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Weil die Gesetze der Liebe in Vergessenheit geraten sind, zerbrechen heute so viele Familien. Das müsste nicht sein. Die bekannte Familientherapeutin stellt in ihrem neuen Buch dar, wie diese lebenslange Bindung gepflegt und erhalten werden kann. Die angebotenen Lösungen sind einfach und leicht anzuwenden; das Konzept gründet in den elementaren Naturgesetzen.
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Seitenzahl: 188
Jirina Prekop
Familie lebt von Liebe
Regeln für ein liebevolles Miteinander
Herausgegeben von Ingeborg Szöllösi
© KREUZ VERLAG
in der Verlag Herder GmbH, Freiburg im Breisgau 2013
Alle Rechte vorbehalten
www.kreuz-verlag.de
Umschlaggestaltung: Vogelsang Design
Umschlagmotiv: © WavebreakMediaMicro – fotolia.com
ISBN (E-Book): 978-3-451-80042-9
ISBN (Buch): 978-3-451-61192-6
Danksagung
Mein tiefer Dank geht an MuDr. Tatjana Horka, Ph.Dr. Jaroslav Sturma (Tschechien) und Laura Rincon Gallardo (Mexiko) für das Mitdenken und Mitgestalten der »Schule der Liebe in der Familie« sowie an Tausende von Eltern in Deutschland, Griechenland, Italien, Österreich, Polen, Russland, der Slowakei sowie in Chile, der Dominikanischen Republik, Mexiko, Peru, Uruguay, Venezuela und in anderen Ländern, die sich zusammen mit mir, begeistert und engagiert, für die Erneuerung und das Aufblühen der Liebe einsetzen.
Inhalt
EinleitungIn der Not steckt die neue Chance
I. Ausgangslage
Der Lebensstil heute
Die Unruhe der Kinder
II. Revolution in und mit Liebe
Der neue Lebensstil in der Familie
Die Versöhnung der Eltern mit den eigenen Eltern
Der Verlauf der Versöhnung
Die ganze Familie gewinnen!
Wie führt man den neuen Lebensstil ein?
III. Unnötigen Konflikten vorbeugen
Die systemische Ordnung in der Familie
Die Eltern als Paar
Eltern und Kinder
Geschwister
Gemischte Familien
Das neue System hat Vorrang vor dem alten System
Erziehungsfehler und Empfehlungen
Wischiwaschi-Erziehung
Welches erzieherische Verhalten ist richtig?
Lob und Strafe
Kommunikationskiller
IV. Notwendige Konflikte mit emotionaler Konfrontation lösen
Goldene Regeln der Konfrontation
Die Vorstufe im Kleinkindalter
Grundsätze der emotionalen Konfrontation
Gestaltung der emotionalen Konfrontation
Übungen zur emotionalen Konfrontation
Beispiele für eine emotionale Konfrontation
V. Zusammenfassung
Zehn Gebote für das Gedeihen der Liebe in der Familie
Schlusswort
Die Süße der ersten Früchte
Zur Entstehungsgeschichte der Schule der Liebe in der Familie
»Wenn ich wüsste, dass morgen die Welt unterginge, würde ich heute noch ein Apfelbäumchen pflanzen.«
Martin Luther
Ihre traurige, zitternde Stimme am Telefon rührt mich. In ihrer großen Not vergisst sie sogar, ihren Namen zu nennen, und verhält sich so, als hätte sie ihre Oma angerufen:
»Bitte, bitte, bitte, Frau Prekop, helfen Sie mir! Ich kann nicht mehr!« Ein verzweifelter Hilferuf. Die Dringlichkeit ist unüberhörbar. Ich denke an die endlosen Wartezeiten bei guten Psychotherapeuten. Einen müsste ich ihr empfehlen. Die Frau steckt jedoch offensichtlich in einer akuten Notlage und braucht »Erste Hilfe«.
»Ja, ich spüre Ihre Verzweiflung und bin bereit, Ihnen zu helfen, sofern ich kann. Sagen sie mir Ihren Namen und Ihr Problem!«
»Beate Meier1 ist mein Name. Und das Problem hat meine ganze Familie. Bei uns kämpft jeder gegen jeden. Ich weiß nicht, warum. Es ist ein einziges Chaos. Nur noch zu meinem kleinen Sohn Jens habe ich eine Beziehung, die es wert ist, »Beziehung« genannt zu werden. Und ich weiß mir keinen Rat mehr.«
»Wann etwa begann der Krieg in der Familie?«
»Alles fing mit einer großen Liebe an: zwischen meinem Mann, Alex, und mir. Die erste Liebe. Nichts haben wir uns sehnlicher gewünscht als Kinder. Wir haben immer davon geträumt, wie wir sie gemeinsam erziehen und wie wir als Familie zusammenhalten werden. Als unsere beiden Kinder, Peter und Jens, dann da waren, haben wir uns riesig gefreut. Und nun ist alles auf den Kopf gestellt. Wir leben uns immer mehr auseinander. Wie es begann, weiß ich nicht. Die Luft wird immer dicker. Wir kommunizieren beinahe nur noch schreiend. Unsere Jungs vertragen sich nicht und sind nur noch handgreiflich, wenn sie zusammen sind. Mein Mann und ich schlagen uns zwar noch nicht, aber es fehlt nicht mehr viel … Das wäre dann der letzte Tropfen, der das Fass zum Überlaufen bringen würde. Das wäre das Ende unserer Beziehung. Wir verletzen uns unentwegt mit Worten. Den älteren Sohn Peter muss ich hin und wieder schlagen, wenn er seinen kleinen Bruder angreift: Jens, der jüngere, ist erst fünf Jahre alt und kann sich gegen den achtjährigen Bruder noch nicht wehren.«
»Was sagt ihr Mann dazu?«
»Er redet mit mir fast nicht mehr. Nur noch das Notwendigste. Auch hört er mir nicht richtig zu, wenn ich ihm Aufträge für den Tag gebe – zum Beispiel, wenn ich ihm sage, was er einkaufen oder reparieren soll. Und wenn ich ihn dann frage, was ich zu ihm gesagt habe, weigert er sich, es zu wiederholen. Abends muss ich immer wieder feststellen, dass er die eine oder andere Aufgabe nicht oder nur teilweise erledigt hat. Und er ist mir dann auch noch böse, so als wäre ich die Schuldige. Statt mit mir zu reden, zieht er sich in seine Werkstatt zurück; dort hat er auch einen Fernseher.«
»Schlaft ihr noch zusammen?«
»Ganz selten. Fast nie. Seit Jens auf die Welt kam, schläft mein Mann im Gästezimmer. Das war eine vernünftige Lösung, weil Jens ganze Nächte hindurch geschrien hat, und Alex es sich nicht erlauben konnte, unausgeschlafen zur Arbeit zu gehen – er hat einen anstrengenden Job in einer Bank. Und ich war so k.o., dass ich keine Kraft mehr für Zärtlichkeiten oder Sex hatte.«
»In der Nacht also ist jeder in seinem Zimmer? Die Kinder auch?«
»Ja, natürlich. Die beiden kann man nicht in einem Zimmer unterbringen, sonst bricht gleich wieder der Bruderkrieg aus. Der Angreifer ist immer Peter. Die Situationen, in denen Peter zu Jens freundlich war, lassen sich an den Fingern einer Hand abzählen.«
»In der Nacht ist jeder für sich allein. Und tagsüber? Wann trifft sich ihre Familie tagsüber?«
»Täglich zum Mittagessen. Bis auf meinen Mann, der in der Stadt arbeitet und dort isst. Von einer gemütlichen Stimmung kann aber keine Rede sein. Die Jungs verbreiten auch am Mittagstisch Unruhe. Nach dem Essen schicke ich jeden in sein Zimmer. Wenn jeder vor seinem Computer hockt, wird es ruhig. Dreimal pro Woche fahre ich Peter nachmittags zum Fußballtraining und zum Geigenunterricht. Auf gemeinsame Ausflüge oder auf einen gemeinsamen Urlaub haben wir in der letzten Zeit verzichtet. Die Kinder werden in den Ferien von den Großeltern übernommen. Und ehrlich gesagt: Ohne uns geht es ihnen besser.«
»Ich verstehe jetzt, warum Sie sich so dringend Hilfe wünschen: Ihre Familie ist ernsthaft gefährdet – die Weichen sind gestellt. Jeder von euch kann und muss zur Ruhe kommen – das ist möglich, aber Sie brauchen Hilfe: entweder eine Hilfe zur Trennung oder eine zur Erneuerung der Liebe. Die zweite Alternative finde ich besser. Doch: Was wollen Sie? Lieben Sie Ihren Mann noch? Gibt es in Ihrer Beziehung etwas, das Ihnen wichtig ist und Ihnen erneuernswert erscheint?«
»Oh ja! Ich würde alles dafür geben, wenn meine Familie in Liebe leben könnte. Zugegeben, ich spüre immer wieder Hass – das geschieht, wenn liebevolle Begegnungen in meiner Familie nicht gelingen wollen. Dann aber hasse ich vor allem mich selbst. Ich fühle mich schuldig, weil ich es nicht schaffe und ohnmächtig bin – das ist schlimm. Denn ich liebe meine Familie – und ich liebe meinen Mann immer noch.«
Genauso geht es vielen Familien heute. Obwohl sich Mann und Frau noch immer lieben, obwohl sie Kinder haben, die sie lieben, lassen sie sich scheiden. Die Eltern von heute haben nicht gelernt, mit Konflikten konstruktiv umzugehen; daher können sie sie nicht rechtzeitig erkennen, ansprechen, lösen und verarbeiten. Doch dafür kann man sie nicht beschuldigen: Ihre Eltern haben es auch nicht gekonnt.
Seit Generationen lernen Kinder von ihren Vorbildern, den Eltern, Streiten – was sie jedoch nicht lernen, ist: sich zu versöhnen. Meist versöhnen sich Eltern nicht in Anwesenheit der Kinder, meist geschieht dies in intimen Augenblicken, von denen Kinder ausgeschlossen sind. Die Eltern versöhnen sich zwar, die Kinder jedoch sind nicht dabei. Ob und wie Versöhnung stattgefunden hat, können Kinder allerhöchstens ahnen.
Erschwerend kommt hinzu, dass es in unserer hoch entwickelten technokratischen Welt jedem Menschen, der nach einer Auseinandersetzung oder einem Streit gekränkt und beleidigt ist, die Flucht sehr leicht gelingt – die Flucht ins nächste Internetcafé oder auch nur ins eigene Zimmer, das von Musikanlage über Fernseher und Computer bis hin zu iPhone und iPad alles bereithält, um dem Einsamen Unterhaltung und Ablenkung zu bieten. Statt sich mit dem Gegenüber, mit dem er gerade aneinander geraten ist, über den Konflikt auszutauschen und sich rational wie emotional zu konfrontieren, geht er der Kommunikation aus dem Weg und zieht virtuelle Computerfreundschaften vor. Stolz kann er verkünden: »Ich habe bereits über 1000 Facebook-Freunde!« Doch zu dem einen Menschen, mit dem er die Wohnung und das Leben teilt, findet er nach einem Streit keinen Zugang und zieht sich in sein digitales Schneckenhaus zurück. Der Rückzug aber heilt die Wunde nicht. Im Gegenteil: In der Zurückgezogenheit stauen sich Ärger, Wut und Trauer an und vermehren sich von Tag zu Tag. Was anfangs vielleicht nur ein kleiner Stein des Anstoßes war, wird so zu einem unbezwingbaren Felsen, der einen breiten Schatten wirft: Die Liebe der Ehepartner zueinander und zu ihren Kindern ist erschüttert, das Familienglück und die glückliche Zukunft der Kinder gefährdet.
»Haben Sie schon eine fachliche Hilfe in Anspruch genommen?«
»Ja. Unser Sohn Peter ist in der Schule wegen Aufmerksamkeitsdefiziten auffällig geworden. Seine Klassenlehrerin hat meinen Mann und mich zu einer Erziehungsberatung eingeladen. Dort wurde erkannt, dass das Problem nicht allein bei Peter liegt, sondern in der ganzen Familie. Sie haben uns eine psychotherapeutische Hilfe empfohlen. Gleich nach der ersten Sitzung ist mein Mann ausgestiegen. Er hatte den Eindruck, dass die Therapeutin immerzu mich in Schutz nimmt und für seine Situation kein Verständnis aufbringt. Dann habe ich meinen Mann zu einem männlichen Heilpraktiker bestellt. Das hat aber mein Mann auch verweigert. Und so stehe ich nun da – ohne jegliche Hilfe!«
Beates Familie ist bereits ernsthaft traumatisiert. Hier braucht jedes einzelne Familienmitglied Hilfe – für sich selbst und seine Beziehungen zu den anderen. Die Hilfe muss so früh wie möglich kommen, bevor ein größeres Unheil – durch eine Kurzschlusshandlung – geschieht. Während ich mir Beates Geschichte anhöre, muss ich immer wieder an die endlosen Wartezeiten bei den bewährten Psychotherapeuten denken. Deshalb rate ich Beate, sich zunächst in eine der vielen Wartelisten eintragen zu lassen. Doch muss eine Eskalation unter allen Umständen verhindert werden, daher rate ich ihr zu einer gründlichen »Ersten Hilfe« – wie bei einem Autounfall: Bevor eine fachliche Behandlung erfolgen kann, werden die blutenden Wunden und Knochenbrüche provisorisch versorgt. Später kann auch juristisch eingegriffen werden: Die Schuldigen müssen angehalten werden, einen besseren Fahrstil zu erlernen, indem sie geltende Fahrregeln beachten, damit sich alle, die am Verkehr teilnehmen, sicher fühlen können. Eine solche Hilfe kann ich Beate anbieten. Ich betrachte diese Hilfe als Feuerlöscher.
»Beate, besuchen Sie doch einen meiner Kurse. Sie heißen »Die Schule der Liebe in der Familie«. Es ist keine Therapie, sondern eine Lebenshilfe in der Not. Dort lernen wir in einem kurzem fünf- bis sechstägigen Kurs etwas, was uns unsere Eltern nicht geben konnten, weil sie es selbst von ihren Eltern nicht bekommen haben – wir lernen, wie man Konflikte von Angesicht zu Angesicht verarbeitet und sie in Liebe verwandelt, bevor die Sonne untergeht. Bevorzugt sind bei diesem Kurs Teilnehmer, die das Gelernte auch weitergeben wollen und können, vor allem erfahrene Eltern. Da Sie und Ihr Mann nicht gleich einen Therapieplatz bei einem guten Familientherapeuten bekommen können, empfehle ich Ihrem Mann, mitzukommen. Wenn Sie gemeinsam am Kurs teilnehmen, könnte er Ihnen sogar ausreichend helfen, möglicherweise erübrigt sich eine anschließende Therapie, zumindest zeigen das meine bisherigen Erfahrungen.«
»Wie soll ich meinen Mann überzeugen?«, fragt Beate misstrauisch.
»Vor allem dürfen Sie es Ihrem Mann nicht anordnen. Dazu neigen Sie, Beate. Aus Ihrem Bericht habe ich herausgehört, dass sie Ihrem Mann Aufträge erteilen – er muss Ihre Aufträge entgegennehmen, wiederholen, was Sie gesagt haben; Sie bestellen ihn, ohne vorher mit ihm darüber gesprochen zu haben, zu einem Therapeuten usw. Das tut keinem Menschen gut! Auch Ihrem Mann nicht! Ein Mann möchte in einer Ehe ein gleichwertiger Partner sein und mit seiner Frau auf Augenhöhe kommunizieren … Wenn das nicht gegeben ist, entfremdet ihn das von Ihnen.«
»Was soll ich tun?«
»Sie sollten ihm als Frau einen Vorschlag machen, nicht als Befehlshaber einen Befehl erteilen. Gewinnen Sie Ihren Mann – mit Liebe! Bitten Sie Ihren Mann um Hilfe. Sagen Sie ihm einfach, wie verzweifelt Sie sind. Sagen Sie ihm, dass Sie es allein nicht schaffen, Ordnung in ihrer Familie herbeizuführen und dass Sie ihn sehr brauchen. Sagen Sie ihm, dass Sie ihn brauchen – für sich selbst und für Ihre Söhne, damit die beiden Jungen am Vorbild ihres Vaters heranwachsen können. Ist das Gesagte für Sie stimmig, Beate?«
»Ja! Oh ja!«
»Erwägen Sie, was ich Ihnen empfohlen habe, in Ihrem Herzen und sprechen Sie Ihren Mann mit Achtung und Vertrauen an. Lassen Sie ihn im Internet unter »www.prekopfesthalten.de« die Liste der Kurse »Schule der Liebe in der Familie« suchen. Nachdem er sich informiert hat, soll er Sie beide anmelden. Übergeben Sie ihm einfach die Kompetenz. Er wird handeln. Und das wird ihm guttun.«
Tatsächlich ist es Beate gelungen, ihren Mann für den Kurs »Schule der Liebe in der Familie« zu gewinnen. Sogar leicht. Seine endgültige Zustimmung gab er, nachdem er im Internet nachgelesen hatte, dass der Zusammenhalt der Eltern die Grundvoraussetzung für die Einführung eines neuen Lebensstiles in der Familie ist und dass der Zusammenhalt sehr hoch geschätzt wird. Wie gefährlich es ist, wenn einer der Ehepartner – egal ob Frau oder Mann – seine Stellung in der Familie verliert, musste er nicht nachlesen, das hatte er bereits selbst erfahren und erkannt.
Schon eine erste Selbsterfahrung in der Gruppe, wo jeder einzelne Teilnehmer mit allen anderen Teilnehmern – meist sind es ungefähr 20 – für eine Minute wortlos den Blickkontakt aufnimmt, hat ihn berührt. Plötzlich hat er jeden Menschen anders angeschaut – viel tiefer. Er fing an, sich Gedanken über das Gegenüber zu machen. Als er seiner Beate in die Augen sah, war es beinahe wie zum ersten Mal. Er schaute durch die Fenster ihrer blauen Augen in ihre Seele hinein. Hunderte Fragen tauchten in der kurzen Minute in ihm auf. Auch in ihren Augen las er viele Fragezeichen und ihre Sehnsucht nach Antworten.
Nach dem Blickkontakt folgte eine Meditation zur Aussöhnung mit den eigenen Eltern. Alex wurde wieder einmal bewusst, was für eine schwere Kindheit er hatte – mit einem Vater, der Alkoholiker war, und einer Mutter, die er stets zu schützen suchte. Er konnte sich mit seinem Vater erst versöhnen, als er mit dem Verstand eines Erwachsenen begriff, dass sein Vater seinem eigenen Vater folgte und beide traumatisierte Kriegsopfer waren. Beate dagegen hat ihre Mutter vermisst, die wegen ihrer Depression nur selten für sie präsent war. Zusammen mit ihrem jüngeren Bruder wurde sie von ihrer strengen Oma erzogen.
Als die Übungen zur emotionalen Konfrontation zwischen zwei Familienangehörigen (Mutter/Vater und Kind bzw. Mann und Frau) an der Reihe waren, meldeten sich Alex und Beate beinahe gleichzeitig. Vor der ganzen Gruppe wollten sie sich miteinander konfrontieren. Sie taten es freiwillig – nicht, weil sie publikumssüchtig waren. Sie waren sich dessen bewusst, dass nicht alle Teilnehmer eine individuelle Anleitung bekommen können – nur jene, die sich bereit erklären, ihre Problematik unter Anleitung auszutragen. Dafür bekamen sie eine vorbildliche Anleitung – wir nennen sie Moderation.
Die Moderatorin forderte sie auf, auf zwei Stühlen Platz zu nehmen: Das Ehepaar saß sich gegenüber. Der Dialog von Angesicht zu Angesicht konnte beginnen. Derjenige, der das größere Bedürfnis verspürte, sollte anfangen zu reden. Allerdings musste er darauf achten, den anderen für die Konfrontation emotional zu gewinnen. Dann erst sollte er in Ich-Form seinen Schmerz äußern.
»Ich bin so enttäuscht …«, fängt Beate an und wird von der Moderatorin sofort unterbrochen: »So können Sie ihn höchstwahrscheinlich nicht gewinnen. Oder? Was meinen Sie, Alex?«
»Solche Worte verschlagen mir die Sprache, ja sogar den Atem. Ich verstumme dann«, antwortet Alex.
»Beginnen Sie mit Liebe, Beate! Selbst wenn Sie die Liebe augenblicklich nicht spüren, erinnern Sie sich an die Zeiten, in denen Ihre Liebe schön war.«
»Lieber Alex«, begann Beate erneut. »Du bist die größte Liebe meines Lebens und bist es eigentlich immer noch. Ich will keinen anderen Mann.« – Alex rückte den Stuhl plötzlich einige Zentimeter näher zu ihr und nahm ihre Hände in seine.
»Beate, gut! Jetzt können Sie ihm Ihren Schmerz anvertrauen«, flüsterte ihr die Moderatorin zu.
»Gerade weil ich dich liebe, Alex, tut es mir weh, wenn du mir nicht zuhörst, wenn du dich von mir zurückziehst. Ich habe dann Angst, dich zu verlieren.«
Tränen glitzerten in Beates Augen. Auch Alex’ Augen wurden feucht: »Ich habe deine Angst nicht gespürt. Leider auch deine Liebe nicht. Vielmehr dachte und fürchtete ich in meiner Liebe zu dir, dass du mich nicht mehr liebst. Unter deinem Befehlston fühlte ich mich jedes Mal wie ein dressierter Hund. Abgewertet. Schon gar nicht geachtet als dein Mann und gleichwertig in unserer Ehe.«
»Ich habe es nicht gewusst, Alex, warum hast du es mir nicht gesagt?«
»Weil meine Kehle sich zuschnürte. Wie vor meinem Vater verstummte ich auch vor dir.«
»Diese Übertragung war sehr schädlich für eure Beziehung«, vermerkte die Moderatorin. »Sie haben sich wie ein gehemmter kleiner Junge verhalten und nicht wie ein Mann. Und von Ihrer Frau fühlten Sie sich unterdrückt, als wäre sie Ihr alkoholisierter strenger Vater. Leuchtet es Ihnen ein?«
»Ja, gewiss. Und es tut mir unheimlich leid. Beinahe schäme ich mich dafür. Warum aber hast du den Befehlston eingesetzt, Beate? Als ich dich kennengelernt habe, hattest du ihn nicht. Du warst immer so zart und sanft. Wodurch entstand deine Distanz zu mir?«
»Der erste große Schmerz entstand, als wir das einjährige Jubiläum unserer Hochzeit gefeiert haben. Du hast die Sitzordnung bestimmt: Ich saß an deiner rechten Seite und deine Mutter an deiner Herzensseite. Das wäre nicht so schlimm gewesen, aber das Unerträgliche für mich war, dass du dich meist nur mit deiner Mutter unterhalten hast. Vor allen Gästen. Da leuchtete mir ein, was ich sowieso schon ahnte, dass nicht ich, sondern deine Mutter den ersten Platz in deinem Herzen einnimmt.«
Alex ließ ihre Hände los, drückte mit den Fingerkuppen seine Schläfe, schloss die Augen und ging für eine Weile auf leichten Abstand zu Beate. Er konfrontierte sich mit sich selbst. Beates Mitteilung hatte ihn überrascht, beinahe umgehauen: Seit neun Jahren hatte er keine Ahnung, wie es seiner geliebten Frau wirklich ging! Er schaute Beate wieder an.
»Warum hast du mir nichts gesagt? Woher sollte ich wissen, dass du verletzt bist? Ich war überzeugt, dass du nichts dagegen hast, wenn ich zu meiner Mutter so aufmerksam bin. Ich meinte, du wüsstest, dass ich von Kind an der Einzige war, der ihr zuhörte. Hätte ich gewusst, dass du darunter leidest, so hätte ich die Dauer unserer Gespräche anders bemessen …«
»… oder du hättest mich in euer Gespräch mit einbezogen, Schatz. Deine Mutter hätte ich auch gebraucht. Doch hat sie nur dich wahrgenommen. Du weißt doch, dass mich meine depressive Mama so gut wie nie bemuttern konnte. Zu Beginn unserer Beziehung warst du es, der meine Mama vertreten hat. Als wir dann aber alle unter einem Dach wohnten, habe ich zunehmend deine Nähe vermisst. Und das tat mir weh und machte mich wütend.«
»Deshalb der Befehlston mir gegenüber?«
»Nicht nur. Ich fühlte mich im Stich gelassen. Und die Pflichten haben sich gehäuft. Ich dachte: Ich muss da allein durch. Ähnlich wie meine Oma. Mit Strenge. Gegen alle. Auch gegen Peter, weil er Jens gegenüber immer aggressiver wurde. Das alles überforderte mich, und ich merkte, allein schaffe ich es nicht. So hatte ich plötzlich auch eine Wut auf mich selbst. Was machen wir nun, Alex?«
Beide schauten nach unten. Auf ihre Hände, die sich hielten und streichelten. Wessen Tränen gerade herunterfielen, war nicht auszumachen – nur dass es viele gemeinsame Tränen waren.
»Es tut mir so leid, dass ich mich von dir zurückgezogen und mich nicht bemüht habe, mich in dich hineinzufühlen, Alex.«
»Ich fühle den gleichen Schmerz, Beate.«
Da hob er sie hoch, schloss sie fest in seine Armen, rieb seine Nase an ihre wie damals vor Jahren, als sie frisch verliebt waren, und schaute in ihre leuchtenden Augen: »Wir fangen vom Neuen an, meine Liebste. Gemeinsam.«
In der Auswertungsrunde saßen Beate und Alex händchenhaltend nebeneinander und erzählten, wie die ersten Stunden des Seminars auf sie gewirkt haben: wie wenig sie gebraucht hatten, um unter einem jahrelang angestauten Haufen von Missverständnissen und Enttäuschungen ihre alte Liebe wiederzufinden.
»Es hat uns gereicht, auf den Rückzug voneinander zu verzichten und uns so lange emotional zu konfrontieren, bis die Liebe in uns wieder aufschien und strahlte.« Das war die große Erkenntnis.
Während des Seminars haben Alex und Beate noch weitere neue Verhaltensweisen eingeübt, um sich mit ihrem älteren Sohn zu konfrontieren und die Verbrüderung beider Kinder in die Wege zu leiten. Mit Interesse und Aufgeschlossenheit nahmen sie den Vorschlag entgegen, in ihrer Familie einen neuen Lebensstil einzuführen: auf körperliche Strafen sowie auf Drohung mit Liebesentzug zu verzichten und alle in der Familie auftauchenden Konflikte ausschließlich in einer emotionalen Konfrontation zu lösen und zu verarbeiten sowie diese Konfliktsituationen als Chance zu betrachten, an der Liebe zueinander zu wachsen und sich weiterzuentwickeln. Jeder Konflikt kann sich in Liebe verwandeln, wenn er von Angesicht zu Angesicht angesprochen und gemeinsam bewältigt wird. Die Sonne geht in einer Familie noch lange nicht unter, nur weil ein paar Wolken am Horizont aufgetaucht sind. Und die Zuversicht ist da: Selbst wenn die Sonne untergeht, sie geht wieder auf und beglückt uns Menschen mit ihren Strahlen umso intensiver.
Alex und Beate haben gelernt, dass jedes Familienmitglied ein Recht auf eine bestimmte Position im System der Familie hat. Alex hat mit Begeisterung wahrgenommen, dass weder die Kinder noch seine Mutter, sondern er selbst das Recht hat, bei seiner Frau an erster Stelle zu stehen (und umgekehrt sie bei ihm). Beate begriff, dass ihr erstgeborener Sohn in dem Moment anfing, große Probleme zu verursachen, als er die erste Stelle an seinen jüngeren Bruder abtreten musste. Auch einige wichtige erzieherische Ratschläge hat das Paar mitgenommen. Übrigens einen Ratschlag, der auch für den Umgang mit Erwachsenen eine Gültigkeit hat: dass man im Guten mehr erreicht als mit Strafen.