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Ein sommerlicher Wanderkrimi mit schwarzem Humor. Den ersten gemeinsamen Urlaub hatte sich das frisch verliebte Ermittlerpaar Daniel Rohde und Brigitte Schilling wahrlich anders vorgestellt. Auf ihrer Wanderung in der Rhön strapazieren nicht nur kauzige Mitwanderer und ein sprücheklopfender Reiseleiter ihre Nerven: Als sie von einem Leichenfund auf ihrer Tour erfahren, verwandelt sich der heitere Ausflug jäh in eine verdeckte Ermittlung. Daniels und Brigittes Spürnasen werden auf eine harte Probe gestellt, denn jedes der Gruppenmitglieder könnte der Mörder sein – und er könnte wieder zuschlagen …
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Seitenzahl: 293
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Nach seiner Ausbildung bei einem schwäbischen Lokalradio arbeitet Tim Frühling jetzt seit über fünfundzwanzig Jahren beim Hessischen Rundfunk. Seit 2017 ist er bei der Radiowelle hr1 zu hören und präsentiert die Wettervorhersage im hr-Fernsehen und in der ARD. Geboren in Niedersachsen, aufgewachsen in Stuttgart, lebt er seit 1997 in Frankfurt und ist mittlerweile im Herzen Hesse.
www.tim-fruehling.de
Dieses Buch ist ein Roman. Handlungen und Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind nicht gewollt und rein zufällig.
© 2023 Emons Verlag GmbH
Alle Rechte vorbehalten
Umschlaggestaltung: Nina Schäfer, unter Verwendung der Bildmotive shutterstock.com/whanlamoon, shutterstock.com/Daria Doroshchuk, shutterstock.com/cooperr, shutterstock.com/Tartila
Lektorat: Susann Säuberlich, Neubiberg
E-Book-Erstellung: CPI books GmbH, Leck
ISBN 978-3-98707-007-5
Originalausgabe
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Dieser Roman wurde vermittelt durch die Agentur Brauer, München.
Mein Dank geht an den geduldigen Sebastian, den kreativen Jonas, die sachverständige Iris und meine motivierende Mutter Christine.
Sehr geehrte/r Mieter/in,
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Mit den besten Grüßen aus der Zentrale der Konfidenz Immo-Invest
Adrian Czech
Property Corporate Real Estate Manager
Brigitte drapierte grinsend eine Teewurst auf der Holzplatte mit den Frühstückszutaten. Schräg angeschnitten, leichte Wacholdernote und von Daniels Lieblingsmetzgerei in Breitenbach – wenn der Tag mit einem so dezenten kulinarischen Gefügigmacher begann, konnte eigentlich nichts mehr schiefgehen. Das war zumindest Brigittes Kalkül, denn sie hatte sich vorgenommen, im Rahmen dieses fürstlichen Morgenmahls ein heikles Thema anzusprechen: den ersten gemeinsamen Urlaub.
Der Trick mit dem Frühstück hatte vor ein paar Monaten schon einmal geklappt, nachdem Daniel im Anschluss an einen rotweinseligen Tapas-Abend bei Brigitte übernachtet und damit den Grundstein für ihre Partnerschaft gelegt hatte. Sie hatte schon davor ein bisschen für ihren unnahbaren Kollegen geschwärmt, sogar ein bisschen mehr, um ehrlich zu sein, war aber nach vier Jahren des kameradschaftlichen Zusammenarbeitens nicht mehr davon ausgegangen, dass Daniel noch mal zutraulich werden sollte. Nun waren die Kommissare Schilling und Rohde seit einigen Monaten ein Paar, hatten sich vor einem gefühlsduseligen Sonnenuntergang auf dem Eisenberg auch offiziell auf diesen Status verständigt – und mussten sich nicht mal mehr vor den Kollegen verstecken. Denn die hatten nach der letzten erfolgreichen Mordermittlung diskret durchscheinen lassen, dass sie eh begriffen hatten, was angesagt war.
Nun hatten die beiden ihre Urlaubspläne synchronisiert und standen vor ihrer ersten gemeinsamen Reise. So was war ja ein Prüfstein in jeder jungen Beziehung. Gab es genügend Gesprächsstoff für das traute Rund-um-die-Uhr-Beisammensein? Würde man an denselben Stellen lachen, sich freuen, sich auf die gemeinsame Tagesgestaltung einigen können? Über dieselben Leute lästern? Und ganz grundsätzlich: War so viel Nähe für Daniel überhaupt das Richtige? Nicht dass er direkt ein Einzelgänger war, aber er brauchte schon seine Freiräume, so schätzte Brigitte das ein.
Sie hatte vor ein paar Tagen einen Flyer entdeckt und mitgenommen, den sie nun unauffällig zwischen die anderen Werbebeilagen der »Osthessischen Landeszeitung« schob. Mit dem gleichen Grinsen wie beim Drapieren der Teewurst. Tagesgestaltung und Gesprächsstoff würden bei Brigittes angedachter Art der Feriengestaltung nun garantiert nicht das Problem sein.
Ein paar Minuten später betrat Daniel mit duschfeuchten Haaren Brigittes kombiniertes Wohn- und Esszimmer und entdeckte sofort die fleischliche Frühstücksüberraschung.
»Teewurst? Ist ja der Hammer! Etwa von Zischke?«
Brigitte machte ein selbstverständliches Wenn-Teewurst-dann-ja-wohl-nur-von-Fleischerei-Zischke-Nicken und schob als Erklärung nach: »Ich hatte doch gestern die Zeugenbefragung in Grebenau. Und da dachte ich, wenn ich schon so nah an deiner Lieblingswurst bin …«
»Klasse. Der kriegt die so sämig hin wie sonst keiner. Und danke fürs Vorbereiten.«
Brigitte ging in die Küche, um Daniel einen frischen Kaffee aus ihrem Vollautomaten zu ziehen. Am Esstisch raschelte die Zeitung.
Gut!
Brigitte kam ins Zimmer zurück, Daniel steckte sich ein Sesambrötchen mit fingerdick Streichwurst in den Mund und tippte auf einen Artikel im Lokalteil. »Hier, das mit diesen Geldautomatensprengungen wird auch immer verrückter. Das liest man jetzt fast jeden Tag.«
Blätter weiter!
»Heieiei, null zu sechs hat die SG Wildeck gegen Weiterode verloren. Kreisoberliga Fulda-Nord, gucke ich immer nach, da spielt Vincent als Stürmer, weißt schon, der Sohn von Paschkes.«
Langweilig!
Mittlerweile war Daniel bei den Todesanzeigen gelandet, die er kauend studierte. Die Werbebeilagen hatte er aus der Blattmitte herausgenommen und beiseitegelegt. So war das eigentlich nicht gedacht gewesen. Also Plan B.
In maximaler Beiläufigkeit sagte Brigitte: »Gib mir doch mal die Prospekte da.«
»Die liest du doch sonst nicht.«
»Ja, sonst nicht, aber ich wollte nächste Woche zu meinem Geburtstag ein paar Flaschen Sekt ausgeben, vielleicht ist ja irgendwo ein guter im Angebot.«
Daniel schob Brigitte eine Möbelhaus- und zwei Supermarktbeilagen herüber, die sie mit gespieltem Interesse aufschlug. »Ha, Edeka hat den Spanischen für drei Euro achtundachtzig. Hat sich doch schon gelohnt.«
»Con temperamento, Cava pura raza, in Flassengärung«, rezitierte Daniel mit spanischem Akzent einen uralten Werbeslogan.
Brigitte lachte und nutzte den Moment, um endlich den hellgrünen Flyer aus dem Papierberg herauszufischen, um den es ihr seit Beginn des Frühstücks eigentlich ging. Sie blätterte ein bisschen darin herum und machte zwei kleine Geräusche, die Daniels Aufmerksamkeit wecken sollten. Es funktionierte.
»Was hast du da noch?«
Sie legte das Leporello ausgefaltet auf den Tisch und schob es Daniel zu. »Guck mal, die bieten eine geführte Wandertour auf dem Hochrhöner an. In einer knappen Woche von Bad Salzungen nach Bad Kissingen auf Deutschlands schönstem Wanderweg, 2010 offiziell so ausgezeichnet. Mit Gepäcktransport von Hotel zu Hotel und sogar einer Übernachtung im Zelt.« An dieser Stelle bremste Brigitte sich, sonst würde ihr Reiseplan nicht mehr wie eine zufällige Entdeckung wirken.
Daniel schaute sich kurz die Vorder- und Rückseite des kleinen Prospekts an, schüttelte den Kopf und deutete auf ein Foto. »Nee, danke, schau dir allein mal diesen Wanderführer da an. Das ist bestimmt so ein ganz lustiger Vogel mit viel zu guter Laune und so. Wenn der Veranstalter schon ›Happytrekking‹ heißt. Und dann hat einer Blasen, einer lahmt, und einem kann’s nicht schnell genug gehen. Also, wir können gern mal langsam über unseren Urlaub nachdenken, aber das bestimmt nicht.«
»Ach, und wer von uns beiden hat vor ein paar Jahren Urlaub in so einem Spaß-Club auf Fuerteventura gemacht und als Schlange an der Gästeshow teilgenommen?«
»Das war eine Jugendsünde.«
»Da warst du sechsunddreißig!«
Daniel legte einen finsteren Blick auf, formte aus dem Inneren seiner Brötchenoberhälfte eine kleine Kugel und schnippte Brigitte die Teigmunition mit Daumen und Zeigefinger an die Stirn.
»Ey, wer mit Essen spielt, kriegt die Teewurst konfisziert!«
Okay, das war jetzt auf den ersten Blick nicht ganz so gut gelaufen. Aber Brigitte tröstete sich: Immerhin hatte Daniel von sich aus den Urlaub erwähnt.
Sie schnappte sich die Zeitung, legte den Flyer von »Happytrekking« auf die Kommode und beschloss, dass da das letzte Wort noch nicht gesprochen war.
***
»Ich sage es ungern in dieser Deutlichkeit, Herr Stumpf, aber Sie müssen Ihr Leben komplett umstellen.« Der Mann im weißen Kittel betrachtete unzufrieden die Laborwerte seines Patienten. »Blutdruck zu hoch, Cholesterin zu hoch, Leberwerte miserabel. Wir kennen uns ja schon eine Weile, und da will ich ganz offen sein: Sie sitzen zu viel, trinken zu viel und bewegen sich zu wenig. Und Sie sollten dringend aufhören zu rauchen.«
Frank Stumpf zog sein Businesshemd glatt und deutete rechtfertigend auf seinen Bauch. »Aber ich bin gertenschlank, schauen Sie mal, kein Gramm Fett.«
»Das ist aber auch der einzige Pluspunkt. Trotzdem sind viele Parameter alarmierend. Aber es gibt auch eine gute Nachricht: Es ist nämlich noch nicht zu spät zum Umsteuern. Sie sind Mitte fünfzig. Wenn Sie heute noch anfangen, auf Ihre Ernährung zu achten, und ein bisschen Sport treiben, kriegen wir das in den Griff. Das muss gar kein Marathonlauf sein, einfach locker joggen drei bis vier Mal die Woche, wandern, mehr Gemüse, weniger Fleisch.«
Stumpf stöhnte.
»Bitte, Sie müssen das ernst nehmen.« Der Arzt legte die Unterarme auf den Schreibtisch und beugte sich zu seinem Patienten vor. Seine Stimme wurde leiser, eindringlicher. »Schauen Sie, Herr Stumpf, Sie haben sich in Ihrem Leben so viel aufgebaut. Davon wollen Sie doch noch etwas haben. Schaffen Sie sich Freiräume, Selbstfürsorge ist hier das Stichwort. Wäre es denkbar, dass Sie in Ihrer Firma etwas kürzertreten?«
Stumpf winkte ab. »Auf keinen Fall. Ich habe die Zügel da allein in der Hand. Niemand hat meine Expertise. Und wenn ich arbeite, geht es mir auch am besten, wirklich. Ich brauche den Laden – und der Laden braucht mich.« Er machte eine kleine Pause und beugte sich ebenfalls nach vorn. »Ich weiß, was Sie gleich sagen werden. Niemand sei unersetzlich. Das stimmt ja auch in vielen Fällen, am Fließband, in der Werkstatt oder im Krankenhaus. Aber in meinem eben nicht. Es geht nicht.«
Der Arzt ließ sich in die hohe Rückenlehne seines Lederstuhls fallen und schüttelte resigniert den Kopf. »Gut, Herr Stumpf, Sie sind ein erwachsener Mann, ich kann Ihnen nichts vorschreiben. Aber machen Sie mir keine Vorwürfe, wenn Sie irgendwann mit einem Herzinfarkt oder Schlaganfall auf der Intensivstation liegen. Ich sage das an dieser Stelle mal so drastisch. Und vielleicht denken Sie doch noch mal darüber nach.« Er erhob sich, ging zu einem Schrank und zog die oberste Schublade auf. Er wühlte kurz und zupfte dann einen hellgrünen Flyer heraus, drückte seinem Patienten den Prospekt in die Hand und sagte zum Abschied: »Das ist ein toller Anbieter von geführten Wanderreisen. Bewegung, frische Luft, Ablenkung, das wäre genau das Richtige für Sie.«
Frank Stumpf warf einen flüchtigen Blick auf den Wisch. »Happytrekking«. Klang albern.
***
Der Abend der Urlaubsplanung wurde bei den Eheleuten Leupold traditionell groß zelebriert. Da blieb der Fernseher aus, keine »Aktuelle Stunde«, keine »Lokalzeit Ruhr«, stattdessen eine dampfende Auflaufform auf der gekachelten Kombination aus Couch- und Esstisch. Marlies hatte Lasagne gemacht, im Rahmen ihres sonstigen Portfolios ein sehr exotisches Gericht, aber für die Ausarbeitung der schönsten Tage im Jahr absolut passend. Wobei Italien nicht zur Debatte stand, weil Walter weder flog noch länger Zug, Bus oder Auto fahren wollte.
Deswegen hatten die Leupolds ihre letzten Urlaube in Zandvoort, auf Borkum, an der Mecklenburgischen Seenplatte und zuletzt im tschechischen Franzensbad verbracht. Dort hatte es ihnen aber nicht gefallen, das Essen war zu fettig gewesen, und viele sprachen kein gutes Deutsch. Also waren sich Marlies und Walter schon mal grundsätzlich einig, dass die nächsten Ferien im Inland stattfinden sollten.
Rund um die Teller und die Schale mit dem dampfenden Schichtnudelgericht hatte der Herr des Hauses jede Menge Prospekte und Broschüren verteilt, die er an verschiedenen Ständen einer Reisemesse eingesammelt hatte. Weil ihm das Essen noch zu heiß erschien, preschte Walter mit einem Vorschlag vor.
»Ich fände Harz gut.«
»Du, nee, dat muss da ganz schlimm aussehen, hab ich gehört, die Gerlinde erzählte das, der ihr Sohn war da wohl gewesen mit seiner Familie, die jetzt in Langendreer wohnen, weißte? Und zwar soll da fast kein Baum mehr stehen, weil dat die letzten Sommer so trocken war. Ganz kahl, hatten die gesacht. Also, Harz würde ich sein lassen, aber was wäre denn mit Schwarzwald, da hattest du doch was mitgebracht, wo war dat denn noch? Ah, hier, Markgräflerland, Hotel Ritter, guck mal, Walter, dat sieht doch gut aus.«
»Da isses immer schwül.«
»Dafür warste dat letzte Mal an der holländischen Küste nur am Meckern, dat dir dat zu kalt war. Iss ma die Lasagne, bevor die auch zu kalt wird. Aber hör mal, wir hatten doch neulich diese ›Wunderschön!‹-Sendung gesehen, wo die an der Altmühl waren. Mit diesen Felsen sah das doch toll aus. Die hatten sogar auch ein paar Ferienwohnungen gezeigt, in so ’nem alten Schloss, aber gar nicht teuer. Ferienwohnung kann ich mir grundsätzlich auch vorstellen. Muss ja nicht immer Hotel sein.«
»Das ist in Bayern.«
»Ja, nu, da isses aber nun mal schön. Oder Pfälzer Wald. Davon hat Frau Fricke erzählt, die Arzthelferin bei Dr. Pollmann, weißte? Die muss da in einem ganz edlen Wellnesshotel gewesen sein. Ich sach ma, wenn wir nur fünf Tage fahren statt sieben, könnte die Übernachtung ruhig auch was teurer sein, und dann buchen wir dat ohne Abendessen, da mache ich uns ein paar Stullen, oder wir nehmen was vom Frühstück mit.«
»Da sprechen sie alle wie Helmut Kohl.«
Marlies atmete laut aus. »Ja, gut, dann bleibt aber nicht mehr viel über. Thüringer Wald vielleicht? Da war doch diese eine Broschüre mit Seniorenwandern auffem Rennsteig. Das ist bestimmt auch preiswerter da …«
»Im Osten hat es mir nicht geschmeckt, erinner dich mal an dieses sehnige Schnitzel an der Müritz.«
»Och ker, wat bisse denn heute so auf Kontra? Ich freu mich hier und koch uns dat schöne Essen, und du machst jeden Vorschlag innen Eimer. Hasse keine Lust auf Urlaub dieses Jahr, oder was? Dann bin ich jetzt mal still, und du sachst mal, wat dir gefallen würde, so rum vielleicht? Wo es dir nicht zu heiß ist oder komisch geredet wird, dafür lecker.«
Walter kramte kurz durch die Broschüren und zog schließlich einen hellgrünen Flyer hervor. Er legte ihn vor Marlies hin und sagte: »Ich glaube, das könnte was für uns sein.«
***
Sven war wirklich aufgeregt. Er hatte sich für den Geburtstag von Tordis so viele tolle Sachen ausgedacht, dass ihm vor der großen Geschenkeübergabe richtig kribbelig zumute war. Die meiste Arbeit hatte er zweifelsohne in den Quinoa-Avocado-Kuchen gesteckt, gesüßt mit Agavendicksaft und nach dem Backen mit dreißig paraffinfreien Kerzen bestückt. Daneben lagen drei in Zeitungspapier eingepackte Geschenke und ein Kuvert mit einem Gutschein. Sven zündete die Kerzen an, betrachtete sein Werk noch mal zufrieden und machte sich auf den Weg ins Schlafzimmer.
Ganz kurz musste er an seine Ex-Freundin Rebecca denken, die ihm bei einer ähnlichen Gelegenheit mal eine total unfaire Szene gemacht hatte. Zum Zweijährigen ihrer Beziehung hatte er ihr damals wunderschöne Filzpantoffeln, die Patenschaft für eine Ziege und ein Solarpaneel fürs Fenster geschenkt, mit dem das Handy allein per Sonnenenergie aufgeladen werden konnte. Doch statt sich zu freuen, war sie in Tränen ausgebrochen und hatte ihm vorgeworfen, seinen Öko-Spleen über alles zu stellen und nicht den leisesten Schimmer zu haben, was die wahren Wünsche einer Frau seien. Ein paar Wochen später hatte er sich von ihr getrennt, weil Rebecca immer mehr zur Konsumtussi geworden war.
Aber nun war Tordis da, und die war ganz anders. Sie hatte begriffen, wie es um diese Erde stand. Dass sie klimatisch aus dem letzten Loch pfiff, dass die Menschheit die Welt ausgebeutet und an den Rand des Ruins geführt hatte. Sven war froh, eine Schwester im Geiste gefunden zu haben, und lächelte versonnen, als er seine Freundin in den letzten Zügen ihres Schlafs zwischen vielen bunten Kissen beobachtete.
»Leefke«, flüsterte er. »Aufstehen, Leefke, heute ist dein Geburtstag.« Der Kosename kam wie Tordis aus dem Friesischen und bedeutete »Kleines Liebchen«.
Das kleine Liebchen blinzelte verschlafen und brummte.
»In der Küche wartet eine Überraschung auf dich, mein schönes Geburtstagskind«, säuselte Sven, setzte sich auf die Bettkante und fuhr seiner Freundin sanft über die Wange.
»Oh, ist das lieb von dir«, nuschelte Tordis und streckte sich. »Ich komme gleich.«
Sven schlich aus dem Raum und setzte sich wartend in die Küche.
Ein paar Minuten später erschien Tordis ungeduscht im Bademantel am Esstisch. Sie lächelte, immer noch etwas verschlafen, als sie die Kerzen auf dem Kuchen brennen sah. Leise sagte sie: »Das hast du aber schön gemacht. Danke.« Sie ließ sich in einen der Korbsessel fallen.
Sven wieselte zur Herdplatte, hob die achteckige Espressokanne vom Gas und goss seiner Freundin ein. Er deutete auf die Geschenke. »Mach auf.«
»Welche Reihenfolge?«
»Egal. Den Umschlag zuletzt.«
»Okay, dann fange ich mit dem Kleinen an.« Tordis riss das Zeitungspapier auf und hielt ein winziges Gläschen mit zähflüssigem Inhalt in der Hand. Weil es nicht etikettiert war, fragte sie: »Honig?«
»Nee, nee, für meine Königin nur der Futtersaft der Königinnen. Gelée royale! Mit Propolis, ganz köstlich süß, aber viel gesünder als Zucker, alle B-Vitamine sind da drin, das stärkt die Abwehrkräfte. Damit du nie krank wirst.«
»Was für eine schöne Idee.« Tordis machte das nächste Geschenk auf, zum Vorschein kam ein kleines Schächtelchen, das einen unbestimmbaren Duft verströmte. Sie öffnete den kleinen Karton und ließ ein eckiges Seifenstück in ihre linke Hand rutschen. Sie schnupperte daran. Noch bevor sie eine Frage stellen konnte, erklärte Sven:
»Das ist Schafmilchseife mit Aloe Vera und Gurke. Natürlich ohne künstliche Duftstoffe, die ist von diesem tollen Seifenladen am Klosterstern.«
»Ja, der ist schön.«
»Jetzt das Große, dann den Umschlag!«
Tordis stand auf, denn das größte der drei Geschenke war wirklich ziemlich groß. Auch hier verbarg sich unter dem Zeitungspapier ein Karton, dessen Deckel sie neugierig öffnete. Zuerst kam etwas Rotes zum Vorschein, das sich beim weiteren Herausheben als Dach entpuppte. Und zwar als Dach eines Wetterhauses, ausgestattet mit Thermometer, Hygrometer, Barometer, Regenmesser und einem drehbaren Wetterhahn, der durch eine kleine Öffnung noch aufgesteckt werden musste.
»Klasse, oder? Damit können wir alles ganz exakt messen, jeden Tag. Wir machen unsere eigene Datenreihe, das ist alles total robust, das hält Jahrzehnte.«
Tordis schaute einfach nur.
»Und jetzt den Umschlag!«
Sie machte das Kuvert auf und zog einen selbst gemalten Gutschein hervor. Sie las Sven vor, was er selbst geschrieben hatte: »Gutschein für eine geführte Wanderwoche durch die Rhön mit Gepäcktransport und fünf Übernachtungen. Organisiert und durchgeführt von den Wanderexperten von ›Happytrekking‹.«
»Da staunst du, was? Das ist eine der letzten Gegenden in Deutschland, wo wir das Birkhuhn noch in freier Wildbahn beobachten können. Die sollen ganz tolle Wanderführer haben, hieß es in den Bewertungen. Ende August geht’s los! Und jetzt musst du noch die Kerzen auspusten und dir was wünschen.«
Tordis sog tief Luft ein, schloss die Augen und blies mit einem Schlag alle dreißig Kerzen auf dem Kuchen zu ihrem runden Geburtstag aus.
»Aber nicht verraten, was du dir gewünscht hast!«
Da konnte Sven unbesorgt sein. Das hatte sie ohnehin nicht vorgehabt.
***
Ute schloss ihr Fahrrad ab und warf einen suchenden Blick in den überfüllten Biergarten. Bei dem schönen Wetter herrschte im »Stenz’l am See« Hochbetrieb, gut, dass sie für sich und ihre Freundinnen reserviert hatte. Der Nachmittag des letzten Mittwochs im Monat gehörte Ute, Rita und Bärbel ganz allein und war eine Art Heiligtum für die drei. Urlaube, Geschäftstermine oder Arztbesuche wurden sorgfältig um den Stammtisch herumgeplant, der mittlerweile schon seit fast fünfzehn Jahren Tradition hatte.
Schon die Zugfahrt aus der Stadt hinaus an den Starnberger See genoss Ute jedes Mal. Wenn die S-Bahn bis zur Endhaltestelle in Tutzing immer leerer wurde, das Publikum gediegener und die Gipfel von Wetterstein- und Karwendelgebirge an klaren Tagen am Horizont auftauchten.
Ihre beiden Freundinnen aus dem Voralpenland hatte die Münchnerin über ihren Beruf kennengelernt, mittlerweile waren Rita und Bärbel ihre engsten Vertrauten. Deswegen war sie umso glücklicher über die Stunden, in denen sie die Mädels nicht mit deren Männern teilen musste. Im Gegensatz zu Ute waren die anderen verheiratet, Rita mit einem Zahnarzt, Bärbel mit dem Kulturamtsleiter von Murnau.
Grundsätzlich mochte Ute die beiden Gatten, der Dentist flirtete manchmal sogar ein bisschen mit ihr. Aber in der Kombination mit zwei Paaren wie vor ein paar Jahren bei einem gemeinsamen Wellnesswochenende kam sie sich dann doch schon manchmal vor wie das sprichwörtliche fünfte Rad am Wagen. Auf der anderen Seite genoss sie ihre Freiheit als Single, denn manch langjährige Ehe wirkte auf sie bei genauerer Betrachtung eigentlich nur wie ein andauernder großer Kompromiss. Für ein Abenteuer war sie gern zu haben, aber ständig denselben Mann um sich herum, womöglich noch in ihrer Wohnung, das konnte sich Ute nicht vorstellen.
Rita saß am Rand einer Biergartengarnitur und ließ sich mit geschlossenen Augen die Sonne ins Gesicht scheinen. Ute umrundete den Tisch und kniff ihre Freundin überraschend von hinten in die Schultern. »Buh!«
»Mei, hast du mich erschreckt. Ich bin grad schon fast weggeschlummert, so schön ist es da. Servus, Ute, gut schaust aus.«
Die neu Angekommene legte ihren Fahrradhelm auf den Tisch. Für die letzten paar Kilometer vom Bahnhof zum »Stenz’l am See« hatte sie meist ihren Drahtesel dabei. »Du aber auch, richtig erholt. Ach, schau, da kommt ja die Bärbel schon.«
»Servus, ihr zwei, gut schaut ihr aus. Ute, sportlich wie immer.« Bärbel trug ein Dirndl, sie war von den drei Freundinnen am drallsten gebaut und füllte die bajuwarische Tracht gut aus. »Ich hab schon direkt beim Toni drei Aperol Spritz bestellt, passt eh, oder?«
Passte.
Bärbel setzte sich umständlich auf die schmale Bank und stöhnte dabei ein bisschen. »Mei, hab ich mich gefreut auf euch. Die letzten Tage waren sooo stressig. Der Gerd bereitet ja gerade die Vernissage vor von dieser jungen Street-Art-Künstlerin aus Bolivien. Und da hat er mich voll eingespannt.«
»Was macht die für Kunst?«, wollte Rita wissen.
»Expressionistisch stricken tut die. Alles kriegt da so ein kleines Mäntelchen: Parkuhren, Gullydeckel, Baumstümpfe. Knallbunt und ziemlich verrückt, aber seit die in Antwerpen den Preis dafür bekommen hat, ist die total ang’sagt.«
»Lädst uns fei schon ein zu der Vernissage, oder?«, verlangte Ute.
»Freilich. Die ist am 29. August, der Termin ist fix.«
»Ach, geh, das ist aber blöd. An dem Tag bin ich im Urlaub.«
»Fährst also wieder in Urlaub, Ute? Du warst doch gerade erst in Seefeld.«
»Das ist jetzt auch schon wieder zweieinhalb Monate her. Aber diesmal habe ich mir was ganz was Besonderes ausgedacht.« Sie zog einen hellgrünen Flyer aus der Tasche. »Schaut mal, ich hab’s euch extra mitgebracht. Die Ute geht wandern.«
»Ja, wie?« Rita war erstaunt. »Du fährst doch sonst nur Rad? Wusst ich gar nicht, dass du wandern magst.«
»Ich wollt’s halt noch mal ausprobieren. Schließlich hab ich bereits als junges Mädchen eine Alpenüberquerung gemacht. Okay, ist halt a bissl her, aber das sind geführte Tagesetappen mit Guide. Mittleres Level, heißt’s da. Und perfekt geeignet für Singles, vielleicht ist ja ein guter Typ dabei. Oder gleich der Wanderführer.« Ute blickte ein wenig frivol drein, Bärbel und Rita gackerten freudig.
In diesem Augenblick brachte Toni die Drinks.
Rita rührte kurz mit dem gläsernen Strohhalm um und rief: »Ja, dann, Ute, auf die Wanderung! Und dass wirklich ein paar g’standene Mannsbilder dabei sind!«
»Und ich sach noch, lass uns einen Tag früher da hinfahren und übernachten, dann wird dat nicht so ein Stress am Morgen, aber nein, das schöne Geld können wir uns doch sparen, wenn wir ganz zeitig starten, fünf Uhr sechsunddreißig in Bochum los, ’ne Schnapsidee war dat von dir, nie kommt die pünktlich, die Bahn, nie, und schon gar nicht, wenn man es eilig hat. Und hundemüde bin ich auch, rennste ma nicht so, Walter, ich komm kaum noch hinterher. Walter!«
»Wenn de nicht so viel quatschst, hasse auch mehr Puste.«
»Ich quatsch doch gar nicht, aber der Rucksack schneidet ganz schön ein. Und ich weiß auch nicht, ob die Wanderschuhe nicht drücken. Weißte überhaupt, wo wir hinmüssen? Die soll man ja tagelang einlaufen, so neue Schuhe, ich hoffe, dat war genuch bei mir, nicht dass ich mir sofort ’ne Blase laufe. Müssen wa nich rechts?«
»Nee, links müssen wa, Parkplatz vor dem Goethe-Park-Center, hat der Melvin mir doch alles ausgedruckt.«
»Ach ja, guck mal, dahinten, das könnten se schon sein, siehste die Gruppe da bei dem Bus, bei dem kleinen? Die sehen doch so aus, als würden se auch wandern gehen wollen. Ich wink mal, eh die ohne uns starten.«
Marlies Leupold fuchtelte in der Luft herum und wurde schnell von einem Mann mit Pferdeschwanz und kurzen Hosen entdeckt, der den Parkplatz suchend abscannte. Er winkte zurück und signalisierte, dass sich das ältere Ehepaar keinen Stress beim Überqueren der Straße machen solle. Eine knappe Minute und eine semilegale Überquerung eines unübersichtlichen Verkehrskreisels später hatten die Nachzügler die wartende Gruppe erreicht.
»Hey, servus, ihr müsst die Leupolds sein«, sagte der Pferdeschwanzmann und setzte nach: »Ich bin der Mo aus Rosenheim, euer Wanderführer. Also, Moritz eigentlich, aber warum einfach, wenn’s auch kompliziert geht, haha, gell? Schön, dass ihr da seid.« Mo trug ein orangefarbenes Funktionsshirt, bedruckt mit zwei ausgelatschten Wanderstiefeln und dem Spruch »Ich kenn da ’ne Abkürzung«.
»Ach, wat bin ich froh, dass ihr gewartet habt, es war eine Katastrophe mit der Bahn. Dat fing alles schon in Bochum an mit zehn Minuten Verspätung. Also, zehn stand dran, waren dann aber zwölf, ne? Gut, egal, erzähle ich euch später, ich bin auf jeden Fall die Marlies.«
»Und ich bin der Walter.«
»Super, dann sind ja jetzt alle da, und es kann losgehen. Herzlich willkommen noch mal an alle im Namen von ›Happytrekking‹, ich bin sicher, dass eine tolle Woche vor uns liegt. Wetter soll ja auch passen. Also, wir würden erst mal ein kleines Stückl da aus Bad Salzungen herausfahren, weil der erste Teil durch die Stadt ist nicht so attraktiv. Wir steigen unterhalb vom Schneckenberg ein, dann geht’s heute über den Pleß zu unserer ersten Station nach Bernshausen. Knapp zwölf Kilometer zum Warmwerden. Alles andere erkläre ich euch dann noch. Passt? Also, aufi geht’s, schmeißt euer Gepäck einfach hinten in den Bus, unser Fahrer heißt Bayram.«
»Warte mal kurz, Mo«, unterbrach ein junger Mann mit nöliger Stimme den tatenhungrigen Wanderführer. »Wir haben uns doch noch gar nicht richtig vorgestellt. Ich fände das für die Gruppendynamik total wichtig, und ich habe ja extra das Wollknäuel mitgebracht.« Er nestelte aus seinem Wanderrucksack einen lilafarbenen Stoffklumpen und erklärte, während er den Anfang des Fadens suchte: »Gerade bei so einer heterogenen Runde kommen wir uns viel schneller näher, wenn am Anfang jeder kurz seine Motivation klarmacht. Die zehn Minuten haben wir doch, oder, Mo?«
Der Wanderführer war über die unerwartete Aktion so verdattert, dass er nicht intervenierte.
»Jeder stellt sich kurz vor und sagt, warum er diese Reise hier angetreten hat und wie es ihm geht. Und dann wirft er das Knäuel dem Nächsten in der Gruppe zu. Wem ihr wollt, ihr sucht euch einfach jemanden aus, total spontan. Dadurch spannen wir direkt zu Beginn ein Netz des Vertrauens zwischen allen Teilnehmern, gut? Also, ich fang mal an. Ich bin der Sven aus Hamburg, zweiunddreißig Jahre, mir geht’s gut, ich arbeite für eine Nichtregierungsorganisation und will auf dieser Wanderung einerseits zu mir selbst finden und andererseits ein Birkhuhn sehen. Jetzt du!«
Sven behielt den Anfang des Fadens in der Hand und warf den Rest einem etwas älteren Mann zu, der die Szene bislang mit spürbarer Skepsis verfolgt hatte. Dieser fing das Wollwirrwarr auf und schaute etwas hilflos in die Runde.
»Okay, äh, also, ich heiße Daniel, ich bin einundvierzig Jahre alt, bin mit meiner Freundin Brigitte hier, und wir sind bei der Polizei.«
»Super, Daniel, aber bitte nicht die anderen schon vorstellen und deine Motivation noch nennen.«
»Also, eigentlich wollte ich entspannt wandern gehen.« Es klang, als habe er an diesem Plan mittlerweile Zweifel. Daniel warf den Wollballen einer Frau zu, die offensichtlich allein an der Reise teilnahm.
»Servus, ich bin die Ute aus München, ein ganz klein bissl aufgeregt, aber erst mal: Ich finde das eine ganz gute Idee mit der Vorstellung, Sven. Ja, ihr seht’s ja, ich bin Single, da ist das mit Urlaub nicht immer ganz so einfach, deswegen habe ich diese Wanderung in der Gruppe gebucht. Die Rhön kenne ich noch gar nicht und bin sehr gespannt. Ach genau, und beruflich führe ich eine Boutique mit exklusiver Damenmode. Klein, aber mein, sag ich immer. So viel zu mir.«
Mit einem kurzen »Hepp« von Ute flog das Knäuel weiter. Und landete vor den Sandalen, in denen die blassen Füße eines griesgrämigen Mannes steckten. Er bückte sich umständlich und machte, wieder in der Vertikalen angekommen, einen Gesichtsausdruck, der keinen Zweifel daran ließ, dass Wollewerfen auf öffentlichen Plätzen komplett unter seiner Würde war.
»Frank aus Niedersachsen, mein Arzt wollte, dass ich hier mitmache.« Er feuerte den Klumpen nach seiner schmallippigen Vorstellung einer Frau mit brauner Lockenmähne entgegen, die den aggressiven Wurf mit einem ironischen »Huh« kommentierte. Danach sagte sie:
»Hallo, ich bin die Brigitte, der Daniel hat mich verbotenerweise ja schon vorgestellt, Kriminalkommissarin aus Bad Hersfeld, und ich freue mich, meine erweiterte Heimat mal auf eine ganz andere Weise kennenzulernen.«
Bevor Brigitte die Wolle an den nächsten Teilnehmer weiterwerfen konnte, schritt Mo ein. Ihm schien es mit der Gruppendynamik in diesem Moment zu genügen, er schnappte sich das Knäuel und gab es Sven zurück.
»Dank dir für die super Idee, die beiden anderen heißen Marlies und Walter, das wiss ma ja schon, und deine Freundin Tordis, also dann kann’s auch langsam losgehen, gell? Wir sind schon spät dran.«
Sven steckte die Wolle beleidigt wieder ein, und Tordis machte ein Gesicht, als habe sie als Einzige kein Stück vom Geburtstagskuchen abbekommen.
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»Das ist alles ganz schrecklich, schlimmer, als ich es mir vorgestellt habe«, flüsterte Daniel in den Lärm des beschleunigenden Kleinbusses hinein.
Brigitte stieß vom Nachbarsitz aus ihren Ellbogen in die Rippen ihres Freundes und wisperte zurück: »Jetzt hör auf. Ich fand diese Vorstellungsrunde eben auch Panne, aber es wird bestimmt noch ganz toll. Und du wolltest die Reise schließlich auch.«
»Ja, aber nur, weil mich auf dem Revier alle dazu überredet haben. Du weißt ganz genau, dass ich eigentlich keinen Bock darauf hatte.«
Nach Daniels anfänglich kategorischer Ablehnung hatte Brigitte die Kollegen auf der Polizeistation ein bisschen instruiert, ihm das Wanderabenteuer doch noch schmackhaft zu machen. Und tatsächlich war es den befreundeten Beamten so gut gelungen, den Rhön-Trip in den schillerndsten Farben zu malen, dass Daniel sich hatte umstimmen lassen und vor der Abreise sogar richtige Vorfreude entwickelte. Dass der Auftakt nun etwas misslungen war, beunruhigte Brigitte aber noch nicht. Andere gemeinsam doof zu finden, schweißte schließlich auch zusammen.
»Wie sieht’s denn bei euch mit dem Hunger aus?« Mo hatte sich von seinem Sitz in der ersten Reihe erhoben und schaute entgegen der Fahrtrichtung in den Bus, die Arme lässig auf den Rückenlehnen der Sessel abgestützt. »›Happytrekking‹ kümmert sich ja mittags immer um eine Brotzeit, wollen wir die direkt vor dem Start einnehmen – oder erst nach dem Aufstieg oben am Pleß? Ist halt landschaftlich schöner dort. Mach mer einfach mal eine Urabstimmung, auf meiner ist es elf Uhr dreiundvierzig, haha, kleiner Scherz, nee, also mal die Hände hoch, wer schon direkt beim Ausstieg aus dem Bus was schnabulieren möchte?«
Niemand meldete sich.
»Okay, Gegenprobe, wer hat Geduld bis zum Gipfel?«
Alle Hände schnellten in die Höhe. Offenbar wollte die ganze Truppe endlich mit dem Wandern anfangen und nicht essen, sich vorstellen oder Dinge zuwerfen.
Ute drehte sich aus der Vorderreihe zu Daniel und Brigitte um und sagte gedämpft: »Klappt doch super mit der Gruppendynamik, oder? Da können wir dem Sven fei dankbar sein.«
Daniel grinste. Die schien Humor zu haben. Er antwortete leise: »Stimmt, und ohne sein Wollknäuel hätten wir uns womöglich nie kennengelernt.«
Ein paar Kurven weiter kam der Bus auf einem kleinen Parkplatz zum Stehen. Mo nahm noch mal seine Anspracheposition ein und nutzte den Moment, um die grundlegenden Verhaltensmaßnahmen für die kommende Woche zu erläutern. »Bevor’s aufi geht, liebe Wanderkameraden und -kameradieschen, haha, noch ein paar Hinweise: Ihr lassts bitte alles im Bus, was ihr beim Marschieren nicht braucht. Der Bayram fährt eure Schätze zuverlässig ins nächste Hotel.« Der Busfahrer streckte den rechten Daumen in die Luft. »Ich hab schon gesehen, ihr habt alle vernünftige Wanderschuhe an, die Sandalen vom Frank passen auch, aber wenn jemand Schmerzen hat oder nicht mehr kann, bitte bei mir melden, wir finden eine Lösung. Ansonsten gilt: Wir sind kein Bummelzug, aber auch kein ICE. Wir gehen zügig, machen aber genügend Pausen. Wie gesagt, die Mittagsjause geht aufs Haus, ihr sagt früh genug, wenn sich der Magen meldet. Und wenn sonst irgendwas ist, sprechts einfach den Mo an, der hat immer ein offenes Ohr für euch. So weit alles Roger in Kambodscha? Dann ab nach draußen, ich freu mich auf die erste Etappe!«
Der griesgrämige Frank, der allein in der hintersten Reihe des Busses gesessen hatte, wollte durch den schmalen Gang nach vorn zur Tür stürmen. Alles an seiner Haltung machte den Eindruck, als wolle er diese Reise so schnell wie möglich hinter sich bringen. Er wurde in seinem Ausstiegseifer von Mo aber ausgebremst.
»Aha, ich seh schon, Frank, bist topmotiviert, aber ich schlage ein sogenanntes Gentlemen-Aussteiging vor: Ladies first, James Last. Haha.«
Daniel verdrehte die Augen. Wenn es mit den schlechten Sprüchen in dieser Taktzahl weiterging, konnte das ja heiter werden.
Der Ausstiegsvorgang zog sich dann doch noch ein bisschen hin, weil sich die achtlos in die Überkopfablagen hineingeworfenen Nordic-Walking-Stöcke der älteren Mitwanderer ineinander verkeilt hatten und nur unter großem metallischen Geschepper wieder voneinander getrennt werden konnten. Irgendwann hatten alle ihr Geraffel beieinander, und es konnte losgehen.
Nach ein paar Schritten wies Mo auf ein orangenes »Ö« hin, das auf einem Baumstamm prangte. »Das ist übrigens das Logo von unserem Wanderweg, dem Hochrhöner. Also, wenn mal jemand verloren geht, einfach nach dieser Markierung suchen, gell? Dann find ma uns alle wieder. Okay, wenn dann alle Klarheiten beseitigt sind, geht’s aufi!«
Nachdem sämtliche Fragen und Wortspiele abgearbeitet waren, setzte sich die Wandergruppe in Bewegung. Der erste Teil des Weges stieg am Rand einer sattgrünen Wiese sanft an, die Sonne funkelte hier und da durch das dichte Blätterdach der hohen Bäume. Die Luft war erfüllt vom Summen der Insekten und Vogelgezwitscher, die Temperatur hätte mit dreiundzwanzig Grad und niedriger Luftfeuchte für den Auftakt der Tour nicht idealer sein können. Jeder einzelne Mitwanderer schien nach den Strapazen der Anreise überwältigt von der Ruhe und Schönheit der ersten Meter, nur Marlies plapperte ohne konkreten Adressaten unentwegt vor sich hin und schien sich nicht daran zu stören, dass ihr niemand zuhörte.
Daniel legte seinen Arm um Brigittes Taille und sagte einfach nur: »Schön.«
Nach ein paar hundert Metern hatte sich die fast andächtige Anfangsfaszination für den deutschen Mischwald offenbar gelegt, die Gespräche flammten wieder auf. Ute plauderte mit Wanderführer Mo, Sven erklärte Tordis irgendwas in den Wipfeln, Walter tat, als höre er seiner Frau zu, nur Frank trottete als Letzter mit finsterer Miene hinter den anderen her.
An einer kleinen Steigung holten die beiden Polizisten das junge Paar aus dem Norden ein. Weil Brigitte und Daniel als Einzige aus der Nähe kamen, fühlte sich Brigitte irgendwie ein bisschen in der Gastgeberrolle und warf als Gesprächseröffnung ein: »Toller Wald, ne?«