Der Klang der Organa - Klaus Schülein - E-Book

Der Klang der Organa E-Book

Klaus Schülein

0,0

Beschreibung

Immer mehr Musiker verschwinden spurlos. Nachdem ein mysteriöser Unbekannter mit den Vipera die Hauptstadt des Schwarzreiches überfällt. dringen sie auch bis zu dem Orden vor, in dem Og die Musik erlernt hatte. Als Gefangener der Vipera gelingt Og die Flucht, aber zurück in den Orden kann er nicht mehr. Bevor er zurückkehren kann, muss er sich nicht nur dem Unbekannten stellen. Er muss sich viel mehr sich selbst stellen...

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 588

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Buchbeschreibung:

Immer mehr Musiker verschwinden spurlos. Nachdem ein mysteriöser Unbekannter mit den Vipera die Hauptstadt des Schwarzreiches überfällt. dringen sie auch bis zu dem Orden vor, in dem Og die Musik erlernt hatte. Als Gefangener der Vipera gelingt Og die Flucht, aber zurück in den Orden kann er nicht mehr. Bevor er zurückkehren kann, muss er sich nicht nur dem Unbekannten stellen. Er muss sich viel mehr sich selbst stellen...

Über den Autor:

Klaus Schülein, geboren 1994 , studierte Theologie an der Ludwig-Maximilians-Universität in München und lebt derzeit in Übersee am Chiemsee. Seine Affinität zu Fantasy, Theologie und Musik bewogen ihn dazu, seinen ersten Roman zu schreiben.

Inhaltsverzeichnis

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Kapitel 38

Kapitel 39

Kapitel 40

Kapitel 41

Kapitel 42

Kapitel 43

Kapitel 44

Kapitel 45

Kapitel 46

Kapitel 47

Kapitel 48

Kapitel 1

Er starrte ihn an, der Mund verschlossen und der Blick ausdruckslos. Es war dieser Blick, den Og schon kannte, obwohl er immer noch nicht wusste, was er bedeutete. Er hätte fragen können, doch er würde keine Antwort bekommen. Nur diesen Blick. Gerne hätte Og etwas gesagt, um die unerträgliche Stille zu unterbrechen, aber wem würde er damit helfen? Sich selbst? Das Gesicht würde weiter ins Leere starren. Einen Moment spürte Og den Drang, das Gesicht zu berühren, rein, um zu sehen, ob sich eine Veränderung zeigen würde. Als er jedoch die Hand hob, fühlte er etwas Kaltes auf seinem Bein und schreckte zusammen. Er blickte an sich herab und sah den nassen Fleck auf seiner Kutte. Zuerst konnte er nicht zuordnen, wo der Fleck herkam, doch allmählich wurde ihm wieder bewusst, wo er sich befand. Die felsigen Wände, die vielen Betten. Er war im Krankensaal des Ordens und vor ihm lag einer seiner Mitbrüder im Krankenbett. Und der Fleck auf seiner Kutte kam von der Wasserschale, die Og nun wieder sicher auf seiner Hand balancierte. Og schüttelte den Kopf. Die Wasserschale hatte Og natürlich nicht einfach so in der Hand. Er war gerade dabei gewesen, seinen kranken Mitbruder zu waschen, als… er wusste eigentlich nicht genau, was passiert war. War er eingeschlafen? Genau konnte es Og im Nachhinein nicht mehr sagen, doch eines wusste er. Er musste sich zusammenreißen. Schließlich waren die Kranken auf seine Hilfe angewiesen und obwohl es sich nicht nach viel anfühlte, war es gerade das Einzige, was er für sie tun konnte. „Bruder Ogmios!“ Og zuckte erneut zusammen und ein weiterer Teil des Wassers schwappte über die Schale und hinterließ einen Fleck auf seiner Kutte. Og kannte die Stimme und der erste Gedanke war, dass er doch geschlafen hatte und nun die Quittung dafür bekam. „Ogmios!“ Langsam drehte er sich um und sah einen älteren Mann auf sich zukommen. Er war nicht groß und der spärliche Rest seines grauen Haares umrundete gerade so sein Haupt. Altersbedingt zogen sich schon etliche Falten über sein dennoch völlig glattrasiertes Gesicht, was ihm das Aussehen eines Adeligen verlieh, wenn da nicht die traditionelle Tracht des Ordens gewesen wäre. Als Prätor Blasius dann bei Og ankam, planten Ogs Beine bereits, ein paar Schritte zurückweichen, aber Og zwang sich, an Ort und Stelle stehenzubleiben. Blasius´ Augen zuckten kurz, während er Og von oben bis unten musterte. Als sein Blick auf die beiden Flecken fiel, hob sich eine seiner Augenbrauen. Og schluckte, wartete jedoch, bis Blasius ihn ansprach. „Ich nehme an das ist Wasser aus deiner Schale und nicht etwas anderes.“ Og spürte einen Schub an Wärme seinen Körper durchströmen und wünschte sich irgendwo anders hin. Das Schicksal meinte es aber nicht gut mit ihm, denn er stand weiter vor Blasius, der an Og vorbeisah. Mit seinem Finger deutete er auf den Kranken und fragte Og:

„Bist du hier fertig?“

Og schüttelte den Kopf, worauf Blasius die Stirn in Falten legte.

„Ich meine, ich bin noch nicht fertig, Prätor Blasius“, beeilte er sich, zu sagen. Blasius Miene veränderte sich sofort. Er lächelte.

„Da fehlt es dem Theoretiker ein wenig an Praxiserfahrung, wie mir scheint.“

Og kannte Prätor Blasius gut genug, um zu wissen, dass Blasius Menschen las, wie kein anderer und musste ebenfalls lächeln.

„Es ist tatsächlich etwas anders, praktisch zu arbeiten, aber ich freue mich, wenn ich helfen kann.“

Blasius hob seinen Arm und Og bemerkte verwundert, dass er ihm die Schale abnahm. Er legte sie auf den Nachttisch neben dem Krankenbett, nahm einen Lappen und begann, an Ogs Stelle den Kranken zu waschen.

„Wie du siehst, haben wir alle Hände voll zu tun, um die Kranken zu versorgen.“

Og spürte etwas in sich, das unbedingt hinauswollte und obwohl er es bereuen würde, sagte er:

„Dann will ich hierbleiben und helfen.“

Kurz dachte Og, er wäre zu weit gegangen, als Blasius innehielt, aber es folgte keine lautstarke Belehrung. Als hätte er alle Zeit, legte Blasius den Lappen auf den Nachttisch, erhob sich und drehte sich zu Og um. Der Blick, den Blasius Og nun zeigte, erinnerte ihn stark an Bruder Adam in seinen letzten Lebensjahren. Weise, aber dennoch vom Leben gezeichnet. Und es war genau dieser Blick, der Og das Gefühl gab, er habe viel gelernt und doch nichts. Blasius stellte sich neben Og und deutete durch den Krankensaal.

„Ich arbeite seit über fünfzig Jahren mit Kranken zusammen, habe Soldaten auf dem Schlachtfeld zusammengeflickt, Kinder zur Welt gebracht und Menschen auf dem Sterbebett begleitet. Dabei habe ich zwei wesentliche Dinge gelernt.“

Og stand wie gebannt neben Blasius und wagte nicht, sich zu bewegen, als Blasius ihn direkt ansah.

„Sei stets auf das Unvorhergesehene vorbereitet und gönne dir auch mal eine Pause. Hast du nicht heute deinen freien Abend?“

Og nickte. Eigentlich sollte er schon längst in der Stadt sein. Dennoch ließ ihn der Anblick der Kranken nicht los.

„Kann ich nicht doch noch etwas tun?“

Og wollte zu der Schale greifen, doch Blasius schob seinen Arm sanft, aber bestimmt weg.

„Ich bin sehr dankbar für deine Hilfe, aber die Arbeit mit Kranken erfordert höchste Aufmerksamkeit und ein Blick auf deine Kutte sagt mir, dass du definitiv nicht mehr dazu in der Lage bist. Außerdem haben die meisten hier nichts Ernsteres, als eine leichte Erkältung oder die Stummheit und werden die Nacht auch ohne deine Hilfe überleben. Geh zu Bett und komm morgen wieder.“

Og kannte diesen Tonfall, verneigte sich kurz und sagte dann:

„Ich werde da sein. Eine gute Nacht und möge der Älteste über uns wachen.“

Blasius war jedoch schon ganz mit dem Kranken beschäftigt und so verließ Og den Krankensaal.

Zu dieser Stunde war der große Gang menschenleer und so ging er geradewegs auf die Ordenspforten zu. Der Pförtner, Bruder Nepomuk, sah ihn auf sich zukommen und sagte: „Bruder Ogmios, einen freien Abend?“

Kurz sah er auf eine Liste, die vor ihm auf einem Stein lag.

„Ogmios, heute Abend bis morgen Abend. Wunderbar. Dann schönen Abend noch.“

Er öffnete die Pforten und Og schritt hindurch. Die Sonne war fast hinter dem Horizont verschwunden und so musste er sich beeilen, wenn er die Stadt noch vor Sonnenuntergang erreichen wollte. Das Ordensgebäude war in den Hang eines Vulkans gehauen worden, und von außen beinahe unsichtbar. Nur bei näherem Hinsehen erkannte man die großen Steinpforten. Manche fürchteten sich ein wenig wegen der Nähe zum Vulkan, Og jedoch mochte die Lage. Es war abgelegen und die Aussicht am Berg war atemberaubend. Der Abstieg jedoch für Ungeübte eher nicht. Og war schon öfter in der Stadt gewesen, seit er zum Quästor ernannt wurde. So setze er munter Schritt vor Schritt dem Fuße des Berges entgegen. Lächelnd sah er nach kurzer Zeit die ersten Sträucher, dann Bäume und schließlich sah er sich von dichtem Wald umgeben. Er hatte den Fuß des Berges erreicht und nun war es nur noch ein kleiner Marsch zum Stadttor. Die Sonne war schon untergegangen, als er schließlich das Stadttor erreichte. Zwei Männer in schwarzen Rüstungen standen am Tor und kamen auf ihn zu. „Identificatio vorzeigen!“ Der harsche Ton der Wachen gefiel Og nicht, doch er war vorbereitet. Aus seiner Tasche holte er ein pechschwarzes Pergament hervor und gab es einem der Wächter. Dieser sah es sich kurz an und meinte dann. „Ein Quästor, hm?“ Og nickte. Er wollte nicht viel mit den Wachen reden, denn ein falsches Wort hatte zumeist ungute Konsequenzen. „Na schön“, sagte der Wächter und gab ihm seine Identificatio zurück. Og bedankte sich förmlich und schritt auf das Tor zu, dass sogleich geöffnet wurde. In der Stadt herrschte immer noch reges Treiben. Manche munkelten, dass Obsidian nie schlief, und es sah zumindest jetzt ganz danach aus. Obwohl es langsam finster wurde, förderte vor allem die mit Fackeln beleuchtete Hauptstraße, dass auch nach Einbruch der Dunkelheit noch Viele auf den Straßen unterwegs waren. Og hielt sich auf der Hauptstraße und schritt an den Häusern vorbei. Immer wieder sah Og Licht in den Häusern, doch zum größten Teil waren sie schwarz. Und damit war nicht unbedingt die Dunkelheit in den Häusern gemeint. Die ganze Stadt, die Hauptstadt des Schwarzreiches, war durch und durch schwarz. Die Häuser, die Straßen und selbst die Stadtmauer waren in tiefes Schwarz gehüllt. Og hatte sich schon oft gefragt, aus welchem Material die Stadt gebaut war, denn normal schien das aus seiner Sicht nicht. Viele vermuteten, dass der schwarze Stein direkt vom Gipfel des Vulkanes kam, aber das erklärte nicht, warum die Häuser aus Holz ebenfalls schwarz waren. Die meisten fürchteten die dunkle Atmosphäre, in die die Stadt ihre Bewohner hüllte, doch Og fand das Schwarz angenehm. So ging er auch jetzt vergnügt durch die Gassen, bis er an einem Haus zum Stehen kam.

Er klopfte. Keine Antwort. Er klopfte noch einmal. Wieder keine Antwort. Vielleicht war sie nicht da. Er drückte den Türgriff und es klickte. Vorsichtig trat er ein. Es sah ihr gar nicht ähnlich, die Tür nicht abzusperren. Innen erblickte Og schemenhaft den langen Gang und die zwei Türen, die rechts und links zu den Schlafzimmern führten. Er trat an das linke Zimmer und schob langsam die Tür auf. Im Inneren war im flackernden Schein der Fackeln von draußen nicht viel auszumachen, doch es war definitiv keiner im Bett. So drehte sich Og um und erschrak. Vor ihm stand eine Gestalt. Bevor er irgendetwas tun konnte, packte ihn die Gestalt und warf ihn buchstäblich aus dem Zimmer. Og krachte zu Boden. Er versuchte fieberhaft, sich wieder aufzurappeln, jedoch war die Gestalt bereits da. Erneut packte sie Og, doch dieses Mal war er vorbereitet. Mit aller Kraft schlug er auf den Arm, der sich um seine Kehle geschlossen hatte. Ein Schrei ertönte und er spürte, wie der Griff sich lockerte. Sofort rannte Og den Gang entlang, der in einem großen Raum endete. Es war eine Küche und zugleich Wohnraum und Og brauchte nicht lange, um zu finden, wonach er suchte. Mit dem Messer bewaffnet, mit dem er normalerweise verschiedene Kochzutaten schnitt, drehte er sich zu der Gestalt um, die im Schatten vor ihm stand. Nur schemenhaft erkannte Og, dass sich die Gestalt langsam nach rechts bewegte. Er folgte ihr mit seinen Augen, achtete auf die leiseste Bewegung und dann, er konnte gar nicht so schnell reagieren, flog ihm ein Topf entgegen. Og hob instinktiv die Hände vor das Gesicht, es war aber schon zu spät. Ein tiefer Gong ertönte, als der Topf Og am Kopf traf. Er bemerkte einen pochenden Schmerz an der Stelle, wo ihn der Topf getroffen hatte. Seine Augen begannen zu tränen. Dennoch versuchte er, das Messer erhoben, den Eindringling zu beobachten. Einen Moment später traf ihn ein Schlag auf den Arm und er ließ das Messer fallen. Kurz darauf griff ihn jemand an den Hals und hob ihn mit einer Kraft gegen die Wand, die er nicht für möglich gehalten hätte. Das musste ein sehr kräftiger Mann sein, der ihn gerade gegen die Wand drückte oder… „War das etwa alles?“ Og schnappte nach Luft. Er kannte die Stimme. Mit einem Mal verschwand all seine Angst und seine Glieder erschlafften.

„Amatah“, sagte er beinahe genervt. Der Griff lockerte sich ein wenig und die Stimme sagte:

„Ist das deine Verteidigung? Wenn das ein echter Eindringling gewesen wäre, wärst du jetzt tot!“

Og verdrehte die Augen.

„Du weißt doch, dass wir nicht sterben können.“

„Sterben, Bannen, verschleppt werden. Ist doch alles dasselbe“, fuhr ihm Amata dazwischen.

„Ich hab dir schon oft gesagt, dass du dich im Kampf üben sollst. Gibt es in deinem Orden nicht auch eine Kampfausbildung?“

Og kannte diese Diskussion nur zu gut und jedes Mal sagte er, dass er keine Gewaltanwendung, wie er gerne den Kampfunterricht nannte, lernen wolle. Und er wusste auch, dass Amata teilweise Recht hatte. Doch er hatte auch immer ein Ass im Ärmel.

„Du weißt aber schon, dass die Musik auch für dich einen Nutzen haben wird. Aber wir hatten die Diskussion schon so oft, können wir den Teil bitte überspringen?“

Auf ihren Arm deutend fügte Og hinzu.

„Und kannst du mich bitte runterlassen?“ „Na schön.“

Sie ließ los und Og rutschte die Wand herunter. Ein Schnippen ertönte und sofort wurde der Raum von einem großen Feuer erhellt, das aus dem Kamin an der Wand kam. Vor Og stand eine Frau, die auf den ersten Blick aussah, wie Anfang zwanzig. Ihr kastanienfarbenes Haar fiel ihr in langen Strähnen über die Schultern und für die meisten würde sie als eine normale junge Frau durchgehen. Und Og hätte es ihr ebenfalls abgekauft, wenn sie nicht seine Mutter gewesen wäre. Und das bedeutete nicht nur, dass sie um einiges älter war, als sie aussah. Den Kamin durch schnippen anmachen oder Og, der ein Gutes schwerer war als sie, mit einer Hand hochzuheben, war nur ein wager Hinweis auf ihre dunkle Seite. Og mochte sie aber so, wie sie war, auch wenn er nun eine Beule am Kopf hatte. Er rieb sich den Kopf und sah sie an. Trotzig stand sie vor ihm und wartete auf eine Erklärung. Og spürte, wie sich seine Mundwinkel nach oben zogen und sagte nur: „Ich freu mich auch, dich zu sehen.“ Sie umarmten sich. Dann hob Og den Topf auf und schritt zum Kamin. An einem Seil waren dort allerlei Köstlichkeiten aufgehängt. Von Speck, Kartoffeln, Karotten, Gewürzen und Zwiebeln war alles dabei, was Og zu einem üppigen Abendessen verwandeln konnte. Sie aßen immer zusammen, wenn Og kam und es war schon Tradition geworden, dass Og kochte. Amatah verstand nicht viel vom Kochen. Eigentlich aß sie wenig und wenn, dann nur zum Vergnügen und weniger, weil sie Hunger hatte. Obwohl sie seine Mutter war, hatte Og nie den wahren Namen von Amatah erfahren. Es war ihr verboten, hatte sie ihm schon als Kind gesagt und so hatte Og sich schnell angewöhnt, sie Amatah zu nennen, was nichts anderes als Mutter in der alten Sprache hieß. Und mittlerweile dachte Og nicht mehr daran, sie nach ihrem Namen zu fragen.

„Ich hätte dich eigentlich früher erwartet“, sagte Amatah, während Og die Zwiebeln schnitt.

„Hast du den Abend wieder im Krankensaal verbracht?“

Og wusste, worauf sie hinauswollte.

„Ich helfe den Kranken dort gerne, obwohl ich Quästor bin. Außerdem haben wir immer noch keine Schüler.“ „Das hab ich mir fast gedacht, dass du wieder… was?“

Amatahs Gesicht tauchte in Ogs Blickfeld auf.

„Es gibt immer noch keine?“

Amatah sah so aus, wie Og sich fühlte. Eine Weile sah sie Og nachdenklich an und Og nutzte die Gelegenheit.

„Bist du dir sicher, dass…“

Aber Amatah unterbrach ihn.

„Das hatten wir schon, Og. Wenn es so wäre, dann hätte ich es dir bereits gesagt.“

Og wusste, dass Amatah ihn nicht mehr erzählen würde, auch wenn er sie danach fragte.

„Gibt es schon Bestrebungen, die Musik weiter zu führen“, fragte Amatah nach einer Weile und wandte sich von Og ab. Og zuckte mit den Schultern, während er immer mehr verschiedene Zutaten in den Topf warf.

„Ich werde morgen mit Prätor Nikodemus sprechen, aber viel Hoffnung mache ich mir nicht.“

Gekonnt zerhackte er auf einem Brett einen großen Teil des Specks, der ebenfalls in den Topf wanderte. Dann drehte er sich um.

„Als einziger Sänger, der noch übrig ist, werde ich meine Mühe haben, ihn zu überzeugen.“

Amatah sah ihn mitleidig an.

„Ich wünschte, ich könnte etwas tun.“

„Ich weiß“, sagte Og und stellte den Topf auf den Küchentisch. Sie begannen zu essen und eine Zeit lang sagte keiner etwas. Og wollte die Stimmung auflockern und überlegte fieberhaft, wie es ihm gelingen konnte, als Amatah ihren Löffel weglegte. Erst dachte Og, sie würde ihrerseits versuchen, die Stimmung zu heben, aber dann sah er ihren Gesichtsausdruck.

„Spürst du das?“

Og sah erstaunt zu seiner Mutter. So eine Miene bedeutete meist nichts Gutes.

„Was ist es?“

Amatah sah Og direkt in die Augen.

„Er ist wieder hier“, sagte sie und eine Spur von Grauen sprach aus ihr heraus. Og wusste sofort, wovon sie sprach. Er sah sie an und merkte erst jetzt, dass ihm der Mund offenstand.

„Bist du dir sicher?“

Er brauchte die Frage jedoch nicht zu stellen. Sie war sich sicher. Dennoch antwortete sie.

„Ich spüre ihn und außerdem habe ich es gehört. Glaube mir, er ist da und er sucht etwas.“

Og legte sofort das Messer beiseite.

„Dann müssen wir auf der Stelle gehen. Wenn er uns hier findet, dann…“

Amatah schritt auf Og zu und legte ihm liebevoll die Hand auf die Brust. Dort, von der Kutte verdeckt, hing ein Medaillon. Og hatte es schon, seit er ein Baby war.

„Dich findet er nicht, Og, dich nicht. Aber ich muss gehen. Wenn er in der Stadt auftaucht, wird er meine Anwesenheit spüren.“

Og stellten sich die Haare zu Berge. Das letzte Mal, als Amatah sagte, dass er da war, verschwand sie für fast ein Jahr. Og konnte sich noch gut daran erinnern, als er heimkam und nichts außer einen Abschiedsbrief vorfand, in dem ihm Amatah erklärte, dass sie für unbestimmte Zeit weggehen musste. Das war vor über sieben Jahren und noch immer graute Og vor dem Unbekannten, der sogar seiner Mutter Angst und Schrecken bereitete. Nun war er bereits siebzehn und kein Kind mehr.

„Lass mich mit dir gehen“, sagte er fast fordernd und sah Amatah durchdringend an. Er sah ihren leidenden Blick.

„Das geht nicht. Dort, wo ich hingehe kannst du mir nicht folgen.“

„Warum nicht?“

Og wusste, dass die Frage belanglos war. Er fühlte sich wieder in seine Kindheit zurückversetzt. Amatah würde ihn nicht sagen, wo sie hinging und ebenfalls nicht, warum er nicht mitkommen konnte. So legte er seinen Arm auf den Ihren, der immer noch das Medaillon umschloss.

„Noch ist es nicht soweit“, sagte Amatah und lies los.

„Und solange lass uns die Zeit genießen. Du hast extra gekocht.“

Og nickte. Es nutzte nichts, sich jetzt schon Gedanken zu machen. Vielleicht verschwand er ja auch wieder, ohne die Stadt jemals aufgesucht zu haben. Dennoch herrschte getrübte Stimmung beim restlichen Essen und sie redeten nicht mehr viel, bis Og zu Bett ging. Warum über Dinge nachdenken, die in weiter Ferne lagen, dachte er sich und schlief ein.

Am nächsten Morgen weckte Og ein Klopfen. „Ja?“ Die Tür öffnete sich und Amatah ging herein. „Du musst dich schon ein wenig beeilen, wenn du einen guten Platz haben willst. Die ersten werden schon auf dem Marktplatz sein.“ Og rieb sich die Augen. Er hätte am liebsten durchgeschlafen, doch dann hätte er sich hinterher nur doch wieder darüber aufgeregt. So rieb er sich die Augen und setzte sich auf. Es hatte auch seine Vorteile, wenn man eine Mutter hatte, die gar nicht schlief. „Badewasser ist schon aufgesetzt“, sagte Amatah und schritt wieder aus dem Zimmer. Kurz dachte Og wie so oft darüber nach, was Amatah die ganze Nacht machte, wenn sie nicht schlief, doch eigentlich war es nicht wichtig. Langsam erhob er sich und schlurfte ins Wohnzimmer, wo schon der dampfende Holzzuber auf ihn wartete. An der Decke war um den Zuber eine Stange befestigt, an der ein Vorhang hing. Es war eine Idee von Og, damit man sich baden konnte, obwohl der andere im selben Raum stand. Da sie kein eigenes Badezimmer hatten, war es eine, wie er fand, großartige Idee. So ging Og zum Zuber, zog den Vorhang zu und steckte den Finger ins Wasser. Genau richtig. So zog er sich aus, legte seine Kleidung auf einen Hocker und stieg in das dampfende Wasser. Eine wohlige Wärme durchströmte seinen Körper, als er sich schließlich ganz hineinsetzte. Der Zuber war genauso groß, dass er beinahe die Beine ausstrecken konnte. Eine Zeit lang saß er einfach im angenehmen Nass und fühlte, wie das warme Wasser seinen Körper erwärmte. Im Hintergrund hörte er Amatah, die zweifelsohne das Frühstück zubereitete. Nach einiger Zeit, als seine Finger bereits aufquollen, langte er nach einem Stück Seife und begann, sich zu waschen. „Willst du Brot zum Frühstück?“, erklang die Stimme seiner Mutter von hinter dem Vorhang. Viel redeten sie meistens nicht, wenn Og ein Bad nahm, nur das nötigste. So hielt Og auch seine Antwort knapp. „Ja, nehme ich.“ Dann tauchte Og den Kopf ins Wasser und hörte eine Zeit lang gar nichts mehr. Eine große Menge Haare waschen musste er nicht mit seinem Kurzhaarschnitt, der im Orden Pflicht war. So tauchte er nach einem Moment wieder auf, rieb sich das Wasser aus dem Gesicht und stand auf. Dann sah er sich nach seiner Kleidung um. Für das Ereignis am Marktplatz hatte Og extra bürgerliche Kleidung gekauft, die er nun statt seiner Kutte anzog, nachdem er sich ausgiebig abgetrocknet hatte. Dann zog er den Vorhang zurück. Amatah saß schon am Esstisch und erwartete ihn bereits. Am Tisch lagen Brot, Speck vom Schwein und ein paar Tomaten. Og setzte sich dazu und sie begannen zu essen. Zumindest Og tat es mit Vergnügen. Amatah biss ein, zweimal an einem Brotstück ab, legte es dann jedoch beiseite. Sie sah ihn an. Und Og sah erstaunt zurück. Er schluckte seinen Bissen herunter und sagte: „Du denkst wieder an ihn, oder?“ Og hätte sich früher nie getraut, so etwas zu fragen, doch mittlerweile wurde er langsam zu einem Erwachsenen und so hatte seine Mutter mit ihm in letzter Zeit immer mehr über die anderen Dinge, wie sie sie nannte, geredet. Jetzt nickte sie nur und sah nachdenklich auf das Stück Brot in ihrer Hand.

„Ich habe die ganze Nacht darüber nachgedacht, was du gesagt hast. Das du mitkommen willst, wo ich hingehe. Doch du kannst mir noch nicht folgen, noch nicht.“

Sie deutete auf sein Medaillon.

„Hast du das Medaillon jemals abgenommen?“

Og vergaß völlig, zu essen. Noch nie hatte sie ihn das gefragt.

„Du hast gesagt es schützt mich vor ihm und hält meine andere Seite fern.“

Amatah nickte.

„Das stimmt auch. Hast du dich nie gefragt, warum du es nicht absetzen darfst? Es macht dich menschlicher, weniger, wie ich es bin. Damit fällst du im Orden nicht auf. Ich will dir nur so viel sagen.“

Ihre Stimme nahm einen ernsten Ton an, den Og von ihr sehr selten hörte. Meist nur, wenn Og etwas Schlimmes angestellt hatte.

„Wenn er kommt und dir sollte irgendetwas passieren wirst du es früher oder später abnehmen wollen. Doch sei gewarnt. Einmal abgenommen, gibt es kein Zurück mehr. Selbst ich weiß nicht, was das Medaillon zurückgehalten hat. Vielleicht ist es eine Gabe, die dir gute Dienste erweisen wird. Möglicherweise tötet es dich aber auch.“

Og sah fassungslos auf seine Mutter. So hatte sie noch nie mit ihm gesprochen.

„Was willst du mir damit sagen“, fragte Og und stand langsam auf.

„Da steckt noch mehr dahinter.“

Amatah sah ihn an. Ihr Gesicht war ausdruckslos, doch Og kannte sie schon sehr lange. Es war Angst.

„Er kommt hierher. Ich weiß nicht wann, aber er wird kommen.“

Amatah starrte Og an. In ihrem Gesicht war keine Träne zu sehen, allerdings hätte sie geweint, wenn sie dazu in der Lage gewesen wäre. Og fielen keine passenden Worte ein und so umarmte er sie einfach. Og erinnerte sich noch an das letzte Mal, als seine Mutter ihn verlassen hatte müssen, doch es kam ihm dieses Mal unendlich viel schlimmer vor.

„Ich kann auch hierbleiben und mit dir mitkommen“, sagte er zögernd. Amatah löste sich von ihm.

„Das geht nicht“, erklärte sie nur und einen Moment später war sie verschwunden.

Kapitel 2

Og starrte auf die Stelle, an der vor einem Moment noch seine Mutter stand. Dann ging er aus dem Haus. Draußen sah Og schon die ersten Menschen, die in Richtung des Marktplatzes strömten. Tatsächlich würde sich bis Mittag die halbe Stadt zum Prozess am Marktplatz versammeln. So beeilte er sich und dachte unterwegs an die Worte seiner Mutter. Wer auch immer es war, er würde schon bald in die Stadt kommen und Og sah es als seine Pflicht an, wenigstens den Konsul zu informieren. Doch dafür würde am Abend noch Zeit sein. Der Marktplatz war der größte freie Platz der Stadt und zu üblicher Stunde war er gefüllt von Ständen verschiedenster Händler aus ganzer Welt. Nun jedoch sah man nichts weiter, als eine weitläufige Tribüne und die Schar Menschen, die sich davor versammelten. Og sah sich um. Bonifatius musste ebenfalls jeden Moment hier eintreffen. Er schaute auf die große Uhr des Palastes, die eine Stunde vor Mittag anzeigte. Schon jetzt war der halbe Platz von Menschen gefüllt, alle in freudiger Erwartung auf den Prozess. Og ging zielstrebig auf eine Mauerung zu, die den Platz zur Rechten abgrenzte. Von dort aus hatte man durch die erhöhte Position einen hervorragenden Blick auf das Geschehen auf der Tribüne. „Herr Quästor.“ Og sah sich um. Ein Mann stand plötzlich neben ihm. Er war einen guten Kopf größer als Og und manche würden sagen, er sei durchaus trainiert. Tatsächlich machte er jeden Schmiedemeister alle Ehre. Es war Bonifatius, aber es war schon fast ein Ritual, dass sie sich jedes Mal, wenn sie bürgerliche Kleidung anhatten, förmlich begrüßten, als hätten sie sich soeben kennengelernt.

„Herr Ädil“, sagte Og und nahm seine Hand.

„Du hast es also gehört?“, fragte Bonifatius und die beiden klopften sich unter einem Händedruck auf die Schulter.

„Ich habe es gelesen“, antwortete Og und beide mussten sich das Lachen verkneifen. Zur Feier seines neuen Amtes vor einer guten Woche hatte er Og eine zwei Meter große Steintafel vor die Tür gestellt, auf der in gigantischer Schrift zu lesen war: ‚Ich habs bis zur nächsten Stufe ausgehalten!‘ Og brauchte nicht nachzuforschen, von wem die Nachricht kam. Er war aber doch überrascht, als er die Haustür aufmachte und vor einem Steinblock stand, der die Tür überragte und den er erst in mühevoller Arbeit wegschieben musste, um aus dem Haus gehen zu können. „Hat der Stein einen würdevollen Platz gefunden?“, fragte Bonifatius, aber Og hob die Hand und hielt ihn an zu schweigen. Auf das Podest, das selbst von weit hinten in der Reihe, in der Og und Bonifatius standen, mühelos zu sehen war, kam ein schwarzgekleideter Mann und die Menge verstummte. „Wie jeden Monat werden auch heute die Ausreißer vor Gericht gestellt.“ Der Schwarzgekleidete positionierte sich in der Mitte des Podestes und rollte ein Pergament auf. Og jedoch sah an ihm vorbei in den hinteren Bereich der Tribüne. Dort standen, in Ketten gelegt, nicht wenige Männer und Frauen.

Auch Bonifatius schien sich eher für die Personen hinten zu interessieren. „Siehst du den da links. Ich hab gehört, dass er letzte Woche ein Dutzend Fischer und deren Familien umgebracht hat.“, sagte er und deutete auf das Podest. Og sah in die Richtung auf einen grimmig dreinblickenden Mann, der zähnefletschend in die Menge blickte. Auf die Entfernung war es zwar schwer, zu erkennen, aber wenn man es wusste, konnte man es sehen. Schillernde Schuppen bedeckten kaum sichtbar seine Haut und das war noch nicht alles. Die Augen des Mannes schienen etwas größer, als bei einem normalen Menschen und das Weiße in seinen Augen war in helles Gelb getaucht. Am Hals erkannte man kaum merklich etwas, das wie Striemen aussah, jedoch durch eine Art durchsichtigen Sack verdeckt wurde, der sich immer wieder zusammenzog und ausdehnte. Trotzdem oder gerade deswegen sah er nach einem Verbrecher aus. Daneben stand dagegen eine zierliche Frau, die hektisch nach links und rechts schaute.

„Die Frau daneben schaut eher nicht wie eine Verbrecherin aus.“

Bonifatius nickte und sagte:

„Wer weiß, was sie getan hat. Und selbst, wenn sie einfach nur die Sperrzone übertreten hätte, ist es vorbei. Aber fang bitte nicht wieder damit an.“

Og wollte etwas erwidern, aber er hielt sich zurück. Er hatte sich schon oft gefragt, ob dort wirklich nur Verbrecher standen. Doch diesen Gedanken laut auszusprechen, würde leicht dazu führen, dass er ebenfalls ebendort oben stand. Ein kalter Schauder lief ihm den Rücken herunter und er fasste sich instinktiv an den Hals. Er fühlte sein Medaillon und gleichzeitig entspannte er sich wieder. Og hörte weiter zu, wie der Mann in Schwarz die einzelnen Straftaten der Gefangenen vorlas. Dann wurde das Mädchen aufgerufen und tatsächlich. „Unbefugtes Betreten der Sperrzone.“ Og zuckte und Bonifatius legte den Arm auf seine Schulter. „Du weißt es geht nicht. Du kannst dich nicht gegen das Gesetz stellen.“ Og wusste das, wahrscheinlich besser, als Bonifatius, gleichwohl wollte er etwas tun. Zumeist standen hier auf dem Podest Verbrecher. Kriminelle, die das Gesetz gebrochen hatten, und Og sah ein, dass hier ein Richterspruch recht war. Doch das Mädchen war vielleicht zehn. „Du weißt, dass ich eigentlich da oben stehen müsste“, sagte Og so leise, dass nur Bonifatius ihn hören konnte. Bonifatius erwiderte nichts, Og sah ihm allerdings an, dass er verstanden hatte. Das Mädchen begann zu jammern.

„Ein kleines Kind ist da reingelaufen. Ich wollte es nur holen. Ich verspreche, dass ich nicht mehr reingehen werde. Ich verspreche es.“

Der Schwarzgekleidete beachtete sie nicht.

„Da es keinen menschlichen Bürgen gibt, lautet der Richterschluss…“

Doch Og wurde es zu viel.

„Halt!“, rief er und der Schwarzgekleidete unterbrach seinen monotonen Vortrag. Bonifatius verstärkte den Griff auf Ogs Schultern, aber es war zu spät. Die Menge hatte sich schon zu Og umgedreht und nun starrten alle ihn an. Keiner sprach, selbst das Mädchen hatte zu jammern aufgehört und sah ebenfalls tränenüberströmt zu Og hinunter. Og lief ein wenig rot an. Irgendwie wunderte er sich über sich selbst. Aber zurücknehmen konnte er es nicht mehr und so räusperte er sich. „Ich bürge für das Mädchen.“ Og bewegte sich ein paar Schritte nach vorne und die Menge teilte sich. Bonifatius hatte ihn losgelassen und so trat er alleine auf das Podest zu. Der schwarzgekleidete Mann wartete, bis Og auf das Podest hinaufgestiegen war und obwohl Ogs Herz ihm bis zum Halse schlug, versuchte er ruhig zu bleiben. „Du bürgst für das Mädchen? Du bist ein Kind.“ Og strömte die Röte ins Gesicht. Natürlich war er noch kein Erwachsener, doch mit seinen siebzehn würde er sich nicht mehr als Kind bezeichnen. Aber er sah auf das Mädchen, dass ihn erwartungsvoll anstarrte und das bewegte ihn, laut loszusprechen.

„Herr Herold. Mit Verlaub, aber mir wäre nicht bekannt, dass das Gesetz zur Bürgschaft ein Mindestalter vorschreibt.“

Sein Puls beschleunigte sich noch weiter, denn obwohl Og fühlte, dass der Satz Selbstbewusstsein ausstrahlte, war es trotzdem ein Herold, mit dem er sprach. Doch zu seiner Verwunderung sagte der Herold.

„Da hast du durchaus Recht, mein Kind. Doch warum willst du dich für so eine verbürgen? Meinst du, sie würde das für dich machen? Wenn sie verurteilt wird, kräht kein Hahn mehr nach ihr.“

Og unterdrückte die Wut, die ihm kurz durchzuckte. Aber er durfte keinen Verdacht erregen. Darum atmete er tief durch und sagte:

„Mir ist ebenfalls nicht bewusst, dass man seine Entscheidung zur Bürgschaft begründen müsste. Ich werde für das Mädchen bürgen.“

Der Herold sah Og direkt an.

„Aber du weißt schon, was geschieht, wenn sie das Gesetz noch einmal bricht.“

Og schluckte kurz. Natürlich war es ihm bewusst.

„Dann werde ich zusammen mit ihr verurteilt“, sagte er und er sah wieder das Mädchen an, das nun auf den Boden starrte.

„Ich bürge für das Mädchen, also befreit sie.“

Der Herold sah wieder auf.

„So ist es entschieden. Er bürgt für das Mädchen und so sei sie Kraft des Gesetzes frei.“

Die Ketten des Mädchens wurden gelöst und langsam näherte sich das Mädchen Og. Es weinte nicht mehr und sah Og mit großen Augen an. Er nahm es an der Hand und zusammen gingen sie vom Podest und durch die Menge, die sie alle samt anstarrten. Og kam sich vor, als hätte er ein Schild auf dem Kopf. Er bemühte sich, nicht auf die ganzen Gesichter zu schauen, die ihn vorwurfsvoll ansahen. Nach einer gefühlten Ewigkeit hatte er mit dem Mädchen das Ende der Menge erreicht, wo Bonifatius schon auf ihn wartete. Sein Blick sagte mehr als tausend Worte. „Bist du jetzt völlig wahnsinnig geworden?“, flüsterte er ihm zu, während sie sich vom Marktplatz entfernten. Og spürte weiterhin die Blicke der Menge im Nacken und fühlte sich erst besser, als sie um eine Biegung gegangen waren. Das Mädchen schwieg immer noch. Bonifatius dagegen hatte sich scheinbar soeben erst warmgeredet.

„Du kennst sie doch nicht einmal. Wie kannst du dir so sicher sein, dass sie nicht wieder durch die Sperrzone geht? Sie ist doch erst zehn Jahre alt. Du hast zwar schon immer gesagt, dass du einmal Einspruch erheben würdest, aber so? Ich meine wie willst du prüfen, dass sie es nicht mehr macht. Willst du sie vielleicht einsperren?“

Bonifatius machte eine kurze Pause und Og sah das Mädchen an, dass erneut Tränen in den Augen hatte. Dann, Bonifatius wollte von Neuem loslegen, sagte Og laut und deutlich:

„Es ist genug.“

Bonifatius verstummte sofort.

„Ich werde das Mädchen nach Hause bringen und dann können wir in Ruhe reden.“

Bonifatius, der nun ebenfalls das Mädchen sah, nickte verständnisvoll.

„Im verkohlten Tor?“

Og nickte. Bonifatius verschwand in der Dunkelheit. Og jedoch wandte sich zu dem Mädchen. „Ich wollte das nicht. Ihr habt jetzt bestimmt Schwierigkeiten wegen mir“, sagte das Mädchen schluchzend und Og legte den Arm auf ihre Schulter. Er sah sich das Mädchen noch einmal genauer an und erkannte erst jetzt, wen er vor sich hatte. Von weitem sah sie aus, wie ein normales Mädchen, doch bei eingehender Betrachtung erkannte Og, dass sie kein Mensch war. Sie hatte drei Streifen an beiden Seiten des Halses und in ihrem Gesicht waren ein paar Punkte zu sehen. Man konnte meinen, dass sie Sommersprossen hatte, aber Og wusste es besser. Auch die Augen waren anders, nämlich ein wenig größer und die Pupille war ein horizontaler Schlitz.

„Du bist eine Amphibia, oder?“, fragte Og ohne Zögern. Das Mädchen sah ihn verwundert an.

„Woher wisst ihr das?“

Doch bevor er antwortete, nahm Og das Mädchen erneut an der Hand und schlenderte mit ihr die Straße entlang.

„Ich habe viel über euch gelesen, mehr als die meisten von uns Menschen. Ich weiß zwar nicht alles über euch, doch zum Erkennen reicht es alle mal.“

Er lächelte und das Mädchen sah nicht mehr ganz so traurig aus. Eine Zeit lang spazierten sie durch die Straßen und Og hoffte, dass er keiner Wache unterkam. Zwar tat er nichts Illegales, jedoch das erst einmal zu erklären, würde ihn viel Zeit und Geduld kosten. Als er zu seinem Haus kam, drehte er sich zu dem Mädchen um. „Wo wohnst du eigentlich?“, fragte er und suchte in seiner Tasche nach dem Schlüssel. Das Mädchen sah bedrückt zu Boden und Og verstand. Sie hatte kein Zuhause. Vermutlich waren ihre Eltern tot und sonst war von ihrer Familie nicht mehr viel übriggeblieben. Den meisten in der Sperrzone ging es so und so wollte er dem Mädchen eine genauere Antwort ersparen. „Ich verstehe“, sagte er und öffnete die Tür. Og ging mit dem Mädchen hinein. Im Wohnzimmer angelangt meinte er:

„Hier ist etwas zu essen. Den Speck solltest du aber liegenlassen, denn er stammt vom Schwein und das willst du bestimmt nicht essen. Ich geh noch einmal. Du kannst das linke Zimmer nehmen und erst einmal ein wenig schlafen. Ich werde später wiederkommen.“

Das Mädchen nickte zögernd. Dann nahm sie sich ein Stück Brot und setzte sich an den Tisch. Og winkte zum Abschied und ging wieder aus dem Haus.

Ein wenig später hatte er die Taverne ‚zum verkohlten Tor‘ erreicht. Es war eine eher kleine Taverne am Stadtrand nahe dem Nordtor. Für Leute, wie Og, die in den normalen Tavernen nicht so gerne gesehen waren, schien sie jedoch ideal. Drinnen brauchte er nicht lange suchen, um Bonifatius zu finden. Er schritt durch die Taverne und winkte im Vorbeigehen dem Wirt zu. Bernhard Braumann, den alle Bernd nannten, war ein kleiner Mann, der seine geringe Größe durch seinen üppigen Bauch und seinen buschigen Schnauzbart wieder wettmachte. Er lächelte Og an, als dieser sich zu Bonifatius an den Tisch setzte. Bonifatius´ vorwurfsvoller Blick sprach tausend Worte. Og hielt ihm stand, bestellte sich etwas zu trinken und erst, als er sein Getränk in der Hand hielt, sprach Bonifatius aus, was er sich scheinbar zurechtgelegt hatte.

„Bitte erklär mir doch mal in Ruhe, wie du vorhin gesagt hast, was in dich gefahren ist, dass du für eine vielleicht zehnjährige eine Bürgschaft übernimmst.“

Og fühlte sich mit einem Mal ziemlich dumm. Kein Hahn hätte danach gekräht, wenn Og nichts gemacht hätte. Gerade war ihm das nicht wichtig, denn es gab Wichtigeres zu besprechen. Ohne zu überlegen, wie er es am besten erklären konnte, sagte es Og frei heraus.

„Er kommt in die Stadt. Bonifatius, er kommt.“

Doch Bonifatius hatte ihn schon verstanden. Plötzlich schien das Thema über den Prozess wie weggeblasen.

„Bist du dir sicher?“

Bonifatius, der Einzige, den Og über seine Mutter und das Andere jemals etwas erzählt hatte, wusste nach Og als Einziger, welche Tragweite das hatte, was Og gerade gesagt hatte.

„Aber dann…, wann…“

Bonifatius wusste nicht einmal halb so viel über das Andere, wie Og selbst, doch mit dem Wesentlichen war er vertraut.

„Meine Mutter hat es mir erzählt und dann ist sie verschwunden.“

Og trank einen großen Schluck und spürte, wie sich sein ganzer Körper zusammenzog. Er mochte das Getränk, vor allem dann, wenn es den Anlass unterstützte.

„Leider wusste sie nicht, wann er kommt, doch sie war sich sicher, dass er in die Stadt kommen wird und wie ich sie kenne, kommt er nicht erst in einem Monat.“

Bonifatius trank ebenfalls einen großen Schluck.

„Wir müssen den…“ „…Konsul benachrichtigen“, beendete Og den Satz. Bonifatius schüttelte den Kopf.

„Den Konsul? Die ganze Stadt, vermutlich das ganze Reich. Wenn nur die Hälfte von dem Stimmt, was du über ihn gesagt hast, dann nützen ein paar Stadtwachen nichts.“

Og fürchtete ebenfalls, dass mehr vonnöten sein würde. Er wusste aber selbst nicht viel über ihn. Amatah redete nie genauer darüber, doch die Angst, die heute Morgen in ihrem Gesicht zu sehen war, sprach Bände.

„Was sitzen wir dann noch hier? Gehen wir!“

Og spürte Adrenalin in seinen Körper hochkommen. Der Wunsch, etwas zu tun, breitete sich wie ein Feuer in ihm aus und dass Bonifatius ihm so bereitwillig half, war wie ein Brandbeschleuniger. Sie standen auf, Og warf ein paar Münzen auf den Tisch und gemeinsam verließen sie die Taverne. Unterwegs zum Orden schmiedeten sie Pläne, wie sie sich gegen den Unbekannten wehren konnten. Sie würden sich aufteilen, um die Nachricht schneller zu verbreiten. Kurz darauf erreichten sie die Ordenspforten. Bruder Nepomuk sah sie an und sagte nur: „Bitte zieht euch eine Kutte an.“ Dann öffnete er das Tor. Während Og zu Nikodemus rannte, lief Bonifatius zum Konsul. Als Ädil hatte er vermutlich größere Chancen, zum Konsul durchzudringen. Og durchquerte fieberhaft den großen Gang und hielt vor dem Zimmer des Prätors. Er klopfte und wischte sich den Schweiß aus dem Gesicht. „Ja“, erklang es aus dem Zimmer. Og hastete hinein und überschlug sich fast bei seinem Bericht über den unbekannten Eindringling. Nikodemus hörte ihm aufmerksam zu. Dann sagte er völlig ruhig:

„Ich fürchte ich habe dich nicht richtig verstanden. Wer wird in die Stadt kommen?“

Og keuchte und musste einen Hustenanfall unterdrücken. Der hastige Aufstieg hatte seinen Mund trocken werden lassen und so tat er sich schwer mit dem sprechen.

„Ich kann es euch leider auch nicht genau sagen, doch es wird etwas schreckliches passieren.“

Nikodemus saß auf seinem Sessel und sah Og mit hochgezogenen Augenbrauen an.

„Ich kann deine Aufregung verstehen, doch wenn du nicht mehr Informationen hast, fürchte ich, dass es dem Konsul zu wenig sein wird, um ernsthafte Schritte einzuleiten.“

Og sah den Prätor an. Er hätte sich eigentlich denken können, dass er ohne die nötigen Beweise nicht weit kommen würde. In seiner Verzweiflung ließ er jede Vorsicht fallen. „Ich kann es euch zeigen.“ Er zog sein Medaillon unter dem Hemd hervor und wollte es gerade über den Kopf ziehen, da sprang Nikodemus plötzlich auf. „Lass das Medaillon um deinen Hals hängen! Du brauchst nichts weiter zu erklären. Komm mit!“ Der schroffe Ton ließ Og innehalten. Bevor er zu Nikodemus aufsehen konnte, hatte dieser ihn schon am Arm genommen und zur Tür gezogen.

Og folgte ihm aus dem Zimmer und den Gang entlang. Unterwegs kam ihm Bonifatius entgegen.

„Der Konsul hat schon den Prätor für Kampfausbildungen in die Stadt geschickt“, sagte er atemlos. Dann sah er Nikodemus an.

„Herr Prätor Nikodemus, ich kann es erklären. Alles, was Og gesagt hat ist wahr. Ich kann es…“, doch Nikodemus schnitt ihm das Wort ab.

„Wir haben keine Zeit für Erklärungen.“

Er schritt zielstrebig voran und Og und Bonifatius blieb nichts anderes übrig, als ihm zu folgen. Es ging den großen Gang entlang und an einer Kreuzung nach rechts, direkt in Richtung des Berginneren. Kurz darauf konnte Og eine Treppe erkennen. Nikodemus rannte fast die Treppe hinab und sie folgten ihm. Noch nie war Og in diesem Bereich des Ordens gewesen. Die Treppe führte einige Meter tief hinunter und endete an einer massiven Holztür. Sie hatte kein Schloss, zumindest sah es für Og so aus. Irgendwo an der Tür strich Nikodemus über das Holz und sogleich hörte Og ein Klicken. „Ich habe durch Zufall den Eingang zu diesem Archiv gefunden. Außermir kennt ihn niemand.“, sagte Nikodemus daraufhin und die Tür öffnete sich und gab den Weg in die Dunkelheit frei. Nikodemus ging einen Schritt und augenblicklich erleuchtete sich der Raum. Og konnte den Seufzer des Erstaunens von Bonifatius hören und Og staunte ebenfalls. Vor ihnen erstreckte sich eine riesige Höhle, deren Ende selbst die leuchtenden Punkte an der Decke nicht erahnen ließen. Doch nicht nur die Höhle, die man in dieser Tiefe nie vermutet hätte, zog Og in den Bann. Sie war über und über mit Regalen gefüllt, in denen abertausende Manuskripte lagerten. „Das gibt’s doch nicht“, sagte Bonifatius, der nun mit offenem Mund neben Og auftauchte. Aber Nikodemus war schon weiter ins Innere gegangen und deutete auf die Regale.

„Hier lagert das Wissen von unseren Vorgängern. Tausende von Pergamentrollen, Manuskripten und Büchern, die seit der Gründung des Ordens hier sicher aufbewahrt wurden, um sie vor der Außenwelt zu schützen.“, erklärte er.

Og konnte sich gar nicht sattsehen. Er hatte schon viele Bücher aus der Bibliothek oben gelesen, doch diese Höhle überstieg wahrhaft seine Vorstellungskraft. „Na dann viel Spaß beim Lesen“, sagte Bonifatius und Og konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen. Am liebsten hätte er einfach das erstbeste Buch herrausgeholt und zu lesen begonnen. Er mochte sich gar nicht vorstellen, was für ein Wissen hier lag, für Jahrhunderte, vielleicht sogar für Jahrtausende verschollen. Doch er hatte nicht viel zeit, sich umzusehen, denn Nikodemus wies sie an, ihm zu folgen. Sie schritten durch die überfüllten Regale, bis Nikodemus plötzlich innehielt. „Hier ist es.“ Er zog ein Pergament aus dem Regal und reichte es Og. „Dieses Schreiben stammt vom Kirchenfürsten und ist aus der Zeit des ersten großen Krieges.“ Og rollte es auf. Es war zwar in einer älteren Version der Sprache geschrieben, doch er konnte es entziffern.

„An Konsul Ramses am ersten Tag des Frühlingsvollmondes,

Hochwürdigster Herr Konsul,

Ich wünschte ich könnte euch zu einem freudigeren Anlass kontaktieren, doch es sind schwere Zeiten und diese erfordern zumeist traurige Nachrichten. Ihr habt sicher von der Belagerung der Insel erfahren. Leider ist es ihm gelungen, die Insel zu erobern und sie zu zerstören. Nun bleiben nur noch zwei übrig. Ich schreibe euch diese Nachricht, um noch einmal zu betonen, dass ihr Aufenthaltsort nicht und ich betone, niemals an die Öffentlichkeit gelangen darf. Die Fürsten sind tot und so ist sie die einzige Möglichkeit, ihn aufzuhalten. Ich schicke euch diese Nachricht mit meinem treuen Diener. Es wird mir nicht mehr möglich sein, sie persönlich zu übermitteln. Vertrau auf ihn, er wird dir helfen, hoffe auf ihn, er wird deine Wege ebnen.

Petrus, Fürst der Kirche.“

Og musste das Dokument zweimal durchlesen und selbst dann begriff er nur die Hälfte. Bonifatius, der weit weniger gut lesen konnte, als Og, fragte:

„Was steht da?“

Og wollte antworten, doch Nikodemus sagte:

„Wenn das stimmt, was ihr sagt, dann fürchte ich, dass sich wiederholen wird, was damals auf der Insel des Kirchenfürsten geschah. Was auch immer er sucht, von dem ihr sprecht. Ich habe jahrelang versucht, etwas darüber herauszufinden.“

Og gab ihm das Pergamentstück und Nikodemus legte es wieder in das Regal.

„Und habt ihr etwas gefunden?“

Bonifatius stellte die Frage, die auch Og auf der Zunge brannte.

„Nicht direkt.“

Nikodemus wies sie an, ihm zu folgen. Sie schritten eine ganze Weile an Regalwänden entlang, bis sie plötzlich das Ende erreichten. Sie standen auf einer großen Freifläche. An der Höhlenwand gegenüber war ein riesiges, steinernes Tor eingelassen, das bis zur Decke reichte. „Vielleicht finden wir hier die Antwort.“ Nikodemus ging auf das Tor zu und sie folgten ihm. Das Tor zierten viele Symbole, die Og noch nie gesehen hatte, einige wenige jedoch kamen ihm bekannt vor. Og trat näher an das Tor. Direkt am unteren Ende des Tores, gerade so hoch, dass man sie gut lesen konnte, waren verschiedene Punkte eingraviert, die sich über geraden Linien zogen.

„Es sind Noten.“

Og sah zu Nikodemus, der wortlos nickte.

„Sie müssen der Schlüssel zum Tor sein. Allerdings habe ich schon alles versucht, ich weiß jedoch nicht, was sie bedeuten.“

Bonifatius trat ebenfalls vor das Tor. Er wirkte zwar nicht so begeistert, doch der Zauber des Raumes schien auch auf ihn eine Wirkung auszuüben.

„Wenn es Noten sind, kann man sie nicht einfach singen?“

Nikodemus lächelte.

„Das klingt sehr vernünftig, Bruder Bonifatius, doch ich habe viele Melodien getestet, aber das Tor blieb verschlossen.“

Og überlegte, obwohl er wusste, dass ihm nicht mehr einfallen würde als Nikodemus. Immerhin studierte er die Musik schon ein Vielfaches länger als Og.

„Als letzte Musiker im Orden, die noch in der Lage sind, Musik zu betreiben, liegt es an uns, dieses Geheimnis zu lüften. Das ist unser Projekt, Bruder Ogmios. Und wenn du Recht hast, dann haben wir weniger Zeit, als angenommen.“

Nikodemus drehte sich um und ging wieder in Richtung der Regale. Og hielt kurz inne. Ihm fiel wieder ein, warum Nikodemus mit ihm mitgegangen war.

„Warum seid ihr erst mit mir mitgekommen, als ihr das Medaillon gesehen habt?“

Nikodemus blieb stehen. Dann ging er zu einem Regal und zog ein Buch hervor. ‚Zum Schutz gegen das Böse‘ hieß es darauf.

„Das ist nicht nur das einzige Buch darüber, was das für ein Medaillon ist. Ich weiß, was du bist und was du zu verbergen hast.“

Og blieb der Mund offen stehen, als Nikodemus an seinen Hals griff und ein Medaillon hervorzog.

„Ich wusste, dass du die Wahrheit sagst.“

All die Jahre hatte Og in Geheimhaltung gelebt, um jetzt zu erfahren, dass Nikodemus es ebenfalls gewusst hatte.

„Das gibt’s doch nicht“, sagte Bonifatius und sein Blick haftete an Nikodemus.

„Mein lieber Bruder Bonifatius. Ich hoffe nach dem kurzen Ausflug überdenkst du deine Aussage noch einmal. Es gibt wahrscheinlich noch unzählige Dinge, die für dich in weiter Ferne liegen. Doch eins sei gesagt. Haltet euch an den Kirchenfürsten und erzählt niemanden von dem, was ihr gesehen habt.“

Sie nickten beide und folgten ihm aus der Höhle. Es war später Nachmittag, als sie wieder am Zimmer von Nikodemus angekommen waren.

„Dann freu ich mich auf die Zusammenarbeit.“

Nikodemus trat in sein Zimmer und schloss die Tür hinter sich.

„Ich weiß nicht, was ich davon halten soll“, sagte Bonifatius, während sie den großen Gang in Richtung der Mönchszellen gingen. Auch Og hatte Fragen. Warum hatte bisher keiner den Ort gefunden? Warum hatte Nikodemus ein Medaillon, wie Og eines hatte? Und die wichtigste Frage. Was hatte es mit dem geheimnisvollen Pergament auf sich? Beim Eingang zum Zellentrakt hielten sie an. „Kommst du nicht mit?“ Og deutete in Richtung der Ordenspforten und antwortete: „Ich habe ja noch dieses Mädchen im Haus.“ Bonifatius hob die Augenbrauen, doch glücklicherweise sagte er nichts. So ging Og zum Ausgang, schritt nach der Prüfung durch Bruder Nepomuk durch die Pforten des Ordensgebäudes und machte sich erneut auf den Weg nach Obsidian. Dieses Mal war es noch hell, als er die Stadt erreichte und so musste er sich nicht mit den Wächtern herumschlagen. Er wanderte durch die Gassen der Stadt und nun, da es noch nicht dunkel war, wimmelte es nur so von Menschen. Zu Hause angekommen schlich er zum linken Schlafsaal und sah durch die Tür, die leicht angelehnt war. Drinnen lag die Amphibia und schlief tief und fest. ‚Gut so‘, dachte Og sich, obwohl er nicht genau wusste, was er mit ihr anstellen sollte. Doch alles war besser als der Strick. Er trat leise wieder aus dem Zimmer und ging auf Zehenspitzen zum Wohnraum. Schon beim Aufsehen staunte er nicht schlecht, denn er erblickte flackerndes Licht. So schnell es leise möglich war, schritt er in den Wohnraum und erkannte, dass das Kaminfeuer brannte. Aber das Mädchen konnte doch nicht das Feuer angezündet haben, oder doch? Seine Frage beantwortete sich von selbst.

„Wer liegt da in meinem Bett?“

Og schreckte hoch und sah sich seiner Mutter gegenüber.

„Was machst du denn hier?“ „Angenehme Begrüßung. Ich freu mich auch, dich zu sehen.“

Og sah ihr besorgtes Gesicht und die Frage, die er ihr stellen wollte, wurde prompt beantwortet.

„Er kommt, heute Nacht.“

Og wollte etwas erwidern, doch sie schritt auf ihn zu.

„Wir haben keine Zeit zum Reden. Wir müssen die Stadt verlassen, jetzt gleich. Du kannst das Mädchen mitnehmen, wo auch immer du es herhast.“

Og staunte nicht schlecht. Durfte er jetzt endlich mit? Aber dann erinnerte er sich wieder an das, was Nikodemus gesagt hatte.

„Ich kann nicht weggehen.“

Amatah, die gerade ein paar Sachen in eine Tasche geworfen hatte, sah ihn verdutzt an.

„Was heißt hier du kannst nicht mit. Jetzt biete ich dir an, dass du mitdarfst und dann willst du nicht?“

Og schritt zum Holzzuber, wo seine Kutte lag, und zog den Vorhang zu.

„Ich habe Neuigkeiten, die meine Meinung grundlegend geändert haben.“

Er zog sich das Hemd und die Hose aus und warf sich die Kutte über.

„Welche Neuigkeiten? Was kann es Schlimmeres geben, als ihn?“

In ihrer Stimme klang ein wenig die Angst durch, die auch Og spürte. Doch er hatte seinen Beschluss gefasst. Er musste der Sache auf den Grund gehen. Jetzt, da er endlich Anhaltspunkte hatte.

„Erinnerst du dich an damals vor meiner Zeit, als er die Insel des Kirchenfürsten angegriffen hatte?“

Einen Moment herrschte Stille.

„Woher weißt du davon?“

Og zog den Strick um seine Hüfte enger.

„Ich hab es gelesen.“

Dann zog er den Vorhang beiseite.

„Mein Prätor Nikodemus hat es mir gezeigt. Er hat die ganze Insel zerstört und zudem einen Gegenstand oder ein Artefakt oder so, dass ihn aufgehalten hätte. Verstehst du?

Es gibt eine Möglichkeit, wie ich immer gesagt habe. Nichts ist unzerstörbar.“

Amatah sah ihn durchdringend an. Ihr Blick war nicht zu entschlüsseln. Dann seufzte sie:

„Dann weißt du bestimmt auch, dass er den Gegenstand, der ihn aufgehalten hätte, zerstört hat.“

Og sah erstaunt zu seiner Mutter. „Dann weißt du Bescheid?“

Amatah schnaubte.

„Bescheid wissen ist gut gesagt. Ich war dabei, damals vor über tausend Jahren. Ich weiß noch, welches Leid er über das Land brachte. Damals trat er noch offen auf und verwüstete Alles, was seinen Weg kreuzte. Doch es ist zerstört, Og. Es gibt keine Möglichkeit mehr, ihn zu stoppen.“

Plötzlich wurde ihr Gesicht zornig. „Was gibt es dabei zu lachen?“

Og hatte an die Miene seiner Mutter gedacht, wenn er ihr eröffnete, dass es doch eine Möglichkeit gab, und die Freude war ihm wohl buchstäblich anzusehen gewesen.

„Er hat zwar den Gegenstand zerstört, aber er wusste scheinbar nicht, dass es mehrere davon gibt, nämlich insgesamt drei Stück.“

Der Zorn wich sofort aus Amatahs Gesicht.

„Was soll das heißen?“

„Soll heißen es gibt noch zwei davon, wenn dir nichts darüber bekannt ist, dass er noch andere zerstört hat.“

Amatah starrte Og an und es verging ein Moment, bis sie ihre Stimme wieder fand.

„Ich habe beinahe alle Schritte von ihm verfolgt und er hat nichts mehr dergleichen unternommen. Dann gibt es tatsächlich noch welche. Bist du dir absolut sicher?“

Og nickte.

„Und noch etwas. Nikodemus hat das gleiche Medaillon, wie ich. Er hat es mir gezeigt, als ich ihm meines gezeigt habe.“ „Du hast was?“ „Alles gut, Amatah. Er will mit mir auf die Suche nach dem Artefakt gehen. Und dann können wir ihn stoppen.“ „Und wo ist das sagenumwobene Artefakt?“

Og stockte kurz und überlegte, was er sagen sollte.

„Ich weiß es nicht“, sagte er. Er wollte vor Nikodemus Wort halten und niemanden von der geheimen Bibliothek im Orden erzählen.

„Und deshalb werde ich hierbleiben, egal was du…“ doch Amatah gebot ihm mit einem Wink, zu schweigen. Sie horchte und nun, da er nicht mehr redete, hörte Og es auch. Es war das Klingen von Glocken. Es waren die Glocken der Stadt und sie schlugen Alarm. Für einen kurzen Moment verschwand sie einfach, nur um dann wieder aufzutauchen. Og starrte sie an und sah sie nur kurz nicken. „Er ist da“, sagte Amatah. Auf ihrem Gesicht spiegelte sich Sorge. Beide wussten, dass Widerstand zwecklos war und obwohl er nicht so schnell damit gerechnet hatte, nickte Og ebenfalls und bemerkte: „Ich habe alles. Gehen wir.“

Kapitel 3

„Abednego!“ Abednego schreckte hoch. ‚Was will er denn jetzt‘, dachte er sich. Gerade hatte er sich hingelegt. Nicht nur, dass Belshazar ihn den ganzen Tag lang hin und her scheuchte, jetzt rief er ihn in seiner Abendfreizeit. Er stand auf und ging aus seinem Zimmer. „Abednego!“ Abednego zuckte zusammen. Die Stimme kam aus dem Besprechungszimmer und ihr Tonfall ließ auf nichts Gutes schließen. Abednego kannte diesen Tonfall und hasste ihn zugleich. Er sollte sich lieber beeilen. Rasch eilte er zum Besprechungsraum und trat ein wenig zurückhaltend ein. In den kreisrunden Raum, der mit Fackeln erleuchtet war, stand Belsazar auf seinen Stock gestützt und starrte ihn an. Er sah alt aus und Abednego, der selber noch jung und recht kräftig war, sollte sich eigentlich nicht von so einem alten Mann einschüchtern lassen. Doch der Schein trügte hier gewaltig. Denn der Stab, auf den sich Belsazar stützte, war kein gewöhnlicher Stab.

„Ich bin hier, Meister“, sagte Abednego zögernd. Belshazar erhob den Stab, wodurch die Tür hinter Abednego zuschlug.

„Ich habe dich nicht zum reden bestellt“, blaffte er Abednego an. Dann wandte er sich zur Seite und erst jetzt bemerkte Abednego, dass im Schatten des Raumes eine weitere Gestalt weilte, die Abednego nicht eindeutig erkannte.

„Das ist mein Knecht. Er kümmert sich um die Gefangenen“, sagte Belsazar an die Gestalt gewandt. Gefangene? Abednego sträubten sich die Nackenhaare. Am liebsten hätte er ausgespuckt, unterdrückte es aber, als sich Belshazar erneut ihm zuwandte.

„Die neuen Gefangenen werden in Block X untergebracht. Na los, worauf wartest du?“

Mit pochenden Herzen öffnete Abednego die Tür und schritt den Gang entlang. Neue Gefangene. Das konnte nichts Gutes bedeuten. Abednego erinnerte sich gut an die Letzten. Es waren Piscis gewesen. Eigentlich sahen sie wie Menschen aus, aber sie waren mit ihren Kiemen und den Flossen an Armen und Beinen bestens an das Leben unter Wasser angepasst. Mittlerweile sollte er es zwar gewohnt sein, doch noch immer bekam er eine Gänsehaut, wenn er an sie dachte. Nun ging er die steinerne Wendeltreppe hinunter bis ins Erdgeschoss und trat hinaus. Und da sah er sie und war erleichtert und verwundert zugleich. Erleichtert, weil es normale Menschen waren, die ihn gerade deswegen erstaunten. Wozu brauchten sie Menschen? Allerdings bestand Abednegos Arbeit nicht im sich Gedanken über Sinn und Zweck der Gefangenen machen, sondern er musste sie in ihre Zellen führen. Recht schwer war seine Tätigkeit nicht, doch wenn er aufsteigen wollte, bestand seine Pflicht eben auch aus niederer Arbeit. So ging er auf die Menschen zu, die ihn nur halbherzig beachteten. Schließlich waren sie wie alle ihre Gefangenen immer magisch betäubt. So nahm Abednego die Ketten des Ersten und führte dann alle ohne Probleme nach drinnen. Dieses Mal ging er nicht hinauf, sondern eine Treppe nach unten. Die Menschen folgten ihm lautlos, bis er in die Kerkeranlage kam. Dort standen schon etliche Zellen frei in die er die Gefangenen zu je drei bis fünf hineingeleitete. Dann schloss er die Türen und ohne eine weitere Notiz von ihnen zu nehmen ging er wieder nach oben. ‚Menschen‘, dachte er sich im Gehen und schüttelte den Kopf. Er war schon fast beim Besprechungsraum, als er Belshazars Stimme hörte.

„Ihr könnt euch auf mich verlassen, mein Herr. Keiner wird je erfahren, dass sie hier sind.“

Abednego horchte auf. Die Menschen waren also nicht zufällig hier. Die merkwürdige Gestalt hatte sie hierhergebracht.

„Das will ich auch hoffen. Ich rate euch, mich nicht zu enttäuschen.“

Diese Stimme kannte Abednego nicht. Vermutlich war es die der Gestalt, die er vorhin gesehen hatte. Abednego war schon vor der Tür, zögerte jedoch, sie zu öffnen. Er wollte mehr über das Vorgehen der Gestalt erfahren.

„Ihr werdet eine entscheidende Rolle in meinem Plan einnehmen, wenn ich sie erst gefunden habe. Solange werde ich meine Gefangenen zu euch bringen.“

Abednego horchte auf. Was finden? Er schlich langsam näher an die Tür, um noch genauer hören zu können.

„Gewiss, gewiss, Meister. Wir haben eine Menge Platz und zudem schon viele Ideen, was wir mit den Gefangenen machen können. Schließlich soll ihnen während ihres Aufenthaltes nicht langweilig werden.“

Abednego hörte Belshazar Lachen und ein unangenehmes Gefühl breitete sich in seinem Körper aus. Er konnte sich durchaus vorstellen, was er mit Ideen meinte.

„Solange sie das Gelände nicht mehr verlassen, könnt ihr mit ihnen machen, was ihr wollt. Doch mir wäre es am liebsten, wenn sie erst gar nicht flüchten könnten, wenn ihr versteht, was ich meine.“

Ein Lachen tönte durch die Tür und Abednego atmete tief ein. Einen Moment lang überlegte er, ob er durch die Tür gehen sollte, um die beiden totzuschlagen, doch er wusste, dass er keine Chance haben würde. Aber mit den neuen Gefangenen waren zum ersten Mal wieder Menschen gekommen und vielleicht sollten ja noch weitere folgen. Wenigstens hatte Belshazar dann eine Beschäftigung und Abednego konnte weiter an seinem Plan arbeiten. So machte er auf dem Absatz kehrt und lief wieder zu den Gefangenen. „Wo willst du denn hin?“ Abednego hielt inne. Im Erdgeschoss kurz vor dem Kerkertrakt sah er sich Schadrach gegenüber, der ihn auf seinen Stab gestützt anstarrte. „Ich muss noch mal zu den Gefangenen nach dem Rechten sehen.“ Schadrach sah ihn durchdringend an. Er wirkte wie Mitte vierzig, doch auch er war wie Belshazar viel älter, als er aussah. „Na gut“, sagte er, „Dann kannst du gleich die Latrinen der Piscis säubern.“ Mit einem Grinsen, bei dem Abednego ihm an liebsten an die Gurgel gegangen wäre, stolzierte Schadrach die Treppe hinauf. ‚Wenn ich selber erst mal Magier bin, bekommt er das alles zurück‘, dachte Abednego zornig. Dann schritt er zielstrebig an den Zellen der Menschen vorbei und ging weiter den Korridor entlang, bis er bei einer Zelle stehenblieb. Er bereitete sich auf die wüsten Beschimpfungen vor, die ihm üblicherweise von den