Der kleine Sexretter - Monika Röder - E-Book

Der kleine Sexretter E-Book

Monika Röder

0,0

Beschreibung

Man könnte meinen, über Sex und Erotik sei alles gesagt. Wie kommt es dann, dass gefühlt jede Woche ein neuer Sex-Podcast online geht, dessen Macher:innen mit Fragen überschüttet werden? Viele dieser Fragen werden von Menschen gestellt, die auf die eine oder andere Weise unglücklich sind oder sogar um ihre Beziehung fürchten. Die Paar- und Sexualtherapeutin Monika Röder fasst alles in den Blick, was dazu beiträgt, die "schönste Nebensache der Welt" wieder genau dazu zu machen: den Körper, die Kommunikation und den Kontext. Sie verbindet dazu neueste biologische, neurowissenschaftliche und psychologische Forschung mit Erkenntnissen zu Paardynamik und Embodiment. Aus ihnen ergeben sich die drei Herzstücke langlebiger Erotik: eine konstruktive, verletzungsfreie und verbundene Kommunikation, selbstbestimmte sexuelle Begegnungen und ein bewusster Umgang mit dem eigenen Körper und dem der Partner:in. Berührende Fallbeispiele aus der Therapiepraxis und frech-liebevolle Illustrationen bringen das Gesagte immer wieder auf den Punkt. Konkrete Empfehlungen – "Das können Sie tun" – und Übungen helfen bei der Wiederannäherung als Paar.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 278

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Monika Röder

DER KLEINESEXRETTER

UNTERSCHIEDLICHES VERLANGEN UND DIEDREI HERZSTÜCKE LANGLEBIGER EROTIK

2022

Fachbücher für jede:n

Reihe »Fachbücher für jede:n«

Reihengestaltung und Satz: Nicola Graf, Freinsheim, www.nicola-graf.com

Umschlaggestaltung: Heinrich Eiermann

Umschlagfoto: © Lubo Ivanko – stock.adobe.com

Illustrationen: Monika Röder

Redaktion: Nicola Offermanns

Printed in Germany

Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck

Erste Auflage, 2022

ISBN 978-3-8497-0421-6 (Printausgabe)

ISBN 978-3-8497-8378-5 (ePUB)

© 2022 Carl-Auer-Systeme Verlag und Verlagsbuchhandlung GmbH, Heidelberg

Alle Rechte vorbehalten

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikationin der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografischeDaten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Informationen zu unserem gesamten Programm, unseren Autoren und zum Verlag finden Sie unter: www.carl-auer.de.

Dort können Sie auch unseren Newsletter abonnieren.

Carl-Auer Verlag GmbH

Vangerowstraße 14 • 69115 Heidelberg

Tel. +49 6221 6438-0 • Fax +49 6221 6438-22

[email protected]

INHALT

VORWORT

Projekt: Sexrettung

»Normale« Paare und »normale« Sexualität

Geschlechtsverkehr und andere Spielarten

Mut zur Lücke

Wissenschaftliche Evidenz

Heteronormativ, queer und alle anderen

Was also finden Sie in diesem Buch?

Empfehlung zur Nutzung des Buches

Danke!

1DER SEXUELLE MENSCH HEUTE

Wie aufgeklärt sind wir?

Sprache für Sexualität

Neues aus Anatomie und Forschung

Weiblich, männlich, homo, hetero und was dazwischen

Wie alles anfängt: die Geschlechtsentwicklung im Embryo

Die erotische Schatzkiste: das Becken

Die weiblichen Hot-Spots

Das Epizentrum männlicher Eruptionen

2WIE WIR SEXUELL TICKEN

Prägungen

Erregungsmodi

Die Spannungsmodi

Die Bewegungsmodi

Lust und Erregung

Sexspielzeug

Erotisierungsprozesse

Den eigenen Körper erotisieren

Erotisierung des eigenen Genitals

Den anderen erotisieren

Kleiner Exkurs: Was ist Liebe?

Was uns anzieht

Den Körper einsetzen

Kleiner Exkurs in die Neurobiologie

Neurozeption

Das autonome Nervensystem in der Sexualität

Weitere Prägungen

Sexuelle Gewalt und Trauma

Pornografie

Prostitution

(Un-)Gleichberechtigung

3RIESENTHEMA: DRUCK UND VERMEIDUNG

Lust oder Pflicht?

Verlangensdynamik

Forderung und Rückzug

Nähe und Distanz

Autozentrierung

Das Fundament: Selbstverantwortung

Elternschaft

Ausstieg aus dem Muster

Cool down – wie geht das?

Turn on – wie geht das?

4DIE DREI HERZSTÜCKE LANGLEBIGER EROTIK

Herzstück 1: Kommunikation

Zuerst miteinander schlafen oder miteinander sprechen?

Kleine Hilfestellungen für gute Gespräche

Umgang mit Triggern

Sprechen mit den Körpern

Herzstück 2: Der bewegte Körper

Anspannung

Vom Kopf in den Körper

Herzstück 3: Kontext

Begehren

Spontan oder responsiv?

Gaspedal und Bremse

Plädoyer für die Verführung

»Sex worth wanting«

Sexy älter werden

UND WEIL’S SO WICHTIG IST: NOCH MAL!

ZU GUTER LETZT

Nur wenn ich etwas ändere, ändert sich etwas

Hilfe für Betroffene

Weiterentwicklung der Sexualität

Pornosucht und Sexsucht

Sexuelle Übergriffe und Gewalt

ERKLÄRUNGEN DER FACHBEGRIFFE

EMPFOHLENE LITERATUR

ÜBER DIE AUTORIN

Vorwort

Projekt: Sexrettung

»Sex sells« – das ist mir klar. Um Sie vor einer Enttäuschung zu bewahren, möchte ich zuerst sagen, dass dieses Buch kein weiterer Ratgeber mit pauschal sex-positiver Botschaft ist im Sinne eines: Sex muss sein. Nein, Sex muss nicht sein. Es gibt genügend Menschen und Paare, die sexlos glücklich sind. Das ist völlig normal und gesund. Allerdings wird diese Position im vorliegenden Buch nicht vertieft, da es ein »Sexretter« ist.

Dieses Buch ist auch keine Anleitung zum größer – schneller – weiter. Hier gibt es keine Sextipps für Aktivitäten, die zu extrascharfem oder erleuchtetem Sex führen. Sie werden hier keine Anleitung für Stellungen, Präferenzen für Stile oder Tipps finden, wie sie einander noch besser zum Höhepunkt bringen können. Für diese Anliegen gibt es inzwischen eine Fülle anderer Literatur und Medien.

Die Wirklichkeit in heimischen Betten sieht oft so aus: Es gibt Druck und Verfolgungskämpfe zwischen einem, der mehr, und einem oder einer, die weniger will. Das Zusammenleben ist dort gespickt von gegenseitiger Abwertung und Vermeidung. Für viele Menschen bedeutet Sex Frust, Stress oder Langeweile. Viele haben beim Sex Selbstzweifel, Minderwertigkeitsgefühle, Angst und gelegentlich auch Funktionsstörungen. Und viele denken, alle anderen hätten mehr und besseren Sex als sie selbst.

Dieses Buch möchte vor allem normalisieren. Es richtet sich an die vielen Menschen, die gar nichts so Außergewöhnliches wollen, als beiderseits erfüllenden Sex mit dem Menschen, den sie lieben.

»Normale« Paare und »normale« Sexualität

Im kleinen Sexretter spreche ich also vor allem Paare an, bei denen Sex zum Problem geworden ist. Und hier möchte ich vorausschicken: Das ist normal! Im gemeinsamen, langjährigen Beziehungsleben hin und wieder Unstimmigkeiten, Probleme oder Krisen zu haben ist völlig normal. Das geht uns allen so. Auch Lustlosigkeit, Pannen und sogar Funktionsstörungen treten im Laufe des Lebens hin und wieder auf, kommen und gehen und brauchen keine Behandlung. Allerdings kann die Verzweiflung beim Thema Sex schnell ziemlich groß werden. Und hier möchte ich Ihnen mit entsprechenden Infos und Anregungen über die eine oder andere Klippe hinweghelfen.

Kamen die Menschen vor ein oder zwei Jahrzehnten in sexualtherapeutische Praxen noch mit funktionellen Störungen wie etwa Schmerzen beim Geschlechtsverkehr, Vaginismus oder erektilen Störungen, so ist es heute vor allem die Lustlosigkeit. Trotz oder wegen unserer sexualisierten Welt haben viele Männer und Frauen einfach keine große Lust mehr aufeinander. Wenn es beiden gleichermaßen so geht, haben sie Glück. Doch was tun, wenn die eine Seite mehr will und die andere weniger? Unterschiedliches sexuelles Verlangen ist heute eines der häufigsten Themen in Partnerschaften sowie in paar- und sexualtherapeutischen Praxen.

In der Sexualmedizin und -therapie gibt es einen Richtungsstreit. Die einen sagen: Das liegt an der körperlichen Funktion, wir müssen am Körper ansetzen, mit ihm üben und ihn neu erkunden. Andere betonen, dass Sex etwas mit Reife und Persönlichkeitsentwicklung zu tun habe und man dort ansetzen müsse. Die nächsten sagen: Sex ist Kommunikation, wir müssen mehr miteinander sprechen. Und wieder andere betonen die emotionale Beziehung und Bindung sowie die innere Erlaubnis als Basis für erfüllende Sexualität. Für mich ist alles richtig. Emotionale Probleme beinhalten oder ziehen körperliche Reaktionen nach sich. Und die wiederum verkomplizieren die emotionale Verbindung. Oder andersrum: Körperliche Zustände wie etwa ein hoher Muskeltonus oder schnelles, flaches Atmen gehen Hand in Hand mit eher negativem Denken und stoßen häufig destruktive Gefühle an. Die wiederum haben verstärkt Auswirkungen auf den Körper und machen die Begegnung schwieriger.

Es geht also nicht um ein Entweder-oder, sondern um ein Sowohl-als-auch. Ich werde in diesem Buch darum sowohl auf den Körper und seine Funktionen, als auch auf das Denken, die Emotionalität und Bindung sowie ebenso auf die Kommunikation schauen.

Geschlechtsverkehr und andere Spielarten

In einem ist sich die aktuelle Sexualforschung relativ einig: Wirklich erfüllender Sex hat nichts mit den praktizierten Techniken zu tun. Es kommt nicht darauf an, ob Sie es eher sanft und zärtlich mögen oder auf BDSM1 stehen. Ebenso ist es nicht relevant, ob Sie heterosexuell, lesbisch, schwul oder bisexuell sind. Auch die Unterscheidung in Oral-, Manual-, Analsex oder genitalen Geschlechtsverkehr spielt keine große Rolle. Entscheidend sind vor allem Einstellungen und eher beziehungsorientierte und persönliche Kompetenzen.

Und dennoch gibt es in der Praxis eine sexuelle Variante, die in sehr vielen Schlafzimmern einerseits von beiden ersehnt wird und andererseits immer wieder zu Frust, Enttäuschung oder Krisen führt: der heterosexuelle, genitale Geschlechtsverkehr. Der sieht häufig so aus: Er mag ihn, weil er beim Geschlechtsverkehr fast immer zum Höhepunkt kommt. Auch sie nimmt ihn vielleicht gern vaginal in sich auf, weil sie die intensive, genitale Vereinigung liebt. Aber befriedigend ist es für sie nicht. Sie kommt eher, wenn er sie von Hand stimuliert oder leckt. Oder andersrum: Sie mag den Geschlechtsverkehr und findet dabei auch Wege zu kommen. Auch er genießt ihn – aber zum Orgasmus kommt er so nicht. Was ist da verkehrt?

Viele Männer und Frauen gehen davon aus, dass die männliche und weibliche Anatomie eigentlich nicht kompatibel ist. Sie vermuten, dass der weibliche Bauplan eben nicht vorsieht, dass die Frau den genitalen Geschlechtsverkehr gleichermaßen als befriedigend erlebt. Diese Haltung ist verbreitet, wird akzeptiert und ist auch hin und wieder in wissenschaftlichen Papers zu finden. Doch diese »Unstimmigkeit« ist kein Naturgesetz. Sie hat mit biologischen und kognitiven Lernprozessen, mit Sozialisation und Gewohnheit zu tun, und sie ist veränderbar.

Mut zur Lücke

Viele Kolleginnen sagen, wenn sie von dem Buch hören: »Huch!? Das komplexe Thema ›Rettung partnerschaftlicher Sexualität‹ auf diesen wenigen Seiten?! Wie willst du all den Menschen, den Lebensformen und Anliegen gerecht werden?« Ich weiß, es ist ambitioniert. Ich möchte alle wichtigen Aspekte ansprechen, Ihnen praktische Anregungen und Übungsmöglichkeiten geben und gleichzeitig das Buch so kompakt und kurz halten, dass es auch für Wenigleserinnen und Wenigleser hilfreich und bewältigbar ist. Ich bräuchte also doppelt so viele Seiten – oder es fehlt etwas.

Ich habe mich für die Variante »Es fehlt etwas« entschieden. Dass ich dadurch immer wieder hart an der Oberflächlichkeit entlang schramme, ist mir klar. Es bedeutet, dass ich viele Themenkomplexe ausklammern muss. Ich kann nicht alle Altersgruppen, sexuellen Orientierungen, Erfahrungsstufen, Störungsbilder, Erwartungshaltungen, Paardynamiken und Lebensstile gleichermaßen erreichen. Ich habe mich also entschieden, mich immer wieder zu fokussieren.

An wen richtet sich das Buch?

In diesem Buch geht es also darum, vor allem den oft inkompatibel scheinenden heterosexuellen Geschlechtsverkehr besser zu verstehen und weiterzuentwickeln. Außerdem möchte ich die Paare erreichen, für die Lustlosigkeit und/oder ein unterschiedliches sexuelles Verlangen zum Problem geworden ist.

Damit kommen wir direkt zum nächsten Schwerpunkt: Lustlosigkeit und Verlangensunterschiede sind meist kein Thema bei Frischverliebten egal welchen Alters, sondern tauchen oft in langjährigen, meist monogamen, verbindlichen Partnerschaften auf. Mein Angebot richtet sich also an die Paare, die schon einige Jahre oder Jahrzehnte miteinander unterwegs sind, die sich gegenseitig wichtig sind, bei denen aber eine Person oder beide ihr sexuelles Begehren verloren haben, dies bedauern und es ändern möchten. Folgerichtig bewegen wir uns mit diesem weiteren Kriterium auch eher in der Altersgruppe von der Lebensmitte aufwärts.

Was ist für die Weiterentwicklung wichtig?

Was brauchen wir für das Projekt Sexrettung und an welchen Konzepten orientiere ich mich? Der Grundgedanke dieses Projekts ist, Sie darin zu unterstützen zu verstehen, wie Sie selbst funktionieren. Ein roter Faden ist dabei der sexologische Ansatz des Sexocorporel, der von dem kanadischen Sexualwissenschaftler Jean-Yves Desjardins begründet wurde, aber auch der systemischen Konzepte Ulrich Clements und Angelika Ecks sowie der sexualtherapeutischen Konzepte David Schnarchs und Esther Perels. Es geht also darum zu verstehen, wie und warum Ihr Körper das empfindet oder tut, was er tut. Und es geht darum zu verstehen, wie und warum Sie als Paar so funktionieren und miteinander umgehen, wie Sie es tun.

Zum Verständnis sexueller Funktion brauchen wir also einige Aspekte aus der körperlichen Anatomie und zusätzlich aus der Physiologie unseres vegetativen Nervensystems. Hier orientiere ich mich an aktuellen Erkenntnissen aus der Hirnforschung, insbesondere an der Polyvagaltheorie des amerikanischen Hirnforschers Steven Porges.

Dieses eher biologische Verstehen ist eingebettet in meine systemische Grundhaltung, denn »das Tun des einen ist das Tun des anderen« (Helm Stierlin) und entwickelt sich im zirkulären Miteinander. Ich zeige Ihnen also typische Paardynamiken, typische sexuelle Dynamiken und auch die starke Abhängigkeit vieler Menschen vom Kontext des Geschehens. Das Verstehen ist immer wieder Grundlage und Schlüssel zur Übernahme einer persönlichen Verantwortung. Wenn Sie die Logik Ihres Systems verstanden haben, können Sie sich der Entscheidung zuwenden: Möchte ich so weitermachen oder möchte ich das ändern? Mit der Bewusstheit und freien Entscheidung entstehen schließlich Handlungsräume, in denen Sie experimentieren und neue Wege gehen können. Und auch dafür finden Sie im Buch Anregungen.

Wissenschaftliche Evidenz

In Ratgebern ist das Zitieren von wissenschaftlichen Quellen unüblich. Beim Thema Sexualität werden jedoch oft Belege durch Forschungsergebnisse gesucht und Argumente mit Studien belegt. Auch ich verweise auf die eine oder andere Studie, möchte im Vorfeld aber auf Folgendes hinweisen:

Wissenschaftliche Studien sind in der Sexualforschung besonders schwierig durchzuführen. Es ist einfacher, hochwertige Daten zum Klimawandel zu sammeln als zum Erleben und Verhalten von Menschen in ihren intimsten Momenten. Die Untersuchungen werden häufig unter sterilen klinischen Bedingungen durchgeführt, die mit der realen Situation in echten Betten wenig zu tun haben. Mitunter basieren sie auch auf Online-Befragungen, an denen eher Menschen teilnehmen, die der Sexualität positiv gegenüberstehen und sich gern damit beschäftigen. Das Ergebnis kann dadurch nach oben hin verzerrt sein. Leser oder Leserinnen mit weniger Interesse fühlen sich beim Lesen der Zahlen möglicherweise schlecht und unter Druck gesetzt.

Hinzu kommt, dass es schwierig ist, ein Studiendesign zu entwerfen, das wirklich die Realität der unterschiedlichen Altersgruppen oder Lebenssituationen abbildet. Nicht jeder weiß, dass wissenschaftliche Studien manchmal an 30.000 Personen durchgeführt werden und manchmal an nur 17. Oft wird nicht der breite Bevölkerungsdurchschnitt untersucht, sondern die Gruppe setzt sich zusammen aus Studierenden der Psychologie oder Medizin mit ihrem häufig recht homogenen gesellschaftlichen Hintergrund. Manche Studien werden von der Pharmaindustrie oder anderen Lobbygruppen lanciert. Häufig ist es auch so, dass die Untersuchung gar nicht veröffentlicht wird, wenn sich nicht das erwünschte Ergebnis zeigt. Ich beziehe mich daher eher auf meine therapeutischen Erfahrungen aus der Arbeit mit Hunderten von Paaren sowie auf die Erkenntnisse aus langjährigen aktuellen Weiterbildungen und zitiere Studienergebnisse nur sparsam.

Heteronormativ, queer und alle anderen

Dieses Buch erscheint in einer Zeit, in der es weltumspannend vielfältige Bewegungen gibt, die zum Ziel haben, Opfer von rassistischer oder sexistischer Gewalt oder Menschen, die nicht der idealisierten Norm oder dem Durchschnitt entsprechen, Lobby und Sprachrohr zu verschaffen. Die feministische Bewegung des #metoo hat zum Ziel, sexualisierte Gewalt gegen Frauen offenzulegen und zu beenden. #blacklivesmatter setzt sich für die Gleichstellung von Menschen unterschiedlicher Hautfarben (»People of colour«) ein. Im psychologischen Bereich sollen Menschen mit Depressionen und auch Menschen, die nicht »neurotypisch« sind, sondern sich auf dem »autistischen Spektrum« befinden, entstigmatisiert und integriert werden.

Auch zum Thema Sexualität gibt es aktuell vielfältige Bewegungen, die sich für die Legitimierung unterschiedlicher sexueller Vorlieben (z. B. Vanilla/»Blümchensex«, kinky/»schmutzig«, BDSM etc.), unterschiedliche sexuelle Orientierungen (lesbisch, bi, schwul etc.), Beziehungsformen (monogam, polygam etc.) oder auch sexueller Identitäten (Mann, Frau, divers, transident, intersexuell etc.) einsetzen. All diese Anstrengungen und Bewegungen sind berechtigt und haben meine volle Unterstützung.

Da sich Realität in Sprache abbildet, sind viele Menschen derzeit sehr sprachsensibel. Gleichzeitig sind viele sprachliche Ausdrucksformen entsprechend der Fluidität der Bewegung in einem ständigen Veränderungsprozess (aus »Schwarze« wurde z. B. »people of colour«, aus »transsexuell« wurde »transident«, aus »Studenten« (= generisches Maskulinum) wurde »Studentinnen und Studenten« bzw. »StudentInnen«, »Student*innen«, »Studierende«, »Student:innen« etc.).

Wie schreibt man oder frau in dieser Zeit ein Buch über Sexualität, ohne auszuschließen oder zu verletzen? Ich habe großen Respekt vor der Aufgabe und möchte es dennoch probieren. Um den Umfang eines handlichen Ratgebers nicht zu sprengen und mich nicht in Klammern und Spiegelstrichen zu verlieren, habe ich mich entschieden, in diesem Buch vorrangig das abzubilden, was mir in meinem beruflichen Alltag am häufigsten begegnet: Im kleinen Sexretter geht es deshalb vorrangig um Menschen in heterosexuellen Beziehungen, die mit dem Anliegen zu mir kommen, ihre partnerschaftliche Sexualität, insbesondere den heterosexuellen, genitalen Geschlechtsverkehr so zu gestalten, dass er für beide Personen gleichermaßen befriedigend wird. Ich möchte an dieser Stelle ausdrücklich darauf hinweisen, dass ein Großteil der dargestellten Themen wie z. B. das Wissen um den eigenen Körper, biografische Prägungen, das Funktionieren des vegetativen Nervensystems, Paardynamiken oder auch der elementare Einfluss von Bewegung auf das emotionale und sexuelle Erleben für alle Menschen zutrifft – seien sie Mann, Frau, Personen mit Penis, Neo-Penis oder Vagina, Neo-Vagina, lesbisch, schwul, polyamor, schwarz, weiß oder etwas anderes.

Was also finden Sie in diesem Buch?

Der kleine Sexretter möchte Sie unterstützen, Ihre partnerschaftliche Sexualität auf entspanntere, konfliktfreiere und genussvollere Weise zu erleben. Es geht um das Erleben erotischer partnerschaftlicher Verbundenheit und genussvoller Genital-Wellness. In diesem Sinne richtet sich das Buch an Menschen, die sich einfach wünschen, (wieder) eine erotische Beziehung zu demjenigen zu haben, den sie (eigentlich) lieben. Ich möchte Ihnen Lust machen, sich selbst, Ihren Körper und Ihre partnerschaftliche Sexualität neu zu entdecken und diese (wieder) erfüllter und genussvoller zu erleben, um den Sex zu bekommen, den es sich wirklich lohnt zu haben.

Empfehlung zur Nutzung des Buches

Sie werden im Laufe des Lesens feststellen, dass Selbstverantwortung für das Gelingen langlebiger partnerschaftlicher Sexualität eine große Rolle spielt. Es ist also durchaus sinnvoll, sich erst einmal mit sich selbst, dem eigenen Körper und dem eigenen Erleben zu beschäftigen. Lesen Sie dieses Buch also ruhig für sich allein und machen Sie sich Ihre eigenen Gedanken.

Eine Alternative ist, gleich in den partnerschaftlichen Lernprozess einzusteigen. Sie können das Buch beispielsweise direkt zusammen lesen. Meine Empfehlung dazu ist, sich einen regelmäßigen Beziehungsabend dafür einzurichten. Wählen Sie eine möglichst regelmäßige Zeitschiene, die geschützt ist vor dem überraschenden Auftauchen von Kindern oder Arbeitsaufgaben. Machen Sie es sich gemütlich, vielleicht mit einem Gläschen Wein oder einer Tasse Tee. Schön ist es, wenn Sie einander vorlesen – nicht zu viel auf einmal, sondern jeweils ein Kapitel oder einen längeren Abschnitt pro Abend – und sich danach darüber austauschen.

Beim gemeinsamen Lesen ist es wichtig, immer genug Raum für den Austausch zu lassen. Wenn Sie einander nur vorlesen und danach schweigend ins Bett gehen, können Sie neue Impulse vielleicht auch umsetzen, aber Sie haben einander nicht wirklich besser verstanden, das Gelernte geht schneller verloren und lässt sich nicht so gut mit dem eigenen Leben verknüpfen. Wenn Sie den Entwicklungsprozess also wirklich intensivieren wollen, machen Sie die vorgeschlagenen Übungen für sich allein und sprechen dann darüber. Es braucht den Austausch und die Reflexion der eigenen Gedanken, Erfahrungen und des eigenen Erlebens, um immer wieder den Link zum eigenen Leben und zum anderen herstellen zu können. Das macht den Lernprozess besonders intensiv.

Sprechen Sie dabei über Punkte wie: Was kennen Sie selbst von dem Gelesenen? Was leuchtet Ihnen ein? Wieso? Was hat das mit Ihnen zu tun? Was ist bei Ihnen anders? Warum?

Achten Sie darauf, dass das Gespräch verletzungsfrei und konstruktiv bleibt. Das bedeutet: keine Verallgemeinerungen und keine Zuschreibungen auf den anderen zu machen! Also nicht: »Stimmt, bei dir ist das auch dauernd so, dass du …«, »Du machst auch immer/nie …«. Sprechen Sie stattdessen von sich und Ihren Erfahrungen und vor allem von Ihren Bedürfnissen.

Achten Sie auch darauf, dass die Redezeit sich etwa die Waage hält. Es gibt in jeder Partnerschaft einen, der oder die mehr, schneller und leichter spricht, während die andere Seite eher zuhört und sich zurückhält. Wie der Sex, so lebt auch das offene Gespräch davon, sich einander wirklich zeigen zu können – aber auch davon, Rücksicht zu nehmen und Grenzen zu respektieren. Eine Vertiefung zu diesen Vorschlägen finden Sie im Kapitel »Herzstück 1: Kommunikation«.

Danke!

Mit dem kleinen Sexretter erscheint mein drittes Buch. Ich gehöre nicht zu den Menschen, die schon als Kind Autorin werden wollten. Ebenso wenig suche ich die große Bühne oder möchte reich und berühmt werden. In meinem Leben bin ich manche Umwege gegangen, doch als Psychotherapeutin, Paar- und Sexualtherapeutin habe ich meine Berufung gefunden. Mit meinen Klientinnen und Klienten zu wachsen, für sie immer besser zu werden, war mein Antrieb. Weiterbildungen wurden zu meinem Hobby. Auf diesem Weg traf ich tolle Menschen, die mich fachlich und persönlich unglaublich inspirierten. Einer davon war David Schnarch, dessen Differenzierungsansatz mein persönlicher roter Faden wurde. Auf Tagungen begegnete ich Steven Porges und Bessel van der Kolk. Mit ihren Erkenntnissen in der Hirnforschung gingen mir einige Lichter auf. Der konsequente Blick auf unser Gehirn und das vegetative Nervensystem wurde zum zweiten roten Faden meiner Arbeit.

2016 bekamen meine Kollegin Birgit Kollmeyer und ich vom Kohlhammer Verlag die Chance, ein Fachbuch über Partnerschaft und Sexualität zu schreiben. Beim Schreiben entstand in mir das Bedürfnis, etwas für Menschen zu machen, die keine Fachbücher mögen, und ihnen Paardynamiken auf leichte, unterhaltsame Weise näherzubringen. Das war die Geburtsstunde des kleinen Eheretters und des kleinen Sexretters. Vom ganzen Lektorat, insbesondere von meiner persönlichen Lektorin Nicola Offermanns und von Nora Wilmsmann, wurde ich wunderbar betreut, bekam wertvolle Rückmeldungen und genoss allzeit reibungslose Abläufe.

Obwohl die Worte geradezu aus mir herausflossen, haben beide Manuskripte einige Metamorphosen vollzogen. Meine wunderbare Freundin und Kollegin Nicole Hammelehle war mir dabei insbesondere beim kleinen Eheretter geduldige Ratgeberin, konstruktive Korrektorin und unermüdliche Mutmacherin und damit von unschätzbarem Wert. Beim kleinen Sexretter waren mir vor allem meine Kolleginnen und Freundinnen Ulrika Vogt und Elke Kruse-Weiss wertvolle Stützen, und mein Basler Kollege Prof. Dr. Daniel Haag-Wackernagel sorgte mit seiner Begeisterungsfähigkeit und seinem kritischen Blick für den letzten fachlichen Check. Doch mein Dankeswort ist nicht vollständig ohne meinen Mann. Er ist mein Wegbegleiter, Fachkollege, Liebhaber und Freund und begleitet mich nun schon seit Jahrzehnten mit einem größeren Vertrauen in meine Fähigkeiten, als es mir anfangs selbst möglich war.

Euch allen – und vor allem auch meinen Klientinnen und Klienten, die sich mir seit vielen Jahren anvertrauen und mit denen ich so viel lernen darf – ganz, ganz herzlichen Dank!

1Eine Erklärung für solche Abkürzungen und Fachbegriffe finden Sie im Anhang.

1

DER SEXUELLE MENSCH HEUTE

So viel Wissenschaft und Wissen wie heute gab es noch nie. Die Geschwindigkeit, mit der neues Wissen generiert wird, bisheriges sich erweitert oder auch veraltet, ist immens. Das Wissen explodiert geradezu. Dazu kommt das Internet. Dank Wikipedia & Co bleibt uns nichts mehr vorenthalten. Auch über Sexualität wissen wir gefühlt alles. Aber wissen wir wirklich alles?

Wie aufgeklärt sind wir?

Die Generation unserer Eltern und Großeltern musste sich ihr Wissen über Geschlechtsorgane und Sexualität selbst zusammensuchen. Manche junge Frau hatte noch nie einen Penis gesehen, bevor aus einer spannenden Begegnung im Heuschober überraschend ein Kind hervorging. Sexualität war tabuisiert, das Wissen um Fruchtbarkeit und Schwangerschaft begrenzt, und AIDS existierte noch nicht. Die »wilden 68er« rebellierten gegen diese lustfeindliche Moral und stellten sie auf den Kopf. Sie praktizierten die freie Liebe, und manche lebten mit häufig wechselnden Sexpartnern in Kommunen. »Wer zweimal mit derselben pennt, gehört schon zum Establishment« war die Parole und zeigte, wer in war und wer vom alten Eisen.

Die geburtenstarken Jahrgänge der 1960er- und 1970er-Jahre erwarben ihr Wissen um Lust und Sexualität maßgeblich beim Doktor-Sommer-Team der Bravo und einige wenige biologische Details im Biologieunterricht. Sie versuchten, sexuell offener zu sein, und stemmten sich gegen Konventionen und einengende Moralvorstellungen. Als AIDS die Welt verunsicherte, war es schon eher möglich, über körperliche Liebe zu sprechen, und Safer Sex wurde salonfähig. Mit Beginn des digitalen Zeitalters und der Globalisierung begann die Schrankenlosigkeit der Sexualität. Heutige Kinder und Jugendliche werden häufig durch das Internet aufgeklärt.

Junge Menschen wachsen fließend in diese Welt hinein. Im Kindergarten lernen sie Begriffe wie »Fick dich«, und auf dem Schulhof kursieren die ersten Pornos. Bereits 2009 bekamen Forscher der University of Montreal für eine Studie zum Pornokonsum keine Kontrollgruppe zusammen, weil sie vergeblich nach Collegestudenten suchten, die noch keine Pornografie konsumiert hatten. Heute haben die meisten Kinder Pornos gesehen, lange bevor sie ihre eigene Sexualität entdecken und erforschen konnten. Das Internet lässt keine Fragen offen. Es gibt Anleitungen und Tutorials für Petting, Zungenküsse, zum Fist-Fucking und zum Oral- und Analsex. Sind unsere Kinder also aufgeklärt? Sind wir selbst aufgeklärt?

Die Realität in mitteleuropäischen Schlafzimmern sieht oft anders aus als in den Medien. Bei vielen Paaren findet der übliche Sex bei ausgeschaltetem Licht schweigend unter der Bettdecke statt. Sie tun »es« und sprechen nicht darüber. Warum »es« am einen Tag läuft und die Partnerin mitmacht, am anderen aber nicht, ist ihm oder ihr nicht wirklich klar. Warum sein bestes Stück bis zu einem gewissen Zeitpunkt steht und dann plötzlich aus heiterem Himmel zusammenfällt, kann weder er noch sie sich erklären. Warum das Gleiche sich am einen Tag scharf anfühlt und am anderen irgendwie »schiefgeht«, bleibt beiden ein Rätsel. Ich möchte Sie also einladen zu schauen, was da genau vor sich geht.

Sprache für Sexualität

Eine wichtige Voraussetzung für unsere Beschäftigung mit dem Thema ist die Sprache. Bei der Bezeichnung der weiblichen und männlichen Geschlechtsorgane geht allerdings im wirklichen Leben die Unsicherheit bereits los. Welche Sprache benutze ich für mein eigenes Genital und das des anderen? Fotze, Möse, Muschi und Schwanz klingt Ihnen zu vulgär? Schlitz, Scheide oder Glied zu altmodisch? Schamlippen, Schamhaar und Schamhügel zu frauenfeindlich oder verschämt?

Und was machen Sie miteinander? Poppen, Bumsen, Ficken oder Vögeln? Wie ist es mit den Begriffen Koitus, Erektion oder Cunnilingus2? Die sind Ihnen eventuell zu klinisch rein oder zu fremdsprachig? Manche Menschen versuchen, das Dilemma mit Wortneuschöpfungen zu lösen: dein Zauberstab, meine Lotusblüte, meine Edelrosine? Zu albern für Sie?

Vielen Menschen fällt es schwer, über (ihre) Sexualität zu reden – allein, weil ihnen die Worte fehlen. Sie möchten nicht zu wissenschaftlich daherkommen und die Romantik killen. Sie möchten aber auch niemanden kränken durch allzu vulgäre Ausdrücke. Was können wir tun? Wie sage ich meiner Liebsten, wo sie mich anfassen soll und wie, wenn ich keine Sprache dafür habe?

Ich werde im Folgenden die Begriffe verwenden, die ich in meiner Praxis und meinem Alltag am häufigsten höre und bei Gesprächen über Sexualität am ehesten selbst benutze. Fühlen Sie sich frei, alles so für sich zu übersetzen, dass es für Sie und Ihre Partnerin oder Ihren Partner passt.

Neues aus Anatomie und Forschung

Der folgende Abschnitt ist kein Aufklärungskurs. Die meisten biologischen Details sind wohlbekannt. Dennoch gibt es bei vielen Menschen Lücken in diesem Wissen. Insbesondere das weibliche Genital ist in unserer Kultur kein Thema und – da nicht wirklich physisch im Blickfeld – auch für viele ein unbekannter Ort. Über Jahrhunderte war es praktisch nicht präsent – ein Nichts, ein Loch, das Negativ zum Mann, das war’s.

Außerdem möchte ich Sie in diesem Buch mit Ihrem Becken bekannt machen. Es ist die erotische Schatzkiste des Körpers. Doch auch das Becken ist in der Wahrnehmung vieler Menschen gar nicht vorhanden. Die Hüften sind bekannt. Auch der Verdauungstrakt, ja. Der Penis natürlich und die Tatsache, dass Frauen eine Klitoris haben, okay. Aber das Becken? Was genau soll das sein und wo? Und was hat es mit Sex zu tun?

Wenn wir unser sexuelles Erleben und Funktionieren verändern wollen, müssen wir es zuerst kennen und verstehen. Wir brauchen ein Konzept, eine Landkarte, eine Vorstellung von »dem da unten«. Ich biete Ihnen also an, Ihr bisheriges Wissen um einige Details aus Wissenschaft und Forschung zu erweitern. Bevor es Ihnen langweilig wird, lesen Sie einfach quer und überspringen einzelne bekannte Passagen.

Weiblich, männlich, homo, hetero und was dazwischen

Den meisten Menschen ist klar, dass jeder Mensch und damit auch jedes Genital anders ist. Und dennoch bleibt dieses Wissen oft rein kognitiv. Die Bilder, die wir in Filmen, Zeitschriften und anderen Medien und insbesondere in Pornos sehen, gleichen sich sehr. Wir sehen die ideale Frau, den idealen Mann, mit dem idealen Penis, den idealen Brüsten oder Vulven. Models, Darstellerinnen und Darsteller in Filmen wurden bereits einer Auswahl unterzogen, die nur übriglässt, was derzeit als schön und ideal gilt. Der Rest wird durch Photoshop geschönt oder durch Models für bestimmte Körperteile ersetzt.

Was wir also kognitiv wissen, aber im Alltag nicht so oft sehen, ist die Breite der Normalität unter den Klamotten: Es gibt große Penisse und kleine, helle, dunkle, dicke und dünne, kurze und lange. Alle Eicheln haben unterschiedliche Formen und die Hoden ebenfalls. Die Erektion steht je nach Mann und Alter steil nach oben, waagrecht nach vorn, etwas krumm oder zeigt nach unten.

Dasselbe gilt für weibliche Vulven, also die äußeren weiblichen Genitalien. Sie sind schmetterlingsförmig oder eher glatt. Haben symmetrische Lippen oder asymmetrische. Sind stark behaart, in eine Frisur getrimmt oder rasiert. Die inneren Vulvalippen sind groß und lang und weit über den äußeren. Oder aber klein und fast unsichtbar. Die Klitoris ist groß und prominent zu sehen oder aber versteckt in diversen Hautfalten. Es gibt so viele unterschiedliche Genitalie, wie es Menschen gibt.

Manche Menschen haben keine eindeutig männlichen oder weiblichen Genitalien, sondern sind biologisch und hormonell intersexuell. Diese Anlage entsteht aufgrund von Androgenresistenzen bereits im Mutterleib. Das Genital, also das biologische Geschlecht, ist dann nicht so prototypisch ausgeprägt wie im Porno.

Weiterhin gibt es Menschen, die zwar mit einem biologisch eindeutigen Genital auf die Welt kommen, sich in diesem Körper aber falsch fühlen. Diese Transpersonen fühlen sich entweder dem anderen sozialen Geschlecht zugehörig, das im Englischen als Gender bezeichnet wird. Oder sie empfinden sich als drittes, eigenes Geschlecht oder etwas dazwischen. Sie wollen oder können sich nicht binär einem sozialen Geschlecht wie männlich oder weiblich zuordnen. Juristisch werden diese Menschen auch als divers bezeichnet. Sie können ihren Lebensstil theoretisch jenseits binärer Genderfestlegungen gestalten und haben die Möglichkeit zu hormoneller und operativer Veränderung des biologischen Körpers. Viele Betroffene spüren diese Unstimmigkeit bereits als Kind, haben dann aber erst im jungen Erwachsenenalter nach vielen Enttäuschungen, Kränkungen und inneren Schmerzen den Mut, entsprechende Schritte zu gehen. Was dann folgt, ist aufgrund gesellschaftlicher Ressentiments eine weitere Mammutaufgabe, die zu bewältigen ist. Die Bewältigung eines solchen Dazwischenseins ist alles andere als leicht. Denn praktisch leben wir in einer binären heteronormativen Welt, d. h. einer Welt, in der Heterosexualität als normal gilt und die immer noch geprägt ist von Vorurteilen und Repressalien gegen Menschen, die anders sind.

Noch ein Hinweis: Ob die Betroffenen letztlich schwul, lesbisch oder heterosexuell sind, steht auf einem ganz anderen Blatt. Das Gefühl der Geschlechtszugehörigkeit hat nichts mit der sexuellen Orientierung zu tun – also damit, auf wen man oder frau sexuell steht!

Auch bei dieser Kategorisierung, die als sexuelle Orientierung bezeichnet wird, entfernen sich Forschung und gelebte Praxis immer weiter vom alten Schubladendenken. Vor einigen Jahrzehnten war es noch wichtiger, sich eindeutig als hetero, lesbisch, schwul oder bi zu positionieren. Heute werden die Grenzen weicher. Die meisten Menschen könnten sich für unterschiedliche Formen gelebter Sexualität erwärmen, entscheiden sich aber im Laufe ihres Lebens für eine Orientierung – am häufigsten die heterosexuelle.

Wie alles anfängt: die Geschlechtsentwicklung im Embryo

Zunächst sind wir allerdings alle gleich. In den ersten Lebenswochen im Uterus haben wir zwar unterschiedliche Chromosomen, die auf das zukünftige Geschlecht hindeuten, unser Genital selbst ist allerdings intersexuell und hat die Anlagen für beide Geschlechter. Aufgrund von Genen, Chromosomen und Hormonen entscheidet sich dann etwa in der 6. Lebenswoche, ob sich aus den Geschlechtsanlagen im Embryo Hoden bilden oder Eierstöcke. Das heißt: Aus dem zunächst biologisch gleichen Zellhaufen entwickeln sich bei XY-Chromosomen Prostata und Samenleiter. Durch die Ausschüttung von Testosteron entsteht ein äußeres Genital aus Penis, Eichel und Hoden. Und aus denselben Anlagen entstehen aufgrund der XX-Chromosomen Eierstöcke, Eileiter, eine Gebärmutter sowie ein äußeres Genital aus Klitoris, äußeren und inneren Lippen und einer Harnröhrenöffnung. Genau genommen besitzen Frauen mit den Paraurethraldrüsen eine Art Prostata und Männer mit dem Utriculus prostaticus eine kleine Vagina. Merkmale desselben biologischen Ursprungs werden Homologon genannt – auch wenn sich später unterschiedliche Formen und Funktionen daraus entwickeln.

Warum erzähle ich das alles? Wofür ist es wichtig zu wissen, dass das männliche und weibliche Genital ursprünglich und teilweise baugleich ist? Das Wissen um sogenannte Homologa kann uns helfen, die Empfindungen des anderen, »fremden« Geschlechts besser einzuschätzen und nachzuvollziehen.

So haben beispielsweise beide Genitalien ein hochsensibles Gefäßgeflecht, das nach außen zeigt und sich bei sexueller Erregung mit Blut füllt: bei Frauen die Klitoris und bei Männern der Penis. Beide haben außerdem ein weiches, fleischiges und dehnbares Organ, auf dem in der Pubertät Haare wachsen: Bei Frauen sind das die äußeren Lippen (Labien) und bei Männern ist es der Hodensack (Skrotum). Was sich beim weiblichen Genital zu einer großen Öffnung entwickelt, ist beim männlichen quasi »zugenäht«. Die Naht (Raphe scroti) können Sie in der Mitte des Hodensacks sehen. Homolog sind außerdem die Brustwarzen, die bei Frauen später eine biologische Funktion zur Ernährung des Nachwuchses haben und beim Mann im Laufe der Evolution einfach belassen wurden.

Die größere Unterscheidung zeigt sich also nicht so sehr im Bausatz des Organs selbst, sondern in der Funktion der Teile. So hat der Penis samt Eichel vielfältige Aufgaben: er soll urinieren, erigieren, penetrieren und ejakulieren. Und er soll empfinden. Die Klitoris dagegen hat ausschließlich den Job zu empfinden. Dafür hat ihre Eichel mit 8.000 Nervenendigungen zwar gleich viele wie die Peniseichel, sie liegen aufgrund der kleineren Fläche aber wesentlich dichter beieinander.

Die erotische Schatzkiste: das Becken

Die weiblichen Hotspots liegen im Gegensatz zu den männlichen überwiegend innerhalb der erotischen Schatzkiste des Beckens. Auf die Bedeutung des Beckens für die sexuelle Funktion und das erotische Erleben haben insbesondere Praktikerinnen und Forschende hingewiesen, die den sexologischen Ansatz des Sexocorporel des Kanadiers Jean-Yves Desjardins vertreten.

Das Becken können Sie sich etwa so vorstellen: Es handelt sich um eine Art knöcherne Schale, die wie ein Früchteteller mit allerlei Köstlichkeiten gefüllt ist. Die Schale ist hinten über das Kreuzbein mit der Lendenwirbelsäule verbunden und vorne über die Hüftgelenke mit den Beinen.

Damit die Schätze nicht nach unten herausfallen oder unkoordiniert durcheinanderpurzeln, sind die Organe umgeben von Sehnen und Muskulatur. Nach unten hat das Becken ein dichtes Geflecht an Muskeln, das wie eine stabile Hängematte das Herausfallen der Organe verhindert. Diese stabile Muskulatur im unteren Bereich heißt Beckenboden. Viele von Ihnen werden schon von dessen Bedeutung für die Sexualität gehört haben. Die Beckenbodenmuskulatur ist für unser Projekt »Sexrettung« nicht deshalb so wichtig, weil sie das Herausfallen der Organe oder auch eine Inkontinenz verhindert, sondern weil wir aktiv mit ihr spielen können!

Der Beckenboden ist also ein dichtes Geflecht an Muskeln, welches unsere Sexualorgane umschließt und das wir bewusst ansteuern und trainieren können. Nach fortgeschrittenem Training können wir unsere inneren Genitalien praktisch selbst massieren. Das macht das erotische Empfinden intensiver – unabhängiger vom Partner – und damit wesentlich weniger störanfällig. Das gilt für alle Geschlechter. Wie wir im Folgenden sehen werden, liegt ein Großteil des weiblichen Sensoriums im Inneren des Beckens. Und selbst beim Mann mit seinem prominent hervorstehenden Genital liegt ein nicht unerheblicher Teil des Penis sowie die Prostata im Beckeninneren. Das wird für Männer spätestens dann relevant, wenn ihre Erektionen nicht mehr selbstverständlich sind, sondern sie ihr sexuelles Erleben und Funktionieren auf eigene Beine stellen wollen. Doch nun zuerst zum weiblichen Genital.

Die weiblichen Hot-Spots

Liebe Frauen! Wie gut kennen Sie Ihr eigenes Genital? Könnten Sie es spontan zeichnen? Haben Sie sich dort schon mal genauer betrachtet, z. B. mit einem Spiegel? Mögen Sie Ihr Genital? Berühren Sie es gern?