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Visionen und ein sogenanntes Wunder zu Cölln führen im Jahre 1626 zur Anklage gegen die Klarissin Sophia Agnes von Langenberg wegen des Verdachts der Hexerei. Der Jesuitenpater Maurus van Leuven kämpft verbissen um das Leben der jungen Frau, der der Tod auf dem Scheiterhaufen droht, hingegen sein Freund, der churfürstliche Anwalt und Ermittler Matthias Liebknecht, in Brüssel bei der Statthalterin der Spanischen Niederlande ein Gnadengesuch für die Condesa Carmen de Silva stellt, die sich in den Fängen der spanischen Inquisition befindet. Während sich sein Freund in Brüssel aufhält, entdeckt der Jesuitenpater einen Zusammenhang zwischen den Visionen der Nonne und einer geheimnisumwitterten, vergessenen Kirche. Die Kirche der verlorenen Seelen! Matthias sieht sich nach seiner Rückkehr plötzlich Beschuldigungen wegen Mordes und unheimlichen Geschehnissen gegenüber. Seine Widersacher drängen den Advocatus in eine schier aussichtslose Lage, denn plötzlich sieht sich der Anwalt selbst im Visier der Hexenjäger. Verbissen kämpft Matthias um sein eigenes Leben. Indessen Maurus die Welt von Gott verlassen glaubt und an der Lehre der katholischen Kirche zweifelt, versucht er alles, um Sophia Agnes von Langenberg vor dem Tod zu retten. Er bemerkt aber nicht, dass sich ihre Gegner bereits zur Schlacht formieren. Denn eine Hexenjagd ohne Gleichen entbrennt und stürzt nicht nur das Rheinland, sondern halb Europa durch den sich wie eine Seuche ausbreitenden Hexenwahn in einen höllischen Abgrund. Der Krieg der Hexenjäger hat begonnen!
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Seitenzahl: 567
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Wilfried Esch
Der Krieg der Hexenjäger
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Inhaltsverzeichnis
Titel
Prolog
Erster Teil Denuntio
1 Dreizehn
1.1 Der Alptraum
1.2 Die Infantin
2 Die Schwesternschaft des Bösen
2.1 Die Besessenen
2.2 Sophias Visionen
2.3 Die Hexe im Nonnenkleid
3 Inkognito - Der französische Rat
4 Visionen einer Nonne
4.1 Die 4. Offenbarung
4.2 Maria Magdalena
4.3 Kirche der verlorenen Seelen I - Verdammnis
5 Der Widersacher
5.1 Falsches Zeugnis
5.2 Heimkehr
5.3 Die Bedrohung
6 Der Herr der Ratten
7 Gelenius – Die Leiden einer Nonne
7.1 Die falsche Magd
7.2 Peinliches Verhör
Zweiter Teil Daemonicus
8 Die Saat des Bösen
8.1 Andra
8.2 Der Verdacht
9 Schrecklicher Advent
9.1 Spurensuche
9.2 Rattus rattus
9.3 Hilferuf
9.4 Quacksalberei
9.5 Teuflische Visionen
9.6 Das Verhör der Rattenfängerin
9.7 Die Leiden eines Vaters
9.8 Hexe oder Heilige
9.9 Andras Fluch – Tödlicher Nikolaus
9.10 Jagdzeit
9.11 Wie ein Geschwür im Fleische des HERRN
Dritter Teil Der Krieg der Hexenjäger
10 Eisengrind
10.1 Die Bestie
10.2 Die Köhlerin
10.3 Die Jagd
11 Reise in die Vergangenheit
11.1 Rückblende
11.2 Matthias, der 13. Apostel
11.3 - 13 Linden – Ein Tor zum Himmel
12 Ohne Ausweg
12.1 Erkenntnis
12.2 Sophias Geständnis
12.3 Gedanken an Flucht
13 Siegburg, Abtei Michaelsberg
13.1 Kirche der verlorenen Seelen II – Die Erlösung
13.2 Das Ende des Widersachers
14 Das Urteil des Churfürsten
14.1 Greuelische Zauberey!
14.2 Schwarzenbergh
14.3 Das Urteil
14.4 Der Tod einer Nonne
15 Auf der Flucht
15.1 Maurus und Enja
15.2 Der Gesandte der Infantin
Epilog
Impressum
Prolog
Eine große Dunkelheit zog auf, alles Licht verzehrend, bis eine schreckliche Finsternis herrschte. Alles Gute schien vergangen, alle Liebe erloschen. Die Welt erstarrte in Angst und Schrecken, denn die Tore der Hölle hatten sich aufgetan. Legionen über Legionen von Dämonen des Fürsten der Finsternis machten sich auf, die Erde zu erobern, um aller Seelen habhaft zu werden. Daraus entbrannte ein Krieg, ein schrecklicher Krieg, der kein Erbarmen, kein Entrinnen kannte, der nicht mehr unterschied, zwischen Gut und Böse. Es war der Krieg der Hexenjäger.
Gott schien die Welt verlassen zu haben, traurig abgewandt von den Gräueln, die Menschen einander antaten. Fortan lebten die Menschen in Angst und Schrecken, fürchteten die Hatz der Hexenjäger, die einen Krieg entfesselt hatten, der gottlos und unbarmherzig geführt wurde gegen jene unglücklichen Seelen, die man als vermeintliche Hexen, als Jünger Satans, ausgemacht hatte. Ein Krieg im Namen Gottes, der aber dem HERRN zum Hohn gegen seine Gebote verstieß, jedwede Menschlichkeit vermisste.
So gerieten nicht nur Gottes Gebote in Vergessenheit, sondern auch jene Mysterien, die das Leben lebenswert machen, wie der Weg der Rose aus Jesses Art, der Weg der Liebe und des Lichtes. Alsbald schien sich niemand mehr daran zu erinnern, was diese Hexenjagd ausgelöst hatte. Denn sehr bald schon ging es nur noch um Geld und Macht, sich auf Kosten der armen Seelen dieser geschundenen, misshandelten, gequälten und gemarterten Kreaturen, von Gott verlassen, Taschen und Bäuche zu füllen, aller Menschlichkeit entartet, nur noch dem schnöden Mammon dienend.
Auch ich geriet inmitten dieses Krieges, hin und her gerissen in meinen Gefühlen, voller Angst um die, die mir am Herzen liegen, voller Furcht vor dem wahren Gesicht Satans und voller Zorn und Wut über die Ohnmacht, die mich zu überkommen schien. So erinnerte ich mich in dieser schlimmen Zeit daran, dass die Zeit uns einst zusammenführte, so wie sie uns auch wieder trennte, meinen Freund Matthias und mich.
Doch wie sagt Jesaia:
„Mache dich auf, werde licht; denn dein Licht kommt, und die Herrlichkeit des HERRN geht auf über dir! Denn siehe,Finsternis bedeckt das Erdreichund Dunkel die Völker;aber über dir geht auf der HERR und seine Herrlichkeit erscheint über dir. Und die Heiden werden zu deinem Licht ziehen und die Könige zum Glanz, der über dir aufgeht.“
Ich erinnerte mich! So folgte ich dem Wort des HERRN und dem Weg der Liebe und des Lichts, so folget auch Ihr denn dem Pfad des Lichts, erkennet die Rose in den Herzen, begreift das Geheimnis der Rose.
Jetzt sitzen die Mächtigen der Welt zusammen und beraten über den Frieden in Münster und Osnabrück, über das Schicksal Europas. Dennoch, ich bin voller Hoffnung und ich weiß, sie wird eines Tages kommen, Die Zeit des Erwachens!
Veere, 31. August AD 1648
Aus den Memoiren des
Erster Teil Denuntio
1 Dreizehn
1.1 Der Alptraum
Es war heiß, die Sonne stand hoch am Himmel. Drei Knaben spielten Fangen in einem Hof, der zu einer Seite von einer mit Zinnen bewehrten Mauer begrenzt wurde. Die Knaben, einer mochte etwa acht Jahre alt sein, die beiden anderen vielleicht elf, trugen helle Kutten und hatten Spaß am Spiel.
Plötzlich sprang einer der beiden Älteren auf die Mauer.
»Seht nur, was ich kann«, rief er den anderen zu und kletterte behände auf eine der Zinnen.
»Was machst du da?«, rief der Kleine und schaute ängstlich drein. Der Junge auf der Zinne lächelte und breitete seine Arme aus.
»Ich werde jetzt von Zinne zu Zinne hüpfen«, rief er den beiden anderen zu. Der Größere lachte, hingegen der Kleine weinerlich schrie: »Mach’, das nicht, du wirst stürzen!«
»Du bist ein Angsthase, Georg ist doch der Drachentöter. Der Erzengel Michael wird ihm Flügel verleihen. Er wird vom Wind getragen werden wie ein Vogel«, lachte der Knabe neben dem Kleinen. »Los Georg, flieg’! Zeig es unserem Angsthasen!«
Der Junge auf der Mauer überlegte nicht lange und sprang von einer Zinne zur anderen.
»Siehst du, Georg geschieht nichts«, verhöhnte der andere den Kleinen. Doch dann geschah es! Als Georg wieder auf einer Zinne landete, löste sich ein loser Stein und brach unter seinen Füßen weg. Er strauchelte, wand sich wie ein Wurm, versuchte das Gleichgewicht zu halten. Sein Gesicht war plötzlich voller Angst und Panik. Dann stürzte er. Der Kleine rannte sofort zur Mauer und schaute hinunter. Georg hing an einem Strauch unterhalb der Zinne, der sich im bröckelnden Mörtel zwischen den Steinen verwurzelt hatte.
»Nimm meine Hand, Georg«, rief der Kleine und streckte Georg seine kleine Hand entgegen, der diese mit der Kraft der Verzweiflung ergriff. »Lambert, Lambert, hilf mir. Ich kann ihn allein nicht halten«, schrie der Kleine verzweifelt und versuchte, Georg hochzuziehen. Doch dann gab das Wurzelwerk des Strauches nach. Georg fand keinen anderen Halt mehr, hing nur noch mit einer Hand an der Hand seines jüngeren Spielkameraden.
»Matthias, ich rutsche ab, bitte! Hilf mir!«, hörte der Kleine verzweifelte Worte. Todesangst und Verzweiflung waren jetzt in dessen Augen zu sehen.
Matthias Hände wurden feucht und rutschig, der Junge mit dem blonden Lockenkopf konnte den wesentlich größeren und schwereren Georg nicht mehr halten. Langsam, aber unaufhaltsam, entglitt ihm dessen Hand. Mit entsetzt geweiteten Augen sah der Kleine seinen Freund in die Tiefe stürzen und in einem roten Nebel verschwinden. Dunkelheit!
*
Gästetrakt, Palast von Coudenberg, Brüssel, im November 1626
Er schlug die Augen auf. Für einen Moment blieb er reglos liegen, um dem rot wallenden Nebel vor seinen Augen die Chance zu geben, sich aufzulösen. Matthias fühlte, wie sein Hemd vom Schweiß durchtränkt am Leibe klebte.
Mühsam richtete er sich auf, ließ seine Füße vom Bett auf den kalten Dielenboden sinken, erhob sich und wankte zum Spiegel über der Kommode mit der Waschschüssel.
Seine Augen hatten tiefe Ränder, wirkten übernächtigt und entzündet. Seit Tagen hatte er nicht mehr richtig geschlafen. Zu groß war seine Sorge um Carmen, die Frau, die sein Herz begehrte, die sich aber in den Fängen der spanischen Inquisition befand. Carmen, jene Schönheit mit den sanften dunklen Augen und dem braunen Haar, das in der Sonne rötlich glänzte. Wie es ihr jetzt wohl erging?
Matthias schüttete aus dem bereitstehenden Krug Wasser in die Waschschüssel, tauchte die Hände hinein und wusch sich sein Gesicht. Wieder betrachtete er sich im Spiegel. Seine Haut wirkte grau, so wie sein inzwischen schütteres Haupthaar.
Die Träume der letzten Tage zehrten zusätzlich an seinen Kräften, lagen wie ein dumpfer endloser Schmerz in seinem Bewusstsein, der kein Ende zu nehmen schien. Kein Ende! Auch dieser Traum hatte wieder kein richtiges Ende. Allmählich kehrte die Erinnerung zurück an jene Zeit, als bei den Benediktinern auf dem Michaelsberg zu Siegburg lebte. Es war wohl in den Jahren 1590 bis 1594. Er erinnerte sich an Magister Martin, der ihm ein väterlicher Freund war, wenn auch der Benediktiner nie Matthias’ Eltern ersetzen konnte, die ihm der Krieg genommen hatte.
Er erinnerte sich auch an die anderen Kinder, Novizen, die wie er auf dem Michaelsberg lebten. Doch fehlte ihm die Erinnerung an gemeinsame Spiele völlig. Hatte er jemals mit ihnen gespielt? Hatte es dafür überhaupt Zeit gegeben? Matthias erinnerte sich nur daran, dass Magister Martin ihn recht schnell nach Trier brachte. Trier! Zu seiner Verwunderung erinnerte er sich an diese Zeit sehr gut. Aber warum nicht an Siegburg? Und was hatte dieser schreckliche Alptraum zu bedeuten? Namen, aber keine Gesichter! Georg und Lambert, er hatte keine Erinnerung an die beiden. Vielleicht sollte er noch einmal die Abtei besuchen und versuchen, dort oben auf dem Michaelsberg die Antworten auf seine Fragen zu finden.
Er besann sich wieder auf das Hier und Jetzt. Er war in Brüssel zu Gast in der Residenz der Statthalterin der spanischen Niederlande. Carmen war einst Hofdame der Infantin von Spanien und Portugal, Isabella Clara Eugenia.
Matthias hatte sie nach seiner Ankunft in Brüssel gebeten, in Carmens Angelegenheit zu intervenieren, ihren Neffen, König Philipp IV. von Spanien, zu bitten, das Inquisitionsverfahren gegen Carmen einzustellen. Er hatte vor der Infantin niedergekniet, ihr sogar im Gegenzug angeboten, in ihre Dienste zu treten, so wie sie es bereits vor einigen Jahren von ihm gewünscht hatte, damals, als die Holländer Bonn beherrschten und ihre Schreckensherrschaft von der Festung Pfaffenmütze ausübten. Damals hatte die Infantin General Spinola mit einer 12.000 Mann starken Armee in Marsch gesetzt, um Churfürst Ferdinand von Cölln zu Hilfe zu eilen. Für die Diplomatie war damals Carmen de Silva zuständig, ihre Hofdame, die Matthias bei einem Fest am Hofe zu Brüssel kennen gelernt hatte.
»Wir werden die Sache überdenken und zu einer wohlweislichen Entscheidung kommen. Bis dahin bitten wir, dass Ihr Euch als unseren Gast betrachtet«, hatte die Infantin Matthias geantwortet. Dabei war ihr Gesicht regungslos geblieben, wirkte eher streng.
Jetzt warteten er und Roger de Puivert, der französische Ritter und Gefolgsmann Carmens, schon seit zwanzig Tagen auf die Entscheidung der Infantin.
Matthias ging zum Tisch und entzündete eine Tranlampe, deren Flamme mehr Licht spendete als die heruntergebrannte Kerze. Schließlich legte er ein paar Scheite auf die Glut im Kamin, die schnell knisternd aufloderten und das Zimmer zusätzlich erhellten.
Auf dem kleinen Tisch gegenüber der Kommode standen ein Krug Wein und ein Becher. Der Anwalt und churcöllnische Commissarius schenkte sich ein, verdünnte den Trunk aber mit Wasser. Schließlich trat er ans Fenster und schaute hinaus in die kalte Novembernacht. Der Himmel war klar, aber nur wenige Sterne erleuchteten das Firmament. Auf den laublosen Bäumen, den Sträuchern und Wiesen vor der Residenz glitzerte Raureif, der die Umgebung in eine unwirtliche Atmosphäre tauchte.
Während er in die Dunkelheit sah, wanderten seine Gedanken zurück nach San Juan de la Peña, wo er mit Carmen und ihren Caballeros den letzten Jahreswechsel verbracht hatten, nachdem sie gemeinsam in einem gefahrvollen Abenteuer einen Mörder und Dieb zur Strecke gebracht hatten. Er dachte an ihren Besuch in Bonn im vergangenen Frühjahr, an die wunderbare gemeinsame Zeit.
Aber all das war in diesem Augenblick unwichtig, angesichts der Gefahr, die Carmen drohte: Folter und Verurteilung, vielleicht sogar der Tod. Man warf ihr Häresie und Hexerei vor, wie er erfahren hatte. Was war nur in den letzten Monaten geschehen?
Ein Klopfen an der Tür ließ Matthias seine trüben Gedanken für einen kurzen Augenblick vergessen.
»Ja bitte!«
Die Tür öffnete sich und Roger de Puivert trat ein.
»Verzeiht, Commissarius, aber ich sah noch Licht in Eurem Zimmer und dachte ...«
Matthias lächelte mild.
»Ist schon gut, Roger. Das ewige Warten lässt auch Euch nicht ruhen, nicht wahr?«
Der Franzose nickte.
»Kommt, lasst uns gemeinsam einen Becher Wein trinken. Vielleicht hilft das gegen den Schmerz über unsere Hilflosigkeit.«
Matthias schenkte Roger de Puivert einen Becher Wein ein und die beiden Männer stießen wortlos miteinander an. Keinem der Beiden war im Augenblick nach einem Trunkspruch.
»Was machen wir, wenn die Infantin Eure Bitte ablehnt?«, unterbrach der Franzose das triste Schweigen.
»Das weiß Gott allein, mein Freund. Dann möge der Himmel Carmens Seele gnädig sein«, meinte Matthias und dachte wieder besorgt an die Condesa.
Erneut klopfte es, ungehalten über die Störung riss Matthias die Tür auf. Ein Bediensteter blickte ihn erschrocken an, richtete dann aber nach einem ehrerbietenden Gruß die folgende Einladung aus:
»Ihre königliche Hoheit, die Infantin von Spanien und Portugal, Isabella Clara Eugenia, erwartet Euch morgen früh um Neun Uhr in ihrem Audienzsaal.« Mit einer Handbewegung entließ Matthias den Mann und blickte zu de Puivert.
1.2 Die Infantin
Im Audienzzimmer, Palast von Coudenberg, Brüssel
Isabella Clara Eugenia von Österreich, Infantin von Spanien und Portugal, saß auf einem roten Samtstuhl mit dicken Eichenarmlehnen, als sie Matthias und Roger de Puivert empfing.
Sie trug ein schwarzes, hochgeschlossenes Seidenkleid mit weißer Spitzenhalskrause, das spanischer Mode entsprach. Ihr rotes Haar war hochgesteckt und mit einem perlen- und edelsteinverzierten Diadem geschmückt.
Die Gesichtszüge der Infantin wirkten trotz ihrer sechzig Jahre weich und jugendlich. Ihre Brust zierte eine Amtskette und das Collane eines Ritters vom Orden vom Goldenen Vlies.
Matthias bewunderte insgeheim ihre Schönheit, wenngleich er sich fragte, woher die makellose Farbe ihres Haars herrührte. Seines war schon grau meliert und das anderer Frauen in diesem Alter bereits in Ehren ergraut.
Außer der Infantin befanden sich ein Sekretär und einige mit Hellebarden bewaffnete Wachsoldaten im Raum. Isabella von Österreich winkte die beiden Männer heran und bedeutete ihnen, Platz zu nehmen.
»Commissarius Liebknecht! Wir haben Euer Anliegen sorgsam überdacht und Eure damit verbundene Bitte reiflich geprüft«, begann sie mit einer sanften ruhigen Stimme, die dennoch jeden Winkel und jedes Ohr im Audienzzimmer erreichte. »Carmen de Silva war mir stets eine loyale und zuverlässige Hofdame. Ihr Ausscheiden aus meinen Diensten vor drei Jahren habe ich sehr bedauert. Dennoch konnte ich ihre Beweggründe sehr gut verstehen.«
Carmen hatte damals den Brüsseler Hof verlassen, um sich um die Angelegenheiten ihres kranken Vaters zu kümmern. Es entstand eine kurze Pause, da Isabella von Österreich an ihren eigenen Vater denken musste, König Philipp II. von Spanien, den sie selbst bis zu seinem Tode aufopferungsvoll gepflegt hatte, einer der Gründe, warum sie erst mit 31 Jahren Albrecht von Österreich ehelichte.
»Darum bin ich gewillt, diese Angelegenheit persönlich zu prüfen. Nichtsdestotrotz seid Ihr, werter Advocatus, ein getreuer Gefolgsmann unseres lieben Freundes Erzbischof Ferdinand von Wittelsbach, Churfürst zu Cölln. Auch ihm zu Ehr und Dank verpflichtet, sind wir gewillt, Eurem Wunsche nachzukommen, zumal Ihr mir Eure persönlichen Dienste angeboten habt, was ich zu gegebener Zeit gerne in Anspruch nehmen werde. Darum haben wir beschlossen, einen Boten zu König Philipp zu entsenden mit der Bitte, die Untersuchung gegen Condesa Carmen de Silva in unsere Hände zu übergeben.«
Matthias huschte ein zaghaftes Lächeln über das Gesicht.
»Habt Dank, Königliche Hoheit«, erwiderte er.
Die Infantin erhob sich und kam auf Matthias zu.
»Freut Euch nicht zu früh, Commissarius. Ich habe inzwischen erfahren, dass man sie nicht nur des frevlerischen Verbrechens der Hexerei anklagt, so soll sie auch eine Alumbrada sein. Die Alumbrados sind Sektierer, die für viel Unruhe sorgen und es wohl immer geschafft haben, selbst angesehene Mitglieder des Adels auf ihre Seite zu ziehen und sie mit ihren ketzerischen Lehren zu vergiften.«
»Aber Königliche Hoheit . . .«, begann Matthias. Doch die Infantin hob beschwichtigend die Hand, so dass er verstummte.
»Man hat Beweise gefunden, nach denen ihr Vater mit den Alumbrados in Verbindung zu stehen scheint. Höchst belastende Dokumente, Briefe, unter anderem an andere Alumbrados gerichtet.«
»Ich vermag das kaum zu glauben, Königliche Hoheit«, warf Matthias ein, »ihr Vater war stets ein königstreuer Untertan, nun ist er ein alter Mann, der sich zuweilen vielleicht ein wenig seltsam gebärdet.«
»Ein alter Mann mit seltsamen und gefährlichen Anwandlungen, Commissarius. Wir wissen schon seit längerem, dass er mit Juan Brix Martinez eng befreundet ist und ihm bei der Auffindung von Schriften zu den Legenden um den Heiligen Gral behilflich war.«
Überrascht sah der Advocatus die Infantin an. Matthias glaubte, ein flüchtiges Lächeln in ihrem Gesicht zu erkennen.
»Überrascht es Euch, Commissarius? Glaubtet Ihr etwa, uns würden derartige Dinge entgehen?«
Die Infantin kam noch näher zu Matthias und beugte sich flüsternd vor.
»Versteht Ihr jetzt, in welcher Gefahr sich die Condesa befindet?«
»Voll und ganz, Königliche Hoheit.«
»Selbst wenn ich ihr Leben retten kann, ist dies keine Garantie für ihre Freiheit, wenn Ihr versteht, was ich meine.«
Matthias nickte.
Isabella von Österreich schritt wieder zurück zu ihrem Thron.
»Caballero Roger de Puivert! Ich habe bereits einen Boten zu König Philipp II. entsandt und gehe davon aus, dass dieser meiner Bitte auf Übertragung der Untersuchung statt gibt. Ihr werdet Euch unverzüglich auf den Weg nach Jaca machen und dort auf das Eintreffen der königlichen Befehle warten. Sodann werdet Ihr die Condesa Carmen de Silva nach Brüssel geleiten. Hier wird sich dann eine Kommission unter meiner Leitung mit ihrem Fall befassen.«
»Ich würde mich freuen, dieser Kommission angehören zu dürfen«, bemerkte Matthias. Die Infantin hob leicht die Augenbrauen.
»Nein, das werdet Ihr nicht, Commissarius. Man würde dies als eine unerwünschte Einmischung ansehen, was der Untersuchung mehr abträglich, denn förderlich wäre. Eure Bitte wurde gehört und Ihr werdet zu gegebener Zeit Antwort erhalten. Doch diese Zeit ersuche ich Euch in Bonn zu verbringen. Kuriere werden Euch regelmäßig den Stand des Verfahrens übermitteln. Wir werden Euch außerdem noch ein Empfehlungsschreiben an Churfürst Ferdinand mit auf den Weg geben, das Euch als Gesandten der katholischen spanischen Niederlande ausweist.«
Isabella von Österreich erhob sich.
»Gehabt Euch wohl, meine Herren, wir haben keine Zeit zu verlieren.«
2 Die Schwesternschaft des Bösen
2.1 Die Besessenen
Cölln, Kloster Sankt Clara, im November 1626
Unruhig warf sich Schwester Lucia in ihrem Bett hin und her. Sie schwitzte trotz der Kälte, die im ungeheizten Schlafsaal der Novizinnen des herrschte. Plötzlich bäumte sich ihr Körper auf und fiel hart auf den Rücken zurück.
Die Nonne riss die Augen auf und starrte mit schreckgeweiteten Pupillen zur Decke. Ihr Atem ging stoßweise und schnell, ihr Puls raste und sie hatte das Gefühl, ihr Herz würde zerspringen. Ihre verschwitzte Haut brannte wie Feuer.
Die alte Alberta hatte Recht, etwas Unheimliches ging im Kloster vor, etwas grauenhaft Furchterregendes. Jetzt glaubte Lucia es auch. Ein Dämon hatte versucht, sich ihrer im Schlaf zu bemächtigen. Deutlich sah sie ihn vor sich, seine grässliche Gestalt, die glühenden gelben Augen, wie er über ihr schwebte, in sie einzudringen versuchte und ihren schmalen Körper rüttelte und schüttelte, um sie gefügig zu machen. Übelkeit stieg in der jungen Nonne auf.
Sie zitterte, spürte die Angst, die sich wie eisige Kälte langsam in ihrem Körper ausbreitete und sie zu lähmen drohte. Sie musste die anderen warnen, vielleicht war es nicht nur ein Dämon, vielleicht waren es ihrer viele, und sie alle im Kloster in großer Gefahr. Lucia wollte sich aufrichten, doch im selben Augenblick spürte sie, wie eine unsichtbare Faust in ihren Unterleib schlug und ihr die Luft zum Atmen raubte. Laut gurgelnd erbrach sie eine weiße schleimige Masse. Unmenschliche Schmerzlaute folgten.
Schwester Margareta hatte es zuerst bemerkt. Erschrocken von seltsamen, unheimlichen Geräuschen geweckt, fuhr sie aus dem Schlaf und erblickte Lucia, die sich unter wilden Krämpfen auf ihrer Bettstatt hin und her warf. Schnell weckte sie die anderen, die sich jetzt entsetzt um Lucias Lager versammelten.
Eine der Novizinnen erfasste die Gefahr, in der sich Lucia befand, löste sich aus ihrer Erstarrung und eilte hinaus.
»Lasst mich durch!«, hörten die Novizinnen die Stimme einer Nonne, die sich kurze Zeit später eine Gasse bahnte und an Lucias Bett trat. Sie beugte sich zu Lucia hinunter und untersuchte sie kurz.
»Holt mir heißes Wasser und Tücher. Los, beeilt euch!«, forderte sie die anderen Novizinnen auf. »Und weckt die Mutter Oberin.«
Während die Nonne auf die Oberin wartete, wusch sie Lucias Gesicht und Körper.
»Holt frische Decken und frisches Bettzeug!«, befahl sie erneut den Novizinnen. Doch dann bäumte sich Lucias Körper urplötzlich erneut auf.
»Bleib ruhig, mein Kind«, versuchte die Nonne die Novizin zu beruhigen und wollte sie zurück aufs Bett drücken. Doch mit einem markerschütternden Aufschrei wehrte sich Lucia dagegen.
»Helft mir, Schwestern! Helft mir, sie ans Bett zu fesseln, damit sie sich nicht selbst verletzt.«
Doch noch ehe die übrigen Novizinnen der Nonne zu Hilfe eilen konnten, bäumte sich Lucia mit einem zu einer furchtbaren Grimasse verzerrten Gesicht auf und erbrach sich in hohem Bogen. Der Strahl ihres Erbrochenen traf auch andere Novizinnen, die in heller Panik aus dem Schlafsaal rannten. Danach fiel Lucias Körper bewusstlos auf das Bett zurück. Endlich kam auch die Oberin in den Schlafsaal geeilt.
»Was geht hier vor, Schwester Franziska?«
»Die gleichen Symptome wie bei Schwester Theodora, Mutter Oberin«, erklärte die Nonne.
Die Oberin warf einen Blick auf das Bett.
»Lebt sie noch?«
»Ja«, antwortete Schwester Franziska.
»Sie sieht furchtbar aus. Ihre Haut wirkt so merkwürdig durchsichtig«, stellte die Oberin fest. Jetzt riss Lucia die Augen auf, die Pupillen riesig geweitet starrte sie die Oberin an. Dann kippten die Augäpfel nach hinten und verliehen der jungen Novizin ein dämonisches Aussehen, unmenschliche Schreie folgten.
Inzwischen hatte auch eine alte Nonne mit runzligem Gesicht den Schlafsaal betreten. Ihre Rechte auf einen Krückstock gestützt, wackelte sie auf zittrigen Beinen zu Lucias Lager. Sie richtete den immer noch klaren Blick ihrer wasserblauen Augen auf die Novizin, um sich dann an die Oberin zu wenden.
»Ich habe es Euch doch gesagt, der Teufel ist unter uns. Ihr müsst jetzt etwas unternehmen«, forderte sie die Oberin unmissverständlich auf.
»Noch haben wir keinen eindeutigen Beweis«, warf Franziska ein. »Wir sollten nichts überstürzen. Wenn wir den Generalvikar unterrichten, wird er mit einer Heerschar von Priestern und Exorzisten über uns herfallen. Bedenkt das Schicksal, das unserer armen Schwester Sophia droht. Wollt Ihr, dass noch mehr von uns verhaftet und vielleicht der Folter des Henkers überantwortet werden?«
»Ich sage Euch, hier geht es nicht mit rechten Dingen zu! Gott hat dieses Haus verlassen und der Teufel es zu seinem Tummelplatz auserkoren«, beharrte die Alte.
Jetzt regte sich Lucia wieder. Die Oberin warf Franziska und der Alten einen strengen Blick zu, der ihnen zu schweigen gebot. Dann beugte sie sich zu Lucia hinunter.
»Gelobt sei Jesus Christus, mein Kind. Kannst du mir sagen, was dir fehlt?«, fragte die Oberin. Lucias Hand griff nach dem Nonnenkleid der Oberin und zog diese näher an sich heran.
»ASMMO ...«, brachte sie heraus und blickte gleichzeitig die Oberin verzweifelt an, denn diese Laute entsprachen nicht dem, was sie sagen wollte.
»Was willst du sagen, mein Kind?«, fragte die Oberin und versuchte zu erkennen, welche Worte Lucias Lippen formten.
»Dääähmon«, keuchte die Novizin schließlich. »Gefaaahhr«, folgte. Dann fiel sie wieder kraftlos zurück, um im gleichen Moment wieder in eine tiefe Schwärze zu versinken.
»Ihr habt es alle gehört«, krächzte die Alte. »Sie hat uns vor einem Dämon gewarnt. Wir sind in großer Gefahr. Ich hatte also Recht.« Mit bleichen Gesichtern blickten die Oberin und Schwester Franziska zu Lucia und dann wieder zu der Alten.
»Du hattest Recht, Alberta«, gewann die Oberin als Erste ihre Fassung wieder. »Wir müssen etwas unternehmen«, sagte sie dann zu Franziska gewandt. »Veranlasse, dass Generalvikar Gelenius informiert wird und rufe alle Schwestern sofort in die Kirche, damit wir für die armen Seelen beten können.«
»Und was machen wir mit Schwester Lucia?«, wollte Franziska wissen.
»Bindet sie ans Bett. Ihr Körper scheint zwar erschöpft zu sein, jedoch könnte sich der Dämon ihrer erneut bemächtigen.«
*
Johannes Gelenius, der Generalvikar des Cöllner Erzbischofs Ferdinand von Wittelsbach war von korpulenter Gestalt. Sein Haupt zierte gelocktes Haar und aus dem vollen Gesicht stachen besonders die großen, runden Augen hervor. Die geschwungenen Lippen umrahmte ein kurz geschnittener Kinnbart.
Als er die Amtsstube der Äbtissin des Klosters Sankt Clara betrat, folgten ihm zwei weitere Geistliche sowie ein Arzt und ein hagerer Dominikanermönch. Die Oberin erhob sich und kam dem Generalvikar und seinem Gefolge einige Schritte entgegen.
»Gelobt sei Jesus Christus. Seid bedankt für Eure schnelle Visitation, hochwürdigster Generalvikar«, begrüßte die Klosterfrau Johannes Gelenius. »Darf ich nach den anderen Herren fragen?«
»Gelobt sei Jesus Christus, Schwester.«, erwiderte der Generalvikar den Gruß. »Mein Erscheinen ist wohl angebracht, angesichts dessen, was sich in diesem Sündenpfuhl ereignet. In der Tat! Eure Nachricht versetzte mich in größte Besorgnis, darum begleiten mich diese ehrwürdigen Herren. Denn es gebietet sich von selbst, dass wir die geschilderten facta, Vorfälle sogleich untersuchen müssen. Eine disputatio, wissenschaftliche Untersuchung, ist unumgänglich. Das sind die Hochwürden Paul Binz und Dekan Amadeus Mühlen sowie der Arzt Petrus Schorn. Zudem begleitet mich Pater Jean de Cluny, genannt Liborius, vom Ordo fratrum Praedicatorum, dem Dominikaner Orden. Ihm wird wohl die schwierigste Rolle zukommen. Pater Liborius ist ein ausgewiesener Experte in Dämonologie und ein ebenso erfahrener wie auch erfolgreicher Exorzist.«
»Gelobt sei Jesus Christus und willkommen in unserem bescheidenen Haus«, begrüßte die Oberin auch Gelenius’ Begleiter mit einem zaghaften Lächeln.
»Habt Ihr die Novizinnen isoliert, so wie ich es Euch auftragen ließ?«, erkundigte sich Gelenius.
»Ja, genauso wie Ihr es wünschtet. Schwester Theodora war bereits abgesondert auf der Krankenstation. Schwester Franziska stellte für Schwester Lucia ihre Zelle zur Verfügung und betreut höchstpersönlich das arme Kind.«
»Gut, dann lasst uns sofort mit der Untersuchung beginnen. Die Novizin Lucia ist ansprechbar, sagtet Ihr?«
»Ja, sie ist hin und wieder bei Bewusstsein.«
»Dann beginnen wir mit ihr«, entschied der Generalvikar. »So bringt uns denn zu ihr, Schwester!«
Gehorsam eilte die Äbtissin voraus, dennoch gefiel ihr die Situation nicht. Die Schwesternschaft des Klosters Sankt Clara gehörte dem Franziskanerorden an und unterstand somit nicht der Jurisdiktion der Erzdiözese, sondern unmittelbar Rom. Doch seit der Verhaftung der Schwester Sophia Agnes von Langenberg im vergangenen Mai war alles anders. Plötzlich hatte Erzbischof Ferdinand das Recht, beinahe alle Fälle im Kloster zu untersuchen, sofern sie mit Wundern oder dem Verdacht der ketzerischen Hexerei zu tun hatten. Dabei war der Generalvikar sein williges Werkzeug!
Auch die alte Alberta machte sich auf den Weg. Sie musste unbedingt mit dem Herrn Generalvikar sprechen: Was waren das für Zeiten? Der neue päpstliche Nuntius Pier Luigi Carafa hatte alles aus dem Ruder laufen lassen durch seine unbedachten Äußerungen hinsichtlich der Untersuchung von Wundern. Was mochten wohl die feinen Herren mit den Novizinnen anstellen? Exorzismus? Oder gar die Folter? Was war das schlimmere Übel? Eine Wahl zwischen Pest oder Blattern! Gab es Schlimmeres?
Noch während sie ihren Gedanken nachhing, kreuzte die alte Alberta den Weg des Generalvikars.
»Endlich!«, rief sie triumphierend. »Es wird Zeit, dass man den Dämon austreibt, bevor noch mehr Unheil geschieht und sich der Teufel an weiteren Schwestern vergreift.«
Abrupt blieben alle stehen und starrten die Alte an.
»Alberta, was soll das?«, erregte sich die Oberin.
»Aber bitte, Schwester«, griff Gelenius ein. »Lasst uns hören, was Eure Mitschwester zu sagen hat. Jeder Hinweis kann hilfreich sein.«
Die Alte ergriff mit ihren knöchrigen Fingern die fleischige Hand des Generalvikars, um sie zu küssen.
»Habt Dank, hochwürdigster Generalvikar. Ich denke, ich weiß, welcher Dämon Besitz von Lucia ergriffen hat!«
Alberta genoss diesen Augenblick und warf der Äbtissin einen geringschätzigen Blick zu, in dem ihre ganze Verachtung der Oberin gegenüber zum Ausdruck kam. Immer wieder war Alberta von der Äbtissin zurechtgewiesen worden, sie sehe Gespenster, sei voller Aberglauben, hatte die Äbtissin Alberta gescholten. Jetzt schenkte ihr endlich eine höhere Macht Gehör.
»Also? Was ist?«, wurde Gelenius ungeduldig. Alberta krümmte sich, als hätte man sie geschlagen, drehte ihr runzliges Gesicht dem Generalvikar zu, dessen strenger erwartungsvoller Blick den ihren traf.
»As…mmm…mo… waren ihren letzten Silben, als der Dämon in sie drang, um den satanischen Incubus zu vollziehen«, raunte die Alte geheimnisvoll und bekreuzigte sich. »Ihr Körper bäumte sich auf, warf sich hin und her, als wäre sie schamlos der Fleischeslust verfallen. Es gibt nur einen Teufel, auf den dieses Verhalten zutreffen kann: Asmodäus, der Dämon der Wollust!«
»Woher wollt Ihr das wissen, Schwester?«, hinterfragte Jean de Cluny mit stark französischem Akzent nach einem Moment der Überraschung Albertas Aussage.
»Ich bin zwar alt, aber nicht dumm, Pater«, entrüstete sich die Alte beleidigt.
»Hab‘ Dank für deine Hilfe, Schwester«, beschwichtigte Gelenius. »Wir werden deine Worte wohl überlegt bei unserer Untersuchung berücksichtigen. Doch jetzt müssen wir weiter!«
Auf seinen Wink hin setzte die Äbtissin den Weg mit versteinerter Miene fort, während ihr der Generalvikar und die anderen folgten.
Sorgenvoll blickte die Oberin drein, als sie mit den hohen Herren im Gefolge die Klosterzelle betrat, in der man Lucia isoliert hatte. Schwester Franziska saß neben der Novizin auf der Bettkante und betete.
»Sie schläft jetzt ruhig«, erklärte sie den Anwesenden, nachdem sich der Generalvikar nach dem Befinden der Novizin erkundigt hatte.
»Gut, Schwester. Dann lass uns jetzt allein, damit wir mit der Untersuchung beginnen können«, forderte Gelenius sie auf, die Zelle zu verlassen. Die Nonne zögerte.
»Meint Ihr nicht, ich könnte vielleicht von Nutzen sein, hochwürdigster Generalvikar?«, fragte Schwester Franziska.
»Ich wüsste nicht, warum«, entgegnete Johannes Gelenius ungehalten.
»Aber bedenkt doch, sie ist eine Frau«, warf Franziska ein. Die überraschten Würdenträger warfen ihr erboste Blicke zu.
»Sei unbesorgt, Franziska«, griff jetzt die Äbtissin ein, um die eskalierende Situation zu retten. »Die Herren sind allesamt erfahrene personae, du kannst beruhigt sein.«
»Wie Ihr wünscht, Mutter Oberin!« Schwester Franziska bekreuzigte sich und verließ die Zelle.
»Doktorius Schorn, würdet Ihr mit der medizinischen Untersuchung beginnen?« Der Arzt, ein kleiner rundlicher Mann mit Glatze, blickte den Generalvikar zustimmend an. Der gefährliche Unterton in Gelenius’ liebenswürdigen Worten war ihm nicht entgangen. Bereits auf dem Weg ins Kloster hatte ihm der Generalvikar unmissverständlich klargemacht, dass er schnelle Ergebnisse erwarte, die wiederum den Cöllner Erzbischof und Churfürsten Ferdinand von Wittelsbach zufriedenstellen müssten.
»Wir, wir müssen sie entkleiden«, unsicher schaute er zur Äbtissin.
»Ich werde Euch helfen, Doktor!« Die Äbtissin löste die Fesseln, die Lucia ans Lager fesselten, und entkleidete die angehende Nonne.
Als Doktor Schorn der Novizin den Leib abtastete, stöhnte die junge Frau vernehmlich, dann bäumte sie sich urplötzlich auf, ihr Gesicht verzerrte sich, die Augen quollen vor und aus ihrem Mund kamen unverständliche, gurgelnde Laute. Schließlich erbrach sie grünliche Galle. Dann fiel sie erschöpft zurück.
»Heilige Mutter Gottes«, murmelte einer der beiden Geistlichen und bekreuzigte sich.
»Mutter Oberin, wisst Ihr, was die Ärmste zuletzt gegessen hat?«
»Getreidebrei, so wie wir alle. Warum wollt Ihr das wissen?«
Der Arzt ergriff Lucias Hand und tastete die Finger ab.
»Schwester Lucia, spürt Ihr das?«, fragte er schließlich die Novizin.
»Nnnnnneiiiiiin«, kam schwer die Antwort, ehe die junge Frau sich wieder vor schrecklichen Schmerzen krümmte und ihr gepeinigter Körper sich erneut aufbäumte. Nur mit Mühe konnte der Arzt sie mit Liborius’ Hilfe auf das Bett niederdrücken.
Doktor Schorn tupfte sich den Schweiß von der Stirn.
»Warum habt Ihr der Schwester die Finger untersucht?«, fragte Pater Cluny.
»Ich bin mir nicht sicher, sie könnte an einer Vergiftung leiden.«
»Was heißt das?«, fauchte Gelenius nervös.
»Ihre Finger sind taub, dann die Krämpfe in Darm und Unterleib. Das alles sind Symptome für das Antoniusfeuer. Ich müsste das Korn sehen, das man für die Zubereitung des Breis verwendet hat.«
»Aber das ist blanker Unsinn«, meldete sich jetzt Hochwürden Binz zu Wort. »Dann müssten doch alle Nonnen im Kloster davon betroffen sein. Schließlich sagte die Oberin aus, dass alle den Getreidebrei gegessen haben.«
»Es könnte sich auch um eine gezielte Vergiftung handeln«, erklärte Schorn weiter.
»Sehr abwegig, Eure Behauptung, Doktor. Das würde bedeuten, dass jemand der Novizin nach dem Leben trachtet. Kaum zu glauben! Wer sollte das sein und welches Motiv könnte der- oder diejenige in diesem Kloster haben?«, stellte der Generalvikar die Aussage des Arztes in Frage.
»Vielleicht ist es auch nur ein geschickter Schachzug Satans«, resümierte Pater Liborius. »Der Dämon will Verwirrung stiften, um von sich abzulenken. Der Doktor sollte vorsorglich die Küche untersuchen. Vielleicht ist es ja tatsächlich ein Giftanschlag. Ich werde indessen den Dämon beschwören, der möglicherweise Besitz von ihr ergriffen hat. Dämonen sind verschlagene Ausgeburten der Hölle. Möglich, dass er sogar für einen Giftanschlag verantwortlich ist«, stellte der französische Dominikaner fest.
»Ihr wollt doch wohl nicht einen Exorzismus durchführen?«, fragte die Äbtissin erschrocken.
»Die einzige Möglichkeit, werte Schwester, den Dämon zu zwingen, sein wahres Gesicht zu zeigen«, erklärte Pater Liborius.
»Gut, Pater, dann beginnt damit. Wir haben schließlich alles dabei, Weihwasser und Kruzifixe. Dann wird sich herausstellen, ob wir es mit einer Infestation eines Dämons, Wahnvorstellungen oder vielleicht einer Vergiftung zu tun haben. Doktor Schorn, geht und untersucht die Nahrungsmittel in der Küche! Ihr, Oberin, solltet ihm dabei helfen. Hier sollten sich von jetzt an nur noch personae aufhalten, die mit dem Ritual des Exorzismus vertraut sind und Pater Liborius unterstützen können im Kampf gegen die satanischen Mächte.«
Mit einer Handbewegung, die keinen Widerspruch duldete, gebot der Generalvikar der Äbtissin und Petrus Schorn zu gehen.
»Wie Ihr wünscht, hochwürdigster Generalvikar«, bemerkte die Oberin bissig und verließ, gefolgt von Doktor Schorn, die Kammer.
*
2.2 Sophias Visionen
Nachdenklich saß der Jesuit Maurus van Leuven an seinem Schreibpult und betrachtete die darauf ausgebreiteten Unterlagen, seine Aufzeichnungen über Sophias Visionen. Sophia Agnes von Langenberg, eine Nonne des Kloster Sankt Clara zu Cölln, die man der Hexerei bezichtigte. Pater Maurus war einer der Wenigen, die sie regelmäßig in ihrem Gefängnis auf der churfürstlichen Burg in Lechenich besuchen durften. Er war einer ihrer Beichtväter und gleichzeitig ein Spion ihrer Jäger, denn stets musste er nach ihrer Beichte einen Bericht für Generalvikar Johannes Gelenius abfassen. Er hasste sich dafür, den Anordnungen der kirchlichen Obrigkeit entsprechen zu müssen. War das Beichtgeheimnis nichts mehr wert? Warum widersetzte er sich nicht einfach?
Dabei hatte alles ganz harmlos begonnen. Im Sommer 1621 befiel Sophia plötzlich eine unerklärliche Krankheit. Heftige Fieberschübe schüttelten ihren Körper, mergelten ihn so sehr aus, dass sie mit dem Engel des Todes rang. In dieser Zeit hatte sie göttliche Visionen. In den Aufzeichnungen des sie betreuenden Franziskanerpaters schilderte sie Jenseitsreisen, während derer Jesus Christus selbst ihr geboten habe, in das irdische Leben zurückzukehren, um seine Botschaft zu verkünden. Dafür solle sie geduldig leiden für die Sünden der Welt und der christlichen Kirche, ihr Kreuz aufnehmen und ihm, dem HERRN, nachfolgen. Dafür wolle er ihren Gebeten für ihre Nächsten entsprechen, was schon bald nach ihrer Genesung geschah. Auf ihre Fürbitten hin wurde eine andere Nonne von der Sankt Vinzenzklause zu Cölln von einem schweren Beinleiden geheilt. Schnell sprach sich das Wunder in der Bevölkerung herum, ebenso ihre mahnenden Predigten über das Versagen der Kirchenoberen. Man verehrte Sophia alsbald als lebende Heilige. Ein Übriges tat das Mirakel eines blutenden Kruzifixes in ihrer Klosterzelle am 27. März, dem Ostersonntag 1622. Trotz eines Verbots durch den päpstlichen Nuntius Pietro Francesco Montoro, das Wunder öffentlich zu machen, sprach es sich in Windeseile in Cölln und darüber hinaus herum.
Der Nuntius setzte selbst eine Untersuchungskommission ein, aber Zweifel an der Echtheit des Wunders blieben. Man sah Sophia dämonischen Versuchungen ausgesetzt, weil man ihre Mutter in Fälle crimineller Zauberei verwickelt sah. Zudem diente ihr Vater Nikolaus von Langenberg wohl dem protestantischen brandenburgischen Churfürsten Johann Sigismund und seinem Minister Adam von Schwarzenberg. Langenberg, der aus Wipperfürth stammte, und der brandenburgische Minister kannten sich offenbar, denn dieser stammte aus dem nahe gelegenen Gimborn.
Ein geschickter Schachzug Gelenius’ hatte zudem dazu geführt, dass der Nachfolger Pietro Francesco Montoros vier Jahre später gestattete, das Wunder erneut zu untersuchen. Der neue päpstliche Nuntius zu Cölln, Bischof Pier Luigi Carafa aus Tricarico, nahe Kalabrien im Königreich Neapel, konnte nicht ahnen, dass er nur ein Werkzeug war, er hintergangen wurde und mit seiner Zustimmung eine Untersuchung in ganz anderer Richtung in Gang setzte: Sophia Agnes von Langenberg wurde der frevlerischen Hexerei bezichtigt.
Maurus hatte sich die Aufzeichnungen ihrer Visionen aus der apostolischen Nuntiatur bringen lassen. Nuntius Carafa war ihm wohlgesonnen, daher erhielt Maurus auch Aufzeichnungen aus geheimen Dokumenten. Doch das, was ihn am meisten beschäftigte, war das Wunder, das sich in seiner und Sophias Gegenwart wiederholt hatte, das blutende Kreuz, dann Sophias eigene Worte, die er aus seiner Erinnerung niedergeschrieben hatte.
Wie passte all das mit dem Vorwurf der Hexerei zusammen? Warum sollte ein blutendes Kreuz Hexenwerk sein? Viele Stunden hatte Maurus in Klausur in seiner Unterkunft im Bonner Cassius-Stift verbracht, hatte um Erleuchtung gebetet, hatte im Münster bäuchlings vor dem Altar gelegen und Antworten von Gott erfleht. Doch der HERR schwieg. Hatte Gott die Welt schon längst verlassen, sie ihrem Schicksal und den Ausgeburten der Hölle überlassen? Nein! Das konnte und wollte der Jesuit nicht glauben. Maurus biss sich auf die Unterlippe, bis sie blutete. Der Schmerz und der Geschmack seines warmen Blutes sagten ihm, dass er nicht träumte. Von einer seltsamen Unruhe gepackt, ging er im Zimmer hin und her. Erregt, ja zornig, blickte er hinaus durch das kleine Fenster in den Innenhof des Stifts und sah, wie sanft und leise Schneeflocken aus dem abendlichen Himmel fielen und den Boden des Innenhofes schnell mit einem feinen weißen Kleid bedeckten. Sein Blick richtete sich nach rechts. Dort gab es eine Tür, die in einen ehemaligen Weinkeller führte. Hinter einer Wand in diesem Keller hatte er einst zwei Grabkammern mit drei Gräbern entdeckt. Doch ein Anschlag machte das Betreten unmöglich, Unbekannte hatten den Weinkeller und somit auch die Grabkammern gesprengt. Zudem hatte Churfürst und Erzbischof Ferdinand verboten, Grabungen vorzunehmen, um die Totenruhe nicht zu stören. War es wirklich die Totenruhe, die ihm heilig war, oder wollte er ganz etwas anderes vor Entdeckung schützen?
Sophias Visionen hatten Maurus stutzig gemacht. Sie sprach von einem Ort mit drei Gräbern, der ihm den Weg weisen würde. Welchen Weg und vor allem wohin? Dann hatte Sophia auch noch Maria Magdalena erwähnt. »Sie ist eine der beiden Königinnen. Du weißt, wer sie ist«, hatte sie ihm gesagt. »Sie braucht seine und deine Hilfe, denn nur gemeinsam könnt ihr das Rätsel lösen, ans Licht holen, was im Verborgenen liegt.« Hatte wirklich Maria Magdalenas Geist von Sophia Besitz ergriffen? Warum? Wollte sie Papst Gregor I. bloßstellen, der Maria Magdalena als Sünderin und Prostituierte bezeichnete?
Maurus konnte es sich gut vorstellen, bei all dem, was er bereits erlebt hatte, bei all dem, was ihm vor Augen gekommen. Außerdem würde das, was er dort finden würde, Sophia auch entlasten? Vielleicht war es ja ein Weg in den Abgrund, ein direkter Pfad in die Hölle. Sophia auf dem Scheiterhaufen, das konnte und wollte sich Maurus van Leuven nicht vorstellen. Doch wie sollte er sie ohne Matthias’ Hilfe retten?
Es war einer jener wenigen Augenblicke in seinem Leben, in denen er wütend auf sich selber war. Der Jesuit wusste, welches Martyrium die Nonne erwartete, aber was konnte er dagegen schon ausrichten? Matthias hätte Rat gewusst. Der Advocatus war ein geschickter Anwalt und erfahren in solchen Dingen. Doch Matthias war seit Wochen verschwunden und es gab kein Lebenszeichen von ihm. Wo mochte der Freund sein? In Spanien, um Carmen de Silva beizustehen?
Resignierend ließ Maurus seine schmalen Schultern sinken und ging zurück zu seinem Arbeitspult.
»Autsch«, war seine laute Reaktion, als er mit dem Fuß gegen eine hochstehende Bodendiele stieß. Er humpelte zum Bett und rieb sich dort den angestoßenen Zeh, als es klopfte.
2.3 Die Hexe im Nonnenkleid
Der brennende Schmerz eines Wangenstreichs ließ sie erwachen. Sie sah zunächst nur schemenhaft einige Gestalten um sich herumstehen. Angestrengt versuchte sie, noch mehr zu erkennen, doch es wollte ihr nicht sogleich gelingen.
»Sie scheint wach zu werden«, drang eine Stimme wie Donnerhall an ihr Ohr, der ihr Gehirn vibrieren ließ. Dumpfer Schmerz breitete sich aus und ließ sie stöhnen.
»Schwester Lucia, bist du es, mein Kind?«, vernahm sie nun. Allmählich lichtete sich auch der Schleier vor ihren Augen und sie erkannte ein rundliches Gesicht, das sie freundlich anlächelte. Die Novizin versuchte zu antworten, doch die Zunge klebte am Gaumen fest, so dass sie nur einen gurgelnden Laut herausbrachte.
»Schon gut, mein Kind. Du musst nicht reden, wenn es dir schwer fällt. Weiß du, wer ich bin?«
Schwach schüttelte Lucia den Kopf und sogleich durchfuhr sie eine weitere Welle stechenden Schmerzes.
»Ich bin Generalvikar Gelenius. Ich bin eigens hergekommen, um mit dir für deine baldige Gesundung zu beten.«
Lucias Herz klopfte. War sie so schwer krank, dass der Generalvikar höchstpersönlich nach ihr schauen musste? Litt sie an einer schlimmen Seuche? Ängstlich bewegten sich ihre Augen hin und her, nahmen weitere Personen wahr.
»Ah, ich verstehe, du willst wissen, wer die anderen Herren hier sind«, kommentierte Gelenius das nervöse Spiel ihrer Augen. Lucia schlug die Augen einmal nieder, was ein Ja bedeuten sollte.
»Die ehrwürdigen Herren wollen mich in den Gebeten unterstützen. Du bist doch damit einverstanden?«
Wieder ein zustimmendes Blinzeln.
»So ist es recht, mein Kind, dann wird Pater Liborius beginnen.«
Gelenius verschwand aus ihrem Blickfeld und ein Dominikanermönch mit schwarzen Haaren und einem spitzen Kinn beugte sich über sie.
»In nomine patris, et filii, et spiritus sancti, im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes, Amen.«
Kaum hatte der Pater die Worte gesprochen, spürte Lucia, wie sich erneut Krämpfe ausbreiteten und ihr Körper sich aufbäumte. Ihre Muskeln spannten sich an, Adern traten hervor und ihr Gesicht verzog sich zu einer dämonischen Fratze.
*
Die Äbtissin und Doktor Schorn überquerten den Kreuzhof des Klosters Sankt Clara zu Cölln in südöstlicher Richtung und standen kurz darauf in der großen Klosterküche.
»Das ist unsere culina«, bemerkte die Oberin mit bissigem Unterton in der Stimme. Der Arzt zog eine Augenbraue hoch.
»Darauf wäre ich jetzt nicht gekommen«, gab er spöttisch zurück, änderte jedoch dann seinen Tonfall und fuhr mit ernster Stimme fort: »Ehrwürdige Mutter Oberin, ich bin ebenso wie Ihr nicht davon erbaut, hier eine Untersuchung durchführen zu müssen. Doch wir sollten zum Wohle Eurer Novizin lieber zusammenarbeiten, damit ihr Schlimmeres erspart bleibt.«
Überrascht blickte die Nonne den Arzt einen Augenblick lang an. Schließlich nickte sie.
»Ihr wirkt vertrauenerweckend, Doktor. Sicherlich habt Ihr auch Recht. Ich bitte Euch daher um Verzeihung ob meiner Unhöflichkeit.«
»Ich verstehe Euren Unmut ja, Mutter Oberin«, antwortete er mit einem leisen Lächeln. »Dann lasst uns beginnen. Gibt es noch Reste des Essens, die irgendwo aufbewahrt sind?«
Die Oberin rief die Köchin, die Doktor Schorn alles zeigte und erklärte. Der Arzt untersuchte alle Speisen, probierte, schmeckte, roch, fragte nach.
»Hier kann ich nichts Auffälliges entdecken. Wo bewahrt Ihr die Vorräte auf, Mutter Oberin?«
»Im Westflügel! Dort befinden sich die Vorratskammern. Folgt mir bitte!«
Erneut überquerten sie den Kreuzhof und erreichten kurz darauf die geräumigen Vorratskammern.
»Wo ist das Korn aufbewahrt?«, fragte Schorn.
»Links die Kammer! Dort stehen Korn und Mehlsäcke«, erklärte die Oberin. Der Arzt drückte die besagte Tür auf und inspizierte Mehl und Korn. Aus jedem Sack nahm er eine Probe, schüttete diese auf ein weißes Tuch und begutachtete sie mit einer Lupe.
»Dachte ich es mir doch!«, stellte er triumphierend fest und sah freudestrahlend zur Oberin auf.
»Was?«
»Mutterkornpilz, aber seht selbst. Nehmt die Lupe, dann könnt Ihr es genau erkennen. Die dunklen Körner im Getreide sind hochgiftig. Erbrechen, Wahnvorstellungen, Durchfälle, Krämpfe und kalte Gliedmaßen sind die Folge, oft auch ein schmerzhafter Tod«, erklärte der Arzt.
Die Nonne blickte durch die Lupe und konnte deutlich die dunklen Körner im Getreide erkennen.
»Dann ist Lucia krank und nicht besessen«, stellte die Oberin fest. »Wir müssen schleunigst zurück, um die unselige Tortur zu beenden.«
*
»Es muss ein starker Dämon sein«, meinte einer der beiden anderen Geistlichen, die sich in der Klosterzelle aufhielten.
»Reicht mir das Weihwasser und entzündet den Weihrauch, meine Brüder«, sagte der Generalvikar mit bebender Stimme, während sich der gequälte Körper der Novizin weiter aufbäumte. »Und Ihr, Pater Liborius, fahrt mit der Austreibung fort.«
Der Dominikaner nickte und hob die Hände zum Gebet.
»Heiliger Erzengel Michael, glorreichster Fürst der himmlischen Heerscharen, verteidige uns im Kampfe gegen die Fürsten und Gewalten, gegen die Weltherrscher dieser Finsternis, gegen die bösen Geister unter dem Himmel, gegen Satan, den Antichristen.
Komm uns zu Hilfe! Bringe unsere Gebete vor das Angesicht des Allerhöchsten, damit er uns mit seinem vielfältigen Erbarmen schnell zuvorkomme. Und ergreife den Drachen, die alte Schlange, das heißt den Teufel und Satan, und stürze ihn gefesselt in den Abgrund der Hölle, damit er diese arme Seele nicht weiter verführe.
Im Namen und in der Kraft unseres Herrn Jesu Christi beschwören wir dich, jeglicher unreine Geist, jegliche satanische Macht, jegliche feindliche Sturmschar der Hölle, jegliche teuflische Legion, Horde und Bande: Ihr werdet ausgerissen und hinausgetrieben aus der Kirche Gottes, von den Seelen, die nach Gottes Ebenbild erschaffen und durch das kostbare Blut des göttlichen Lammes erlöst wurden. Wage es nicht länger, hinterlistige Schlange, das Menschengeschlecht zu täuschen, die Kirche Gottes zu verfolgen und die Auserwählten Gottes zu schütteln und zu sieben wie den Weizen.«
Lucias Körper bäumte sich, von Krämpfen geschüttelt, weiter auf. Die Worte des Paters vernahm sie nur aus weiter Ferne, verstand sie kaum.
»…Wir beschwören dich also, verfluchter Drache und alle teuflischen Legionen, durch Gott, höre auf, die menschlichen Wesen zu täuschen und ihnen das Gift der ewigen Verderbnis einzuträufeln«, Wortfetzen, die sie hörte! Wovon sprach der Pater? Hielt er sie für einen Dämon? Lucia riss den Kopf hoch und starrte Pater Liborius an. Seine dunklen Augen glühten plötzlich wie feurige Kohlen, Rauch stieg aus seinen Nasenlöchern und ein ekliger, schwefliger Gestank breitete sich aus. Von Panik ergriffen versuchte die Novizin, sich zu befreien, schrie entsetzlich auf.
»Weiche, Satan, Erfinder und Lehrmeister jeglicher Falschheit, Feind des menschlichen Heils!«
Oh Gott,dachte Lucia, es ist der Teufel!
»Dääähmonn«, schrie sie aus Leibeskräften. Erschrocken wichen Gelenius und die beiden Priester zurück. »Saaataaaan!«
»Habt Ihr das gehört, meine Brüder?! Sie ruft Satan um Hilfe an!«
»Ja, ja«, nickten die beiden Priester eifrig mit bleichen Gesichtern. Der Generalvikar bekreuzigte sich, die anderen folgten seinem Beispiel.
»Liborius, in Gottes Namen, fahret fort, treibt diesen unreinen Geist aus!«
Mit einem Spitzentuch tupfte sich Gelenius Schweißperlen von der Stirn, als plötzlich die Tür aufgerissen wurde.
»Haltet ein!«, rief die Äbtissin. »Lucia ist krank. Sie ist nicht besessen!«
Alle starrten die Oberin an.
»Wie kommt Ihr darauf, Schwester?«, fragte der Generalvikar unwillig, die Nonne fixierend. Die Äbtissin hielt seinem strengen Blick jedoch stand.
»Mutterkorn! Unser Roggen ist durch Mutterkorn verdorben. Doktor Schorn wird es Euch bestätigen, hochwürdigster Generalvikar!«
»Stimmt das, Doktor?«, richtete Gelenius seinen Blick auf den Mediziner.
»Ja, eindeutig.«
»Na schön, Schwester. Aber dann erklärt mir auch, warum Eure ach so kranke Schwester soeben Satan um Hilfe angefleht hat.«
Die Nonne erbleichte. »Das. . . das kann ich nicht glauben«, stammelte sie erschrocken. Wieder schrie Lucia auf und warf sich hin und her.
»Erlaubt mir, Ihr etwas zur Beruhigung geben zu dürfen. Eine Medizin, die ihr die Schmerzen nimmt und die Krämpfe lindert«, griff Doktor Schorn ein. Gelenius blickte darauf Pater Liborius an. Der nickte.
»Es kann nicht schaden. Vielleicht erfahren wir mehr, wenn sie etwas ruhiger ist.«
»Dann gebt ihr Eure Medizin, Doktor. Aber Gnade Euch Gott, sollte sie nicht wirken und der Teufel in ihr wieder die Oberhand gewinnen.«
Hastig kramte der Arzt ein Fläschchen aus seiner Tasche hervor und flößte Lucia den Inhalt ein, worauf sie sich alsbald beruhigte und einschlief.
*
Einige Tage später
»Ich freue mich, dass es dir wieder besser geht, meine Tochter«, sagte der Generalvikar freundlich. »Fühlst du dich in der Lage, ein paar Fragen zu beantworten?«
Lucia nickte unsicher und warf einen scheuen Blick auf die anderen geistlichen Würdenträger im Krankenzimmer. Nachdem das Fieber gesunken war, die Krämpfe aufgehört hatten und man sich sicher war, dass die Novizin nicht an einer Pestilenz litt, hatte man sie auf die Krankenstation des Klosters verlegt.
»Ah, ich verstehe, du hast Scheu vor den anderen Herren. Nun, an Pater Liborius erinnerst du dich doch? Er war es, der dir half, Satan zu überwinden. Hochwürden Binz und Dekan Mühlen haben uns dabei unterstützt.«
Lucia musterte den Dominikaner misstrauisch. Er kam ihr tatsächlich bekannt vor, als habe sie ihn schon einmal im Traum gesehen. Der dunkelhaarige Mann mit der ernsten Miene versuchte freundlich dreinzuschauen. Die beiden anderen lächelten aufgesetzt.
»Ja, hochwürdigster Generalvikar. Ihr könnt mir gerne Fragen stellen.«
»Man berichtete mir, du hättest von einer Gefahr gesprochen, die von einem Dämon ausgeht. Soll das heißen, dass du eines Dämons ansichtig wurdest?«
Lucia schluckte und ihre Augen flackerten ängstlich.
»Du musst keine Furcht haben. Dir geschieht nichts. Wir wollen nur wissen, wer für die Heraufbeschwörung des Dämons verantwortlich ist. Also, hast du einen Dämon gesehen?«
»Ja, Herr. Es war, als ich krank darniederlag. Es war schrecklich. Er war über mir und versuchte, sich meiner zu bemächtigen.«
»Aber du hast ihm widerstanden?«
»Ja, ja«, beeilte sich Lucia zu antworten.
»Wie hast du ihm widerstanden? Durch Gebete, etwa zur Jungfrau Maria?«, hakte Gelenius nach.
»Ja, ich habe die heilige Mutter Gottes um Hilfe angefleht.« Unsicher sah die Novizin den Generalvikar an.
»Das ist löblich, mein Kind. Sag’, wer könnte deiner Meinung nach den Dämon heraufbeschworen haben?«
Lucia zuckte mit den Schultern. »Weiß nicht!«
»Dann werde ich meine Frage anders formulieren: Du weißt inzwischen bestimmt, dass euer Korn verdorben ist. Ist dir einmal etwas Ungewöhnliches aufgefallen, vielleicht dass sich jemand für das Korn interessierte, der eigentlich nichts damit zu tun hat?«
Lucia dachte angestrengt nach. Es war schon einige Monate her, da hatte Schwester Franziska mal einen Verdacht gehegt, dass mit den Vorräten etwas nicht in Ordnung sei. Nur zufällig hatte Lucia bemerkt, wie Franziska sich mit Schwester Sophia darüber unterhielt und ihr diesen Verdacht mitteilte. Die verehrte Sophia, die viele für eine Heilige hielten. Aber nein, das konnte nicht sein! Hilflos schaute sie auf.
»Also, ist dir etwas aufgefallen?«
»Ja, aber nein. Das hat nichts mit einem Dämon zu tun.«
»Dies zu beurteilen, solltest du uns überlassen, meine Tochter. Dafür sind wir hier zusammengekommen.« Ängstlich blickte sich die Novizin jetzt um und sah, wie alle sie erwartungsvoll anstarrten.
»Im Frühjahr hatte Schwester Franziska den Verdacht, dass unsere Vorräte verdorben seien.«
»Woher weißt du das?« Jetzt erzählte Lucia von dem Gespräch zwischen Franziska und Sophia, das sie zufällig mitgehört hatte.
»Und du bist dir sicher, dass es diese beiden Schwestern waren? Hast du sie gesehen?«
»Ja, ich habe sie gesehen, wie sie danach den Kreuzhof überquerten.«
»Zu den Vorratskammern?«
Lucia zitterte, ihre Augen füllten sich mit Tränen. Sie wusste, dass man Sophia verhaftet hatte und der Hexerei verdächtigte. So etwas sprach sich schnell herum.
»Also, was ist? Oder steckst du mit ihnen unter einer Decke?«
»Nein!«, antwortete Lucia verzweifelt. »Und ja, sie sind zu den Vorratskammern gegangen.«
»Ist dir sonst noch etwas aufgefallen?«
»Nichts Verwerfliches, hochwürdigster Herr«, schluchzte die Novizin.
»Aber dir ist noch etwas aufgefallen?«
Lucia nickte.
»Erzähl’ uns davon!«
Lucia schniefte und schnäuzte sich erst die Nase.
»Ich war einmal dabei, als Schwester Sophia eine ihrer Visionen hatte. Sie war in der Kirche und betete. Plötzlich bewegte sie sich merkwürdig hin und her. Ich ging zu ihr hin und wollte sie fragen, ob es ihr nicht gut ginge. Ihre Augen waren fest geschlossen und sie murmelte unverständliches Zeug.«
»Mehr war nicht?«
Lucia schwieg.
»Nun sprich, unseliges Kind. Oder muss man dich erst der Tortur unterziehen?«, drohte Gelenius.
»Oh Gott, nein!«
»Dann sprich endlich!«
»Es war, es war, ich habe sie angefasst«, stammelte Lucia unter Tränen.
»Und was ist dann geschehen?«
»Sie riss plötzlich die Augen auf und starrte mich schrecklich an. Dann lächelte sie seltsam und sagte, dass ich das nie wieder tun solle, sie wüsste nicht, was sonst geschehen könnte. Da bekam ich plötzlich fürchterliche Angst und lief weg.«
»Das war alles?«
»Ja, das war wirklich alles. Ich schwöre es bei meinem Leben«, weinte Lucia.
*
»Schwester Sophia muss von einem mächtigen Dämon beherrscht sein«, resümierte Gelenius später, als er mit Pater Liborius allein war.
»In der Tat, wenn schon die bloße Berührung ihrer Kleidung ausreicht, dass der Dämon versucht, überzugehen und sie ihre Opfer gar noch warnt. Dann muss sie sich des Dämons auch voll bewusst sein.«
Gelenius sah den Dominikaner ernst an.
3 Inkognito - Der französische Rat
Bonn, Cassius-Stift, im November AD 1626
»Wer ist da?«, rief Maurus durch die verschlossene Tür in seiner Stube im Cassius-Stift.
»Hier ist ein Bote für Euch, Pater«, hörte Maurus die ihm vertraute Stimme des Bruders Laurentius. Erleichtert öffnete der Jesuit die Tür. Neben Laurentius stand ein dunkel gekleideter Mann in den Vierzigern, dessen Wams einen aufgesetzten weißen Kragen hatte, der von einem Halbmantel teilweise verdeckt wurde. Die Beine des Fremden steckten in einer schwarzen Pluderhose, seine Füße in ebenfalls schwarzen Schnallenschuhen. Der Bote wirkte ernst, hatte aber eine angenehm tiefe Stimme.
»Verzeiht die späte Störung, Pater. Aber mein Herr bittet Euch umgehend um eine Unterredung«, sagte der Mann, nachdem sich Fra Laurentius entfernt hatte. »Würdet Ihr mich sogleich begleiten?«
»Darf ich erfahren, wer Euer Herr ist?«, fragte Maurus verwundert über diese überraschende Einladung.
»Das darf ich Euch nicht sagen«, entschuldigte sich der Fremde mit einem Ausdruck des Bedauerns. Jedoch darf ich Euch mitteilen, dass es sich um eine Angelegenheit auf Leben und Tod handelt.«
Nachdenklich strich sich Maurus über sein glattrasiertes Kinn.
»Woher soll ich wissen, dass Eure Bitte keine Falle ist?«
Maurus’ Augen weiteten sich, sein Gesicht wurde aschfahl, als der Fremde plötzlich eine Pistole in der Hand hatte. Doch dann drehte dieser die Waffe um, den Lauf auf sich gerichtet.
»Nehmt die Waffe, Pater. Sie ist geladen. Darum seid vorsichtig! Ein leichter Druck auf den Abzug und ich würde in die Hölle fahren, sollte ich Euch betrügen wollen.«
Maurus sah entsetzt auf die ihm entgegengehaltene Waffe.
»Steckt das Ding bitte weg, ich bin ein Mann Gottes und kein Soldat. Ich werde Euch begleiten, es scheint Eurem Herrn wohl sehr ernst zu sein. Wartet einen Augenblick, bitte. Ich hole noch meinen Mantel.«
Kurze Zeit später folgte Maurus dem Boten durch die dunklen Straßen und Gassen Bonns in Richtung Rheinhafen. Schließlich durchquerten sie die Giergasse, um dann in einem der zahlreichen Wirtshäuser im Hafenviertel Bonns, unweit der Gertrudiskapelle, einzukehren.
»Euer Herr muss ja ein bedeutender Mann sein, wenn er in einer solch noblen Herberge absteigt«, spöttelte Maurus, als sie den verqualmten Schankraum durchquerten. An den Tischen saßen grölende Männer beim Würfelspiel oder sie vergnügten sich mit zweifelhaften Weibsbildern, die ihnen ihre Wonnen anboten.
»Mein Herr ist incognito in diesem Hause abgestiegen, Pater«, entgegnete der Bote und eilte eine Holzstiege hinauf in das obere Geschoss des Hauses, in dem sich die Gästezimmer befanden. Er klopfte rhythmisch an eine Tür, die sich sogleich öffnete.
»Bitte, tretet ein«, forderte der Bote Maurus freundlich auf.
»Warum geht Ihr nicht voran?«, fragte Maurus misstrauisch.
»Pater, mein Verbleiben würde Aufsehen erregen. Mein Herr wird es Euch erklären.«
Die Stirn runzelnd, nickte der Jesuit und trat ein.
»Es freut mich, dass Ihr meiner Bitte Folge leisten konntet, Pater«, wurde er von einem Mann in der Kleidung eines einfachen Kaufmanns begrüßt. Maurus’ Gastgeber hatte schütteres Haar, einen breiten Schnauz- und einen spitzen Kinnbart. Unter den buschigen Augenbrauen blickte Maurus ein waches stahlblaues Augenpaar entgegen. Die Ausstrahlung des Mannes stand im Gegensatz zu seiner Kleidung.
»Bitte, nehmt doch Platz. Darf ich Euch einen Becher Wein anbieten?«
»Gern, vielen Dank«, antwortete Maurus, setzte sich allerdings zögernd. Die Situation wirkte befremdlich auf ihn und er war innerlich fluchtbereit. »Womit kann ich Euch denn dienen?«
Der Fremde lächelte.
»Es ist schön, dass Ihr keine großen Umschweife macht und einfach zur Sache kommt. Nun gut! Mein Diener sagte Euch bestimmt, dass ich incognito reise!«
»Ja, das erwähnte er, mehr nicht.«
»Martin ist ein sehr zuverlässiger und vertrauenswürdiger Bediensteter. Bisher konnte ich mich noch immer auf ihn verlassen«, nickte der Fremde erneut zufrieden. »Dann werde ich mich Euch kurz vorstellen«, fuhr er im Flüsterton fort, so dass sich Maurus weit vorbeugen musste, um den Fremden zu verstehen. »Ich bin ein Gesandter des Königs von Frankreich als französischer Rat vom Staate in Teutschen Landen. Mein Name ist Nikolaus von Langenberg. Ich bin der Vater der in Lechenich inhaftierten Nonne, die Ihr dort betreut.«
Völlig perplex starrte Maurus den Fremden mit weit aufgerissenen Augen und geöffnetem Mund an.
»Ich, das, das, ich verstehe«, stammelte Maurus konsterniert.
»Ich glaube kaum, dass Ihr versteht«, meinte Langenberg beinahe amüsiert über Maurus’ Überraschung. »Trinkt einen Schluck! Der Wein ist zwar nicht der Beste, aber er erzielt seine Wirkung.«
Der Jesuit trank einen großen Schluck, ohne nachzudenken. Später wusste er nicht zu sagen, ob es der Respekt vor diesem Manne war oder doch nur seine eigene Überraschung, die ihn den Becher gar in einem Zug leeren ließ. Langenberg schenkte höflich nach.
»Darf ich meine Frage wiederholen und Euer Gnaden fragen, was ich für Euch tun kann?« Allmählich fand Maurus seine Fassung wieder, während sich Langenbergs Miene verfinsterte.
»Was wisst Ihr über mich, Pater?«
»Nicht sehr viel. Nur, dass Ihr ein brandenburgischer Commissarius seid und die Leitung des Kriegszahlamtes in Emmerich innehabt.«
»Hatte, Pater, hatte! Das Kriegszahlamt wurde vor zwei Jahren aufgelöst. Danach wurde ich ans klevische Hofgericht berufen. Doch das stieß bei den katholischen Pfaffen auf Widerstand. Man diskreditierte mich, predigte von den Kanzeln, dass ich bestechlich sei und Unterschlagungen getätigt hätte. Kein guter Leumund, zumal mir mein Gerechtigkeitssinn einmal eine Haft eingebracht hatte, was wohl einigen dieser Herren noch in Erinnerung war. Darum ging ich mit Zustimmung meines Kanzlers nach Frankreich, wo man meine Dienste zu schätzen weiß. Darum bin ich jetzt als französischer Rat vom Staate in Teutschen Landen in diplomatischen Missionen unterwegs.«
»Verstehe!«, war Maurus’ knappe Antwort.
»Wenn Ihr alles versteht, Pater, dann müsste Euch der Grund Eures Hierseins auch bekannt sein!«, wurde Langenbergs Ton schärfer. Verlegen schaute Maurus zur Seite.
»Also?«
»Verzeiht, Euer Gnaden, ich wollte nicht unhöflich erscheinen oder Euch gar beleidigen. Bitte, fahret mit Euren Erklärungen fort«, entschuldigte sich Maurus.
»Stellt die richtigen Fragen, Pater, dann erhaltet Ihr auch die richtigen Antworten.«
»Welcher Art sind Eure diplomatischen Missionen?«
»Das darf ich Euch nicht beantworten. Es sind sehr vertrauliche Angelegenheiten.«
»Darum seid Ihr auch incognito in Bonn?«
»Sehr wohl.«
Auch wenn Maurus den Grund für Langenbergs Besuch erahnte, musste er die Frage stellen.
»Was ist Euer Begehr?«
»Wie ich bereits sagte, ich bin der Vater der inhaftierten Nonne Sophia. Ich mache mir große Sorgen um meine Tochter und Ihr müsst mir helfen!«
»Wie stellt Ihr Euch das vor?«
»Zunächst müsstet Ihr mich über die genaue Lage informieren, was man ihr vorwirft, wie es ihr geht.«
Maurus lehnte sich zurück und blickte Langenberg nachdenklich an.
»Ihr bringt mich in eine schwierige Lage, Euer Gnaden.«
»Bitte versteht, ich spreche jetzt als Vater zu Euch, Sophia ist meine Tochter!«
»Warum sprecht Ihr nicht beim Churfürsten vor? Seine Durchlaucht wird Euch bestimmt anhören!«
»Churfürst Ferdinand darf nicht erfahren, dass ich hier bin. Es würde meine gesamte Mission gefährden. Außerdem würde er meine Vorsprache als Einmischung in seine inneren Angelegenheiten betrachten. Es wäre im Augenblick höchstwahrscheinlich contra produktiv.«
Maurus hatte aufmerksam zugehört, er nickte nur und verkniff sich die Worte: ich verstehe!.
»Schön, ich werde Euch informieren, aber zunächst schwört mir auf die Bibel, dass Ihr niemandem verratet, wer Euch diese Informationen gegeben hat.«
»Auf was Ihr wollt, Pater.«
»Wie hab’ ich das zu verstehen?« Irritiert blickte Maurus Sophias Vater an.
»Ich bin zwar Katholik, Pater, aber ich bin vor allem ein Mann des Rechts. In meinen Augen ist Religion grundsätzlich Privatsache, es ist egal, welcher Konfession man angehört. Wichtig ist allein der Glaube an Gott. Darum ist es auch egal, ob ich auf die Bibel oder sonstige die Heilige Schriften schwöre.«
»Ein gewagter Ausspruch, Euer Gnaden. Beinahe ketzerisch und anderenorts sehr gefährlich.«
»Da habt Ihr verdammt noch mal Recht, Pater. Aber ich stehe dazu, so wie ich dazu stehe, dass ein jeder Neid, Hass und Missgunst, die Übel der menschlichen Gesellschaft, erdulden und tapfer und offen für das Gute und das Recht in dieser Welt eintreten muss. Gott hat zwar den Ablauf dieser Welt bereits vorherbestimmt, aber man kämpft so lange, bis man erkennt, dass dies am Ende vergeblich ist.« Eine kurze Pause trat ein. Langenberg erhob sich und kam auf Maurus zu und beugte sich zu ihm nieder.