem Vermieter mit der Schrotflinte den Kopf weggeblasen.»
«Ach du Scheiße», stöhne ich auf.
Für den muß ich wohl einen längeren Termin einplanen. Ich könnte ihn am Freitag kommen lassen, nach Maria Sanchez. Aber wenn Maria da war, bin ich immer wie durch die Mangel gedreht, also schiebe ich ihn lieber auf Montag.
Die Wanduhr hängt hinter Drahtglas, offenbar damit niemand die Zeiger klaut. Schon fast neun. Hinter mir höre ich, wie die Klienten im überfüllten Wartezimmer einander anmotzen. Ich sehe etliche hingelümmelt auf den Holzbänken wie eine aufsässige Kirchengemeinde vor der Predigt. Die Klimaanlage ist im Eimer, und folglich glüht hier drin die volle Junihitze. Die Luft ist abgestanden und riecht nach Zigarettenrauch. Die Wände leuchten grellorange. Da hätten sie auch was Beruhigenderes nehmen können, vielleicht himmelblau oder meergrün. Diese Farbe ist für Gestörte eine regelrechte Aufforderung zum Tanz.
Eine Frau steht auf und wirft mit einer zerbröckelten Styroportasse herum. Anscheinend bringt sie sich in Stimmung für das Gespräch mit ihrem Bewährungshelfer. Hoffentlich keine von meinen.
Delilah schiebt mir die letzte Akte herüber. «Der hier hat gar kein Foto», wundert sie sich.
Statt dessen klebt auf der Akte ein gelber Zettel von meiner Vorgesetzten Emma Lang. «Sonderfall!» steht darauf. «Äußerste Vorsicht geboten!» Darryl King heißt der Vogel.
Ich vergewissere mich in der Anwesenheitsliste, daß er noch nicht da ist, und lasse meinen Blick dann noch mal durch das vollbesetzte Wartezimmer schweifen, diese verräucherte Vorhölle zur Bürokratie. Die Frau hat aufgehört, mit Styropor zu schmeißen. In der grellen Neonbeleuchtung zeigen die Leute alle leicht grünliche Gesichter. Auf dem Linoleumboden jede Menge Zigarettenkippen und verdächtige Pfützen. Mit geschlossenen Augen und steif ausgestreckten Jeansbeinen hängt die Hälfte der Kunden heute morgen wie tot in den Bänken. Und ich fühle mich mit meinem Kater auch nicht gerade toll.
Drei ausdruckslose Augenpaare starren mich an. Drei Jugendliche in großen weißen Turnschuhen mit gespenstisch leerem Blick. «Affektgestört», würde Jack sie nennen.
Nicht, daß sie von mir irgendwie beeindruckt wären. Vor sich sehen sie nur einen hochgewachsenen dünnen Juden Ende Zwanzig mit Lockenhaar und Brille. Mein Hanteltraining schafft mir allmählich breitere Schultern, außerdem habe ich ziemliche Schaufelhände, aber am Strand würde sich niemand nach mir umdrehen.
Dann fällt mir drüben am Empfangspult jemand auf. Ein ausgezehrter schwarzer Teenager mit rotem Schal und goldenem Schneidezahn. Sie glotzt in den winzigen Schwarzweißfernseher des Wachmanns. Mir ist nicht ganz klar, ob sie zu meinen Kunden gehört. Ich habe zweihundertfünfzig und kenne etwa ein Viertel davon persönlich. Zwei Kids sitzen neben ihr auf der Bank, einer ist etwa fünf und der andere etwa ein Jahr alt. Der Große hat eine getönte Brille mit dicken Gläsern und breite Zahnlücken. Wenn er sich unbeobachtet glaubt, drückt er den kleinen Bruder an sich und drückt ihm seine Lippen auf die Stirn.
Die beiden Kinder sehen einander sehr ähnlich, bis auf die häßlichen Schorfstellen und blauen Flecken im Gesicht des Großen. Er umklammert seinen kleinen Bruder, als schütze er damit eine kleinere und noch unbeschädigte Ausgabe seiner selbst. Die junge Mutter dreht sich plötzlich um und sieht, daß der Große den Arm um den schlafenden Kleinen gelegt hat. Sie schlägt ihn brutal mit der flachen Hand ins Gesicht.
«Pfoten weg, Travis», bellt sie. Travis reißt erschrocken die Augen auf und läßt den kleinen Bruder los. Das Baby wacht auf und brüllt.
«Hören Sie mal, er hat gar nichts gemacht», mische ich mich ein.
Sie ignoriert mich und pult an ihrem Daumennagel.
«Sie dürfen ihn nicht so schlagen», mahne ich.
«Kümmern Sie sich um Ihren eigenen Scheiß», faucht sie zurück.
Dann starrt sie wieder auf die Mattscheibe. Das Baby greint immer noch. Der fünfjährige Travis sitzt stocksteif da und starrt auf seine Hände, die er zwischen die Oberschenkel geklemmt hat. Hier wird gerade ein neuer Klient geboren.
Ich sollte die Sache vergessen und mir ein Aspirin holen. Aber irgendwie geht mir Travis’ Gesichtchen an die Nieren.
«Wie heißen Sie?» frage ich die junge Mutter.
«Parker», murmelt sie.
Mit Sicherheit keine von meinen. «Wie heißt Ihr Bewährungshelfer?»
«Rodriguez», sagt sie und zieht die Backe zwischen die Zähne. Meine innere Stimme sagt, «vergiß es, es ist nicht mal dein Fall.» Doch wie von selbst gehe ich durch den muffigen Marmorflur zu den klapprigen Postfächern und verfasse dort eine Kurzmitteilung an den Kollegen Rodriguez. ‹Lieber Mr. Rodriguez, wurde Ihre Klientin Parker schon wegen Kindesmißhandlung angezeigt? Wenn nicht, ist es bald soweit. Bitte überprüfen Sie das. Ihr S. Baum.› Ich werfe das in sein Fach und gehe zu meinem Büro.
Ich blättere in der Akte Darryl King und gehe dabei zurück den Flur hinunter. Es ist wie ein Gang in die Katakomben, weil an meinem Ende des Flurs seit Monaten kein Licht brennt, vorbei an endlosen Kolonnen olivgrüner Aktenschränke. Rechts fällt mein Blick ins Archiv, wo Kollegen in Staubmasken gebückt alte Akten von längst vergessenen Verbrechen umschichten.
Stevie Wonders’ «I Just Called To Say I Love You» dudelt aus irgendeinem Kofferradio, und von irgendwoher kommt ein Luftzug und raschelt mit den Dienstplänen an der Wand.
Die Angaben in Darryl Kings Akte sind dünn. Die erste Verurteilung auf Bewährung hat er gerade eingefangen, weil er eine Tankstelle an der 36. Straße Ost überfallen hat, aber die Liste seiner Festnahmen nach dem achtzehnten Geburtstag ist ellenlang. Allein aus dem letzten Jahr hat er mehrere Anzeigen wegen Straßenraubs, Einbruchs und Körperverletzung und außerdem wegen «gemeinschaftlich begangener Straftaten». Eine Beschuldigung lautet, daß er aus einer Gruppe heraus einen Bahnangestellten mit einem Hammer niedergeschlagen hat. Vor dem Überfall auf die Tankstelle gab’s aber noch keine Verurteilung, wohl weil die Zeugen sich hüteten, gegen ihn auszusagen. Das wahre Warnsignal aber ist Tommy Markhams Voruntersuchungsbericht für den Richter.
Tommy, ein kleiner drahtiger Mann, der den größten Teil seines Lebens bei der Handelsmarine war, hat ein zu weiches Herz. Bei fast allen Tätern empfiehlt er Strafaussetzung auf Bewährung. Hier aber hat er Abstand davon genommen.
Er bezeichnet Darryl King als intelligent, schreibt aber, er sei bei seinem Ersttermin unzugänglich gewesen und habe ihm ständig Sachen vom Schreibtisch genommen. «Der Angeklagte wollte den Berichterstatter offenbar bewußt einschüchtern», schreibt Tommy, der sonst mit schöner Regelmäßigkeit gemeingefährliche Lohnkiller und Drogendealer als «irregeleitet» apostrophiert. Über Schulbesuch oder Familie steht wenig drin. Tommy vermerkt, Darryl zeige keinerlei Reue wegen des Tankstellenüberfalls und sage, schuldig bekannt habe er sich nur auf Drängen seines Anwalts.
Tommys abschließende Beurteilung lautet: «Die Prognose für eine soziale Wiedereingliederung ist schlecht.» Wenn Tommy dergleichen schreibt, heißt das im Klartext: «Der Kunde begeht bald einen Mord.»
Ich bin jetzt im dunkelsten Teil des Flurs und kann nicht mehr weiterlesen. Jetzt ist mir klar, warum mir Mrs. Lang einen gelben Zettel auf die Akte geklebt hat. Vor zwei Monaten hat ein Täter mit Bewährung einen jungen Arzt umgebracht, und die Behörde legt keinen Wert auf weitere Zwischenfälle dieser Art. Mrs. Lang hält Darryl King für ziemlich gemeingefährlich, und ich schließe mich dieser Ansicht gern an.
Ich sehe, daß auf dem Laufzettel an der Akte der Termin fehlt, zu dem Darryl King bestellt ist. Als Frist steht da bloß «bald».
Heute habe ich sowieso den Kopf voll, weil endlich Richard Silver bei mir erscheinen wird. Auf den freue ich mich. Früher war er einer der politischen Hauptdrahtzieher New Yorks. Wochenlang hat er seinen Termin bei mir verschleppt. Ich mußte ihn und seinen Anwalt mit Dutzenden von Anrufen und Mahnbriefen bombardieren, bevor er auch nur reagierte. Schon im voraus bin ich stinksauer auf den Typ.
Vor der Tür zu meinem Büro angekommen, stocke ich beim Anblick eines Wartenden. Ein junger Puertoricaner, der aussieht wie zwölf, mit einem abgesplitterten Schneidezahn und Glupschaugen. Sein schwarzes Haar ist wie eine Flamme hochtoupiert und fällt dann glatt herab. Das braune T-Shirt mit Flecken übersät, und seine Jeans supereng. Er sieht mich an und tritt auf der Stelle.
«Was kann ich für dich tun?» frage ich.
Der Junge grunzt und reicht mir seine Akte. Ich frage mich, ob er überhaupt sprechen kann. «Was soll das?» herrsche ich ihn an.
Er grunzt wieder und starrt auf seine Turnschuhe. «Ham gesagt, soll ich Ihnen geben», stößt er leise und heiser hervor.
Ich schließe die Tür auf und gehe hinein. Der Junge bleibt stehen, den Blick auf den Boden geheftet. Es ist etwas Verlorenes und Verwildertes an ihm. Ich winke ihm, er soll reinkommen und sich setzen.
«Mr. Ricky Velez», lese ich hinter dem Schreibtisch laut und schlage die Akte auf. «Hier steht, du bist sechzehn. Stimmt das?»
Ricky grunzt wieder und nickt scheu. In dem Büro auf der andern Flurseite kreischt die «Schreieule», eine ältere Bewährungshelferin, deren Namen mir nicht über die Zunge will, einen unglücklichen Klienten an: «WAS SOLL ICH BLOSS DEM RICHTER SAGEN?!»
Der Deckenventilator bringt keine Kühlung, sondern wälzt nur die feuchtheiße Luft im Zimmer herum. Ricky rutscht auf dem Stuhl hin und her. Der Stuhl ist so unbequem, weil hier keiner festwachsen soll. Früher habe ich versucht, diesem winzigen Kabinett eine persönliche Note zu geben, obwohl ich mir ständig sage, daß das hier bloß mein Job ist und nicht mein Leben. Ich habe Zimmerpflanzen, Kissen und Bücher mitgebracht, aber der Raum wirkt mit diesen irren grellorangenen Wänden und dem abgetretenen Bodenbelag immer noch billig und behördenmäßig.
Ich putze mir die Brille und sehe mir Rickys Anzeige genauer an. «Da steht was von einer Verurteilung auf Bewährung wegen ‹Beförderungserschleichung› und ‹Widerstand gegen die Staatsgewalt›», zitiere ich. «Was ist das für eine Beförderungserschleichung?»
Ricky räuspert sich und sagt: «Bloß U-Bahn-Münzen.» Seine Stimme klingt kratzig, als tue ihm das Sprechen weh.
«U-Bahn-Münzen?» frage ich. «Hast du etwa einen Münzverkäufer der U-Bahn überfallen?»
«Nee.» Ricky schüttelt energisch den Kopf. «Rausgelutscht.»
«Rausgelutscht?»
Jetzt reagiert er überhaupt nicht mehr. Eine kleine Weile sitzen wir da.
Dann gebe ich mir einen Ruck und erhebe mich, gehe zur Tafel, hole Kreide und zeichne die kleine, leicht krakelige Karikatur eines Männchens, das sich über ein U-Bahn-Drehkreuz beugt und am Einwurfschlitz saugt.
«Soll das heißen, du gehörst zu den Typen, die U-Bahn-Münzen aus den Drehkreuzen lutschen?» frage ich mit lauter Stimme wie im Gerichtssaal.
Ricky nickt. Noch ein bißchen jung für so was, denke ich, sonst sehe ich immer nur alte Penner die Drehkreuze vollsabbern.
«Findest du das nicht eklig?» frage ich, auf meine Zeichnung deutend.
Er grinst, und das baut die Spannung im Raum ein wenig ab.
«Ich meine, seinen Unterhalt kann man doch leichter verdienen, was?» sage ich ihm. «Diese Drehkreuze sind total versifft. Da geht man doch nicht mit dem Mund ran. Machst du das alleine?»
«Mit meinem Partner», sagt er ein bißchen lauter. «Mit Hector.»
Ich schreibe Hectors Namen an die Tafel. «Lutscht Hector auch U-Bahn-Münzen raus?»
«Nein, der verscheuert sie.»
«Ach, verstehe, so was wie ein Geschäftsführer.» Ich stecke die Kreide wieder ein und gehe hinter den Schreibtisch zurück. «Dein erster Fehler. Du solltest nicht allein die Arbeit machen. Du hättest Hector zum Mitlutscher machen müssen.»
«Ja?» Ricky muß unwillkürlich lachen.
So kurz und schmerzlos wie möglich erfrage ich die nötigen Angaben. Ricky wohnt ganz in meiner Nähe in der Lower East Side bei seiner Mutter, die von Sozialhilfe lebt, zusammen mit seinen drei Brüdern. Er geht gelegentlich in die Schule. Sein Englisch ist ganz gut, aber er kann sich im Unterricht nicht konzentrieren.
«Vielleicht sollten wir mal so was wie einen Plan aufstellen», schlage ich vor, gehe zurück an die Tafel und schreibe ein paar Punkte auf. Als ich merke, daß Ricky verständnislos auf das Geschriebene starrt, frage ich, ob er überhaupt lesen und schreiben kann, aber ohne ihn dabei direkt anzusehen; die beste Art, diese Frage zu stellen, weil es so dem Klienten nicht so peinlich ist.
Ricky grunzt. Weder ja noch nein.
«Weißt du, das macht nichts, wenn du nicht so gut lesen kannst.» Beim Schreiben an der Tafel nehme ich die Zungenspitze zwischen den Lippen. «Ich habe auch so was, es heißt Legasthenie.»
Ich frage Ricky, ob er Interesse an einem Lesekurs habe.
«Vielleicht», meint er ohne große Begeisterung.
«So ein Lesekurs ist gar nicht schlecht. Bloß zweimal die Woche, und außerdem kommst du zu Fuß hin, East Side, also gar nicht weit von dir daheim. Klar?»
Ich schnappe mir meinen Stuhl, trage ihn um den Schreibtisch herum und setze mich neben ihn. «Also schön», sage ich und hole das Notizbuch hervor. «Ich gebe dir heute mal eine Liste von Zielen.»
Die bevormundenden Sozialarbeitertricks habe ich noch nie gemocht. Doch diese Liste hilft vielen Leuten, ein bißchen Ordnung in ihr Leben zu bringen. Ricky lächelt, als er mich seinen Namen oben auf die Seite schreiben sieht. «Verstehst du, was ich hier hinschreibe?» will ich wissen.
«Das meiste», sagt Ricky.
«Und kannst du zu Hause jemand fragen, wenn du was nicht lesen kannst?»
«Yeah.»
«Okay.» Ich rücke ihm auf die Pelle, bis die Armlehnen unserer Stühle aneinanderstoßen. «Laß uns die Liste da mal durchgehen», sage ich. «Bis jetzt haben wir fünf Ziele.»
«Yeah.» Ricky tippt mit dem Finger auf meine «Nummer eins». Der Fingernagel ist völlig abgekaut.
«Nummer eins ist der Lesekurs», sage ich und krempele die Hemdsärmel hoch. «Zwei Abende die Woche, jeweils ’ne Stunde. Machst du mit links. Klar?»
«Klar.»
«Nummer zwei: Hector soll seine U-Bahn-Münzen selber rauslutschen.» Ich zeichne noch mal ein Männchen beim Rauslutschen von U-Bahn-Münzen und mache einen dicken Strich durch die Zeichnung, wie bei einem Rauchverbotsschild.
Ricky lacht.
«Nummer drei ist morgens aufstehen», sage ich. «Nicht erst am Nachmittag. Sieh zu, daß du hochkommst. Frühstücke was, hör dir Kassetten an. Leg was wie «Kool Moe Dee» auf, wenn du dich für die Schule anziehst.»
Der Junge ist regelrecht erschrocken, daß sich ein erwachsener Weißer in Rapmusik auskennt. Aber dann schüttelt er den Kopf. «Mir ist Madonna lieber.»
«Madonna?»
«Yeah», sagt Ricky in einem plötzlichen Gefühlsausbruch und rutscht dabei nach vorn auf die Stuhlkante. «Ich habe alle Kassetten von ihr! Und an der Wand Poster von ihr! Ihr Macker, wenn mir der übern Weg läuft, mach ich ihn platt.»
«Schön, schön, ganz toll», sage ich und lege ihm die Hand auf den Arm, um ihn zu bremsen. «Also hör dir eine halbe Stunde nach dem Aufstehen Madonna an – wenn deine Mutter nichts dagegen hat –, und damit sind wir schon bei Nummer vier: in die Schule gehen. Und das führt uns zu Nummer fünf: einen Bogen um die Crackdealer machen.»
Sein Blick flackert wie bei einem Schlag unter die Gürtellinie. Aber ich kenne unsere Wohngegend wie meine Westentasche und weiß genau, wo er herkommt und welchen Schulweg er hat. Heute morgen ist er womöglich sogar mit mir in denselben Zug hierher zur Centre Street gestiegen. «Hör mal», sage ich, «ich weiß, daß die Szene in deinem Wohnblock ziemlich heavy ist, aber du mußt clean bleiben.»
«Oh, Mann», Ricky windet sich auf seinem Stuhl, um mir nicht ins Gesicht sehen zu müssen.
«Ist hart», sage ich entschlossen. «Aber du mußt da wegbleiben. Mit der Bewährung hat dir der Richter ’ne Chance gegeben. Er hätte dich auch in den Knast schicken können.»
Der Junge seufzt. «Is wohl so.»
Genau da reißt manchmal der Kontakt ab. Wenn sie die Schnauze voll haben von der weißen Autoritätsfigur. Eigentlich würde ich an diesem Punkt auch selber am liebsten aufhören. Was ich sagen muß, habe ich gesagt, und vor der Tür warten bereits andere Klienten. Aber irgendeine Stimme raunt mir zu, ich soll mich noch ein bißchen mehr anstrengen.
«Hör mal, Ricky», sage ich und rücke mit dem Stuhl herum, damit wir uns ins Gesicht sehen können. «Wenn du bei mir mitziehst, bin ich dein bester Freund. Schwör ich dir. Kannst mich jederzeit anrufen. Aber wenn du das vermasselst und mich verarschst, werd ich stinksauer. Klar? Denn das heißt, daß du unsere Freundschaft verrätst. Und dann schicke ich dich selber in den Knast, wenn es sein muß. Klar?»
«Klar», bestätigt der Junge.
Es ist immer noch ein weiter Weg, aber ich habe das Gefühl, ihn erreicht zu haben. Ich reiche ihm die Liste.
«Und wo willst du jetzt hin?» frage ich.
«Nach Hause», sagt Ricky und steht langsam auf.
«Wie wär’s mit Schule?» frage ich laut. «Weißt du noch? Nummer vier?»
«Ach so.» Er lächelt scheu und entblößt dabei den gesplitterten Schneidezahn. «Muß jetzt in die Schule.»
«Und wie willst du von hier aus hin? Mit der Metro?»
«Yeah.» Ricky blickt verwirrt.
«Da», sage ich, hole eine U-Bahn-Münze aus der Tasche und drücke sie ihm in die Hand. «Spar dir diesmal die Plackerei.»
«Du mußt Weitblick haben», sagte die füllige Frau. «Einen Zukunftsplan. Kapierst du, was ich meine?»
«Yeah», murmelte der junge Mann.
«Mit andern Worten, überleg, was passieren kann, bevor du was machst. Du mußt dir was aufbauen. Klar?» Sie fixierte ihren kleinen Bruder Darryl King.
«Klar», sagte er.
«Und erinner mich, da war noch was, was ich dir sagen muß», sagte seine Schwester Joanna Coleman.
Sie hockten auf der Eingangstreppe eines Hauses am Frederick Douglass Boulevard in Harlem. Vom Himmel knallte die Sommersonne. Kleine Kinder kickten am Bordstein mit Glasscherben. Ein halbes Dutzend Crackdealer betrieben ihren Handel auf dem Gehweg. Sonst aber erschien die Straße wie aus einer Geisterstadt, baufällige Häuser mit bretterverschalten Fenstern und Türen, Trümmergrundstücke und zahnlose Tapergreise, die stumm auf Stühlen vor dem Gemischtwarenladen an der Ecke saßen.
Joanna nahm ihrem kleinen Bruder den großen Pappbecher Coca-Cola aus der Hand und trank ihn mit zwei Zügen fast leer. Mit Anfang Zwanzig wurde sie allmählich zur fülligen Matrone mit dicken Schenkeln, Vollmondgesicht und roten Strähnen im Haar. In ein paar Jahren würde sie mit ihrem Kübelhintern in der U-Bahn satt zwei Sitzplätze besetzen.
«Also wie war das letzten Monat?» bohrte sie.
«Was?» fragte Darryl.
«Mit Pops Osborn.»
«Scheiße gebaut.»
«Weiß ich bereits. Hab ihn gesehen, als ich letzte Woche downtown war. Auf der Straße vor seiner Crackbude.»
«Also weißt du, ist irgendwie beschissen gelaufen», druckste Darryl. Er trug schneeweiße Nike-Turnschuhe, Jeans und ein T-Shirt mit dem Namen der Rapgruppe Public Enemy quer darauf. «Wir waren da auf dem Dach. Klar?»
«Wer war auf dem Dach?» fragte seine Schwester.
«Ich.» Darryl tippte sich mit dem Finger an die Brust. «Bobby Kirk. Und Aaron. Da habe ich Aaron die Kanone gegeben.»
Seine Schwester schnitt eine Grimasse. «Wieso das denn? Aaron ist ein Arsch.»
«Der ist erst vierzehn», erläuterte Darryl, «und ich bin schon achtzehn. Also tut ihm der Richter nichts.»
«Okay.»
«Bloß hat Aaron vorbeigeschossen, und Pops ist mit seinem Auto abgehauen.»
«Er hat’s vermasselt», konstatierte Joanna.
«Genau. Also sag ich mir, ‹Scheiße, Joanna wird ’nen Haß auf mich kriegen.› Und da hab ich mir was anderes einfallen lassen.»
Joanna rülpste und wollte wissen, was.
«Wir sind zur Tankstelle hin», berichtete Darryl.
«Zu welcher?»
«Zu der am Franklin Delano Roosevelt Drive. Sind also da rein und ham sie ausgeraubt. Wir nehmen das Moos, und Bobby haut den Typ in Klump.»
«Den Tankwart?»
«Yeah. Dann füllen wir drei Bierflaschen, du weißt schon, die hohen, mit Benzin. Wie uns Winston vorgemacht hat. Und stopfen Lappen oben rein, du weißt schon, und dann zurück zu Pops Crackbude und rein mit den Mollies.»
Seine Schwester mußte lachen. «Darryl, du bist echt Spitze.»
«Ja, aber Pops war schon weg und ist uns durch die Lappen.»
«Habt ihr überhaupt wen erwischt?»
«Nur irgend ’ne Frau. Kam die Treppe runter und brannte am ganzen Rücken. Fiel dann auf die Straße und blieb liegen. Das Feuer hat sie einfach aufgefressen. Und Aaron hat gemeint, ‹Mann, siehst du das? Wie im Kino.› Und ich dagegen, ‹nein, ganz anders.›»
Ein schwarzer Wagen mit einem dicken Weißen am Steuer fuhr langsam die Straße entlang. Joanna und Darryl verstummten, und die Dealer unterbrachen kurz ihr Geschäft. Als das Auto weg war, machten sie alle weiter.
«Und wie haben sie euch gekriegt?» fragte Joanna. «Gab doch keine Zeugen, oder?»
Darryl schnitt eine Grimasse. «Na, der Typ von der Tankstelle hat die Bullen gerufen, und die haben uns wegen bewaffnetem Raubüberfall festgenommen.» Er zuckte die Schultern. «Aber der Richter hat uns Bewährung gegeben, und damit war alles gut.»
Joanna stand auf. «Jetzt fällt mir ein, was ich dir noch sagen wollte.»
«Was denn?»
«Du mußt zu deinem Bewährungshelfer.»
Darryl fluchte und ließ den Kopf zwischen die Knie sinken. «Bei dem war ich doch schon.»
«Du hast wahrscheinlich jetzt einen anderen. Da steht, du mußt dich einmal pro Woche dort melden.»
Sie hielt ihm einen Brief hin, auf dem der Name des Bewährungshelfers stand. Sie mußte ihm vorlesen. «Mr. Bomb», las sie laut.
Er blickte verdrossen. «So ein Quatsch», murrte er.
«Das kommt davon, daß du Scheiße baust, Darryl. Kostet eben.»
Eben will ich wieder zu meinen Akten greifen, da klingelt das Telefon.
«Ich schicke Ihnen einen neuen Klienten rein», meldet Roger, der Wachmann. Die meisten Bewährungshelfer holen ihre Kunden im Wartezimmer ab; ich lasse sie mir lieber reinschicken. Diesmal schwant mir allerdings, daß Darryl King unterwegs ist. Der Kopfschmerz, den ich schon den ganzen Morgen zu ignorieren versuche, fängt in meinem Hinterkopf zu pochen an. Mir fällt der Vermerk von Tommy Markham ein, wie Darryl ihm Sachen vom Schreibtisch nahm, also räume ich alle Akten weg, setze die Brille ab und drehe mich im Stuhl mit dem Gesicht zur Tür.
Ohne anzuklopfen, kommt statt dessen Richard Silver herein. «Euer Wartezimmer ist ja der reinste Zoo», bemerkt er wie mitten in einem Gespräch. «Haut mich doch so ein Schwarzer an, rollt mit den Augen und fragt, ob ich ein bißchen Kleingeld hätte.»
«Und was haben Sie ihm gesagt?»
«Ich hab ihm gesagt, gern, wenn er mir dafür die Schuhe putzt.»
«Für einen früheren Bürgerrechtler sind Sie aber ganz schön rassistisch», stichle ich.
Er schnaubt und wirft mir einen ungeduldigen Blick zu. «Ich bin kein Rassist», stellt er klar und rückt den Knoten seiner gelben Hermès-Krawatte zurecht. «Das hier ist auch meine Stadt, und ich lasse mich nicht jedesmal um Kleingeld anschnorren, wenn ich aus dem Haus gehe.»
Zuerst fällt mir an Richard Silver auf, daß er um einiges größer ist, als er im Fernsehen wirkt. Ich hatte von ihm immer das Bild eines schlanken Typs mit loser Krawatte und über die Schulter geworfenem Sakko, der cool die Straße hinunterschlendert. Er hat sich seither nicht bloß ein Bäuchlein zugelegt. Sein Maßanzug spannt sich auch über kräftigen Ringermuskeln.
«Warum setzen Sie sich nicht?» frage ich.
Er bekommt einen abwesenden, gereizten Blick. «Dauert es lange? Ich habe noch andere Termine.»
«Erzählen Sie mir davon», ermuntere ich ihn und deute auf den leeren Stuhl.
Silver geht zweimal um den Stuhl herum und mustert ihn, als wolle er ihn kaufen. Dann bleibt er stehen und sieht mich mit schräggelegtem Kopf und angedeutetem Lächeln an. Ganz gemächlich läßt er sich auf einen Stuhl sinken.
«Also, was wollen Sie von mir?» fragt er schroff.
Entzückend. Seit sechs Wochen schreibe ich Briefe und hinterlasse Telefonmitteilungen mit der Aufforderung, er solle gefälligst seinen Termin bei mir wahrnehmen. Fast jeder andere würde vor den Richter gezerrt, wenn er sich dergleichen erlauben würde. Er aber fläzt sich hin, als sitze er im Schuhputzstuhl und ich auf dem Schemel davor.
«Jetzt aber mal halblang», dämpfe ich ihn und hole seine Akte hervor. Als Heranwachsender hielt ich Richard Silver für einen Helden. Er war in den sechziger Jahren Stadtrat von New York und in den ärmsten Stadtteilen als der «Wundertäter» bekannt. Wenn die Gemeinde Müllfahrzeuge oder Jugendprogramme brauchte, machte er das Wunder möglich. Ich erinnere mich, wie meine Lehrerin in der vierten Klasse erzählte, er habe verhindert, daß die Stadt bei den Rassenunruhen abgebrannt sei, und wir alle seien ihm zu Dank verpflichtet.
Aber er ist ein anderer geworden. Ein umstrittenes Sozialwohnungsprojekt, mit dem untere Einkommensschichten in einem Mittelstandsviertel in Queens angesiedelt werden sollten, ließ er fallen wie eine heiße Kartoffel. Dann zog er für eine Wahlperiode in den Kongreß ein und stieg Ende der siebziger Jahre ganz aus der Politik aus, um sich vorübergehend der Nachtklubbranche zu widmen. Schließlich eröffnete er eine Anwaltspraxis mit Firmen und Bauunternehmern, die kommunale Großaufträge ergattern wollten, als wichtigste Mandanten. Die Presse feierte seine Millionenabschlüsse, und er wurde Stammgast bei den Dinnerparties der oberen Zehntausend. Dann aber fiel er plötzlich in Ungnade, verurteilt wegen einer so plumpen und anrüchigen Straftat, daß Leute, die sich früher darum gerissen hatten, neben ihm sitzen zu dürfen, ihm nie begegnet sein wollten. Sein Freund und Partner bei diesem dreckigen Deal, Jimmy Rose, auch ehemals ein großer Reformpolitiker, brachte sich kurz darauf um.
Also denke ich, ich sollte Silver behandeln wie jeden andern Klienten von der Straße. Ich hole mein Formular heraus und erkundige mich nach Geburtsdatum und jetzigem Wohnsitz. Silver zögert, als ich beim Familienstand angelangt bin. «Schreiben Sie lieber, noch verheiratet, okay?»
«Womit bestreiten Sie derzeit Ihren Lebensunterhalt?» frage ich.
«Als Berater.»
«Was heißt das?»
«Ich berate», sagt er und lockert seine Krawatte. «Sehen Sie, zu mir kommen Leute mit Ideen. Und ich sage dann ‹große Klasse› oder ‹hey, so ’ne Scheiße›.»
«Und die zahlen Ihnen ’nen Haufen Geld dafür?»
«Na, was nennen Sie denn ’nen Haufen Geld?» fragt er zurück.
Er fordert mich heraus, mich mit ihm anzulegen. Ich fange an, den Klumpen Plastikmasse zu kneten, den ich für eben solche Anlässe in der Tasche meiner Windjacke herumtrage.
«Und wer holt Ihren Rat ein?» hake ich nach.
«Privatfirmen.»
Bevor er das näher erläutern kann, stört mich Geflüster draußen im Flur. Offenbar ein paar Bewährungshelfer von nebenan, die horchen. Natürlich geraten alle im Amt aus dem Häuschen, wenn uns ein so großes Tier besuchen kommt.
Ich gehe rüber zur Wand und donnere dagegen. «Haut ab!» brülle ich. «Habt ihr nichts zu tun?»
«Warum verkaufen Sie keine Eintrittskarten?», fragt Silver grinsend, während die Lauscher Leine ziehen.
Ich greife nach Stift und Formularen. «Wo war ich gleich stehengeblieben?»
«Derzeitige Erwerbstätigkeit, oder so was», erinnert mich Silver und schaut ostentativ auf seine goldene Rolex.
«Ich komme sofort darauf zurück», sage ich und klemme die Filzschreiberkappe zwischen die Zähne, während ich Silvers Namen auf einen Zettel schreibe. «Das Urteil erlegt Ihnen zweitausend Stunden gemeinnütziger Arbeit auf …»
«Na schön, mal sehen.»
Ich blicke in die Akte auf meinem Schreibtisch. «Ich mache mir Sorgen, ob Sie diese gemeinnützige Arbeit auch ableisten und nicht mit Personen zusammenkommen, die an Ihrer Straftat beteiligt waren.»
Er bekommt einen finsteren, mürrischen Blick. «Jimmy Rose ist seit einem Jahr tot. Wie soll ich das anstellen?»
«Ich tue hier nur meine Pflicht», versetze ich scharf. «Vielleicht bräuchten wir das alles nicht durchzugehen, wenn Sie auf meine Telefonanrufe oder Briefe reagiert hätten und ich nicht von einem möglichen Verstoß gegen Bewährungsauflagen ausgehen müßte.»
Darauf sagt er lange nichts, sondern starrt mich bloß an.
«Sie waren ja mal Rechtsanwalt», sage ich gelassen. «Da wissen Sie ja, wie das läuft. Wenn Sie nicht willig sind, muß ich zum Richter und ihm sagen, daß Sie gegen Ihre Auflagen verstoßen und er sich überlegen soll, ob er die Bewährung widerruft.»
Silver sieht aus, als wolle er gleich loslachen. «Ach, so ein Quatsch», sagt er. «Bilden Sie sich etwa ein, die buchten mich ein, bloß weil ich nicht mit Ihnen rede?»
«Vielleicht auch nicht, aber ich kann’s probieren, und das kostet Sie allerhand Anwaltshonorar.»
«Ja, ja, ist ja gut.» Silver lehnt sich in seinem Stuhl so weit vor, daß er mir direkt ins Gesicht starren kann. Mit einer anfangs väterlich wirkenden Geste langt er herüber und faßt mich am Arm. Dann preßt er mir plötzlich die Fingerkuppen zwischen die Sehnen unmittelbar überm Ellenbogen, daß ich mich vor Schmerz krümme.
«In Ordnung, Sie wollen’s auf die harte Tour», sagt er tückisch. «Fein. Aus der Politik bin ich schon ’ne Weile raus, aber ich kenne immer noch genug Leute. Und die wiederum kennen die Leute, unter denen Sie arbeiten. Also, ich an Ihrer Stelle wäre vorsichtig.»
Ich löse seine Finger von meinem Arm und bedenke ihn mit einem langen, unversöhnlichen Blick. «Ach ja?» sage ich. «Dann mal zu. Lassen Sie Ihre Freunde nur machen. Das läßt mich kalt. Bewährungshelfer bin ich doch schon. Tiefer kann ich nicht sinken.»
Langes Schweigen breitet sich aus. Silver schaut mich mißtrauisch an, als sähe er mich zum ersten Mal.
«Wissen Sie, an wen Sie mich erinnern?» fragt er dann und dreht sich dabei nach dem Bob-Dylan-Poster an der Wand um. «An die jungen Kerle, die wir in den sechziger Jahren in den kommunalen Hilfsprogrammen hatten. Gute Leute. Haben hervorragend gearbeitet.»
«Wirklich?» sage ich und fange an, mir Notizen zu machen. Während ich mir notiere, was für ein gerissener Sauhund dieser Silver doch ist, denke ich, wie gern ich doch mehr über diese Zeiten wüßte.
«Tja», sagt er und schlägt die Beine übereinander. «Tja, das waren großartige Programme. Maßnahmen zur Bekämpfung der Armut, Umschulungszentren. Und eine Menge Kerle wie Sie, die Dampf dahinter machten.»
«Tatsächlich?»
«Aber sicher … Jammerschade, daß wir ihnen die Gelder streichen und sie allesamt auf die Straße setzen mußten …» Er grinst und wippt mit dem Stuhl zurück. Ein sauberer Schlag, muß ich zugestehen. Eine kleine Mahnung, daß er meinesgleichen früher restlos in der Hand hatte.
«Na schön, Richard, inzwischen hat sich viel geändert», sage ich und setze wieder die Brille auf. «Warum gehen wir nicht mal Ihre Bewährungsauflagen durch, bevor Sie weiter müssen?»
In den neunzig Sekunden Pause zwischen zwei Gesprächsterminen gehe ich über den Flur und stecke den Kopf in Cathy Brodys Büroabteil. «Hast du vorhin jemand vor meinem Büro herumlungern sehen?» frage ich todernst.
Cathy mit ihrem verkniffenen Gesicht und den kalkweißen Knöcheln schulmeistert mich ständig, ich sei zu freundlich zu meinen Klienten. Auf Parties wirkt sie immer gelangweilt und unnahbar.
Jetzt wird sie verlegen. «Nein, hab niemanden gesehen», beteuert sie und bemüht sich, Stirnband und Brille auf ihrer Frisur zu balancieren. «Was ist denn gewesen?»
Mir ist sonnenklar, daß auch sie zusammen mit den anderen mein Gespräch mit Richard Silver belauschen wollte. «Weiß nicht», sage ich. «Jemand hat an meiner Tür gehorcht.»
«Na so was, wie schrecklich», meint sie.
«Ich bin sicher, du trittst jeden kräftig in den Arsch, den du dabei erwischst.»
«Ganz bestimmt», versichert Cathy mit dem stolzen Blick der spröden Jungfrau.
Nach der Rückkehr in mein Kabuff muß ich feststellen, daß meine Brille vom Schreibtisch verschwunden ist. Einer meiner Klienten muß sie geklaut haben. Ich bin eher verblüfft als sauer. Was kann man schon mit einer gebrauchten Brille anfangen? Um besser zu sehen, muß ich jetzt zwinkern.
Der Tag nimmt seinen Fortlauf. Elf weitere regelmäßige Kunden kommen und gehen, darunter ein Pädophiler vom Busbahnhof, ein ehemaliger Gebrauchtwagenverkäufer und ein senegalesischer Straßenhändler, der sich mit einem amerikanischen Taxifahrer geprügelt hat. Erst Viertel nach elf.
Von Darryl King immer noch keine Spur. Ich rede mit weiteren fünf Leuten und gehe dann einkaufen.
Als ich kurz nach halb eins wieder ins Büro komme, wartet da schon Emma Lang, meine Vorgesetzte. Eine schlanke, hübsche Schwarze Mitte dreißig in Lackpumps, langem marineblauen Rock und Blazer mit einer Schulterwattierung wie bei einem amerikanischen Footballspieler. Sie hat offenbar stets Falten auf der Stirn, aber ich habe noch nicht rausgekriegt, ob das so ist, weil sie mich nicht so mag wie ich sie, oder ob sie generell verbittert ist.
Letzteres ist wahrscheinlicher, denn sie arbeitet schon sieben Jahre länger als ich in diesem Amt und verdient nicht mal dreißigtausend Dollar im Jahr.
Sie blickt sich in meinem Bürogelaß um und rümpft die Nase, als wolle sie gleich wieder kritisieren, daß ich Jeans trage. «Nächsten Monat gibt es wohl ein paar personelle Veränderungen», äußert sie unvermittelt.
«Wegen der Fluktuation?» Ich stelle die Einkaufstüte mit dem Bier ab, und ein kleiner feuchter Fleck zeigt sich auf dem Papier. Mein Magen flattert. Vor ein paar Wochen habe ich mich für eine Leiterstelle in der Brooklyner Jugendgerichtshilfe beworben. Vielleicht sagt sie mir jetzt, daß ich den Job kriege.
«Acht Leute haben bereits gekündigt, und der Sommer hat erst angefangen.» Sie lehnt sich an den Türrahmen und betrachtet kurz ihre Fingernägel.
Überrascht mich nicht. In der Bewährungshilfe brennen viele schnell aus. Man steht nämlich nur herum und harrt der Katastrophen, die einfach eintreten müssen. Schon die schlechte Bezahlung vergrault die meisten. Polizisten, Anwälte und Psychiater verdienen allesamt viel mehr und sind besser abgesichert, und dabei machen Bewährungshelfer manchmal alle drei Jobs gleichzeitig.
«Sie werden wahrscheinlich bald versetzt, in die Vollstreckung», verkündet Ms. Lang. Vom Ton her klingt es mehr nach einer Anordnung von oben als nach einer Verheißung.
Mir sinkt das Herz in die Hose. «Und wer wird Leiter der Jugendgerichtshilfe?»
«War mir ganz entfallen, daß Sie sich da auch beworben haben. Cathy Brody. Sie hat mehr Dienstjahre als Sie.»
Ich nicke ergeben, obwohl ich lieber etwas kaputtschlagen würde.
«Aber warum soll ich in die Vollstreckung?» Ich hatte gar nicht mitbekommen, daß dort Vakanzen waren. Diese Truppe sammelt Klienten ein, die gegen ihre Bewährungsauflagen verstoßen haben.
«Ein Kollege von der Vollstreckung hat sich im Februar in den Innendienst versetzen lassen, und sie suchen immer noch einen Ersatzmann», erläutert sie. «Da ist mir eingefallen, Sie haben mir ja mal gesagt, Sie wären interessiert, und da habe ich Sie vorgeschlagen.»
Mich fröstelt zwischen den Schulterblättern, und ich taste in der Tasche nach meiner Knetmasse. Dann schüttele ich den Kopf und zünde mir eine Zigarette an.
«Vorgeschlagen hab ich Sie in der Überzeugung, daß Sie hier sehr gute Arbeit machen», fügt sie hinzu.
«Wirklich?»
«Ihre Klienten haben die niedrigste Rückfallquote.»
«Statistischer Zufall», sage ich achselzuckend.
«Nein, Sie sind mein bestes Pferd im Stall», setzt sie hinzu, ohne besondere Betonung, als leiere sie was Langweiliges aus dem Lexikon herunter. «Ich habe Ihre Fälle überprüft und Ihre Berichte gelesen. Dem Chef habe ich gesagt, Sie würden manchmal grob, wüßten aber auch genau, wo Sie behutsam sein müßten, wie bei diesem Charlie Simms und bei Maria Sanchez. Sie haben die Gabe, auf die Leute zuzugehen.»
«Vielen Dank.» Ich räuspere mich, und Zigarettenasche rieselt mir aufs Knie. «Hab gar nicht gemerkt, daß Sie mich leiden mögen.»
«Kann ich nicht», widerspricht sie. «Sie sind Weißer, und dazu aus Queens. Geht einfach nicht. Alles an Ihnen geht mir gegen den Strich. Dagegen kann keiner von uns beiden was machen.» Sie fällt in den gutturalen Ton der Südstaatlerin. «Sie wissen schon, was ich meine. Aber empfohlen hab ich Sie.»
Mrs. Lang ist keine von den Vorgesetzten, die einen in ihr Büro kommen lassen, um sich auszusprechen. Wie viele schwarze Aufsteiger aus meinem Bekanntenkreis steht sie ständig unter Hochspannung, als lebte sie in dem Glauben, jemand weiter oben suche nur nach einem Vorwand, sie zu feuern. Ihre Familie in Alabama war bitterarm, und sie hat ganz auf sich gestellt an der Columbia Universität in Sozialarbeit promoviert. Dabei hat sie auch ihren Dialekt und ihre Zweifel abgestreift. Aber hier in der Stadtverwaltung lassen sie sie vor die Wand laufen, weil sie schwarz ist, und eine Frau obendrein. Sie lebt allein, hat kaum Freunde und bemüht sich, ihren Bereich der Bürokratie am Laufen zu halten. Viele haben sie gern, geliebt wird sie von wenigen und gehaßt nur von den hartgesottenen Rassisten im Haus.
«Ich kann Ihnen etwa sechshundert Dollar mehr im Jahr verschaffen, wenn Sie in die Vollstreckung gehen», verspricht sie.
Ich rechne kurz nach, daß ich mir mit zusätzlichen zwölf Dollar die Woche gerade mal die doppelte Zahl Zigaretten leisten kann. «Nett von Ihnen», bedanke ich mich. «Aber was wird aus meinen Fällen?»
«Die Hälfte können Sie behalten, und zwar die Klienten, die wirklich auf Sie angewiesen sind.» Sie zupft eine Taschenklappe an ihrem Blazer zurecht. «Sie kommen nicht gleich ganztägig in die Vollstreckung. Sie sollen mir diesen Darryl King im Auge behalten. Vorhin hat er telefonisch mitteilen lassen, er kommt nicht heute, sondern erst morgen.»
«In Ordnung.»
«Tommy Markham ist von dem einen Gespräch vor ein paar Wochen noch immer ganz verstört», äußert sie. «Wenn King morgen erscheint, hauen Sie ihm kräftig auf die Finger. Machen Sie ihm deutlich, daß wir gute Führung von ihm erwarten. Kochen Sie ihn ein bißchen für Ihren Nachfolger weich.»
«Geht klar.»
Aber insgeheim denke ich, ein paar Punkte könnte ich schon sammeln, wenn ich den Vogel wieder ins Lot kriege. Gerade weil er für alle andern ein hoffnungsloser Fall ist.
Es klopft, und ein Weißer Anfang Dreißig im dunklen Anzug, sonnenverbrannt und mit schütterem Blondhaar tritt durch die Tür. Er ist mir schon im Flur der Chefetage begegnet. Ms. Lang stellt ihn mir als den stellvertretenden Dezernenten Kenneth Dawson vor. Irgendwie erinnert er mich an eine Comicfigur, an den beknackten Hilfssheriff Deputy Dawg, und ich muß mir ein Grinsen verkneifen.
«Wie geht es Ihnen?» fragt Dawson und reicht mir ein schlaffes, feuchtes Händchen. «Freut uns außerordentlich, daß Sie freiwillig in die Vollstreckung gehen.»
«Ja, aber …» will ich ihm gerade ins Wort fallen, aber dann denke ich, was soll’s? Die Konfusion ist schon so groß genug. Von Dawson war bisher im Zusammenhang mit den Anmeldungen für den Haushalt des nächsten Jahres die Rede. Ich hatte keine Ahnung, daß er sich zu einem Gespräch mit einem einfachen Bewährungshelfer herabläßt.
«Das ist eine ganz besondere Chance für Sie», betont er.
«Ich freue mich schon darauf», erwidere ich, weil mir nichts Besseres einfällt.
«Wie schön.» Dawson wippt auf den Absätzen seiner schwarzen Schuhe und lacht meckernd durch die Nase. «Im übrigen ist Ihnen ja bekannt», fügt er hinzu, «daß Sie in der Vollstreckung eine Schußwaffe tragen müssen.»
«Ach ja?»
«Sie haben doch keine Angst davor, oder?»
«Natürlich nicht.»
Beim letzten Zug aus der Zigarette zittern mir ein bißchen die Hände. Ich sehe, daß der Pappbecher mit meinem einstmals kalten Bier jetzt ganz naß vom Schwitzwasser ist und aufzuweichen droht. Ich kippe statt dessen den Rest kalten Kaffee hinunter; meine dritte Tasse heute morgen.
Wir drei lächeln einander verlegen an, und Dawson gratuliert mir noch mal zu meinem neuen Einsatzbereich. «Freut mich sehr, daß auch Sie an unserer großen Sache beteiligt sind», schmalzt er. Ich muß kurz überlegen, wo ich solchen Schwachsinn schon mal gelesen habe. «Bewährungshilfe – unsere große Sache». Das war doch dieser idiotische neue Aufkleber in den Büros ein paar Stockwerke tiefer. Dawson, eindeutig der geniale Erfinder, lächelt verbindlich und enteilt.
Emma Lang bleibt noch kurz in der Tür stehen. Sie verdreht die Augen in Richtung Dawson, streckt das Kinn vor und fragt: «Alles klar?» Dann wendet sie sich zum Gehen, steckt aber nochmals den Kopf durch die Tür.
«Ach ja, da war noch was», sagt sie. «Vorhin hat der Anwalt von diesem Richard Silver bei mir angerufen.»
«So? Was will er?»
«Er behauptet, Sie hätten seinen Mandanten schikaniert …»
Ich spüre, wie ich rot werde, als sie mich mit einem strengen Blick bedenkt.
«Machen Sie weiter so gute Arbeit», sagt sie noch.
Bobby «House» Kirk, wieder mal mit Crack zugedröhnt, trat in der Metro gerade Scheiben ein und terrorisierte die Fahrgäste.
«Schluß mit dem Scheiß», befahl Darryl King. «Muß mit euch reden.»
Die Birnen an der Decke flackerten, und ein alter Irrer mit völlig verfilzten Haaren, dem das Glied aus dem Hosenschlitz hing, tanzte durch den Waggon, während der kleine Puertoricaner neben der Tür sich hinter einer Zeitung verschanzte. Aus einem tragbaren Ghettoblaster dröhnte «Get Busy». Bobby «House» Kirk, ein siebzehnjähriger, riesenwüchsiger Psychopath, lehnte sich Darryl gegenüber an eine Haltestange. In das Kraushaar auf seinem Kopf war seitlich ein H hineinrasiert, und auf seinem Schlagring war über den Fingerknöcheln in goldenen Buchstaben sein Spitzname zu lesen. Der dritte, Aaron Williams, erst vierzehn, mit Hasenscharte und Brikettfrisur, schob jetzt den Kopf vor und erkundigte sich: «Wassen los?»
Darryl hielt sich fest und überlegte, was er sagen wollte. Abende wie den hier, wo die drei wie außer Kontrolle geratene Raketen in der Metro unter der Stadt hin- und herjagten, hatte es sicher schon Hunderte gegeben.
In den Augen der Fahrgäste stand nackte Angst. Eine Lady mit hochtoupiertem Haar klammerte sich an ihre Handtasche und wandte sich ab.
Ein Kinderspiel, ihr die Tasche wegzureißen. Aber seine Schwester hatte gesagt, so was dürfe er jetzt nicht mehr machen. Er solle gefälligst erst nachdenken. Seinen Verstand gebrauchen. Die Lage wissenschaftlich analysieren. Und «Dividende» sagen, statt «her mit der Kohle».