Der kleine Vogel, der ausflog und zu sich selbst zurückfand - Rohini Singh - E-Book

Der kleine Vogel, der ausflog und zu sich selbst zurückfand E-Book

Rohini Singh

0,0

Beschreibung

Für alle, die auf der Suche nach einem glücklichen Leben sind: Eine buddhistisch inspirierte Parabel über Papagei Shona, die eines Tages aufbricht von ihrem Zuhause, ihren Freunden und ihrer Besitzerin, weil sie Neues sucht. Unterwegs begegnet sie der Liebe, der Freundschaft, ihrer inneren Stimme, der Freiheit und dem Wir. Und sie lernt, dass auch Sorgen, Ärger, Leid und der Tod zum Dasein gehören. Shonas Geschichte wird Sie verzaubern. Vielleicht werden Sie sogar feststellen, dass es nicht nur Shonas Geschichte ist, sondern auch Ihre eigene. Mit zahlreichen Illustrationen.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 182

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Titel der Originalausgabe:

Free Fall. The Journey Home

Copyright © 2015 by Rohini Singh

English language publication 2015 by Hay House Publications (India) Pvt. Ltd.

Für die deutsche Ausgabe

© Verlag Herder GmbH, Freiburg im Breisgau 2017

Alle Rechte vorbehalten

www.herder.de

Umschlaggestaltung: Christian Langohr, Freiburg

Umschlagmotiv: © dreamstime

Autorenfoto: © privat

E-Book-Konvertierung: post scriptum, Emmendingen/Hüfingen

ISBN (E-Book) 978-3-451-81069-5

ISBN (Buch) 978-3-451-31233-5

Für Shona, die mich das Fliegen gelehrt hat.

Und für Mooji, die es verkörpert.

Es geschah immer, wenn sie erwachte – ein ­Gefühl, als wäre sie an einem anderen Ort, ohne genau zu wissen, wo. Der Ort entglitt ihr, s­obald sie die Augen öffnete, und so sehr sie es auch versuchte, sie konnte ihn nicht zurückholen.

1

Der Morgen brach an. Shona schüttelte ihr Gefieder durch, neigte den Kopf und schaute aus dem Fenster. Der Himmel verfärbte sich zu einem sanften Rosa. Die Blätter des Mangobaums liebkosten die Fensterscheibe. Weiter entfernt konnte sie einen kräftig rosafarbenen Busch sehen, der auf der anderen Seite der Steinmauer schlief. Immer, wenn Shona aus dem Fenster schaute, staunte sie über diesen rosafarbenen Busch. Je heißer die Sonne brannte, desto strahlender und frischer sah er aus. Wenn alle ande­ren Pflanzen in der heißen Sommersonne erschöpft die Köpfe hängen ließen, sah er umso schöner aus.

Heute jedoch schaute sie hinaus, ohne wirklich etwas zu sehen. Wieder einmal spürte sie die vertraute Unruhe. Es geschah immer, wenn sie erwachte – ein Gefühl, als wäre sie an einem anderen Ort, ohne genau zu wissen, wo. Der Ort entglitt ihr, sobald sie die Augen öffnete, und so sehr sie es auch versuchte, sie konnte ihn nicht zurückholen. Er war wie der Himmel, murmelte sie bei sich und schaute hinaus zu dem sanft rosafarbenen Himmel, der sich jetzt schon kräftiger orange färbte. Was kam da nachts zu ihr und verschwand, sobald es vom Tageslicht berührt wurde? Rätselhaft. Sie schüttelte den Kopf, als könnte sie damit den Gedanken vertreiben, und schaute hinunter von der Sitzstange in dem schönen Käfig, in dem sie zu Hause war.

Im selben Moment streckte sich ihr Freund Jazz, der schöne goldfarbene Hund, schüttelte sich und setzte sich bedeutungsvoll hin. Gerade hatte er noch geschlafen, jetzt war er wach und untersuchte irgendetwas unter dem Teppich. Er bellte laut, lief zum Fenster, stützte seine Vorderpfoten auf das Fensterbrett und schaute wissend hinaus. Dann bellte er wieder. Die Zunge hing ihm aus dem Maul, mit der Nase berührte er die Fensterscheibe. Shona fragte sich, ob er auch so abenteuerliche Reisen gemacht hatte wie sie. Und wenn ja, konnte er sie jagen wie die Maus, die er gestern gejagt hatte? Oder liefen sie ihm weg, gerade außerhalb seiner Reichweite wie die Frösche im Garten, die er immer jagte? Vielleicht würde sie ihn einmal danach fragen, dachte sie abwesend. Demnächst einmal, wenn sie allein wären.

Jazz war Shonas bester Freund, sie konnte sich immer auf seinen Rat verlassen. Er war klüger und älter als sie, schon zehn Jahre, für einen Hund war das offenbar ein reifes Alter. Jedenfalls hatte das ihre Herrin Sheila zu einer Freundin gesagt, die zu Besuch kam. Shona plauderte gern mit Jazz, er hatte ganz eigene Ansichten über die Welt. Oft, wenn am Nachmittag das ganze Haus still und schläfrig wirkte, sprang sie auf die Armlehne eines Sofas. Dann lag Jazz ­neben ihr, und sie unterhielten sich.

Die Katze Rani war da ganz anders. Sie blieb auf Distanz, ganz nach Katzenart, und lebte lieber in ihrer eigenen Welt. Sie liebte (und lebte) ihren Namen: die Königin, die Königliche. Wenn sie gerufen wurde, stand sie auf, achtete aber darauf, keine ungebührliche Eile oder Aufregung zu zeigen. Sie schüttelte sich und ging dann, Nase und Schwanz hoch in der Luft, langsam und anmutig in die Küche oder in den Garten. Oder sie sprang auf Sheilas Schoß, den sie für ihren ureigenen Platz hielt. Nie zeigte sie Hast oder Ungeschicklichkeit. Jeder Schritt, jedes Handeln, jede Geste war wohl abgemessen und richtig. Shona fing oft die abfälligen Blicke der Katze auf Jazz auf, der sich für alles und jedes interessierte. Das war eindeutig nicht Ranis Stil.

Rani war sehr wählerisch, auf was oder wen sie ihre Aufmerksamkeit richtete. Wenn sie sprach, erwartete sie das ungeteilte Interesse ihres Publikums. Eines ihrer Lieblingsthemen waren ihre Vorfahren. Nie wurde sie müde, Jazz und Shona mit Geschichten von ihren Eltern und Großeltern zu fesseln, die aus Persien stammten. Sie erzählte von den reichen Häusern, in denen sie gelebt hatten, wie man sie verwöhnt hatte, zu welchen königlichen Familien sie gehört hatten und wie sie selbst geboren worden war. Sie hielt immer inne, bevor sie dann von dem Tag erzählte, an dem Sheila gekommen war, um sie abzuholen: Wie Sheila einen einzigen Blick auf die Kätzchen geworfen und sofort entschieden hatte, dass sie Rani haben wollte, das reizendste, schönste Kätzchen aus dem ganzen Wurf. Ihre großen grünen Augen wurden noch größer und funkelten, wenn sie diese Geschichte erzählte, und sie sah sie durchdringend an und saugte die Anerkennung auf, die sie ihrer Meinung nach verdient hatte.

Wie so oft, saßen Jazz und Shona dann lächelnd und ­nickend da und warteten höflich, bis Rani fertig erzählt hatte. Shona erlebte Jazz nie so geduldig wie mit Rani. Und Shona selbst schaute die Katze bewundernd an, wie sie sprach, wie das Glasglöckchen an ihrem Hals klingelte, wenn sie sich an besonders wichtigen Stellen streckte. Sie fühlte sich unbehaglich, wenn die Katze in der Nähe war, aber irgendwie mochte sie sie auch. Irgendwo unter all dem vornehmen Fell und Getue hatte Rani ein gutes Herz, das spürte sie.

Shonas eigenes Herz jedoch gehörte nur Sheila. Von dem Tag an, als Sheila sie gefunden hatte, wie sie auf der Erde lag und nach Luft schnappte, von dem Tag an, als Sheila sie gerettet hatte, wusste Shona, sie verdankte dieser Frau ihr Leben. Sie erinnerte sich nicht, wie sie dorthin gekommen war, aber wenn sie daran dachte, dann spürte sie immer noch all den Schrecken und die Panik und die Atemlosigkeit wie damals, als sie schutzlos dort lag und auf ihren letzten Atemzug wartete. Dann hatte sie einen Schatten über sich gespürt, und als sie ängstlich die Augen schloss, sicher, dass jetzt das Ende gekommen war, fühlte sie, wie sie sanft hochgehoben wurde. Weiter erinnerte sie sich nicht, erst viel später war sie wieder wach geworden und hatte Geräusche aus weiter Ferne vernommen, in einer Sprache, die sie nie zuvor gehört hatte. Als sie die Augen einen Spalt breit öffnete, schauten Menschenaugen auf sie herunter und laute Stimmen umgaben sie.

»Mom, sie hat die Augen auf! Ist ja nicht zu fassen, sie lebt! Sie lebt!«

»Wir werden sie Shona nennen. Können wir sie behalten? O bitte, sag ja! Sie ist so zerbrechlich!«

»Natürlich behalten wir sie und kümmern uns um sie. Sie ist ein Papagei, Kinder, ein ganz besonderer Vogel. Ein Alexander­sittich. Schaut euch mal den Kopf an, der ist größer als bei den meisten anderen Papageien, und wenn sie erst mal Federn bekommt, dann wird sie hübsche rote Schulterklappen haben …«

Plötzlich war der kleine Vogel sehr müde gewesen, voller Furcht und ganz und gar überfordert. Er hatte ein neues Zuhause, einen Namen, eine Identität. Und ein Leben.

Er hatte die Augen zugemacht und das Bewusstsein verloren.

Was für ein Sprung! Sie war von Sheilas Knie aus direkt auf dem Dach ihres Käfigs am anderen Ende des Zimmers gelandet. Sie konnte sich noch an das Staunen und die Begeisterung ­erinnern. Aber das alles war natürlich nichts gegen die Aufregung um sie herum.

2

Das alles war Monate her. Shonas Herz wollte vor Liebe zerspringen, wenn sie daran dachte. Sie erinnerte sich, wie Sheila – denn sie musste es wohl gewesen sein – sie ins Haus getragen und in eine weiche, mit Stoff ausgeschlagene Schachtel gelegt hatte. Es hatte sich so sicher und tröstlich angefühlt. Shona war in einen tiefen Schlaf gefallen, und es kam ihr vor, als hätte sie tagelang geschlafen. Sie erinnerte sich nur an die grüne Landschaft, die sie immer wieder sah. Nachdem sie die Augen wieder geöffnet hatte, durfte sie auf Sheilas Schoß sitzen und wurde viele Male am Tag gefüttert. Sie lächelte leise in sich hinein, wenn sie an die Gesprächsfetzen dachte, die sie damals gehört, aber nicht verstanden hatte.

»Glaubst du, man muss sie auch nachts füttern?«, hatte Sheila gefragt und dabei eine kleine schwarze Schachtel an ihr Ohr gehalten. »Nein?« Und dann hatte sie laut gelacht. »Das würde kein Papagei mit Selbstrespekt tun? Okay, dann gibt es nur tagsüber etwas.« Shona hatte nichts dagegen, dass Sheila über ihre Mahlzeiten sprach, aber so klein sie war, sie wusste, es gab ein paar Dinge, über die man nun mal nicht mit »anderen Leuten« sprach. Peinlich berührt kreischte sie auf, als Sheila in allen Details die Häufigkeit, Farbe, Größe und Form ihrer »Häufchen« beschrieb. So sind Mütter wohl, sah sie irgendwann ein, denn Sheila ließ sich nicht beirren. Sie war so stolz auf diese »Leistungen« ihres Babys.

Shona verzieh ihr jedoch alles, denn wie bei den Menschen, so geht auch beim Papagei die Liebe durch den Magen. Und was für Delikatessen Sheila ihr servierte! Duftende Melonen und Mangos in kleinen Stückchen, weichen Reis und zerdrückte Bananen, und dazu so viel Liebe. Shona verschlang alles, und der befriedigte Ausdruck auf Sheilas Gesicht war ihr schönster Lohn.

Shonas Lieblingssitzplatz war Sheilas Knie. Dort saß sie ganz friedlich und schaute sich um, den Kopf zur Seite gelegt, fühlte sich sicher und außer Gefahr. Wenn sie dort saß, pickte sie ständig an Sheilas Hand, damit sie ihr den Kopf kraulte. Was Sheila dann auch schnell tat. Das war nach Shonas Erfahrung die vollkommene Seligkeit. Sie konnte stundenlang dasitzen wie in einer Meditation, ruhig und zufrieden.

Ein Moment, der sich in ihre Erinnerung eingegraben hatte, gehörte auch zu einem solchen seligen Tag, an dem sie auf Sheilas Knie gesessen hatte. Plötzlich hatte ihr Herz schneller geschlagen, sie hatte sich aufgerichtet, mit den Flügeln geschlagen, und aus einem tiefen inneren Wissen heraus war sie gesprungen. Und was für ein Sprung! Sie war von Sheilas Knie aus direkt auf dem Dach ihres Käfigs am anderen Ende des Zimmers gelandet. Sie konnte sich noch an das Staunen und die Begeisterung erinnern. Aber das alles war natürlich nichts gegen die Aufregung um sie herum. Die Kinder hatten vor Freude aufgeschrien, Sheila auch, und natürlich hatte sie sich sofort wieder dieses Ohrgerät geschnappt und die Welt über Shonas »ersten Flug« informiert. Tief in ihrem Inneren wusste Shona, dass sie dazu geboren war, aber sie freute sich vor allem, dass alle im Haus so glücklich waren. Das Problem war allerdings, die anderen wussten nicht, dass sie, die Heldin des Augenblicks, keine Ahnung hatte, wie sie wieder von dem Käfig runterkommen sollte. Sie saß da, klammerte sich mit ihren kleinen Krallen fest, als ginge es um ihr Leben. Erst als Sheila einen Teller mit Mangos (»Alphonsos« nannte sie sie) hereinbrachte und der verführerische Duft Shona erreichte, beschloss sie, diese köstlichen Dinger wären eine neue Mutprobe wert. Also schloss sie wieder die Augen, schlug mit den Flügeln wie beim ersten Mal, drückte die Brust heraus, atmete tief ein und ließ los. Im nächsten Augenblick stand sie auf dem Boden, etwas schwindelig, aber am Ziel. Die Mangos schmeckten himmlisch!

Erste Male haben natürlich immer einen besonderen Geschmack, und sie bekam auch nie wieder diese Mangos serviert, auch wenn sie jetzt jeden Tag »sprang« und die Sprünge immer länger und sicherer wurden. Beim ersten Mal war es wohl Anfängerglück, denn in den nächsten Tagen fühlte es sich lange nicht mehr so mühelos an. Sheila kam rein und schloss die Tür, schaltete das große schwirrende Ding an der Decke ab und setzte sich hin. Dann wartete sie geduldig, bis Shona ihre Flügel erprobte. Wie viele Male sie auch Bruchlandungen hinlegte und stürzte, wie oft sie auch gegen Fensterscheiben und Türen flog oder unkon­trol­lierte Sturzflüge unternahm, wie ungeschickt und dumm sie sich auch dabei fühlte – jedes Mal kam Sheila herbeigeeilt, hob sie auf, streichelte und küsste den Schmerz und die Demütigung weg und drängte sie, es wieder zu versuchen. Eines Tages, nach unzähligen Anläufen, hatte sie endlich gelernt, sich zu orientieren und in der Luft zu wenden, dorthin zu fliegen, wohin sie wollte, zu starten und zu landen. Wenn man es einmal kapiert hatte, war es ganz einfach!

Shona hatte auch schon ihren liebsten Landeplatz entdeckt: die Köpfe der Menschen. Nach ein paar Erkundungsflügen durchs Zimmer beschloss sie irgendwann, jetzt sei es genug, und landete auf einem der Köpfe. Von dort aus beobachtete sie die Szenerie und fühlte sich auf jede erdenkliche Weise auf dem Gipfel der Welt. Selbst Rani schaute ein klein wenig neidisch und bemühte sich sehr, desinteressiert zu wirken. Für Shona jedoch war es der Höhepunkt des Tages. Von ihrem Sitzplatz ließ sie sich dann leicht auf Sheilas Schulter gleiten, lehnte sich sanft gegen ihr Ohr, blieb dort sitzen und pickte ab und zu an der Ohrmuschel, um ihr ihre Liebe und Treue zu versichern. Von diesem Platz aus sah sie Fernsehsendungen an, trank hier und da ein Schlückchen aus Sheilas Glas und forderte gelegentlich ein Bröckchen vom Essen der Familie. Das sie auch bekam, und sie hoffte doch sehr, ihre Freunde könnten das sehen. »Leeecker!«, kreischte sie dann oder »Suuuper!«, wie es ihr Sheilas Kinder in ihrer glücklichen Kindersprache beigebracht hatten.

Es war ein zauberhaftes Leben. Tage voller Liebe und Aufregung und Nächte – jedenfalls die meisten – in Sicherheit und Ruhe. Die einzige Störung – wie die kleinen Kerne in den Weintrauben, die Shona so sehr liebte – war diese seltsame Vision, die sie neckte und ihr dann entfloh, die sie unruhig und nachdenklich machte, wenn sie versuchte, sich zu erinnern.

Es ist eine andere Welt, und sie kommt uns so echt vor. Am Morgen erinnerte sie sich, was sie gespürt hatte, sei es Furcht oder Glück. Manchmal spürte sie beim Aufwachen, dass ihre Wangen feucht von Tränen waren, an ­anderen Tagen fühlte sie nur Ruhe und Zufriedenheit. Aber wenn sie die Augen öffnete, ­verschwand alles.

3

Eines Morgens erwachte Shona und wusste es. Bevor die Vision sich wieder ungebeten in den anbrechenden Tag hinausschlich, fing sie sie ein. Aber was bedeutete sie, was sollte sie damit anfangen? Ganz still saß sie auf ihrer Stange und schaute nachdenklich zum Fenster hinaus. An diesem Tag wurde das Haus nicht von ihrem üblichen fröhlichen Morgengruß geweckt: »Hello ji, Sat Sri Akal!« Jazz schaute zu ihr hoch und legte fragend den Kopf schief.

»Hallo, meine Shona. Heute bist du aber still!«, sagte Sheila, als sie ins Zimmer kam, und gab ihr ein paar Linsen. Normalerweise wurde Sheila, wenn sie das Zimmer betrat, von Jazz begrüßt, der wild bellte und sie ansprang. Rani rieb sich anmutig an ihrem Bein, und Shona sprang und kreischte zur Begrüßung. Heute schaute Shona sie nur an und rührte sich nicht. Heute war sie froh, dass Sheilas Ohrgerät klingelte und sie ablenkte. Sheila ging abwesend aus dem Zimmer und sprach in das Gerät.

Wie seltsam doch diese nächtlichen Reisen sind, dachte Shona bei sich und pickte ein paar Linsen auf, ohne sie richtig zu schmecken. Es ist eine andere Welt, und sie kommt uns so echt vor. Am Morgen erinnerte sie sich, was sie gespürt hatte, sei es Furcht oder Glück. Manchmal spürte sie beim Aufwachen, dass ihre Wangen feucht von Tränen waren, an anderen Tagen fühlte sie nur Ruhe und Zufriedenheit. Aber wenn sie die Augen öffnete, verschwand alles. Ich frage mich, dachte sie und schaukelte ein bisschen auf ihrer Stange, welche Welt eigentlich die richtige ist. Diese oder die, die ich nachts besuche? Die Vision verschwindet zwar, dachte sie, aber sie hinterlässt Gefühle, so wie der zarte Duft der Jasminblüten, der noch lange im Raum hängt, wenn die Blüten hinausgebracht werden. Was hatte das nur alles zu bedeuten?

Vielleicht kannte Jazz, ihr kluger Freund, ja die Antwort auf diese Frage.

»Jazz, ich bin heute Nacht fort gewesen«, sagte sie zögernd, sprang von ihrer Stange und landete auf seinem Kopf.

»Ah, du meinst, du hattest einen Traum?«, antwortete er und wedelte mit dem Schwanz, damit sie weitererzählte.

»Nun, jedenfalls war es ein schöner … Traum.« Shona gefiel das Wort. Sie wiederholte es ein paar Mal, um es besser schmecken zu können. »Ich war an einem Ort, wo alles grün war. Überall waren Blätter. Ich habe Dinge gesehen, die ich noch nie gesehen habe, Jazz. Viele Leute überall, Autoschlangen, viele Häuser so wie dieses hier, einige groß und andere klein. Komisch war nur, ich war ganz hoch oben und schaute auf alles hinunter. Und über mir war ein klarer blauer Raum, so groß, dass ich ihn gar nicht beschreiben kann.« Sie sprang auf den Boden, damit sie ihm in die Augen schauen konnte. »Das Beste war, ich konnte überall herumfliegen. Kannst du dir vorstellen, wie sich das anfühlt? Ich bin mir bloß noch nicht sicher, was es zu bedeuten hat.«

Jazz erwiderte den Blick seiner kleinen Freundin. Er konnte spüren, wie viel Mühe es ihr bereitete, etwas zu beschreiben, das sie nicht kannte, die richtigen Worte für ein unbekanntes Erlebnis zu finden. Und er spürte auch, dass sie seltsam bewegt von dem war, was sie gesehen hatte. Vielleicht würde sie nie wieder so sein wie vorher. Er schaute sie liebevoll und mit großer Aufmerksamkeit an.

»Ich muss diesen Ort finden«, sagte Shona. »Ich weiß nicht, wie und wo, aber ich glaube, ich muss los und ihn finden.«

Jazz setzte sich hastig auf. »Los? Aber wohin? Du kannst nirgendwo hingehen. Du bist doch noch so klein! Komm, Kleines, es war nur ein Traum.« Und er knurrte, um seinen Worten Nachdruck zu verleihen.

Rani, die von dieser anscheinend so interessanten Diskussion nicht ausgeschlossen sein wollte, kam herüberspaziert. Ihr Glöckchen klingelte, und ihr frisch gebürstetes Fell funkelte im Licht.

»Was ist denn los?«, miaute sie. »Ihr wisst ja, ihr könnt immer auf meinen Rat zählen.«

»Nun«, erwiderte Jazz, »Shona hatte einen Traum und will, dass er wahr wird.«

»An sich keine schlechte Idee«, bemerkte Rani und setzte sich elegant auf eine Teppichecke. »Aber es kommt natürlich darauf an, was für ein Traum es ist, nicht wahr?«

»Nun«, stotterte Shona, die plötzlich ein ganz unsicheres, albernes Gefühl hatte. »Es geht darum, wegzugehen, dieses Haus zu verlassen und zu fliegen … es geht um den klaren, blauen Himmel. Ehrlich gesagt, ich glaube, dazu bin ich geboren.« Sie sprach da Worte aus, die selbst aus dem blauen Himmel zu kommen schienen, und plötzlich begriff sie zu ihrer eigenen Überraschung, worum es ging. Sie wusste nicht einmal genau, ob sie verstand, was das war, weggehen, verlassen, zu etwas geboren sein.

»Also, meine Liebe«, sagte Rani und schaute Shona mit ihren grünen Augen an. »Man soll sich von Träumen nicht allzu sehr hinreißen lassen. Nur ein Dummkopf würde die Bequemlichkeiten dieses Hauses aufgeben, um einem Phantasiebild zu folgen. Schau dir doch an, was du hast! Ein schöner Käfig, das beste Futter, und ehrlich, Shona, du kriegst doch immer die besten Leckerbissen. Du solltest es wirklich besser wissen. Hier kümmert man sich um all deine Bedürfnisse, warum solltest du das hier aufgeben?« Das Glöckchen um ihren Hals klingelte aufgeregt.

»Da hat sie recht, Shona«, fügte Jazz mit ernster Stimme hinzu. »Du genießt hier viele Annehmlichkeiten. Wie wir alle, und wir halten das auch irgendwie für selbstverständlich. Du bist in Sicherheit, und Sicherheit ist sehr wichtig, vor allem, wenn man so klein und verletzlich ist wie du. Hier wirst du beschützt. Du kannst dir ja gar nicht vorstellen, was da draußen auf dich wartet!« Er hielt inne und sah seine Freundin liebevoll an. »Ich habe große, wilde Vögel gesehen, selbst hier in unserem kleinen Garten. Die würden nach dir picken. Und du müsstest dich mit ihnen um das Futter streiten. Stell dir das mal vor! Ums Futter streiten, weißt du, was das heißt, kleine Shona? Nein, das kannst du dir gar nicht vorstellen. Und Hunger und Durst! Kennst du diese Gefühle überhaupt? Hast du schon mal über die Tiere da draußen nachgedacht? Aber gut, es ist ohnehin sinnlos, darüber zu reden. Nein, das ist kein Traum, dem du folgen solltest. Lass uns damit aufhören und genießen, was wir hier haben.«

»Ein Nest in der Hand ist besser als zwei im Gebüsch, kann ich euch sagen«, fügte Rani hinzu, die schon wieder ziemlich herablassend klang. »Ich weiß, was ein gutes ­Zuhause ist.«

Shona schluckte. Sie bewunderte Rani für ihre tollen Sprichwörter, auch wenn sie die meisten nicht verstand.

»Und dann ist da noch die Liebe«, fügte Jazz hinzu. »Die sollten wir wohl nicht vergessen. Wir lieben Sheila, und sie liebt uns. Du kannst doch nicht weggehen, das würde ihr das Herz brechen.«

Shona nickte. Das war ein Argument, gegen das sie nichts einwenden konnte. Eine Wolke der Verwirrung senkte sich auf sie herab, und Tränen glitzerten in ihren kleinen grauen Augen. »Da hast du recht, Jazz«, sagte sie. »Ich kann mir nicht vorstellen, ohne sie und euch zu leben. Danke, dass du mich daran erinnert hast, das bringt mich wieder auf den richtigen Weg.« Sie versuchte zu lächeln.

»Dann ist die Sache abgemacht«, erklärte Rani, streckte sich elegant auf dem Teppich aus und ließ ihre Krallen ­sehen. »Ich bin froh, dass du Vernunft annimmst. Du bist offenbar doch ein recht kluger Vogel. Denk dran, wenn du deinen Träumen folgst, dann sollten sie gut geerdet und praktisch sein.«

»Sheila hat dir das Leben gerettet, Shona«, fügte Jazz sehr entschieden hinzu. »Das darfst du nie vergessen. Du schuldest ihr Treue.«