Der Körper in der Psychotherapie - Hedda Lausberg - E-Book

Der Körper in der Psychotherapie E-Book

Hedda Lausberg

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Beschreibung

Physical expression is ubiquitous not only in psychotherapeutic work oriented towards the body and movement, but also in verbal psychotherapy. In this volume, the author explores the following questions, among others, from a neuropsychological perspective: With which specific psychological processes are facial expressions, gestures, and posture associated? What are the universal, cultural and individual components of expressive movement behaviour? How reliable is the intuitive interpretation of bodily expression? How do unconscious and conscious nonverbal interactions differ? What information do gestures provide, in contrast to language? What is the psychological function of different types of self-touching? This book provides empirically based knowledge about physical expression and offers numerous suggestions for therapeutic practice.

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Lindauer Beiträge zur Psychotherapie und Psychosomatik

Herausgegeben von Michael Ermann und Dorothea Huber

Michael Ermann, Prof. Dr. med. habil., ist Psychoanalytiker in Berlin und em. Professor für Psychotherapie und Psychosomatik an der Ludwig-Maximilians-Universität München.

Dorothea Huber, Professor Dr. med. Dr. phil., war bis 2018 Chefärztin der Klinik für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie an der München Klinik. Sie ist Professorin an der Internationalen Psychoanalytischen Universität, IPU Berlin, und in der wissenschaftlichen Leitung der Lindauer Psychotherapiewochen tätig.

Eine Übersicht aller lieferbaren und im Buchhandel angekündigten Bände der Reihe finden Sie unter:

 https://shop.kohlhammer.de/lindauer-beitraege

Die Autorin

Univ.-Prof. Dr. med. Hedda Lausberg ist Fachärztin für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie, Neurologie, Psychiatrie und Tanztherapeutin (BVT). Sie promovierte 1995 in Humanmedizin an der Medizinischen Universität zu Lübeck und habilitierte 2004 für das Fach Neurologie an der Charité Berlin. 2007 übernahm sie eine Professur für Psychosomatische Medizin am Universitätsklinikum Jena, seit 2009 ist sie Professorin für Neurologie, Psychosomatik und Psychiatrie an der Deutschen Sporthochschule Köln und seit 2020 dort zudem Prorektorin für Forschung. Sie forscht zur Neuropsychologie expressiven Bewegungsverhaltens.

Hedda Lausberg

Der Körper in der Psychotherapie

Verlag W. Kohlhammer

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1. Auflage 2022

Alle Rechte vorbehalten

© W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Gesamtherstellung: W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Print:

ISBN 978-3-17-030147-4

E-Book-Formate:

pdf:           ISBN 978-3-17-030148-1

epub:        ISBN 978-3-17-030149-8

Für meinen Mann

Lothar Stemwedel (1953–2017),

dessen stets inspirierende Kommentare in das erste Kapitel dieses Buches noch einfließen konnten

Inhalt

 

 

Vorwort

1. VorlesungKörperausdruck: Historischer Überblick und Grundlagen

Historischer Abriss und aktuelle Situation

Zur Neuropsychologie von Mimik, Gestik und Haltung

Die Deutung expressiven Bewegungsverhaltens

Universelle, kulturelle und individuelle Komponenten expressiven Bewegungsverhaltens

2. VorlesungDie Unbewusstheit nonverbalen Verhaltens und die therapeutische Relevanz

Die implizite Natur von Ausdrucksverhalten

Die Unbewusstheit nonverbaler Interaktion

Nonverbales Verhalten des Therapeuten und Therapieerfolg

Entwicklung von nonverbaler interaktiver Kompetenz

3. VorlesungGesten und ihre Relation zu Sprache und zu nichtsprachlichen kognitiven Funktionen

Definition und wissenschaftliche Untersuchung von Gesten

Neuropsychologie des gestischen Ausdrucks

Dissoziationen zwischen gestischer und sprachlicher Aussage

Die Produktion von Gesten in Relation zu nichtsprachlichen kognitiven sowie emotionalen Prozessen

4. VorlesungGesten in der Psychotherapie

Relevanz der Gesten für die Psychotherapie

Spezifische Gestentypen und ihre Bedeutung für die Psychotherapie

Therapeutisches Arbeiten mit Gesten

5. VorlesungSelbstberührungen und andere Handbewegungen in der Psychotherapie

Nichtgestische Handbewegungen in psychotherapeutischen Sitzungen

Zur psychischen Funktion von phasischen, repetitiven und irregulären Selbstberührungen

Phasisch am Körper

Repetitiv am Körper

Irregulär am Körper

Selbstberührungen als Gegenstand psychotherapeutischer Diagnostik

Literatur

Stichwortverzeichnis

Personenverzeichnis

Vorwort

 

 

Dieses Buch basiert auf einer gleichnamigen Vorlesung, die ich 2015 im Rahmen der Lindauer Psychotherapiewochen gehalten hatte. Die plötzliche schwere Erkrankung meines Mannes und die seinem Tod folgende Stille brachten es jedoch mit sich, dass ich erst 2019 das mit dem Kohlhammer Verlag vereinbarte Buchprojekt ernsthaft aufnahm. Die ersten Restriktionen im Rahmen der Corona-Pandemie seit 2020 schufen dann – als eine ihrer wenigen positiven Seiten – Freiräume für das Erarbeiten und Schreiben des Manuskriptes. Dieses Buch ist somit vor dem Hintergrund einschneidender persönlicher und gesellschaftlicher Veränderungen entstanden.

Die ursprüngliche Vorlesung der Lindauer Psychotherapietage ist dabei grundlegend überarbeitet und erweitert worden. Zentral ist das Thema, dass der Körper nicht nur in der körper- und bewegungsorientierten Psychotherapie, sondern auch in der verbalen Psychotherapie allgegenwärtig ist. Mit einer neuropsychologischen Perspektive wird unter anderem folgenden Fragen nachgegangen: Mit welchen spezifischen psychischen Prozessen sind Mimik, Gestik und Haltung assoziiert? Was sind universelle, kulturelle und individuelle Komponenten expressiven Bewegungsverhaltens? Wie zuverlässig ist die intuitive Deutung von Bewegungsausdruck? Wie unterscheiden sich unbewusste und bewusste nonverbale Interaktion? Welche Informationen liefern Gesten in Abgrenzung zu Sprache? Welche psychische Funktion haben unterschiedliche Typen von Selbstberührungen? Bei jedem Thema wird nach Darlegung der Grundlagen jeweils die therapeutische Relevanz diskutiert.

Ich hoffe, dem Leser1 somit einerseits empirisch fundiertes Wissen über Körperausdruck als auch andererseits Anregungen für seine therapeutische Praxis zu vermitteln.

Danken möchte ich Peter Henningsen für die Einladung zu der – dem Buchprojekt zugrunde liegenden – Vorlesung bei den Lindauer Psychotherapietagen, Peter Joraschky, Klaus Pieber, Angela Rothenhäusler, Peter Sigmund und Lennart Lausberg für ihre anregenden und durchdachten Kommentare, Corinna Klabunde für die Formatierung und die Erstellung der Verzeichnisse und Stefanie Reutter für das Lektorat. Dem Kohlhammer-Verlag danke ich für sein Verständnis und sein Entgegenkommen über die Jahre der Erstellung.

 

Hedda Lausberg

Köln, im September 2022

1     Zugunsten einer lesefreundlichen Darstellung wird in diesem Text bei personenbezogenen Bezeichnungen in der Regel die männliche Form verwendet. Diese schließt, wo nicht anders angegeben, alle Geschlechtsformen ein (weiblich, männlich, divers).

1. VorlesungKörperausdruck: Historischer Überblick und Grundlagen

Historischer Abriss und aktuelle Situation

Die Deutung und Erforschung des menschlichen Körperausdrucks lässt sich in unserem Kulturkreis bis in die vorchristliche Zeit zurückverfolgen. Bereits in der philosophischen Schule von Phytagoras (580–500 v. Chr.) wurden Bewerber bei der Aufnahmeprüfung hinsichtlich ihrer Haltung und ihres Ganges als charakterlichem Ausdruck beurteilt. Im antiken Rom spielte das Studium des gestischen Ausdrucks, insbesondere im Kontext politischer Reden, eine große Rolle. Werke wie De humania physiognomonia (1593) von Giovan Battista della Porta, Pathomyotonia (1649) von John Bulwer oder Physiognomonische Fragmente (1778) von Johann Caspar Lavater dokumentieren das Interesse an der Thematik seit der Renaissance.2

Einen wissenschaftlichen Meilenstein stellt Charles Darwins3 bedeutsames Werk The Expression of the Emotions in Man and Animals dar. Anhand der in seiner Zeit verfügbaren anthropologischen Studien und Beobachtungen an Patienten mit psychischen Erkrankungen erhob Darwin Thesen zu universellen Mustern von Gesichtsausdruck, Körperhaltung und emotionalem Erleben.

Seit Beginn des 20. Jahrhunderts entwickelte sich die Ausdruckspsychologie, in der Mimik, Gestik, Haltung, Gang, Stimme und Handschrift in Relation zu Persönlichkeit und Charakter experimentell untersucht wurden4. Vor dem Hintergrund der einflussreichen psychoanalytischen Theorie legte Wilhelm Reich (1933) in Charakteranalyse den Zusammenhang zwischen Muskelspannungsmustern und Charakterformen dar. Ein anderer Ansatz entwickelt sich aus Arbeiten wie The Mastery of Movement des Tanztheoretikers Rudolf von Laban5. Basierend auf der Zerlegung von Bewegung in Komponenten wie Körper, Raum und Bewegungsqualität entwickelte Laban in Analogie zur Notenschrift in der Musik eine Notation für Körperbewegungen und tänzerische Choreographien. Tänzer, die mit der Laban-Analyse im pädagogischen oder therapeutischen Kontext arbeiteten, beobachteten Zusammenhänge zwischen bestimmten Bewegungsformen und Persönlichkeitstypen.

In den 60er Jahren des letzten Jahrhunderts rückte das Interesse an den interaktiven und kommunikativen Aspekten von Bewegungsverhalten in den Vordergrund. Die gleichen Bewegungskategorien, die in der Ausdruckspsychologie im Hinblick auf Persönlichkeit untersucht worden waren, wurden nun Gegenstand von Studien zu Interaktion und Kommunikation: Haltung und Sitzposition, Gestik, Berührungsverhalten, Mimik, Blickverhalten, Proxemik (Einteilung des persönlichen Raums, Territorium) sowie Prosodie (Sprechmelodie) und Stimme6.

Von diesen Kategorien wurde gegen Ende des letzten Jahrhunderts insbesondere die Gestik in der linguistischen Forschung aufgegriffen. Neben der kommunikativen und interaktiven Funktion von Gesten, z. B. in Kendons7Gesture – Visible Action as Utterance, richtete sich der Blick dabei auch auf das Individuum selbst. Hier lag der Fokus auf der Frage, was Gesten über gedankliche Prozesse aussagen, wie z. B. in McNeills8Hand and Mind – What Gestures Reveal about Thought. Die Erkenntnisse über den Zusammenhang zwischen Kognition und Gestik wurden auch von Entwicklungspsychologen genutzt, um die präverbale kognitive Entwicklung bei Kindern zu untersuchen9. In der evolutionären Anthropologie wurde Gestik ferner als Indikator symbolischen Denkens bei Menschenaffen untersucht. Eine wissenschaftliche Frage liegt dabei darin, ob in der Phylogenese des Menschen die gestische Kommunikation der verbalen vorausgegangen sein könnte. Etwa zeitgleich mit dem Aufblühen der linguistischen Gestenforschung entwickelte sich die Erforschung der Gebärdensprache der Gehörlosen, deren Erkenntnisse später einen wesentlichen Baustein für die rechtliche Anerkennung der Gebärdensprache als gleichwertige Sprache im Jahre 2002 darstellte.

In der aktuellen »Ära der Neurowissenschaften« liegt der Fokus auf den neuronalen Korrelaten der oben genannten Ausdruckskategorien. So findet sich bei der Ausführung pantomimischer Gesten des Werkzeuggebrauchs, z. B. gestisch so zu tun, als würde man sich mit einer imaginären Zahnbürste die Zähne putzen, in bildgebenden Verfahren wie der funktionellen Magnetresonanztomographie (fMRT) eine Aktivierung im Schläfenlappen der linken Gehirnhälfte10, die sich von dem Aktivierungsmuster bei tatsächlichem Objektgebrauch unterscheidet. Die gestisch-symbolische Darstellung mit imaginiertem Objekt geht somit mit einer spezifischen zerebralen Aktivierung einher. Eine Einschränkung dieser bildgebenden Verfahren (fMRT, funktionelle Nahinfrarotspektroskopie usw.) liegt jedoch darin, dass beim aktuellen Stand der Methodik Ausdrucksbewegungen wiederholt und bewusst, d. h. explizit, ausgeführt werden müssen, damit die mit der Produktion der Bewegung einhergehende zerebrale Aktivierung erfasst werden kann. Tatsächlich – wie in Vorlesung 2 ausführlich dargelegt werden wird (2. Vorlesung) – ist jedoch Ausdrucksverhalten überwiegend unbewusst (implizit) und die neuronalen Korrelate von expliziten und impliziten Ausdrucksbewegungen unterscheiden sich.

Dieser kurze historische Überblick verdeutlicht, dass der Zusammenhang zwischen Bewegungsverhalten und psychischen sowie interaktiven Prozessen seit jeher von wissenschaftlichem Interesse ist. Dabei ist augenfällig, dass – obwohl sich ansonsten in der Wissenschaft immer mehr spezialisierte Fachdisziplinen ausgebildet haben – sich nie eine eigenständige Wissenschaft des expressiven bzw. interaktiven Bewegungsverhaltens entwickelt hat. Das Manko der fehlenden eigenständigen Identität lässt sich bis zu den einzelnen Forscherpersönlichkeiten zurückverfolgen:

»The list of those who have written about expressive movement or nonverbal communication since 1872 reads like a ›Who’s Who‹ in the behavioral sciences; yet writers still defend the relevance of such study or introduce the subject as if it were esoteric and unheard of. It is as if a great many serious behavioral scientists have shown a fleeting interest in body movement and then gone on«11.

Ein Grund für die – bis dato – ausbleibende Entwicklung einer eigenen Wissenschaftsdisziplin mag die geringere Wertschätzung körperlicher im Vergleich zu intellektuellen Fähigkeiten in unserem Kulturkreis sein. Speziell der Aspekt des Körperausdrucks als ein implizites, unbewusstes Verhalten hat zudem häufig die negative Konnotation, dass etwas unkontrolliert zum Ausdruck kommt und über die Person »verrät«. Neben körperlichem Ausdruck als Forschungsgegenstand betrifft die kulturelle Bewertung auch Kunstformen wie Tanz oder körper- und bewegungsorientierte Therapieformen. Seit Bühlers Aussage 198112, dass die bewegungs- und körperorientierten psychotherapeutischen und -analytischen Verfahren »ein obskures Dasein am Rande der etablierten psychiatrischen und psychotherapeutischen Behandlungsverfahren« führen, hat sich wenig geändert, obwohl die bewegungs- und körperorientierten therapeutischen Ansätze auf eine ähnlich lange Tradition wie die verbalen psychoanalytischen und psychotherapeutischen Verfahren zurückblicken können. Auch hier überwiegt die Aufsplitterung in unterschiedliche Schulen und Ansätze zuungunsten einer gemeinsamen Identität, die für eine Etablierung im Gesundheitssystem dringend notwendig wäre.

Wie dargelegt, verteilt sich die Erforschung des Bewegungsverhaltens trotz der langen Historie weiterhin auf viele unterschiedliche wissenschaftliche Disziplinen wie Medizin, Psychologie, Linguistik, Anthropologie, Sport- und Bewegungswissenschaft, Kriminologie oder Soziologie. Die Multidisziplinarität birgt den Nachteil, dass die verschiedenen Disziplinen – obwohl sie dieselbe Thematik beforschen – kaum miteinander in wissenschaftlichem Austausch stehen. Somit liegt der interdisziplinäre Wissenstand zur Relation zwischen Bewegungsverhalten und psychischen Prozessen trotz der langen Forschungstradition deutlich hinter dem potentiell möglichen Stand zurück. In dieser Vorlesungsreihe wird daher nicht nur Wissen aus dem Bereich der Psychotherapie, Psychosomatik und Psychiatrie zusammenzutragen, sondern es werden auch Befunde aus anderen Fachdisziplinen wie der Neuropsychologie, der Linguistik, der Bewegungslehre und der Anthropologie berücksichtigt.

Eine positive Perspektive zeigt sich aufgrund der aktuellen Fortschritte in der Videotechnik. Während es bis in die 60er Jahre des letzten Jahrhunderts technisch aufwändig war, Bewegungsverhalten zu erfassen, ist es heute im Zeitalter von Smartphones einfach geworden, Bewegung jederzeit mit Video aufzuzeichnen. Ein weiterer Fortschritt liegt in der Entwicklung von Annotationssoftware, wie ELAN (https://tla.mpi.nl/tools/tla-tools/elan/), mit der behaviorale Analysesysteme verknüpft und Videoaufzeichnungen von Bewegungsverhalten einfach analysiert werden können. Diese technischen Entwicklungen stellen Meilensteine für die Erforschung expressiven und interaktiven Bewegungsverhaltens dar. Es ist zu hoffen, dass – ebenso wie die Forschung zur Gebärdensprache einen wesentlichen Baustein für deren rechtliche Anerkennung darstellte – die Erforschung des expressiven Bewegungsverhaltens auch zu der weiteren Etablierung von bewegungs- und körpertherapeutischen Verfahren sowie von nonverbalen Interventionen in der verbalen Psychotherapie beitragen wird. Bewegungsverhalten stellt ein effektives diagnostisches und therapeutisches Medium dar und dies nicht nur in den körper- und bewegungsorientierten psychotherapeutischen Verfahren, sondern – wie in dieser Vorlesungsreihe dargelegt werden wird – auch in verbalen psychotherapeutischen Verfahren.

Zur Neuropsychologie von Mimik, Gestik und Haltung

Wie dargelegt, werden seit der Antike immer die gleichen Kategorien des Bewegungsverhaltens als Ausdruck psychischer Prozesse untersucht: Mimik, Gestik und Haltung. Dies kann pragmatisch als Indikator ihrer Validität in Bezug auf psychische Prozesse gewertet werden. Je nach Fragestellung und wissenschaftlicher Disziplin wurden dabei bestimmte Ausdruckskategorien bevorzugt erforscht. Bei Studien zu emotionalen Prozessen lag der Fokus auf Mimik und Haltung, bei Untersuchungen zu Stressregulation auf Selbstberührungen, bei der Analyse von Interaktion auf Sitzpositionen oder bei Untersuchungen zu kognitiven Prozessen auf Gesten. Diese Verknüpfungen legen es nahe, dass die einzelnen Ausdruckskategorien mit spezifischen psychischen Prozessen assoziiert sind.

Belege dafür finden sich in der Neuropsychologie. Mimik, Gestik und Haltung werden von unterschiedlichen Hirnregionen gesteuert, die sich in ihrer Funktion in emotionalen und kognitiven Prozessen unterscheiden. So wird die emotionale Mimik vom Hypothalamus (im Zwischenhirn) als Teil des emotionalen Netzwerks und den Basalganglien als Teil des extrapyramidalen Systems über absteigende neuronale Bahnen zum Hirnstamm gesteuert13 (in Vorgriff auf Vorlesung 2 sei an dieser Stelle bereits erwähnt, dass mimischer Ausdruck auch willentlich vom Großhirn kontrolliert werden kann). Unter anderem da anenzephale14 Kinder mimische Ausdrücke wie Weinen oder Ekel zeigen, wird davon ausgegangen, dass im Hirnstamm mimische Ausdrucksmuster angelegt sind. Daher können bei Schädigung der absteigenden neuronalen Bahnen, die den Hirnstamm kontrollieren, mimische Ausdrücke unwillkürlich, ohne ein entsprechendes emotionales Erleben auftreten15. Das »pathologische Weinen und Lachen« tritt situationsunangemessen, häufig sogar gegen den Willen des Betroffenen auf und kann weder unterdrückt noch unterbrochen werden16. Es wird davon ausgegangen, dass es sich hierbei um Enthemmungsphänomene der im Hirnstamm angelegten mimischen Ausdrucksmuster handelt. Die Verbindung zwischen emotionalem Netzwerk und Hirnstamm mit mimischen Ausdrucksmustern stellt das neuronale Korrelat für die psychologisch dokumentierte Wechselwirkung zwischen Stimmung und mimischem Ausdruck dar.

In einer Studie sollten Versuchspersonen sich glückliche, traurige und ärgerliche Situationen vorstellen. Bei der Imagination der verschiedenen Gefühle fanden sich jeweils spezifische Muster muskulärer Aktivität, gemessen mit Elektromyogramm (EMG), die auch dann noch nachweisbar waren, wenn der Gesichtsausdruck im Video nicht mehr erkennbar war17. In umgekehrten Experimenten, bei denen über Anspannung spezifischer mimischer Muskeln entsprechende Gefühle evoziert wurden, konnte demonstriert werden, dass bei Kontraktion mimischer Lachmuskeln Cartoons als lustiger beurteilt werden, als wenn diese Muskeln nicht angespannt werden18. Die willentliche Anspannung des Musculus corrugator (Bildung einer senkrechten Falte zwischen den Augenbrauen) hingegen führt zu einer traurigen Stimmung der Probanden19. Auf der Grundlage, dass über muskuläre Anspannung Stimmungen evoziert werden können, scheint auch der Einsatz des Nervengiftes Botulinumtoxin mit dem Ziel der Lähmung des Musculus corrugator antidepressiv zu wirken20.

Im Gegensatz zu emotionaler Mimik, die durch Hypothalamus/emotionales Netzwerk und Basalganglien gesteuert wird, werden gestische Ausdrucksbewegungen der Hände fast ausschließlich von der motorischen Hirnrinde (Kortex) des Großhirns gesteuert. Dabei wird die rechte Hand von der linken Gehirnhälfte kontrolliert und die linke Hand von der rechten Gehirnhälfte. Die ausschließlich unilaterale Innervation der Hände ermöglicht es, dass die Hände simultan unterschiedliche Aufgaben ausführen können, z. B. bei beidhändigem Werkzeuggebrauch oder komplexen gestischen Darstellungen. Da Gesten kortikal gesteuert werden, ist ihre Produktion mit anderen kortikalen Funktionen wie Sprache, Werkzeuggebrauch, räumlichem Denken, metaphorischem Denken oder bildlichem Vorstellen assoziiert. Die Produktion von Gesten ist also mehr mit kognitiven als mit emotionalen Prozessen verknüpft. In Entsprechung zu diesen neuronalen Grundlagen werden Gesten primär bei Fragestellungen zu kortikal repräsentierten Prozessen untersucht, wie z. B. räumliches Denken. Bei räumlichen Planungstests wie dem Turm-von-London-Test, bei dem verschiedenfarbige Kugeln auf unterschiedlich lange Stäbe umgesteckt werden müssen, um von der Ausgangsposition zu einer vorgegebenen Zielposition zu gelangen, führen Testteilnehmer spontan räumliche Gesten aus. Diese Gesten reflektieren ihr räumliches Denken während der Lösung des Problems. Auch in alltäglichen Situationen, wie jemandem den Weg zu einem Zielort zu erklären, offenbaren die spontanen sprachbegleitenden Gesten räumliche Vorstellungen. Ebenso wie über die Anspannung mimischer Muskeln bestimmte emotionale Zustände hervorgerufen werden können, scheinen über die Ausführung von Gesten auch kognitive Prozesse angestoßen und gefördert werden zu können. So ist es empirisch gut belegt, dass die Ausführung räumlicher Gesten mit besserer Leistung bei räumlichen Planungsaufgaben einhergeht21.

Eine wieder andere neuronale Kontrolle als bei Mimik und Gestik findet sich bei der Körperhaltung. Die Körperhaltung ist definiert als Ausrichtung des Körpers relativ zu den vertikalen, horizontalen und sagittalen (Körpervorderseite – Körperrückseite) Körperachsen. Sie wird wesentlich von der Rumpf- und Standmotorik bestimmt, die von Kleinhirn und Basalganglien kontrolliert wird22. Sowohl Kleinhirn als auch Basalganglien modulieren motorisches Verhalten auch im Zusammenspiel mit emotionalen Prozessen23. Diese Befunde eröffnen neuropsychologische Perspektiven auf die Verknüpfung von Affekt und Haltung, d. h. die neuronale Basis dafür, dass sich die Stimmung in der Körperhaltung spiegelt. Im klinischen Kontext wird der Zusammenhang zwischen einer zusammengesunkenen, der Schwerkraft nachgebenden Körperhaltung und depressiver Stimmung bereits in den Anfängen der Psychiatrie dokumentiert24. Ebenso wie bei Mimik und Gestik kann auch bei der Körperhaltung über eine Veränderung der Haltung die Stimmung und Einstellung beeinflusst werden kann25. Testpersonen, die aufgefordert werden, eine zusammengefallene Körperhaltung einzunehmen, reagieren später in einem Test hilfloser als Personen, die eine expansive, aufrechte Haltung einnehmen sollten.

Zusammenfassend ist es aufgrund der neuropsychologischen Grundlagen von Mimik, Gestik und Haltung plausibel, dass diese Ausdruckskategorien mit unterschiedlichen psychischen Funktionen assoziiert sind. Während Mimik mit emotionalem Erleben assoziiert sein kann (2. Vorlesung