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Selbstregulation als Super-Skill Im Stress tendieren wir dazu, negativ zu denken, die Verantwortung bei anderen zu sehen und von ihnen Unterstützung zu erwarten. Oftmals gerät auch der Organismus aus der Balance, und belastende Gefühle und körperliche Symptome schaukeln sich gegenseitig auf. Das hat wiederum Auswirkungen auf unsere sozialen Beziehungen, unsere Leistungsfähigkeit und langfristig auf unsere körperliche Gesundheit. Der kleine Seelenretter hilft dabei, sich selbst besser wahrzunehmen und zu regulieren. Selbstregulation beinhaltet die Fähigkeit, sich zu beruhigen und wieder in einen kontaktfähigen Modus zu kommen; sie kann aber auch bedeuten, sich aus einer Lethargie oder Handlungsunfähigkeit heraus zu mobilisieren, um das eigene Leben wieder zu gestalten. Die erfahrene Psychotherapeutin Monika Röder richtet den Blick gleichermaßen auf den Körper wie auf Kognitionen und Emotionen. Sie übersetzt aktuelle Erkenntnisse aus der Neurobiologie und bewährte psychologische Modelle in lebensnahe Beispiele, anschauliche Skizzen und praktische Übungen. Der kleine Seelenretter vermittelt Selbstregulation dadurch auf eine Weise, dass man sofort damit beginnen kann. Die Autorin: Monika Röder, eid. anerkannte Psychotherapeutin; Berufseinstieg in der Psychiatrischen Klinik Münsterlingen am Bodensee (CH); Weiterbildung Systemische Therapie und Beratung bei der IGST Heidelberg; Leitung einer familientherapeutischen 2-Jahres-Gruppe in der stationären Jugendhilfe; 8 Jahre im psychologischen Team einer Vater-Mutter-Kind Vorsorge- und Rehaklinik. Seit 2011 ist sie selbständig mit eigener Praxis für Paartherapie und Systemtherapie in Bad Säckingen; seit 2017 zweite Praxis in Basel. Zusätzliche Weiterbildungen in integrativer Leib- und Bewegungstherapie, Paarlife, PEP, klinischer Hypnose, Traumatherapie (dbt cPTSD und Ego-State-Therapie), Sexualtherapie und klinischer Sexologie. Schwerpunkte: Paartherapie (Krisenintervention, Affären, Kommunikation), sexualtherapeutische Arbeit (Libidoverlust, Verlangensunterschiede, Funktionsstörungen), Psychotherapie (Lebenskrisen, Essstörungen, Sexualität).
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Seitenzahl: 319
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Monika Röder
WEGE ZU SELBSTREGULATION, INNERER RUHE UND VERBUNDENEM KONTAKT ZU ANDEREN
2024
Reihe »Fachbücher für jede:n«
Reihengestaltung und Satz: Nicola Graf, Freinsheim, www.nicola-graf.com
Umschlaggestaltung: B. Charlotte Ulrich
Umschlagfoto: © Richard Fischer • www.richardfischer.org
Illustrationen: Monika Röder
Redaktion: Nicola Offermanns
Printed in Germany
Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck
Erste Auflage, 2024
978-3-8497-0526-8 (Printausgabe)
978-3-8497-8484-3 (ePUB)
© 2024 Carl-Auer-Systeme Verlag und Verlagsbuchhandlung GmbH, Heidelberg
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1 EINFÜHRUNG
Warum so viel Neurobiologie?
Empfehlungen zur Nutzung des Buches
2 WAS IST SELBSTREGULATION?
Selbstregulation als Super-Skill
Selbstregulation statt Selbstkontrolle
Der Einfluss der Lebensumstände und Erwartungen im Hinblick auf unser Glück
Der Einfluss von sozialen Beziehungen und Selbstregulation auf unser Glück
Suche nach der glücklich machenden Lebensform
3 WIE WIR LERNEN
Gespeicherte Erinnerungen als Referenz für Annäherung oder Vermeidung
Wie wir Selbstregulation erlernen
Implizites Lernen am Modell
Lernen durch Co-Regulation
Das Gehirn umschreiben
4 DER KÖRPER ALS »LAUTSPRECHER« DER SEELE
Die Sprache des vegetativen Nervensystems
Das soziale Kontaktsystem
Mobilisierung
Immobilisierung
Sich selbst verstärkende Prozesse
Hierarchie der verschiedenen Modi
Mischformen der vegetativen Zustände
Anwendung der neurobiologischen Erkenntnisse
Realität als Ausdruck vegetativen Befindens
Unterschiedlicher Blick auf das Gleiche
Zeichen frühzeitig erkennen
Der »Balken im eigenen Auge«
Den Autopiloten ausschalten
Den Blick wieder weiten
Metaebene oder: Ist das wirklich so schlimm?
Die Frage nach dem Danach
Triggersituationen erkennen
Micro Habits oder neue Automatismen aufbauen
Micro Habits
Korrigierende Erfahrungen
Schlechtes Gewissen
Selbstwirksamkeit
Festigung
Die Rolle des Neurotransmitters Dopamin
5 SELBSTREGULATIONSMÖGLICHKEITEN
Selbstregulation – reine Symptomkosmetik?
Wenn Veränderung stagniert
Warnhinweis!
KÖRPER: Am Körper ansetzen
Berührung
Achtsamkeit
Der Körper als Freund
Atmung
Bewegung
Veränderung: bottom-up oder top-down?
Skalierung
GEIST: An den Gedanken ansetzen
Kognitives Umstrukturieren
Self-Parenting
Dankesagen
Spiritualität
SEELE: An den Gefühlen ansetzen
Gefühle identifizieren und benennen
Kleine Emotionskunde
Der Dreiklang der Emotionsregulation
Beispiele für gesunde Emotionsregulation
Weitere Ansätze zur Selbstregulation
Selbstregulation durch Musik, Naturerlebnisse und kreativen Ausdruck
Selbstregulation durch gesunde Lebensführung
Selbstregulation durch Versorgung menschlicher Grundbedürfnisse
Selbstregulation mithilfe von Co-Regulation in der Partnerschaft
Exkurs psychische Krankheit: Depression, Trauma und Psychosomatik
Depressionen
Trauma
Psychosomatik und Schmerzstörungen
Notizen
Meine Triggerliste
Meine Schatzliste
ZU GUTER LETZT
LITERATUR
ÜBER DIE AUTORIN
Das Leben mit seinen Entwicklungsphasen und Übergängen stellt uns immer wieder vor neue Herausforderungen, die eine Anpassung von uns verlangen. Individuelle, aber auch normative Krisen wie etwa die Pubertät, Adoleszenz oder auch die Elternschaft und das schrittweise Altwerden können Körper, Geist und Gefühlswelt gewaltig durcheinanderwirbeln. Wir alle wissen davon, diese Übergänge sind kein Geheimnis – und trotzdem fühlen wir uns oft schlecht vorbereitet. Individuelle Schicksalsschläge und Lebenskrisen erwischen uns manchmal mit solcher Wucht, dass Krankheiten entstehen und Beziehungen brechen können. Mitunter ist der ganz normale Alltag so schwierig, dass wir explodieren oder den Kopf in den Sand stecken möchten. Doch was ist es, das uns Menschen hilft, dem nicht gleich nachzugeben? Was tun wir, um nicht mehrmals täglich auszurasten, uns zu prügeln oder davonzulaufen, und was lässt uns trotz schwieriger Bedingungen immer wieder zur Vernunft und zurück in den Kontakt und ins Verhandeln kommen? Es ist die Fähigkeit, sich selbst zu beruhigen, anstatt impulsgesteuert destruktiv zu reagieren. Es ist die Fähigkeit zur Selbstregulation.
Selbstregulation ist – so einfach es klingt – doch eine recht komplexe Angelegenheit, darum zuerst ein paar Worte zum Begriff: In der psychologischen Fachwelt kursieren in diesem Zusammenhang die Bezeichnungen Affektregulation, Gefühlsregulation und Emotionsregulation. Unterschieden wird zwischen Affekten – eher kurzen, intensiven Gefühlsregungen mit einem Impuls nach außen –, basaleren Gefühlen mit einem konkreten Namen wie etwa Angst oder Trauer und komplexeren Emotionen, die auch Gefühlsregungen und Stimmungen beinhalten können. Für unser Anliegen der Selbstregulation sind diese Unterscheidungen allerdings nicht besonders relevant, denn wir Menschen sind mehr als nur Affekte, Gefühle oder Emotionen. Wenn wir fühlen, gibt es immer Interaktionen mit unserer Fähigkeit zu denken und auch mit inhaltlichen Gedanken. Und es gibt immer eine Interaktion mit biologischen, biochemischen und neurobiologischen Prozessen in unserem Körper. Der Mensch ist also eine komplexe bio-psycho-soziale Einheit – oder etwas traditioneller gesprochen: ein Wesen aus Körper, Geist und Seele:
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Wenn wir unter Stress geraten, hat das Auswirkungen auf unsere Physiologie und die vegetativen Prozesse – also den Körper.
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Es hat Auswirkungen auf unser Denken, das plötzlich nur noch auf eine Sache fixiert ist oder zu kreisen beginnt oder gefühlt gerade gar nicht mehr funktioniert – also auf den Geist bzw. die Kognitionen.
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Und es hat mit alldem selbstverständlich Auswirkungen auf unser Erleben und Empfinden der Situation und damit auf unsere Seele.
Was wir erleben, hat also Auswirkungen auf unser gesamtes Selbst mit allen Implikationen bis hin zur Vorstellung davon, wer oder was wir eigentlich sind. Aus diesem Grund sprechen wir in der Fachwelt zunehmend häufig von Selbstregulation, denn es geht darum, die gesamte Person, den gesamten Organismus oder das gesamte Selbst zu regulieren.
In der Regel wird der Begriff Selbstregulation so verwendet, dass wir beruhigend auf uns selbst einwirken können. Wenn wir unter Stress geraten, uns schnell aufregen oder Angst bekommen, ist es hilfreich, Strategien zu haben, um den Organismus wieder zu beruhigen. Doch Selbstregulation ist mehr. Neben der Beruhigung kann sie ebenfalls dazu dienen, uns aus einer immobilisierten Haltung heraus wieder handlungsfähig zu machen, also um Aktivierung und Mobilisierung.
Doch warum geht es hier nur um uns selbst? Drehen wir uns in dieser Welt nicht sowieso schon viel zu viel um uns selbst? Ja, das tun wir. Wir Menschen sind soziale Wesen. Wir brauchen andere Menschen. Wissenschaftliche Studien wie etwa die »Harvard Study of Adult Development« (Mineo 2017) belegen seit Jahrzehnten, wie wichtig verlässliche soziale Beziehungen, Freundschaften und auch Partnerschaften für unsere Gesundheit und unser Wohlbefinden sind. Einsamkeit ist rund um den Globus zu einem der größten Probleme und einer der relevantesten Gesundheitsgefahren der Menschheit geworden.
Selbstregulation kann sich nicht messen mit dem wohltuenden, heilsamen Effekt des Verständnisses und der Bedürfnisbefriedigung durch einen wichtigen anderen Menschen. Gerade in Krisen und schweren Zeiten hilft nichts besser als das Gesehenwerden, die Unterstützung, Fürsorglichkeit und der Trost einer anderen, für uns wichtigen Person.
Doch was ist, wenn ich niemanden habe? Was ist, wenn ich Angst vor menschlichen Kontakten habe? Oder umgekehrt: wenn ich nur an andere denke, aber niemand danach schaut, dass es mir gut geht – auch ich selbst nicht? Und was ist, wenn genau die Person, die mir helfen soll, der Grund für meine Krise ist? Wenn wir den Partner also mit Kritik und Vorwürfen attackieren und gleichzeitig vom Gegenüber Trost und Verständnis erhoffen? Das geht leider meistens schief. Denn – wie es in der Fachsprache heißt: Co-Regulation funktioniert nur mit einem regulierten anderen. Wenn ich also niemanden habe, oder wenn der andere sich selbst angegriffen, abgewertet oder unter Druck gesetzt fühlt, dann ist der heilsame soziale Kontakt nicht möglich, und der Partner oder die Partnerin kann mich nicht darin unterstützen, mich zu regulieren. Daraus folgt: Ich muss mich zuerst selbst retten.
In der Paartherapie gibt es eine Regel, die heißt: Selbstregulation vor partnerschaftlicher Regulation. Erst wenn wir bei uns aufgeräumt haben, sind wir auch im Sinne unserer Hirnfunktionen wieder wirklich beziehungsfähig. Erst wenn wir selbst – wenn auch nicht vollständig reguliert, aber – regulierter sind, können wir unsere menschliche, soziale Natur entfalten. Nur so können wir die sozialen Kontakte knüpfen und pflegen, die für uns Menschen so lebenswichtig sind. Aber verantwortlich für die eigene Regulation ist nicht der andere, sondern wir selbst. Darum spreche ich von Selbstregulation.
Viele Menschen verstehen das, und dennoch fällt es ihnen sehr schwer, es auch umzusetzen. In einer Therapiesitzung können wir ihre Muster erarbeiten, und trotzdem heißt es am Ende der Stunde: »Aber wie soll ich das machen?«
Wir Menschen sind vielschichtig, unterschiedlich und manchmal widersprüchlich und kompliziert. Es gibt kein einfaches Rezept fürs Funktionieren, sonst wäre es längst auf dem Markt.
Selbstregulation ist – wenn auch unsichtbar – das Kernthema praktisch jedes psychologischen Ratgebers, Coachings und jeder Psychotherapie. Manchmal kommt sie im Kleid der Ursachenforschung daher: »Wer ist schuld an der Krise? Das muss ich wissen, damit es mir endlich besser geht. Sind es frühkindliche Prägungen und/oder aktuelle Vorkommnisse und Überlastungen? Wie können wir die Ursachen beheben?« Manchmal geht es einfach darum, verbreitete Situationen zu beschreiben, um die Betroffenen zu entlasten, Phänomene zu erklären und damit Normalität herzustellen. Zu hören, dass es vielen anderen Menschen ebenso geht, auch wenn sie nicht drüber sprechen, kann Betroffene oft beruhigen. Häufig geht es auch um Skills, also Handlungsmöglichkeiten, um die Krisen besser managen zu können.
Entsprechende Publikationen aller etablierten Therapierichtungen wie der Psychoanalyse, der kognitiven Verhaltenstherapie, systemischer und humanistischer Therapien bis hin zu allen Ausprägungen von Esoterik füllen dabei ganze Bücherregale und treiben auch Fachleute um: »Wer hat die wirkungsvollste Methode? Ist es nötig, die frühkindlichen Beziehungen zu wichtigen Bezugspersonen noch mal zu durchleben? Hilft es, sich in einer Expositionstherapie schlimmsten Ängsten auszusetzen, indem die betreffende Person Spinnen auf die Hand nimmt oder auf hohe Türme steigt? Müssen wir alle grauenvollen Traumata noch mal durchleben, um sie endlich loslassen zu können?« Praktisch jede Disziplin hat dazu eine andere Meinung. »Oder geht es vielleicht einfacher? Reicht es nicht, positiver zu denken? Wie ist es mit Meditation? Oder funktioniert es, sich hypnotisieren zu lassen, dann geht es vielleicht ganz ohne Anstrengung?«
Auch in der Pädagogik sowie in der Kinder- und Jugendlichenpsychotherapie ist Selbstregulation ein großes Thema. Obwohl sich dieses Buch an Erwachsene richtet, weil ich seit Jahrzehnten mit Erwachsenen arbeite, möchte ich eine kleine Anmerkung zu Kindern und Jugendlichen machen. Ein wesentlicher Unterschied zwischen Kindern und Erwachsenen ist der, dass der präfrontale Kortex (der Hirnteil, mit dem wir Erwachsenen moderierend auf unser alarmiertes vegetatives Nervensystem eingreifen können) erst etwa ab dem 25. Lebensjahr voll ausgereift ist. Die Bereiche für Lust und Belohnung dagegen sind viel früher voll funktionsfähig. Das ist auch der Grund, weshalb Jugendliche zu riskantem Verhalten tendieren, wenn etwas Spaß macht. Dennoch sind die meisten vorgestellten Erkenntnisse, Modelle und Methoden zur Selbstregulation ebenfalls bei Kindern und Jugendlichen anwendbar. Sie müssen einfach etwas schlichter dargestellt, in altersgerechte Sprache verpackt und entsprechend dem Entwicklungsstand begleitet werden.
In diesem Buch möchte ich helfen zu verstehen, was in unserem Organismus passiert, wenn etwas in uns kippt, und wie wir regulierend darauf Einfluss nehmen können. Dabei beziehe ich mich immer wieder auf die moderne Hirnforschung, und das hat folgende Gründe:
Erstens, weil Lernen biologische Voraussetzungen braucht. Im Stress ist der Organismus nicht wirklich lern- und entwicklungsfähig. Er ist damit beschäftigt, zu »überleben« und seine Funktionen trotz gefühlter oder realer Bedrohung aufrechtzuerhalten. Er ist geflutet von Stresshormonen und dabei konzentriert auf Kampf oder Flucht oder er »kollabiert«. Die Voraussetzungen für das Lernen stehen also nicht ausreichend oder gar nicht zur Verfügung.
Zweitens brauchen wir die Neurobiologie, weil Verstehen allein nicht ausreicht! Durch die moderne Hirnforschung wissen wir, dass auch auf der biologischen Ebene Veränderungen nötig sind, indem wir unser Gehirn umschreiben. Der Hirnforscher Joachim Bauer (2022) beschreibt, dass unser Bild darüber, wer wir sind, in sogenannten Selbstnetzwerken abgespeichert ist. Diese entstehen im Laufe des Lebens zunächst averbal – also ohne Worte, rein über Resonanz als Reaktion auf die nonverbalen Botschaften der Personen aus unserem Umfeld (z. B. »Ich bin willkommen/toll/störend/eine Last …«), später auch über verbale Botschaften (z. B. »Schon wieder einen Fehler gemacht, wie dumm …« etc.) und schlagen sich so mit der Zeit in physiologischen neuronalen Netzwerken nieder. In diesem Sinne können die Nervenzellverbindungen entweder bestätigt werden und ihre Zusammenarbeit festigen – beispielsweise, indem Ärztinnen oder Therapeuten unachtsam Diagnosen kommunizieren mit Zusätzen wie »Da kann man nichts machen« oder »Sie sind selbst schuld«. Oder sie lassen sich verändern über sogenannte korrigierende Erfahrungen. Das sind Erfahrungen, die anders verlaufen, als unser inneres System erwartet. Doch das Umschreiben funktioniert nur mit Zeit, Geduld und neuer Aktivität, die ein neues Zusammenarbeiten der Nervenzellen ermöglicht und damit neue Netzwerke bahnt. In diesem Zuge verkümmern alte synaptische Verbindungen, und neue Netzwerke entstehen, aus denen sich mit der Zeit neue Handlungsautomatismen ergeben können.
Drittens brauchen wir die Erkenntnisse der Neurobiologie, um zu verstehen, warum wir die gleiche Welt, die gleiche Umgebung, den gleichen Menschen manchmal so unterschiedlich wahrnehmen. Einmal finden wir das Leben, unsere Wohnung oder Partnerschaft gut und ein andermal haben wir den Eindruck, es ist zu eng, zu einsam, der andere ist so schwierig oder die Welt so ungerecht. Tatsächlich ist unsere Wahrnehmung aber gefärbt von dem psychovegetativen Modus, in dem wir uns gerade selbst befinden. Im euphorisierten Zustand der Verliebtheit erleben wir die gleiche Welt plötzlich aufregend und bewältigbar. Ist unser gesamtes System allerdings im Alarmzustand, denken, spüren und erleben wir die gleiche Umwelt kritischer und bedrohlicher und lassen uns leichter in Konflikte hineinziehen. Mit dieser belasteten Stimmung wirken wir wieder auf unsere Umwelt ein und generieren damit weitere sich selbst verstärkende Entwicklungen.
Ein Schlüssel zur Veränderung ist die Übernahme der Verantwortung für den eigenen Stress und die eigene Fähigkeit zur Selbstregulation.
Dieser Gedanke wird sich als roter Faden durch das ganze Buch ziehen. Ich versuche dabei, auf die Selbstregulation bezogen die Themenstränge Psychologie und Neurobiologie zusammenzuführen und zu synthetisieren. Ich versuche, therapieschulenübergreifend herauszufiltern, was hilft und auf was es im Kern ankommt. Mit meinen Klientinnen und Klienten in der Praxis habe ich dazu eine Entdeckung gemacht. Solange wir gute Vorhaben generieren (also z. B.: Machen Sie mehr Sport, steigen Sie aus dem Streit aus, versuchen Sie, die Situation umzudeuten und als Chance zu sehen, …), kommt es zur immer gleichen Reaktion: »Wie soll ich das machen? Es geht nicht …« Sobald ich mit den Menschen konkret und kleinschrittig den gesamten Prozess bestehend aus Gedanken, Gefühlen, Impulsen, Körperwahrnehmungen, Handlungen und möglichen Reaktionen detailgenau durchskizziere, sagen sie: »Stimmt, so könnte ich es machen … bin ich irgendwie noch nicht drauf gekommen.« Interessant ist dabei, dass in der Situationsskizze oft keine neuen Erkenntnisse dazu gekommen sind! Die Menschen haben nichts maßgeblich Neues erfahren, höchstens in kleinen Details, und trotzdem scheint es plötzlich machbar.
Aus diesem Grund besteht das vorliegende Buch aus zwei wesentlichen Elementen: erstens dem Konzentrat der Erkenntnisse, die nachweislich, wissenschaftlich fundiert und therapieschulenübergreifend wirksam sind; zweitens aus einer Vielzahl praktischer Beispiele, in denen ich detailgenau und mit dem Hinweis auf die elementaren Wirkmechanismen deutlich mache, wie der Prozess der Selbstregulation ablaufen kann. Manche Modelle und Erklärungen wiederhole ich im Buch also in Schleifen immer wieder von Neuem, damit sich das Wichtige besser einprägen kann.
Der kleine Seelenretter ist wahrscheinlich das grundlegendste und vielleicht auch unspektakulärste meiner bisher drei Rettungsbücher – und dennoch ist es das wichtigste. Denn jedes sexuelle Problem, jede Beziehungskrise, jede Lebenskrise und auch jede psychische Krise steht oder fällt mit der Fähigkeit zur Selbstregulation.
In diesem Buch begleite ich Sie dabei, wie Sie Ihren Organismus sowie seine Zeichen und seine Sprache besser verstehen können und lernen, hilfreich auf sich selbst einzuwirken. Wie meine beiden Ratgeber zur Partnerschaft (Der kleine Eheretter) und Sexualität (Der kleine Sexretter) besteht auch dieses Buch aus Erklärungen und psychologischen Modellen sowie aus anschaulichen Illustrationen und der Rubrik »Aus dem wirklichen Leben« mit Beispielen von ganz normalen Menschen wie »du und ich«.
Aus neuro- und lernpsychologischer Sicht gibt es zwei Dinge, mit denen Sie Ihr Lernen intensivieren können:
1.
Lesen Sie nur im wirklich wachen Zustand. Lernen braucht einen Fokus und eine gewisse Aufmerksamkeit und Wachheit, also eine kleine Prise Adrenalin. Wegen der normalen Aufmerksamkeitsspanne sollte die Lern- und Lesephase nicht länger als 60 bis max. 90 Minuten dauern.
2.
Gönnen Sie sich danach wirkliche Pausen für das Gehirn. Das kann, wenn es an der Zeit ist, tiefer Schlaf sein oder auch jede andere Form von wirklicher Entspannung im Kopf.
Da es sich bei der Selbstregulation um ein solch zentrales Geschehen menschlichen Erlebens handelt, habe ich das Buch besonders übungsorientiert und praxisnah gestaltet. Selbstverständlich können Sie es auch überfliegen oder querlesen. Wer sich jedoch intensiv mit der Thematik beschäftigen und das Erlernte noch besser integrieren möchte, findet hierfür in den Rubriken »Das können Sie tun!« viele Übungsvorschläge, die sich umgehend ausprobieren lassen. Falls Sie dort eine Sortierung nach Wirksamkeit vermissen, hat das einen Grund: Manche Tools wirken beim einen Menschen, aber beim anderen nicht. Manche Tools wirken am einen Tag super, aber in der nächsten Krise nicht. Manche Tools wirken eine Zeit lang großartig und verlieren dann ihre Wirkung. Weiterhin ist es so, dass Krisen sich aus viel Stress – also vielen kleinen Elementen – aufgebaut haben. Dafür gibt es meist keine »Super-Intervention«, die alles klärt, sondern der Stress muss in mehreren Schritten wieder abgebaut werden.
Ich empfehle daher, möglichst alle Übungen zumindest kurz zu testen, sie zu bewerten und die für Sie persönlich wirksamsten dann in einer individuellen Liste am Ende des Buches zu sammeln. Die Liste können Sie selbstverständlich fortlaufend ergänzen und bearbeiten. In der Krise haben Sie dann ohne lange Suche etwas zur Hand. Zweitens möchte ich Ihnen empfehlen, auch wirkungsschwächere oder scheinbar unwirksame Übungen ein weiteres Mal auszuprobieren. Es gibt Zeiten, in denen wir eine starke Wirkung spüren, und es gibt Zeiten, in denen verpuffen manche Tools wirkungslos. Das hat – wie wir noch genauer sehen werden – mehr mit dem Zustand unseres vegetativen Nervensystems als mit dem Tool selbst zu tun. Geben Sie ihm also eine zweite oder dritte Chance, und wenn es wirklich nicht zu Ihnen passt, sortieren Sie es aus.
Außerdem empfehle ich Ihnen, vor und nach jeder Übung den persönlichen Stress auf einer imaginären, inneren Skala von 0 (kein Stress, tiefenentspannt) bis 10 (Alarmstufe rot) – oder auch feiner von 0 bis 100 – zu skalieren. Es kann passieren, dass Sie Ihren Stress momentan z. B. bei 5 einordnen. Nach der Atemübung sind Sie vielleicht bei 4 – und durch die Erkenntnis, dass der Stress gesunken ist, plötzlich bei dreieinhalb.
Wenn Sie in dieser Weise arbeiten, haben Sie am Ende der Lektüre eine persönliche »Schatzliste«. Dort gibt es auch die Möglichkeit, persönlich wichtige Erkenntnisse beim Lesen zu notieren und zur besseren Verankerung mit bisherigem Wissen zu verknüpfen. Ebenfalls am Ende des Buches finden Sie die Möglichkeit, eine persönliche »Schatzkiste« anzulegen, die gefüllt ist mit Erkenntnissen, Materialien und anderen Schätzen, mit denen Sie sich auch in schlimmeren Krisen besser selbst regulieren können.
Diese Listen und Kisten am Schluss des Buches werden aufgrund unserer Einzigartigkeit bei jedem Leser und jeder Leserin1 anders aussehen. Ihre Liste ist genau für Sie gedacht. Sie ist der Start in eine verbesserte Selbstregulationsfähigkeit, aber sie wird niemals vollständig sein. Wir entwickeln uns weiter, verändern uns, wachsen – und was einst hilfreich und wirkungsvoll war, kann mit der Zeit erodieren, also seine Wirkung verlieren. Anders rum werden, wenn Sie mit wachem Blick durch die Welt gehen, immer wieder neue Tools und Möglichkeiten auftauchen, die Sie nachtragen und mit denen Sie wirkungsvoll Ihr eigenes System regulieren können. Die Liste ist also nur der Anfang. Ich wünsche Ihnen eine neugierig-forschende Haltung und viel Spaß beim Lernen.
1 In all meinen Büchern lege ich Wert auf eine gendersensitive Sprache. Da die Instrumente dazu jedoch Moden durchlaufen (z. B. »LeserInnen«, »Leser*innen«, »Leser:innen« etc.), verwende ich häufig die Doppelnennung (»Leserinnen und Leser«), gelegentlich das generische Femininum (»Leserinnen« – und alle anderen Geschlechter sind mitgemeint), seltener das generische Maskulinum (z. B. »Partner« – und alle anderen Geschlechter sind mitgemeint) und vermeide das kleine Wörtchen »man«, das mir zu nah am »Mann« ist (»So fällt … eben seine Entscheidungen …«). Stattdessen spreche ich häufig von »wir«, weil auch ich mich ständig selbst regulieren muss und die meisten im Buch angesprochenen Themen aus dem eigenen Leben kenne :-)
Selbstregulation ist die Fähigkeit, beruhigend, tröstend oder aktivierend auf sich selbst, den Körper, die Gedanken und Gefühle einwirken zu können, um sich zu beruhigen oder zu einer gewünschten Handlung zu mobilisieren und damit den angestrebten inneren Frieden (wieder) zu finden.
Die Fähigkeit zur Selbstregulation ist der Schlüssel zu Gesundheit, Erfolg und erfüllenden Beziehungen. In einer neuseeländischen Langzeitstudie konnte nachgewiesen werden, dass nicht Intelligenz oder soziale Herkunft darüber entscheiden, wie erfolgreich Kinder im späteren Leben sind. Entscheidend ist ihre Fähigkeit zur Selbstregulation (Moffitt, Poulton a. Caspi 2013). Vielleicht kennen Sie das berühmte Naschexperiment? Kinder werden mit Süßigkeiten und dem Versprechen allein gelassen, sie bekämen doppelt so viel, wenn sie mit dem Essen warten können. Kinder, denen das gelungen ist, zeigten dabei die gleichen Regulationsstrategien, die auch bei Erwachsenen wirken, wie beispielsweise Ablenkung oder beruhigende Selbstgespräche. In anderen Langzeitstudien zeigte sich, dass Kinder mit ausgeprägterer Fähigkeit zur Selbstregulation tatsächlich besser im Leben standen: Sie hatten ein gesünderes Ernährungsverhalten, einen geringeren Suchtmittelmissbrauch, bessere Schul- und Berufserfolge und glücklichere Partnerschaften.
Erlernt wird die Fähigkeit zur Selbstregulation meist im Elternhaus, und zwar durch anfängliche und später immer weiter ausklingende Unterstützung der Eltern. Kinder lernen dabei auf unterschiedlichen Ebenen und mehr oder weniger bewusst. Dies kann ausdrücklich geschehen, indem beispielsweise die Großmutter dem ungeduldig auf den Besuch wartenden Kind erklärt: »So, jetzt setzt du dich erst mal hier hin und malst ein schönes Bild für die Tante, die gleich kommt.« Und es kann implizit geschehen, wenn das Kind beobachten kann, wie die wichtigen Bezugspersonen mit Stress umgehen, indem sie sich beispielsweise eine Tasse Tee kochen und sich damit ein paar Minuten ruhig hinsetzen, um sich ein kleines Päuschen zu gönnen. Wesentlich sind dabei insbesondere zwei Strategien, die im nächsten Kapitel erklärt werden: die sogenannte Co-Regulation, also die beruhigende Unterstützung durch eine regulierte andere Person, und das Lernen am Modell, das heißt, den anderen mehrfach, eher unbewusst dabei zu beobachten, wie er oder sie es macht.
Selbstregulation und Selbstkontrolle sind nicht dasselbe. Es gibt Menschen, die sich sehr gut kontrollieren können, die das allerdings über starke innere Kritiker, viel Disziplin und ein hohes Anspannungsniveau machen. Sie stoppen innere Handlungsimpulse etwa durch selbstabwertende Gedanken wie »Du bist wieder viel zu ungeduldig«, »Du bist unmöglich« oder »Lass es, du machst wieder alles viel schlimmer!« und setzen gegen die innere Unruhe eine noch größere Anspannung, um sich selbst zu stoppen. Die innere Anspannung eskaliert dadurch noch mehr, erzeugt weiteren Stress, der mit noch höherer Anspannung kontrolliert werden muss. Wenn wir uns dagegen innerlich regulieren, beruhigt sich das innere Stressniveau. Der Blutdruck sinkt, der Herzschlag beruhigt sich, und wir werden wieder stabiler, beziehungs- und handlungsfähiger. Die Fähigkeit, wieder »selbst-wirksam handeln« zu können, ist ein wirksames Mittel gegen Ohnmachtsgefühle und ein elementares Bedürfnis des Menschen.
Viele Menschen verwechseln Glück mit Fröhlichsein, Spaßhaben oder Euphorie. Sie spüren ihr Glück nur, wenn es sich in intensiven Gefühlszuständen zeigt. Doch was ist Glück? Der Autor und Podcaster Jay Shetty findet, Liebe sei ein Begriff, der zwar nicht überschätzt werden darf, aber unterdefiniert sei (Shetty 2023). Das Gleiche denke ich vom Glück. Bei der Liebe unterscheiden wir zwischen den eher flüchtigen, aber intensiven Zuständen oder Phasen des Verliebtseins und einer stabileren Fähigkeit zu lieben. Ähnlich ist es mit dem Glück. Wir erleben eher flüchtige Glücksmomente, wenn wir uns über etwas sehr freuen, stolz sind, für etwas belohnt werden oder ausgelassen lachen und feiern. Andererseits gibt es die stabilere Fähigkeit, glücklich zu sein und ein gutes, glückliches Leben zu führen.
In einem Interview mit dem Hypnotherapeuten Gunther Schmidt über das Selbst (YouTube 2020)2 definiert der Hirnforscher Joachim Bauer Glück als Zustand, in dem wir es mit uns selbst aushalten können. Glück bedeute, aus dem Reiz-Reaktions-Modus auszusteigen, Momente der Muße zu finden und in einem friedlichen Zustand mit uns selbst zu sein.
Auch die Direktoren der »Harvard Study of Adult Development« versuchen, Glück zu definieren (Waldinger a. Schulz 2023). Sie beschrieben es als eine Art Wohlbefinden, Aufblühen oder Gedeihen, also eher einen aktiven Zustand mit Wachstumskomponente als eine flüchtige Stimmung. Ihre Forschung bezieht sich demnach eher auf die Fähigkeit, ein gutes Leben zu leben. Ich möchte Glück für unser Projekt der Selbstregulation folgendermaßen beschreiben:
Glück ist ein ausgeglichener, friedlicher Zustand mit uns selbst, von dem aus wir fröhliche Stimmungen erleben, aber auch schwierigere Zeiten bewältigen können. Glücklichsein ist zudem eine Fähigkeit, mit der wir immer wieder vertrauensvoll zu unserer inneren Mitte und Zufriedenheit zurückkehren und in der wir stetig wachsen können.
Die Fähigkeit zur Selbstregulation hat also einen gewissen Bezug zur Fähigkeit, glücklich zu sein bzw. ein gutes Leben zu führen, denn je besser wir uns regulieren können, umso größer ist die Chance, trotz aller Widrigkeiten des Lebens immer wieder in eine ausgewogene Ruhe und Balance zu finden. Ein wesentlicher Schlüssel sind dabei unsere Erwartungen. Es ist Teil unserer menschlichen Natur, dass wir nach immer mehr und Besserem streben. Bereits die Vorfahren des Homo sapiens suchten nach dem größten Mammut, der schönsten und gesündesten Frau und den süßesten Beeren. Dieses Streben ist seit Jahrtausenden in den menschlichen Genen verankert und sicherte das Überleben unserer Art.
Doch obwohl wir Menschen fortwährend versuchen, unsere Leistungsfähigkeit, unseren Wohlstand und Lebensstandard zu erhöhen, werden wir dabei nicht glücklicher. Denn größere Errungenschaften im Lebensstandard übersetzen sich nicht in Glück, sondern in noch höhere Erwartungen.
Voltaire wird das Zitat zugeschrieben: »Perfect is the enemy of good«, was etwa bedeutet: Perfektionismus ist der Feind des Guten. Je mehr wir versuchen, glücklicher zu werden, desto mehr Stress entsteht. Wie die Untersuchungen zum World Happiness Report regelmäßig zeigen, gibt es in vielen Kulturen einen sozialen Druck, also hohe Erwartungen zum Glücklichsein. Der hohe Erwartungsdruck kann ins Gegenteil umschlagen und zu Defiziten in der psychischen Gesundheit vom Burn-out bis hin zu hohen Suizidraten führen.
Es sind also nicht so sehr die Lebensumstände, Äußerlichkeiten oder auch konkrete Lebensereignisse, die uns glücklich oder unglücklich machen. Eine Scheidung, ein Jobverlust oder selbst ein Lottogewinn löst nicht per se ein Glücks- oder Unglücksempfinden aus. Das persönliche Erleben ist abhängig von den Erwartungen, der persönlichen Bewertung und im Wesentlichen von den individuellen Erinnerungen und Vorerfahrungen, die im Gedächtnis gespeichert sind und zu entsprechenden Erwartungen und Bewertungen führen. So kann der Jobverlust je nach Individuum und Kontext als Befreiung, als tiefe Demütigung oder als Auslöser für existenzielle Ängste empfunden werden. Den Lottogewinn können wir als Glück und große Entlastung, aber auch als Verpflichtung zu verantwortungsvollem Handeln, Sorgen vor Neid und Bedrängnis und damit als Druck empfinden. Das konkrete Empfinden ist, wie wir später noch genauer sehen werden, Ergebnis autonomer innerer Kettenreaktionen im vegetativen Nervensystem, die mit individuellen Erinnerungen und Bewertungen zusammenhängen und damit angenehme oder unangenehme Gefühle auslösen können.
Was also ist es, das uns wirklich glücklicher und zufriedener macht? In den USA wurde 1938 eine Untersuchung begonnen, die bis heute läuft. Die »Harvard Study of Adult Development« gilt als die längste Studie zu Glück und Lebensumständen, die jemals gemacht wurde. Erstmals ging es nicht um die Frage, was Menschen krank macht, sondern was sie wachsen lässt. Von den 724 Männern, mit denen die Studie begonnen wurde, sind noch einige mit über 90 Jahren am Leben. Weitergeführt wird sie mit ihren 2.000 Kindern. Die ersten Probanden und ihre Angehörigen werden regelmäßig interviewt, beobachtet und medizinisch untersucht. Das Ergebnis lautet: Menschen, die in gute, verlässliche soziale Beziehungen eingebettet sind, sind gesünder, glücklicher und leben länger. Entscheidend ist also die Qualität der Beziehungen. Selbstverständlich gibt es Menschen, die ein größeres Bedürfnis nach sozialen Kontakten haben, und solche, die mehr Rückzug brauchen. Doch Einsamkeit, also unfreiwilliges Alleinsein, und das Fehlen von nahen, verbundenen Bezugspersonen lässt Menschen weniger glücklich und weniger gesund sein. Ihre Hirnfunktionen bauen sich früher ab, und sie haben ein kürzeres Leben.
Diese Regel ist inzwischen recht bekannt. Doch warum ist sie so leicht zu verstehen und dennoch so schwer umzusetzen? Es liegt daran, dass menschliche Beziehungen manchmal schwierig und kompliziert sind und wir darum oft davor zurückweichen. Dass warme, verlässliche Beziehungen gut für uns sind, liegt auf der Hand. Aber wie ist es mit flüchtigen Gesprächen mit fremden Menschen? Viele Menschen sind sich einig: Da habe ich lieber allein meine Ruhe. Doch wie in vielen anderen Bereichen sind wir Menschen recht schlecht darin zu erkennen, was wirklich gut für uns ist: In einer großen Chicagoer Studie zeigte sich, wie falsch die Teilnehmenden mit dieser Einschätzung lagen (Epley a. Schroeder 2014): Berufspendlerinnen und -pendler wurden befragt, ob sie sich wohler fühlen würden im Gespräch mit anderen Fahrgästen oder eher allein bzw. einfach mit ihrer üblichen Arbeit beschäftigt. Durchgängig bevorzugten die Befragten das Alleinsein oder andere Tätigkeiten, weil sie dachten, die anderen Menschen wünschten keinen Kontakt zu ihnen, oder weil sie selbst den Kontakt zu kompliziert fanden. In verschiedenen Untersuchungssparten wurden die Teilnehmenden dann instruiert, entweder ein Gespräch aufzunehmen oder wie üblich für sich allein zu bleiben. Das Ergebnis war signifikant und überraschend: Praktisch alle Teilnehmenden hatten sich verschätzt und genossen die Zeit im Gespräch mit der fremden Person mehr als diejenigen, die allein blieben. Dies traf sowohl auf Fahrgäste zu, die das Gespräch suchten, als auch auf diejenigen, die zum Gespräch eingeladen wurden. Der befürchtete »Liking Gap«, also die Erwartung, der andere würde das Gespräch mit einem selbst nicht mögen, hatte sich nicht bewahrheitet, sondern diejenigen in Kontakt – egal, ob selbst initiiert oder nicht – hatten sich bei der Fahrt signifikant wohler gefühlt.
Ein grundlegendes Dilemma von uns Menschen ist das Bedürfnis nach guten sozialen Kontakten einerseits und nach Sicherheit andererseits. Das kann gut laufen in dem Sinne, dass wir uns in und mit unseren Beziehungen wohl und sicher fühlen. Es kann aber auch sein, dass genau diese bedeutsame Person zur Quelle von Unsicherheit wird. Es gibt unendlich viele Dinge oder Verhaltensweisen, die uns am anderen stören, ärgern oder verletzen können. Wenn wir im Streit oder Konflikt dabei weiter bei der anderen Person stehen, sind wir nicht mehr sicher – und wenn wir uns in Sicherheit bringen, verlieren wir den Kontakt. Ohne die Fähigkeit zur Selbstregulation würden wir häufiger automatisch defensiv reagieren, kämpfen, streiten oder fliehen und unsere Beziehungen damit belasten oder gar zerstören. Je besser wir uns selbst innerlich steuern und beruhigen können, umso kontaktfähiger werden wir und umso eher schaffen wir die Voraussetzungen für Glück und Gesundheit.
Um dieses und anderes Wissen umzusetzen, bedarf es der Fähigkeit zur Selbstregulation. Wir brauchen Möglichkeiten, mit denen wir unsere Angst und Sorge vor dem Kontakt etwas beruhigen können. Und wir brauchen die Fähigkeit, uns zu aktivieren, und – wenn es gut läuft – kommunikative Routine und Erfahrungen, um in den wohltuenden Kontakt zu gehen, der dann wiederum regulierende Wirkung haben kann. Mit einer verbesserten Selbstregulationsfähigkeit wächst also auch unsere soziale Kontaktfähigkeit.
AUS DEM WIRKLICHEN LEBEN: VITO UND LUISE
VITO ist gerade 20, als er in Paris bei einem Auslandssemester LUISE trifft. Sie ist die Frau, mit der er Kinder kriegen und alt werden will. Er hat noch keine intimen Erfahrungen gesammelt, und ein bisschen stresst es ihn, dass die gleichaltrige Luise vor ihm schon »6 Sexualpartner« hatte. Nicht, dass er oder sie etwas vermisst. Es ist die Furcht, dass ihm seine Unerfahrenheit mal gewaltig um die Ohren fliegen könnte und er deshalb in zehn oder 20 Jahren praktisch fremdgehen »muss«.
Die beiden haben eine gute Gesprächskultur und unterhalten sich offen über ihre Gefühle. Als beide zurück in Deutschland sind, stirbt Vitos Vater. Auf dem Sterbebett verrät der ihm, dass er Vitos Mutter immer treu gewesen sei, aber das Gefühl nicht loswerde, im Leben einiges verpasst zu haben. Seine Traurigkeit befeuert Vitos Sorgen, und als zur Beerdigung sein Lieblingsonkel Toni erscheint, nutzt er die Gelegenheit, abends noch ein Bier mit ihm zu trinken. Toni ist in seinem Leben beruflich viel herumgekommen und lebt jetzt allein in seiner Villa in Südfrankreich. Nach dem dritten Bier wird er redselig, und Vito teilt ihm seine Sorgen mit.
»Weißt du, mein Junge«, sagt der Onkel, »dein Papa war ein Feigling. Er ist nicht nur vor anderen Frauen, sondern auch vor sich selbst davongelaufen.« Vito ist etwas schockiert, hört aber weiter zu. »Und ich bin genauso ein Esel, nur andersrum«, erzählt Toni weiter. »Ich habe keine schöne Blume ausgelassen und jetzt bin ich allein. Abends sitze ich auf meiner traumhaften Terrasse und fühle mich einsam. Aber keine reife, erwachsene Frau will mehr bei mir bleiben, weil ich so ein Eigenbrötler geworden bin. Irgendwie müssen wir alle mit den Entscheidungen leben, die wir fällen.«
Das Gespräch mit Toni beschäftigt Vito noch lange. Er findet einfach keine Ruhe. Es beschäftigt ihn so sehr, dass er beschließt, eine professionelle Beratung aufzusuchen. Vito war noch nie in einer Therapie und ist überrascht von der offenen Sprache der Therapeutin. »Ja. Der Tag wird kommen, an dem Sie Ihre Entscheidung bereuen«, sagt sie ungeniert. »Zum Beispiel, wenn die kleinen Kinder da sind, alle nur noch im Schlabberlook rumlaufen und Ihre Frau keinen Bock mehr auf Sex hat. – Aber der Tag wird auch kommen, wenn Sie den anderen Weg einschlagen und sich jetzt noch mal ordentlich sexuell austoben.« Die Therapeutin skizziert auch da, dass irgendwann Fragen und Zweifel aufkommen können wie etwa: »Wann habe ich genug experimentiert?« Oder: »Luises Erfahrungen waren emotionaler/weniger emotional als meine … sie hat diese Praktiken ausprobiert, ich nur diese …« Oder: »Ich lebe mich jetzt aus, finde irgendwann eine andere Frau fürs Leben, aber träume ewig von Luise?« Und so weiter …
Im Beratungsgespräch hört Vito zum ersten Mal den Begriff Selbstregulation. Die Therapeutin fragt ihn: »Es gibt 150 verschiedene Schokoriegel und tausend Serien. Wann wissen Sie, wann Sie genug haben?« Dann bestätigt sie Onkel Tonis These: »Es gibt keine falschen Entscheidungen«, sagt sie. »Jede Entscheidung hat erwünschte und unerwünschte Auswirkungen, und wir müssen lernen, Verantwortung für unser Handeln zu übernehmen. Auch wenn uns noch so viele Gedanken und Szenarien im Kopf herumschwirren, ist es unsere eigene Aufgabe, uns selbst zu beruhigen und davon ausgehend verantwortungsvoll die weiteren Entscheidungen zu fällen.«
Das Gespräch hat Vito verwirrt. Und trotzdem geht er entlastet nach Hause. Er weiß jetzt, was er tun möchte. Er möchte sich für diese Frau entscheiden und lernen, in seinen Reaktionen stabiler zu werden.
Die meisten Menschen wissen, wie wichtig soziale Kontakte im Leben sind. Sie denken: Wenn ich einmal mein »richtiges« Glück gefunden habe, dann geht es mir gut und ich muss mich nicht mehr aufregen. Sie suchen das Glück in der idealen Ehe, im beruflichen Erfolg oder sozialen Status. Aber die Rechnung geht nicht unbedingt auf. Solange wir die Erfüllung im Außen suchen, sind wir abhängig davon, dass sich die Dinge glücklich fügen, oder wir müssen uns immer noch mehr anstrengen, um dem nachzulaufen, was wir suchen.
Es gibt sie nicht, die eine, richtige Lebens- oder Beziehungsform, die automatisch dauerhaft hält und uns vor unangenehmen Gefühlen bewahrt. Normales Leben – egal, ob arm oder reich, gebildet oder ungebildet, erfolgreich oder nicht – folgt einer zyklischen Dynamik: Anspannung, Entspannung. Tag, Nacht. Nähe, Distanz. Gute Zeiten, schlechte Zeiten. Auf, ab. Und auch unsere Bedürfnisse befinden sich in einem ständigen Wandel.
Unsere Selbstregulationsfähigkeit ist die zentrale Kompetenz, um wieder ins Gleichgewicht zu kommen, wenn wir nicht kriegen, was wir wollen. Wir brauchen sie, um soziale Kontakte aufzubauen. Wir brauchen die Fähigkeit, um Stopp sagen zu können, wenn uns die Nähe zu groß wird. Und wir brauchen das Einfühlungsvermögen und die Bindungsfähigkeit, um Beziehungen so zu führen und zu pflegen, dass es sich für uns, aber auch für den anderen lohnt.
Nach jeder Entscheidung, die wir fällen, können wir an einen Punkt kommen, an dem wir in Frust und Leid verfallen. Jede Entscheidung hat erwünschte Auswirkungen, aber auch Risiken und Nebenwirkungen. Und jede Entscheidung im Leben gabelt sich danach auf wie in einem Baumdiagramm. Nach jeder Entscheidung können wir weiter in die eine oder die andere oder die nächste Richtung gehen. Und alles hat wieder Auswirkungen, Vorteile und Risiken.
Besser ist es also, wenn wir uns selbst so aktivieren oder beruhigen und versorgen, dass wir unser Handeln verantworten können, mit unserer Lebensführung einverstanden und gegebenenfalls auch in der Lage sind, das Ruder herumzureißen. Der Schlüssel zu all dem ist die Fähigkeit zur Selbstregulation.
Alles Wissenswerte in Kürze
»Life, even when it’s good, is not easy.
There is simply no way to make life perfect,
and if there were, then it wouldn’t be good.
Why? Because a rich life – a good life –
is forged from precisely the things that make it hard.«
(Waldinger a. Schulz 2023)3
Es ist ein menschliches Phänomen zu versuchen, unsere Lebensumstände zu verbessern. In der langen Entwicklungsgeschichte des Menschen waren hohe Ansprüche an Leistung und Gesundheit überlebensnotwendig. Auch heute versuchen wir, unseren Wohlstand zu erhöhen und unser Leben immer glücklicher und erfüllter zu gestalten. Starker sozialer Druck und hohe persönliche Erwartungen ans Glücklichsein befördern aber eher das Gegenteil.
Was uns im Leben wirklich glücklich macht, sind tragende, verlässliche soziale Beziehungen. Diejenigen, die wir haben, sind aber im Alltag oft nicht besonders attraktiv, sondern anstrengend und kompliziert. Einsamkeit dagegen macht uns unglücklicher, schadet der Gesundheit und verkürzt unser Leben. Je größer unsere Fähigkeit zur Selbstregulation ist, umso eher sind wir in der Lage, soziale Beziehungen so aufzubauen, zu gestalten und zu pflegen, dass sie für uns selbst erfüllend und gesund sind.
Die Fähigkeit zur Selbstregulation ermöglicht es, dass wir uns Herausforderungen und veränderten Lebensumständen dynamisch anpassen können. Wir können uns bei erhöhtem Stress selbst beruhigen, in Kontakt bleiben und wieder handlungsfähig machen. Menschen mit guter Fähigkeit zur Selbstregulation haben ein gesünderes Leben, bessere Schul- und Berufserfolge und führen die glücklicheren Partnerschaften.
2 Verfügbar unter: https://www.youtube.com/watch?v=eqzwtudbytA [30.7.2023].
3 »Das Leben – auch wenn’s gut läuft – ist nicht einfach. Es gibt schlicht keine Möglichkeit, das Leben perfekt zu machen. Und wenn’s die gäbe, wäre es nicht gut. Warum? Weil ein reiches Leben – ein gutes Leben – aus genau den Dingen geschmiedet ist, die es auch schwer machen.« (Übers.: M. R.).
Warum ist die gleiche Situation für den einen schlimm und für die andere nicht? Warum erschrickt jemand über eine Nachricht oder ein Verhalten, während der oder die andere allenfalls amüsiert darüber lächelt? Wieso trifft uns manchmal ein Wort, ein Augenverdrehen oder ein Lachen zutiefst, und jemand anderes kann das nicht verstehen?