6,99 €
Kompetenter Rat für verzweifelte Eltern
Wenn Kinder versuchen, die ersehnte Liebe mit Gewalt einzufordern, brauchen sie Halt in besonderem Maß. Nach Meinung der Diplompsychologin Jirina Prekop sollten Eltern dann im Festhalten eine emotionale Beziehung zu den kleinen Tyrannen herstellen; sie ist die Voraussetzung jeder tragfähigen Erziehung. Dieses Standardwerk hat seit Jahrzehnten seinen festen Platz in der pädagogischen Literatur.
Mit zahlreichen anschaulichen Fallbeispielen.
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Seitenzahl: 258
Sie sind niedlich und harmlos aussehende kleine Geschöpfe in zartem Alter – und erweisen sich manchmal als erbarmungslose Ungeheuer, die ihre armen Eltern schikanieren und ihnen den letzten Nerv rauben. Die kleinen Tyrannen gehen um. Sie verkehren die familiären Machtverhältnisse. Die willensstarken Sprösslinge halten ihre Eltern rund um die Uhr auf Trab und lassen sie tanzen wie Marionetten.
Die bekannte Kinderpsychologin Jirina Prekop erläutert in ihrem Bestseller, wie viel Halt Kinder brauchen, damit sie sich ohne solche Störungen entwickeln können. Jirina Prekop zeigt auf, welche Elternpaare besonders Gefahr laufen, einen »kleinen Tyrannen« großzuziehen, wann die elterlichen Erziehungsfehler meist einsetzen und welcher Art sie sind. Die zahlreichen Falldarstellungen vermitteln eindringliche, oft erschütternde Anschaulichkeit. Abhilfe schaffen kann die Festhaltetherapie, die die Autorin neben vielen weiteren praktischen Empfehlungen für eine verantwortungsvolle Kindererziehung schildert.
Jirina Prekop, geboren 1929, ist promovierte Diplom-Psychologin und arbeitete viele Jahre in der Abteilung für Entwicklungsstörungen im Olgahospital in Stuttgart. Sie lebt in Lindau am Bodensee und ist 1. Vorsitzende der »Gesellschaft zur Förderung des Festhaltens als Lebensform und Therapie e.V.«.
Im Laufe der vielen Auflagen habe ich zu diesem Buch ein zwiespältiges Verhältnis entwickelt. Als Autorin freue ich mich natürlich, einen Bestseller verfasst zu haben. Zugleich ist mir aber bitter bewusst, dass die Verkäuflichkeit dieses Buches nur durch die Not der betroffenen Kinder und Eltern möglich wurde. Diese Not hört leider nicht auf. Immer häufiger trifft man auf herrschsüchtige, rücksichtslos aggressive Kinder. Für manche ist »der kleine Tyrann« inzwischen zu einem klassischen Begriff geworden.
Als das Buch erstmals erschien, fühlte ich mich durch die scharfen Kritiken, die hauptsächlich von den antiautoritär und antipädagogisch denkenden Fachleuten kamen, sehr verletzt. Gleichzeitig war ich aber auch für das heftige Kontra dankbar, weil dadurch die Diskussion in Gang kam. Der kleine Tyrann zeigte den gleichen Effekt wie ein ins Wasser geworfener Stein. Er sorgte dafür, dass der Boden aufgewühlt wurde und die übereinander liegenden Schichten durchgewirbelt wurden. Auf diese Weise kann das Morsche abgetragen werden, das Gewichtige sinkt wieder zu Boden und das Wasser klärt sich. Dieser Klärungsprozess wird noch lange andauern. Deshalb braucht dieses Buch also keinen Wiederbelebungsversuch. Es ist immer noch aktuell.
Der Grund für diese erweiterte Auflage liegt auch nicht darin, dass etwas Grundlegendes korrigiert werden müsste. Nach wie vor stehe ich hinter allen Darstellungen und Deutungen, so wie sie in der ersten Auflage erschienen sind – bis auf eine wesentliche Ausnahme. Sie betrifft die Art und Weise, wie die Eltern dem Kind in der so genannten Trotzphase helfen sollten, seine wachsende Aggressivität zu formen. Meinen damaligen Ratschlag, »das Kind solle mit seinem Trotz möglichst selber fertig werden«, deute ich heute als Fehler. Aufgrund der vielen guten Erfahrungen, die ich zwischenzeitlich mit der Festhaltetherapie sammelte, kann ich dazu heute differenzierter Stellung nehmen.
Der Zorn, den das zwei- bis dreijährige Kind mit der besonderen Dynamik des sich durchsetzen wollenden Ichs entwickelt, richtet sich sowohl gegen Gegenstände, gegen sich selbst, aber auch gegen die Eltern. Im ersten Falle wäre es kein Fehler, so zu verfahren, wie von mir ursprünglich empfohlen. Hat beispielsweise das Kind Wut auf die zu hohe Türklinke und auf sich selbst, weil es die Türklinke nicht erreicht, soll es lernen, diese Frustration zu ertragen. Es soll erfahren, dass es eine Krise auch aus eigener Kraft verarbeiten kann. Wenn sich seine Wut aber auf die Mutter oder den Vater richtet, dann muss es eine Chance bekommen, sich mit seinem Gegenüber zu konfrontieren. Dann soll es seine Aggression von Antlitz zu Antlitz ausdrücken, dabei aber auch den Ärger des Gegenübers wahrnehmen. Damit diese Konfrontation gut verläuft und sich die Liebe erneuern kann, ist eine festhaltende Umarmung unterstützend. Wenn das Kind einmal reifer wird und sich auch sprachlich ausdrücken kann, kann es einen solchen Konflikt auch ohne Körperkontakt austragen.
Eine nähere Beschreibung des Festhaltens habe ich schon in der ersten Auflage dieses Buches gegeben, allerdings bedarf es hierzu einer Erweiterung. Zwischenzeitlich haben viele verzweifelte Eltern das Festhalten nach dem Buch praktiziert. Manche machten damit gute Erfahrungen, andere bekamen aber Angst vor dem Ausbruch ihrer eigenen bis dahin gezügelten Affekte und gaben auf. Dies hat zwar beim Kind keinen weiteren Schaden angerichtet, aber es bekam einmal mehr den Beweis, dass es stärker als die Eltern ist und dass sich diese leicht einschüchtern lassen. Es hat sich gezeigt, dass das unbefriedigend lange Festhalten von zwei bis vier Stunden eine Folge von verschiedenen Störungen ist, die bereits ursächlich das kleine Kind zum Tyrannen werden ließen. In all diesen Fällen reichte das laienhafte Festhalten nicht, sondern es war fachliche Hilfe in Form der Festhaltetherapie angezeigt. Ohne Hilfe der auf dem Gebiet erfahrenen Therapeuten hätten die Eltern es nicht geschafft, sich als Eltern zu stellen und dem Kind sein unbeschwertes Kindsein zu ermöglichen.
Eine der verbreitetsten Störungen ist die Angst der Eltern vor dem eindeutigen Ausdruck ihrer eigenen negativen Gefühle. Diese affektive Ambivalenz, das unerträgliche »Weder-Noch« treibt das Kind zur Ablehnung der Eltern und verhindert die notwendige Konfrontation. Dieses Problem näher zu betrachten, war ein wesentlicher Grund für diese erweiterte Auflage.
Für die Entdeckung der unbewusst wirkenden Verstrickungen im Beziehungsgeflecht der Familie bedanke ich mich bei den systemischen Familientherapeuten, besonders bei Bert Hellinger. Bei einem Festhalteworkshop, den ich auf seinen Wunsch hin im Jahre 1990 für ihn gestaltete, erschloss sich mir eine neue Einsicht in uralte Ordnungen. Seit dieser Zeit ist die Festhaltetherapie mit der systemischen Familientherapie sehr nah verbunden. In vielen Fällen ist die Entstehung der Herrschsucht einleuchtend und therapierbar erst dann, wenn ihre systemischen Wurzeln beleuchtet werden. Denn oftmals wird ein Kind nur deshalb zum Tyrannen, weil es einen ihm Nahestehenden, der aus seiner Familie ausgestoßen wurde, unbewussterweise vertritt.
Beim gemeinsamen Schreiben der Bücher Kinder sind Gäste, die nach dem Weg fragen und Unruhige Kinder mit Christel Schweizer wurden uns bestimmte schöpfungsbedingte Gesetzmäßigkeiten bewusst, deren Einhalten für das innere Gleichgewicht sorgt, ihr Nichteinhalten dagegen zur Zerstörung führt. Das Phänomen des »kleinen Tyrannen« bietet dafür eine bittere Kostprobe. Die Lösung liegt im bewussten Einbinden (= »re-ligio«) in die uns vorgegebenen Lebensgesetze.
An einem Sommertag hatten mein Mann und ich zwei sich merkwürdig ergänzende Erlebnisse, die mir zeigten, dass ich dieses Buch eiligst schreiben sollte.
Wir hätten uns von der zauberhaften Morgensonne nicht täuschen lassen sollen. Als das Ausflugsschiff den Lindauer Hafen verließ, trieb ein kräftiger Regenguss alle enttäuschten Passagiere in das Restaurant, das sofort überfüllt war. Am Nachbartisch sorgte ein etwa fünfjähriger Bub für einen weiteren Sturm. Trotz des Ärgers der Gäste, die bereits ihr Essen serviert bekamen, bestand der Junge darauf, auf dem Tisch zu stehen, um eine bessere Aussicht auf die Wellen zu haben. Das freundliche Bitten seiner Eltern, vom Tisch herunterzukommen, ließ er zunächst unbeachtet. Als diese dann versuchten, ihn herunterzuheben, schrie er wütend durch das ganze Lokal: »Lass mich los, du blöde Sau«, trat der Mutter in den Bauch und biss den Vater in die Hand. Dieses Schauspiel wiederholte sich. Der Junge wurde immer wütender, die Eltern verlegener und die Gäste immer verärgerter. Die Eltern nahmen ihn entschlossen vom Tisch herunter, was bei dem Jungen einen noch größeren Tobsuchtsanfall auslöste. Jetzt kamen von den umstehenden Gästen Bemerkungen wie: »Wenn das meiner wäre, bekäme er eine Tracht Prügel.« Die Eltern versuchten mit hochrotem Kopf einzuwenden: »Das haben wir auch schon probiert, aber es wurde alles nur noch schlimmer.« Für die Eltern gab es jetzt zwei Möglichkeiten: Entweder sie gingen mit dem Kind in den Regen hinaus oder sie ließen ihn auf dem Tisch stehen. Beide Entscheidungen aber waren eine Niederlage der Eltern. Sie waren in einer Falle. Beim Hinausgehen weinte die Mutter leise vor sich hin.
Beim Spaziergang am Ufer bot sich uns ein ähnlich typisches Bild.
Die Schwäne und Enten zogen ihre Jungen in Reih und Glied hinter sich her, um das Brot der Ausflügler zu schnappen. Eine Ente fiel aus dem Rahmen: Sie hatte nur ein einziges Entlein und zog es nicht hinter sich her, sondern ließ sich von ihm ziehen. Das Entlein schwamm unruhig zwischen den Booten hin und her und schnappte nach allem möglichen, nur nicht nach Brot. Und die Ente – wie die Mutter auf dem Schiff – folgte mit gesenktem Kopf und unsicher ihrem Jungen.
»Eigentlich müsste auch die Mutter krank werden«, meinte mein Mann. »Ein Untergang für beide.« Und wir redeten darüber, wie problematisch es ist, wenn die Herde das kranke, angstbesetzte Verhalten eines jungen Tieres übernimmt, anstatt es zum Respektieren der Gesetze der Herde zu führen. Denn mit der Gefährdung dieser Gesetze droht der Zerfall der ganzen Familie. Hier begriff ich, dass es Zeit ist, das Thema aufzugreifen, auch wenn die wissenschaftliche Verarbeitung noch ganz am Anfang steht.
Denn solchen Eltern, die durch ihr »zum Alptraum gewordenes Kind« zutiefst verängstigt sind, begegne ich immer häufiger in meiner Sprechstunde: Eltern, die sich von ihrem Kind ausgenommen und versklavt fühlen, obwohl sie für sich selbst und für ihr Kind eine Freiheit schaffen und nach dieser leben wollten. Eltern, die sich als Erzieher in Frage stellen, weil sie ihr Kind weder durch wohlwollendes Verhalten noch durch Lob und Tadel erreichen können. Eltern, die schon fast bereuen, ein Kind geboren zu haben, und Ehepaare, die aus dem Miterleben eines solchen Kindes heraus den eigenen Kinderwunsch verdrängen.
Unter diesen kleinen Tyrannen finden wir nicht nur die, die mit ihrem extrem aggressiven Verhalten ihre Umwelt beherrschen, sondern auch solche, die mit dem Herrschenmüssen überfordert sind und sich solche Wutausbrüche nicht zutrauen. Sie verweigern eher, beobachten lauernd die Szene und ziehen sich innerlich in ihre eigene »Inselwelt« zurück, eine Inselwelt, in der die Verhältnisse noch beherrschbar sind und in der sie sich selbst nicht im Wege stehen. Ich sehe auch Kinder, die irgendwann einmal entmachtet wurden und die deswegen verwirrt und traurig sind, die sich im Unrecht fühlen, zusammenbrechen und psychosomatisch erkranken.
Diese Kinder sind unglücklich und gefangen in ihrer eigenen Macht. Sie sind in ständiger Unruhe und total vereinsamt. Sie können zwar alles nehmen, aber selbst nichts geben. Und so entgeht ihnen das Erlebnis der Liebe, einer Liebe, die aus einem ausgewogenen Verhältnis von Nehmen und Geben besteht.
Für diese Kinder und gerade wegen ihrer Probleme ist dieses Buch hauptsächlich geschrieben. Denn ihre Zukunft wäre traurig, wenn es keine rechtzeitige Hilfe gäbe. Sie sollen und müssen sich in dieser Welt wohlfühlen, wenn sie den Lebenskampf bestehen wollen. Sie erreichen dieses Ziel nicht durch Beherrschen ihrer Umwelt, sondern nur durch den Erwerb von Fähigkeiten wie warten zu können, sich anpassen zu können, Niederlagen ertragen zu können, die Angst nicht zu ignorieren, sondern sie erleben und durch sie hindurchgehen zu können, sich solidarisieren zu können. In ihrer derzeitigen Situation sind diese Kinder jedoch einer traurigen Zukunft ausgeliefert. Sie ahnen selbst noch nicht, dass sie niemals eine Freiheit erlangen können, solange sie von der Macht abhängig sind.
Vielen Gesprächen mit Fachleuten aus der Praxis entnehme ich, dass ich mit meinen Ausführungen keine »Schwarzmalerei« betreibe, wenn ich Alarm schlage und Erste Hilfe anzubieten wage. Überall wird ein beeindruckender Wandel in den kindlichen Persönlichkeitsstörungen beobachtet, der sich etwa seit den achtziger Jahren explosionsartig ausbreitet. Bis zu dieser Zeit überwogen bei den Problemkindern die Ängstlichen, die Versager, die »Prügelknaben« und die »Sündenböcke«, die sich ihre Ersatzbefriedigung in der extremen oralen Befriedigung (wie Nägelkauen, Fresssucht u.a.) und in der indirekten Aggression (wie Lügen, Stehlen, Zündeln u. a.) zu holen versuchten. Je nach »Gesinnung« des weichenstellenden Diagnostikers wurden die Betroffenen zur Erziehungsberatung, zur psychoanalytischen oder verhaltenstherapeutischen Behandlung oder zur Familientherapie vermittelt.
Heute dagegen sind die destruktiv- und aggressionsbesetzten Störungen, die mit Gefühlskälte, Egoismus und Rücksichtslosigkeit einhergehen, im Vordergrund. Diese Kinder erscheinen erziehungsresistent und immun gegen Therapie. So mancher routinierte Fachmann – Psychologe, Lehrer oder Heilpädagoge – stellt sich Fragen wie: Bin ich berufsblind geworden, bin ich wegen eigener Projektionen diesen willensstarken Kindern gegenüber intolerant, sollte ich mich vielleicht doch wieder der antiautoritären Erziehung anschließen, habe ich bei meiner Routine keine Ausstrahlungskraft mehr, bin ich berufsmüde? Und es gibt Kinderärzte, die an ihrer Überzeugungskraft zweifeln, wenn sie in ihrer Praxis den »unbehandelbaren« Kindern begegnen, die nicht nur den Mund partout nicht aufmachen, sondern die auch lebenserhaltende Diäten, ja sogar Essen total verweigern und lieber verhungern würden, als auf flehentliches Bitten der Eltern den Hungerstreik aufzugeben. Nicht ein zur Durchsetzung treibender Zorn, sondern eine selbstvernichtende Wut scheint hier am Werk zu sein.
Auch an diese Fachleute richte ich mich. Ich möchte sie nicht unbedingt von ihren Zweifeln befreien, denn sie bringen uns in einen Dialog und somit weiter. Den kritisch lesenden Wissenschaftler bitte ich um Verständnis für mein Wagnis, eine Hypothese über die Ursachen der Herrschsucht aufzustellen, sowie für meine Annahme, dass es sich im wahren Sinne des Begriffs um eine Sucht handelt. Möge der wissenschaftlich Denkende dieses Buch als eine Fundgrube für weitere Forschungen betrachten. Mir ist zunächst wichtig, eine Diskussion in Gang zu setzen, aus der heraus mehr Verständnis für die betroffenen Kinder und Eltern wächst.
Als ich anfing, mich mit dem Thema »Herrschsucht« näher zu befassen, waren es vor allem drei Fragen, die mich beschäftigten:
Was verbirgt sich hinter dieser ungeheuren kindlichen Machtausübung?Wo wurde die Grenze zu einem gesunden Maß an Macht überschritten?Herrschsüchtige Menschen gab es schon immer, aber nicht in dieser extremen Anhäufung bei Kindern. Was ist passiert?Das Angebot an Literatur zu diesem Problem ist gering. Es gibt einige tiefenpsychologische Werke über den Zusammenhang von Herrschsucht und Narzissmus von Sigmund Freud und Heinz Kohut. Bei dem Vergleich von Herrschsucht und Geltungsstreben bietet sich ein Werk von Alfred Adler an. Mit dem Problem der Macht befasst sich vor allem Hans Strotzka; auch er klagt über die spärlichen psychoanalytisch orientierten Werke. Er versucht zu erklären, dass wohl eher die Opfer der Mächtigen, also die Unterdrückten, zur Therapie kommen. – Interessant ist, dass in unserer Beratungsstelle eigenartigerweise der »umgekehrte« Personenkreis erscheint: Der Unterdrückte, die Eltern, stellt den Unterdrücker, das Kind, vor.
Das, was wir mit »Herrschsucht« bezeichnen wollen, ist weder mit dem Geltungsstreben noch mit dem Narzissmus identisch. Sucht man nach den Ursachen, so scheint es einen Zusammenhang mit dem derzeitigen technokratischen Lebensstil zu geben. Darauf gehe ich später noch ausführlich ein.
Bei vielen Forschern lassen sich allerdings Gemeinsamkeiten finden: Sie alle schlagen eine Brücke von der Psychoanalyse zur Soziologie der industriellen Leistungsgesellschaft. Sie prägen das Verständnis für seelische Erkrankungen, die sie als Folge einer Entfremdung von der Menschlichkeit sehen. Die Abhängigkeit von der Macht »enthüllen« sie als Wegweiser zum Bösen. Als einzige und endgültige Hilfe erkennen sie ausschließlich die aktive Liebe.
Ich nenne nur einige von vielen: Erich Fromm warnt vor der zunehmenden Abhängigkeit des modernen Menschen vom »Haben«, die den Menschen hindert, das »Sein« zu erleben. Den Verrat am Selbst beschreibt Arno Gruen in seinem gleichnamigen Buch und stellt das Leiden heutiger Patienten dar. Sie identifizieren sich mit der Macht, machen sie zu ihrem Image, flüchten in falsche Gefühle und entfernen sich somit ganz vom Erleben der Liebe und der eigenen Autonomie.
Alexander Lowen meint, dass der Narzissmus eines jeden Einzelnen durch den ganzen narzisstischen Kulturkreis geprägt wird. Wahre Gefühle entsprechen nicht mehr dem Image des Menschen und müssen infolgedessen verdrängt werden. Somit empfindet der heutige Mensch sein Leben als leer und sinnlos. Ähnlich wie im westeuropäischen Raum, stellt auch Lowen nach vierzig Jahren psychotherapeutischer Erfahrung (Bioenergetik) in den USA eine deutliche Veränderung fest: Die Neurosen früherer Zeiten wie lähmende Schuldgefühle, Ängste, Phobien und Zwangsvorstellungen sieht man heute selten. Dafür klagen in seiner Praxis sehr viel mehr Menschen über Depressionen und den Verlust von Gefühlen.
Das Mess- und Zählbare wiegt weit mehr als das Ideelle, und somit sind das Denken und Fühlen getrennt, abgespalten. Die technische Wissenschaft wird dem nicht exakt messbaren Wissen über die emotionale Lage des Menschen vorgezogen. Folge dieser karthesianischen Wissenschaft ist, dass die erste Atombombe konstruiert wurde, bevor in der Pädagogik und Kinderpsychiatrie bekannt wurde, dass ein Kleinkind Bedürfnisse hat.
Beeindruckend und kritisch stellt der bekannte Tübinger Kinderpsychiater Reinhart Lempp den geschichtlichen Verlauf seines Berufs in seinem unlängst herausgegebenen Buch »Familie im Umbruch« dar. Erst in der Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts brachten Forschungen von René Spitz, John Bowlby, H.F. Harlow u. a. eine Wende in das Erkennen und Verstehen der kindlichen Liebesfähigkeit und der psychischen Verletzbarkeit eines Kleinkindes. Und es dauerte noch weitere Jahre, bis man erkannte, dass auch dieses Wissen wiederum einer Korrektur bedurfte: Heute weiß man, dass das Kind schon vor der Geburt für den Kontakt zur Mutter empfänglich ist.
Es kamen in der Zwischenzeit Werke von entwicklungspsychologisch denkenden Kinderpsychoanalytikern heraus, zum Beispiel von Donald W. Winnicott und Margaret S. Mahler, die die Entstehung und Entartung der Allmächtigkeit beim Kleinkind in psychotischen Erkrankungen erkannt haben. In den Kreisen der Psychotherapeuten fanden diese Forschungen einen überraschend guten Anklang. Leider blieben sie den Eltern und anderen Kinderbetreuern wegen der wissenschaftlichen Formulierungen weitgehend verschlossen.
In der deutschen Literatur hat die Kinderpsychotherapeutin Christa Meves die wissenschaftlichen Erkenntnisse aus Tiefenpsychologie, Soziologie und Tierverhaltensforschung miteinander verbunden. Sie sucht die Wurzeln der rücksichtslosen Maßlosigkeit im übersättigten, materiellen Wohlstand, in dem modernen Hedonismus, der die wahren Werte verkümmern lässt. Sie beschuldigt vorrangig die zunehmende Berufstätigkeit der Mütter von Säuglingen. Diese bieten ihrem Kind statt Liebe und Opferbereitschaft »vorgekaute« Materie in Form von tischfertiger Nahrung und statt Spielzeug Fernsehen. Unbeherrschte Aggressionen könnten ihrer Meinung nach vermieden werden, wenn man einerseits dem Kleinkind die Eigenaktivität und Eigeninitiative zur ungegängelten Eroberung der Umwelt belassen würde und andererseits ihnen gerade in dieser Zeit die Chance geben würde, sich mit sinnvoll gesetzten Schranken auseinander zu setzen. Genau zu dieser Konfrontation aber sind die heutigen Mütter selbst nicht frei genug. Sie erlauben alles schrankenlos und entlasten dadurch den nach Befreiung suchenden Aggressionstrieb nicht, sondern lassen ihn wuchern.
Wir kommen der Wurzel der Herrschsucht immer näher. Eine weitere Bestätigung der Thesen, die die Abhängigkeit von der Macht erklären, finden wir bei Konrad Lorenz. Er untersucht den zunehmend verwüsteten Lebensraum der zivilisierten Menschheit unter Aspekten der vergleichenden Psychologie und der Tiersoziologie. Er macht unter acht Todsünden der zivilisierten Menschheit hauptsächlich den grässlichen Verfall des genetisch verankerten Sozialverhaltens und das Abreißen der Traditionen verantwortlich. Er weist darauf hin, dass Tausende von Kindern durch die »Non-Frustration-Erziehung« zu unglücklichen Neurotikern gemacht werden.
Ein Kind, das sich nicht mehr instinktiv dem Stärkeren in der Rangordnung fügen kann, fühlt sich ohne diesen Stärkeren schutzlos. Es kann sich mit der »sklavischen« Schwäche, die ihm der scheinbar Stärkere aufweist, nicht identifizieren und sich demzufolge auch nicht an seinen Verhaltensnormen orientieren. »Der Einzelmensch, der mit dem Ausfall bestimmter sozialer Verhaltensweisen und deren begleitender Gefühle geschlagen ist, ist tatsächlich ein armer Kranker, der unser volles Mitleid verdient. Der Ausfall selbst ist das Böse schlechthin. Er ist nicht nur die Negation und Rückgängigmachung des Schöpfungsvorganges – durch den das Tier zum Menschen wurde –, sondern er ist etwas viel Schlimmeres, ja Unheimliches. In irgendeiner geheimnisvollen Weise führt die Störung des moralischen Verhaltens nicht nur zu einem Fehlen all dessen, was wir als gut und anständig empfinden, sondern zu einer aktiven Feindschaft gegen diese Empfindungen – und eben dies ist das Phänomen, das viele Religionen an einen Feind und Gegenspieler Gottes glauben lässt. Wenn man dies alles wachen Auges betrachtet, kann man einem Gläubigen nicht wiedersprechen, der die Ansicht vertritt, der Antichrist sei los.«1
Dass wir uns intensiv mit den Fällen der Herrschsucht befassen können, verdanken meine Mitarbeiter und ich folgendem glücklichen Zusammentreffen von fachlichen und zeitlichen Umständen:
1. Im Rahmen einer intensiven, mehrjährigen Beschäftigung mit autistischen Kindern konnten wir beobachten, dass diese Kinder bei guter Förderung zum Teil eine höhere Stufe der sozialen Entwicklung erreichten. In dieser Stufe entdeckten sie die Freude an der Bindung zur Mutter – und eventuell auch zu anderen Bezugspersonen –, und sie bemühten sich, die Mutter in die immer noch bestehenden Zwänge miteinzubeziehen. Sofern die Mutter dies zuließ, weil sie sich an der erwachten Kontaktbereitschaft erfreute, sich damit begnügte und nicht mehr verlangte, blieb das Kind in der Stufe der Autokratie stecken, und die Mutter wurde beherrschbar.
2. Nachdem es sich herumgesprochen hatte, dass wir uns mit der Diagnose des Autismus befassen, wurden uns Kinder aus allen Gegenden zu einer Differential-Diagnose überwiesen, die dem Autismus ähnliche Verhaltensweisen zeigten. Bei diesen Kindern konnten wir feststellen, dass sie in das bekannte Syndrom des frühkindlichen Autismus nicht einzuordnen waren. Sie besaßen eine fast uferlose Bereitschaft, ohne jegliche Veränderungsängste die ganze Umwelt für sich in Anspruch zu nehmen, so als wären sie allmächtig.
3. Zum gleichen Zeitpunkt wurden uns in großer Anzahl Kleinkinder im Alter von vier bis vierundzwanzig Monaten vorgestellt, die ihre Eltern wegen ihrer Schlaf- oder Essstörungen sowie permanenter Unruhe total in Anspruch nahmen. Bei diesen Kindern stellten wir die gleiche Entwicklungsstufe fest, die auch die Autisten erreicht hatten. Es konnte also eine Verwandtschaft zwischen der Autokratie und der zwanghaften Allmächtigkeit dieser Kleinkinder beobachtet werden.
4. Das »Festhalten« hat sich als Förderung der autistischen Kinder zu der genannten höheren Stufe des sozialen Interesses und als Befreiung vom Autismus als Primärtherapie erwiesen. Das »Festhalten« ist eine Maßnahme, die ich von der amerikanischen Kinderpsychiaterin Martha Welch und von dem nobelpreisgekrönten Niko Tinbergen nach langem Zögern, jedoch mit zunehmender Überzeugung übernommen habe und im deutschsprachigen Raum verbreite. Die entwicklungspsychologische und ethische Begründung des »Festhaltens« schärfte mein Einfühlungsvermögen und mein Verständnis für die Umstände, in denen nicht nur der Autismus, sondern auch die Herrschsucht auftreten konnte und somit auch die Wirksamkeit des »Festhaltens«.
(Bereits an dieser Stelle möchte ich betonen, dass das »Festhalten« nicht den Sinn hat, das Kind zu unterdrücken und zu besitzen, sondern ihm den Halt und die vorbehaltlose Liebe zu vermitteln, in der die Bereitschaft des Kindes zum eigenen losgelösten Selbst wachsen kann.)
Zur Einführung in das Thema stelle ich vier typische Fälle vor, die ich in meiner Beratungsstunde in der Abteilung für Entwicklungsstörungen einer Kinderklinik kennen gelernt habe.
Problemvorstellung
Der am Wohnort niedergelassene Kinderarzt überweist uns einen siebenjährigen Jungen, der ihm sehr am Herzen liegt. Der Arzt kennt die Familie seit Jahrzehnten. Er hat schon die älteren Geschwister, heute sechzehn- und achtzehnjährig, betreut und weiß, dass sich die Eltern um eine vernünftige Erziehung bemühen.
Alexander kam zwar als nicht mehr erwartetes, aber nach Bekanntwerden der Schwangerschaft innig erwünschtes Nesthäkchen zur Welt. Er war immer ein sonniges Kind. Die Eltern glaubten, ihn mit der gleichen liebevoll-konsequenten Haltung erzogen zu haben wie die älteren Geschwister. Der Vater widmete sich seinem kleinen Handwerksbetrieb, die Mutter war gerne »Nur-Hausfrau« und immer für die Kinder präsent. Der Kindergartenbesuch verlief scheinbar problemlos, denn Alexander ging gerne dort hin.
Erst mit der Einschulung brach eine Krise aus. Der Bub war im Lesen, Schreiben und Rechnen zwar nicht der schnellste, aber er war auch nicht zurück. In der Familie erwartete eigentlich auch niemand mehr von ihm, und es setzte ihn auch niemand unter Leistungsdruck. Es musste wohl so sein, dass die Lehrerin ihn nicht mochte. Sie habe ihn einmal von der Tafel weggeschickt, was bei Alexander einen großen Schock ausgelöst habe. Seitdem verweigerte er den Schulbesuch, obwohl er sich so auf die Schule gefreut hatte. Alle Versuche, ihn für die Schule zurückzugewinnen, schlugen fehl. Als die Lehrerin ihn einmal im Elternhaus besuchen wollte, geriet Alexander in ein panikartiges, ängstlich-wütendes Verhalten, das wie ein Anfall aussah. Die Lehrerin sei bekannt als eine »von der alten Schule«, lieb aber streng. Bei ihr sei schon einmal ein so ähnlich verlaufender Fall gewesen, jedoch nicht so dramatisch wie bei Alexander. Die betroffene Erstklässlerin, die sich von ihr bedrängt fühlte, habe man dann einfach in eine Parallelklasse versetzt.
Alexander sei sehr sensibel und temperamentvoll, gekoppelt mit einem ausgeprägten Selbstbewusstsein. Der Kinderarzt vermutet eher eine Schulphobie. Er äußert auch noch den Verdacht eines minimalen Hirnschadens im Sinne einer Dysfunktion, denn Alexander habe leichte Probleme mit der räumlichen Orientierung wie rechts und links. Vielleicht könnte das auch die Ursache für sein langsames Schreibtempo sein. Aus den genannten Gründen möchte der Kinderarzt den Buben nicht der Erziehungsberatungsstelle am Ort vorstellen, sondern lieber bei uns an der Beratung teilnehmen lassen und eventuell noch den Rektor nebst Schulrat miteinbeziehen.
Vorstellung des Kindes
Auf den ersten Blick macht die Familie einen offenen Eindruck. Alexander gibt sich kontaktfreudig und aufgeschlossen. Auf meine erste Frage: »Was möchtest du einmal werden?« antwortet er prompt: »Polizeichef oder Feuerwehrchef«. O ja, und heiraten möchte er auch, am liebsten so eine Frau wie die Mama, nur schlanker. Er möchte Kinder haben, aber nur eines und da auch nur einen kleinen Buben. Seine Wohnung soll ein Bungalow sein, in dem zwar keine Mieter, aber dafür einhundert Leibwächter Platz haben, aber dann müsste es wohl eher eine Burg sein. Wenn er sich einen Berg wünschen dürfte, dann müsste es der größte im ganzen Lande sein, der oben ein Restaurant und Erdbeeren hat und den man mit einem eigenen Lift erreichen kann. Alexander darf sich noch ein Tier aussuchen, in das er gerne verwandelt werden möchte. Ohne zu zögern, entscheidet er sich für einen Löwen, den er vom Zirkus her kennt und vor dem alle Menschen Angst haben. Die Mama, den Papa und die Geschwister verwandelt er auch in Löwen, nur müssen sie kleiner sein als er – so eine richtige Löwenfamilie.
Alexander hat keinen festen Freund. Er spielt am liebsten mit wesentlich jüngeren Kindern oder mit deutlich älteren. Die Eltern erklären sein Spielverhalten so: »Alexander hilft so gerne den Kleinen und kann mit ihnen so schön spielen. Von den Älteren lernt er viel, und er möchte sich deren Verhalten angleichen. Dagegen ist doch nichts einzuwenden, oder? Es gibt zwar einen gleichaltrigen Buben in der Nachbarschaft, aber mit dem verträgt er sich überhaupt nicht, die beiden sind wie ›Hund und Katz‹. Gegen diesen Jungen kann sich Alexander mit seinen Spielideen nicht durchsetzen.«
Ich frage weiter und möchte wissen, wie sich Alexander überhaupt auf ein Gegenüber einstellen kann, wenn es nicht in seinem Sinne läuft, und ob er folgen kann. Die Eltern antworten: »O ja, er kann folgen, wenn er will.« Ich bohre weiter: »Und was ist, wenn er keine Lust hat?« »Nun, dann folgt er eben nicht. Er ist so ein richtiger Pascha. Ich als Mutter komme mir manchmal wie seine Hofdame und seine Hofköchin vor. Er isst kein Gemüse, vom Obst nur Bananen, die Äpfel nur als Kompott und vom Fleisch nur paniertes Schnitzel.«
Auf meine Frage, ob er schmusen kann, antwortet die Mutter: »Und wie, der ist ein Schmuser.« Erst als ich frage, was passiert, wenn die Initiative zum Schmusen nicht von ihm, sondern von der Mutter ausgeht – da die Liebe ja ein gegenseitiges Nehmen und Geben ist –, wird die Mutter sehr nachdenklich und bekommt einen traurigen Gesichtsausdruck: »Nun, er kommt und geht, wann er will. Ich habe da keinen Einfluss.«
Mich interessiert weiter, wie der Junge spielt. Die Eltern berichten, dass er am liebsten alleine spielt, mit Lego und Autos, da er technisch sehr interessiert sei. Er habe eigentlich kein »Sitzfleisch« und sei eher ein »Quecksilber«, das immer in Bewegung sein muss. Der Vater meint, er sei ein Lausbub, so wie er einer war, bloß sind es heute andere Zeiten. Die Freiheit, die sie ihrem Sohn heute gönnen können, hatte der Vater damals nicht.
Klärung der Vorgeschichte und der Entwicklungsstörung aus der Sicht der Psychologie
Die Analyse der Vorgeschichte ergibt, dass Alexander nach einer schweren Geburt unter ein Sauerstoffzelt kam und ein Rooming-in wegen der Schwäche der Mutter kaum genutzt werden konnte. Bis zum neunten Monat war er ein ruhiges und leicht zu pflegendes Kind. Dann brachen die Schlaf- und Essstörungen sowie die Unruhe aus. In diesem Augenblick des Berichtens werden bei den Eltern wieder die Befürchtungen eines möglichen leichten Hirnschadens wach. Sie berichten weiter: Alexander habe zehn- bis zwanzigmal pro Nacht nach der Flasche verlangt, die gleiche Flasche, die er am Tage stets verweigerte. Eine zeitgemäße Umstellung auf festere Kost sei nicht möglich gewesen.
Alexander habe eigentlich nie eine Fremdelphase durchlaufen. Ja, und die Trotzphase, die dauert eigentlich bis heute an, wenn er nicht seinen Willen durchsetzen kann. Im Kindergarten konnte er sich nicht auf die anderen Kinder einstellen. Dafür gewann er die Kindergärtnerin mit seinem Charme für sich und machte sich zu ihrem großen Helfer. Dieses Verhalten wollte er in der Schule fortsetzen und wurde bitter enttäuscht. Plötzlich stellte er fest, dass er einer unter vielen ist und dass er auch bei Unlust auf seinem Stuhl sitzen bleiben und sich konzentrieren musste. Außerdem spürte er deutlich, dass er nicht so schnell schreiben konnte wie die anderen und wurde immer nervöser.
Medizinisch-psychologische Untersuchungen wie EEG und Tests der sensomotorischen Integration und der Intelligenz bestätigten den Verdacht des Kinderarztes. Es konnte eine äußerst minimale Dysfunktion in der Koordination der Bewegung ermittelt werden, die die Stifthaltung und das Schreibtempo negativ beeinflussten. Mit dieser leichten Störung müssen viele Kinder und Erwachsene im Leben zurechtkommen. Eine der bewährtesten Hilfen bei diesem Problem ist, sich umso mehr zu bemühen, mit Fleiß und anderen Stärken die Schwäche auszugleichen.
Aber genau diese Hilfe konnte Alexander nicht einsetzen. Dafür wurde er immer nervöser und versuchte, sich mit vorlautem Reden und Clownereien in den Mittelpunkt zu spielen und sein starkes Geltungsbedürfnis zu sättigen. Und so geschah dann jene dramatische Episode mit der Tafel, die schließlich in unsere Sprechstunde führte: