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Stell dir vor, eines Tages taucht ein winziger Mann völlig aufgebracht in deiner Wohnung auf, behauptet, er sei verflucht worden, und du müsstest ihm helfen. So ergeht es der jungen Berlinerin Sophia: Hilfsbereit, wie sie ist, unterstützt sie ihn dabei, sich aus seinem Schlamassel zu befreien, gerät dadurch an zum Teil geheime Schauplätze und in mitunter dramatische Situationen. Sie erfährt unglaubliche Geheimnisse über unsere Hauptstadt, die sie eigentlich gar nicht wissen wollte, unter anderem die Antwort auf die Frage, warum die Eröffnung des Flughafens BER ständig verschoben wird.
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Seitenzahl: 200
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Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Insekten sprechen nicht.
Insekten fluchen schon gar nicht.
Diese Erkenntnis rettete dem merkwürdigen Wesen, das definitiv kein Insekt war, wahrscheinlich das Leben.
Sophia war drauf und dran, es zu erschlagen, rollte ihre Zeitschrift zusammen und pirschte vorsichtig ans offenstehende Fenster. Von umständlichen Befreiungsversuchen hielt sie noch nie viel.
Der Eindringling sah von weitem wie eine dicke kleine Albino-Stabheuschrecke mit weißen Flügeln aus, ungewöhnlich für diese Region, aber im fernen Afrika oder sonst wo in Äquatornähe mochte es solche Exemplare möglicherweise durchaus geben. Vielleicht war das Vieh hier in der Stadt aus irgendeinem Terrarium ausgebüxt. Manche Leute halten sich doch die exotischsten Tiere. Haustiere wie Pythons, Warane und Taranteln sind keine Seltenheit.
Doch dann hörte sie es reden.
Mit fiepsiger Stimme rief es: „Hey, verdammt! Nimm sofort das Ding runter!“ Ein sehr leiser Ruf, gerade laut genug, dass sie es hören konnte, dafür aber umso fordernder: „Hilf mir lieber! Scheiße! Verdammt nochmal, du musst mir helfen!“
Zunächst sah sie sich irritiert in der näheren Umgebung der Schallquelle um, die zusammengerollte Zeitschrift als Waffe fester umklammernd, an ihrem eigenen Verstand zweifelnd.
Es war ein einladender Frühlingstag 2017, Ende April, die Bäume hatten sich entschlossen, endlich ein paar zartgrüne Triebe darzubieten, Magnolienknospen sprangen auf und Forsythien blühten, die Vögel zwitscherten atonal um die Wette, und das Großstadtleben begann allmählich wieder auf den Straßen stattzufinden. Die Tische der Berliner Cafés wurden nach draußen gestellt, und Decken auf den Stuhllehnen luden zum Verweilen ein, damit man sich im Bedarfsfall die fröstelnden Beine wärmen konnte. Straßenmusiker kamen vom Untergrund an die Oberfläche und beschallten die Straßen, und Cabrios wurden demonstrativ offen präsentiert, obwohl man heimlich die Fußheizung laufen lassen musste.
Sophia war nach einer unspektakulären Arbeitswoche gerade nach Hause gekommen und freute sich auf das Wochenende. Sie hatte alle Fenster geöffnet, um die frische Frühlingsluft in ihre Wohnung zu lassen und es sich auf ihrem Sofa mit ein paar Zeitschriften bequem zu machen. Alle zwei Wochen brachte ihre Kollegin ihre ausgelesenen mit. Die waren nicht brandaktuell, aber unterhaltsam. Ein Klatschblatt über Königsfamilien und Fernsehstars legte sie erst einmal gelangweilt beiseite. Eigentlich interessierte sie sich nicht wirklich für so etwas. Dann lieber die Modezeitschrift, obwohl sie Mode auch nicht sonderlich reizte, aber das Blättern durch die Hochglanzseiten, das Bewundern der makellosen Frauen in teils ansehnlichen, teils verwunderlichen Outfits hatte etwas Entspannendes. Und es ist immer gut zu wissen, was gerade angesagt ist, auch, oder gerade wenn man sich nicht danach richtet.
Und nun das!
„Das gibt es doch nicht“, murmelte sie und hoffte, zu halluzinieren. Aber das vermeintliche Hirngespinst war dort! Und es sprach!
Bei genauer Betrachtung handelte es sich um einen kleinen Menschen.
Es war ein nackter, wohlproportionierter junger Mann im Miniformat, ein Papiertaschentuch wie eine improvisierte Toga über eine Schulter geknotet, das im Wind flatterte und von weitem eben wie Flügel ausgesehen hatte. Er zupfte daran herum, um seine Blöße zu bedecken und schaute genervt zu ihr auf, während er sich zornig hin und her bewegte.
Sie ließ die zusammengerollte Zeitschrift sinken und starrte das Männlein fassungslos und neugierig an, das sich da auf ihrem Fensterbrett befand und mit den Händen fuchtelte.
„Hey! Ich hab keine Zeit für Erklärungen. Kennst du deine Nachbarin?“
„Äh, Ludmilla?“, fragte Sophia.
„Keine Ahnung, wie sie heißt. Jedenfalls musst du rübergehen und meine Klamotten holen! Jetzt! Bevor es zu spät ist!“
„Aber“, versuchte sie chancenlos, seinen Redeschwall zu unterbrechen.
„Und glotz mich nicht so an! Ich bin normalerweise eins neunzig, aber gerade hat mich dieser scheiß Fluch getroffen und ich bin ein bisschen aus meiner Kleidung … naja … quasi ‚herausgeschrumpft‘. Ich erkläre es dir, wenn du meine Sachen geholt hast.“
„Ähm“, rang Sophia nach Worten, „ich verstehe ja, dass du aufgebracht bist, aber geht es vielleicht ein bisschen höflicher? Wir kennen uns doch gar nicht.“
„Höflich!“, lachte er bitter. „Der war gut!“
Sie verstand zwar nicht, was er daran ‚gut‘ fand oder auch nicht, denn sie hatte keinen Scherz gemacht, aber immerhin schien es ihn dazu zu bewegen, sich für einen kurzen Moment zusammenzureißen. Etwas sanfter und einsichtig sagte er: „Ok, ich bin Vincent. Wer bist du?“
„Sophia“, antwortete sie, immer noch zutiefst irritiert, und konnte nicht glauben, dass sie tatsächlich mit diesem Wesen redete.
„Ok, Sophia, freut mich, dich kennenzulernen“, kam es halbherzig und unglaubwürdig von ihm. „Hättest du jetzt die nicht mit Gold aufzuwiegende Gnade und Freundlichkeit, nach drüben zu gehen und“, er schluckte, „und bitte meine Klamotten zu holen?!“
Als hatte er sich gerade sehr überwinden müssen, seufzte er und erklärte: „Zuletzt lagen meine Sachen im Schlafzimmer. Am wichtigsten ist meine Lederjacke! Da sind meine Autoschlüssel und mein Handy drin. Und dann meine Jeans. Ja, unbedingt meine Jeans! Verdammt, meine Kreditkarte ist in der Tasche!“
Wieder tigerte er hin und her und Sophia begriff allmählich, dass er ihre Hilfe wirklich brauchte.
Weil sie zögerte, forderte er: „Beeil dich! Und sag um Himmels willen nicht, dass ich hier bin!“
Sophia fragte: „Was soll ich denn sagen?“
Er zuckte mit den Schultern und entgegnete: „Lass dir eben ’was einfallen!“
Sie beschloss, jetzt keine weiteren Fragen zu stellen, sich nicht weiter zu wundern und einfach erstmal die Anweisung zu befolgen.
Etwas tun. Aktionismus gegen drohenden Wahnsinn. Die Füße bewegen. Raus aus dem Zimmer! Raus aus der Wohnung! Mit einem normalen Menschen reden!
Ihr Finger landete auf der Nachbarklingel und ein Westminster-Ding-Dong war bis auf den Hausflur zu hören.
Die Tür wurde unvermutet schnell aufgerissen und Nachbarin Ludmilla öffnete im Bademantel. Sie schien etwas sagen zu wollen und verharrte überrascht mit halboffenem Mund.
„Hi, Ludmilla …“, sagte Sophia angespannt, um Lockerheit bemüht.
Ihre Nachbarin war eine einschüchternd gutaussehende Blondine, dem Akzent nach osteuropäischer Abstammung, bei der sich ein männlicher Besuch nach dem nächsten die Klinke in die Hand gab. Sophia fragte sich manchmal, ob es sich bei ihr um eine Professionelle handelte, oder ob sie einfach nur abschleppen konnte, wen sie wollte.
„Ich, ich …“, stammelte Sophia.
Mist! Was sollte sie nur sagen?!
Schließlich sagte sie mit der scheinbar größten Selbstverständlichkeit wie aus der Pistole geschossen: „Ich soll Vincents Sachen abholen.“
„Wie bitte?“ Ludmilla beugte sich leicht vor, als hätte sie sich verhört und ihre dunkel geschminkten Augen wurden zu wütend funkelnden Schlitzen.
„Ja, ich, äh, wurde beauftragt, Vincents Sachen abzuholen“, versuchte Sophia offiziell zu klingen, lächelte schief und knetete ihre Hände.
Ludmilla schnappte nach Luft und blickte misstrauisch an ihr vorbei zur gegenüberliegenden offenstehenden Tür. „Was?! Ist er jetzt etwa bei dir? Ich glaube, ich spinne! Was für ein Arschloch! Haut einfach ab, als ich im Bad war! Eben säuselt er mir noch ’was vor und dann …Was für ein mieses, kleines Arschloch!“
Damit schob sie resolut und energisch eine perplexe Sophia zur Seite und verschaffte sich in aufgebrachter Rage Zutritt zu deren Wohnung.
Zumindest ‚klein‘ stimmte tatsächlich, dachte Sophia sarkastisch. Über den Rest konnte sie sich kein Urteil bilden.
„Na, warte, du …“, drohte Ludmilla auf der Suche nach Vincent und durchkämmte offenbar jedes Zimmer.
Sophia hingegen nutzte die Gunst des Augenblicks und holte flink seine Sachen, die in Ludmillas Schlafzimmer hinter der Tür lagen. Kerzen brannten überall, sanfte Jazzklänge ertönten aus dem Wohnzimmer und ein zarter Rosenduft durchzog die Luft. Das perfekt vorbereitete Schäferstündchen.
Aus ihrer eigenen Wohnung hörte sie indessen das Aufreißen und Zuknallen von Schranktüren, das vertraute Quietschen der Badezimmertür und immer wieder Ludmillas hysterische Stimme: „Vincent, du Arsch! Wo bist du?!“
Die beiden Frauen begegneten sich wieder im Hausflur und Ludmilla warf atemlos einen wütenden Blick auf Vincents Sachen, die Sophia an sich drückte. Unzweifelhaft war ihre Hausdurchsuchung erfolglos gewesen und sie zischte: „Wo auch immer du ihn versteckt hältst …“, und ihr Blick schien noch ‚Schlampe!‘ anzufügen, „sag ihm, er soll sich dahin scheren, wo der Pfeffer wächst! Er braucht gar nicht auf die Idee zu kommen, sich nochmal bei mir zu melden!“
Sophia quälte sich schnell an ihr vorbei und versprach kurzangebunden: „Sag ich ihm, wenn ich ihn sehe.“
Bloß schnell weg! Egal, was sie von ihr dachte!
Wo um alles in der Welt war Sophia da nur hineingeraten?!
Die Nachbarin warf ihre Tür geräuschvoll hinter sich zu, und Sophia taperte zurück in ihre eigene Wohnung, die Anziehsachen des Fremden weiter an sich gedrückt. Ihr erster Weg ging zurück ins Wohnzimmer. Das Papiertaschentuch, unter dem er sich verborgen halten musste, lag unschuldig auf dem Fensterbrett.
„Die Luft ist rein!“, rief sie verhalten in die Richtung und legte seine Sachen auf dem Fußboden ab.
Sofort erschien sein kleiner Kopf unter dem Taschentuch und er rappelte sich hoch und drapierte es neu. „Boah, das war knapp! Gut, dass sie nicht weiß, wie ich gerade aussehe! Ich war geflohen, bevor sie meine Verwandlung bemerken konnte. Mach schnell jetzt! Hol mein Handy aus der Jackentasche und such ‚Jo‘ raus!“
Eigentlich war es an der Zeit, eine Erklärung zu erhalten, aber Sophia tat wie aufgetragen, griff in die Taschen seiner Jacke, holte sein Telefon hervor, wischte über das Display zu den Kontakten und fand den Eintrag ‚Jo‘.
„Stell den Lautsprecher laut und wähl seine Nummer!“, forderte er sie auf. „Leg es hier neben mich!“
Sie wusste nicht, warum sie wie paralysiert alles tat, was er bestimmte. Vielleicht war es die Verzweiflung, die in seiner fordernden Stimme mitschwang, vielleicht stand sie auch unter Schock, jedenfalls wählte sie die Nummer und legte das Handy auf das Fensterbrett.
Es tutete, dann meldete sich eine Männerstimme: „Ja?“
Vincent beugte sich über das Handy-Mikrofon und rief mit seinem schwachen, fiepsigen Stimmchen hinein: „Jo! Sie hat es schon wieder getan! Ich glaub, ich muss durchdrehen! Sag ihr, sie soll das lassen, verdammt nochmal! Auf dich hört sie vielleicht.“
Zwei, drei Sekunden lang war von der anderen Seite nichts zu hören, dann fragte die Männerstimme misstrauisch: „Vince? Bist du das?“
Das Papiertaschentuch-Männlein ballte die kleinen Hände zu Fäusten und reckte sie wütend empor: „Ja, Himmel, Arsch und Mäusekacke, wer denn sonst?! Jo! Hilf mir gefälligst! Heute hat Mutter mich in einen Däumling verwandelt.“
Seine Mutter?!
Man hörte ein kehliges Glucksen von der anderen Seite: „Ach, bist du schon wieder auf deinen amourösen Pfaden unterwegs, Brüderchen? Wer ist es denn dieses Mal?“
„Halt doch die Klappe!“, herrschte Vincent seinen Bruder an. „Wir sind nicht allein.“
„Wie? Ist sie noch bei dir?“, fragte dieser ungläubig.
„Nein, natürlich nicht!“, erklärte Vincent ungehalten. „Ich konnte in die Nachbarwohnung fliehen. Hol mich hier raus, bevor ich den Verstand verliere!“
„Ähm, welcher Verstand?“ Wieder war ein amüsiertes, leises Kichern zu vernehmen. „Sorry, aber ich habe noch ein paar Pflanzen auszuliefern. Ich kann nicht weg.“
Vincent schlug unbeirrt vor: „Dann sag, du wärst krank oder dir wäre ‘was dazwischengekommen oder was! Du musst mich hier abholen!“
Jo am anderen Ende klang nun ernst: „Hey, wo auch immer du dich rumtreibst, Vince, du weißt, dass das nicht geht! Und selbst wenn… Ich könnte frühestens in einer knappen Stunde in Berlin sein. Du bist doch in Berlin?“
Vincent antwortete resigniert: „Ja, in Tempelhof.“
Jo fuhr fort: „Und was soll ich dann zuerst machen? Dich abholen? Mit Mutter reden?“
Vincent dachte nach, warf einen Blick zu Sophia, atmete schwer aus und sagte kleinlaut: „Hol mich hier ab, ok? Dann warte ich eben. Ich schick dir die Adresse.“
Und nach einem weiteren tiefen Atemzug fügte er versöhnlich hinzu: „Bist ein guter Bruder.“
„Ich weiß“, lachte Jo leise. „Ich versuch, mich zu beeilen. Bis nachher.“
Die Verbindung wurde getrennt.
Vincent wies Sophia an: „Tipp deine Adresse ein.“
Und nach einem kurzen Zögern fügte er widerwillig hinzu: „Bitte.“
Sophia seufzte, nahm das Handy, tippte ihre Adresse ein und schickte sie an den Kontakt ‚Jo‘.
„Wenn ich nachher aufwache, kann ich mir immer noch Gedanken machen, was das alles zu bedeuten hat…“, murmelte sie vor sich hin, doch Vincent belehrte sie eines Besseren: „Du wirst nicht aufwachen, äh, Sophia, richtig?“
Sie nickte.
Er wiederholte: „Du wirst nicht aufwachen!“
Theatralisch breitete er seine Arme aus. „Willkommen in meinem Leben! Du bist hier nun mal leider in meiner Realität! Das lässt sich nicht ändern.“
‚Ich könnte es ändern‘, dachte Sophia kurz und hatte für den Bruchteil einer Sekunde den Impuls, ihn vielleicht doch mit der Zeitschrift …
Nein, aber sie könnte ihn auf den Vorsprung vor ihrem Fenster hinaussetzen und das Fenster schließen.
Doch das brachte sie nicht übers Herz.
„Und dieser scheiß Fetzen!“, fluchte er und zupfte am Taschentuch herum.
Sie entwickelte Mitleid für ihn. Entschlossen schob sie ihren Sessel ans Fenster und platzierte sich Vincent vis-a-vis, der sich auf die Fensterbrettkante setzte und seine Beine baumeln ließ.
„Hast du vielleicht etwas zu Trinken für mich?“, fragte er. „Ich hab tierisch Durst! Meinetwegen ‘n Schluck Wasser. Die Fassadenkletterei von deiner Nachbarin hier rüber war echt anstrengend! Allein an ihren Vorhängen hochzukommen! Gut, dass ich einigermaßen fit bin!“
„Einen ‚Schluck‘ Wasser?“ Sophia musste grinsen. „Du meinst wohl eher einen Tropfen.“
Ihr Blick schweifte durch den Raum. Ein winziges Trinkgefäß musste her! Sie konnte ihm ja schlecht ein Glas hinstellen. Selbst ein Schnapsglas war zu groß, wenn sie denn eins hätte. Dann fiel ihr Blick auf ihre Mineralwasserflasche. Der Verschluss! Der sollte den Zweck erfüllen!
Sie befüllte den Schraubdeckel mit etwas Wasser und stellte ihn neben Vincent auf das Fensterbrett, der ihn gierig mit beiden Händen hochnahm und zum Mund führte. In seinen Händen sah er aus wie ein Eimer. Er verschluckte sich und hustete.
„Keks?“, fragte Sophia und legte noch ein Stück Gebäck dazu.
„Riesenkuchen, meinst du wohl“, scherzte er und machte sich auch darüber her, zumindest über eine Ecke davon.
„Ok“, begann sie entschlossen, „du bist mir eine Erklärung schuldig, Vincent. Was ist das für ein ‚Fluch‘, der dich getroffen hat?“
Er starrte ein paar Sekunden vor sich ins Leere, so als überlegte er, wie er seine Geschichte plausibel verpacken könnte. Seine Augen landeten bei seiner Kleidung auf dem Boden. Anstelle einer Erklärung murmelte er: „Schön, dass du auch an meine Sneakers gedacht hast. Die waren nicht so leicht zu bekommen. Limited Edition.“
Dann blickte er zu ihr auf und atmete durch.
„Sophia…Es wird dir schwerfallen, mir zu glauben, aber guck mich an! Was auch immer du jetzt hören wirst …Es ist die Wahrheit, so wahr, wie ich hier so klein vor dir sitze und ein verdammtes Papiertaschentuch trage.“
Sophia war auf das Äußerste gespannt, doch er schien keine Worte zu finden.
„Was hat das mit diesem Fluch auf sich?“, hakte sie ungeduldig nach. „Und was hat deine Mutter damit zu tun?“
„Ich“, begann er zögerlich, „also ich bin der Kronprinz von Berlin, Prinz Viktor Philip der Erste. Der Name ist bekloppt, deshalb nenne ich mich Vincent. Wer will schon Viktor Philip heißen?!“
Sophia wiederholte ausdruckslos: „Kronprinz“, nur um ihm zu signalisieren, dass sie zuhörte. Sie betrachtete ihn, ohne eine Miene zu verziehen. Sie hatte gehört, was er behauptete, aber irgendwie drang es nicht in ihr Bewusstsein vor. „Und, äh, deine Mutter?“
Vincent zuckte mit den Schultern. „Naja, sie ist die Regentin. Sie hält sämtliche Geschicke dieser Stadt und den größten Teilen des Landes in ihren Händen.“
„Aha.“
Vincent erhob sich und ergänzte gestikulierend wie zum Nachdruck: „Hey, ehrlich: Sie ist mächtiger, als du dir jemals vorstellen könntest. Alles, wirklich alles in dieser Stadt und in diesem Land ist nicht so wie es scheint. Nichts ist so, wie du es kennst.“
Er machte eine Pause und beobachtete Sophias Reaktion.
Sie war überzeugt, es konnte nur ein Traum sein. Es musste ein Traum sein! Und bald würde sie aufwachen. Aber bis dahin wollte sie wissen, was er noch zu sagen hatte.
Sie wiederholte: „Du bist Kronprinz. Deine Mutter regiert Berlin und weite Teile Deutschlands.“
Er nickte und hob Schultern und Hände, als wollte er sagen: ‚So sieht’s aus. Ich kann nichts dafür.‘
Jetzt war sich Sophia sicher. Ein Traum! Nur ein Traum, nichts weiter. Zugegeben, ein ungewöhnlicher Traum. Aber es war zu interessant. Jetzt bloß nicht aus Versehen aufwachen!
Nur zur Sicherheit und um weiter mitzuspielen fragte sie amüsiert: „Soll ich dich mit ‚Majestät‘ ansprechen? Oder ‚Hoheit‘ oder so?“
„Quatsch!“, ereiferte er sich. „Alles, bloß das nicht! Für dich bin ich Vincent, ok?“
„Ok …“, stimmte sie zu. „Und deine Mutter? Zaubern kann sie auch, ja?“, fragte Sophia und unterdrückte ein Kichern.
Sichtlich genervt über diese Tatsache schnaubte er: „Mein Gott, ja! Siehst du doch! Aber keine Sorge: Ihre Zauberkraft reicht nur soweit es das selbe Blut betrifft. Und nach ‘ner Weile geht es wieder vorbei“
„Aber“, wollte sie einwenden, doch er unterbrach sie ungehalten: „Sie tickt eben nicht ganz richtig. Sie hat da immer diese Vorstellungen, wer was wie machen soll. Sie schiebt mir Steine in den Weg, wo sie kann. Jedes Mal, wenn ich nicht spure, lässt sie sich etwas einfallen, mich auszubremsen. Zum Henker, ich bin es so leid! Als könnte sie irgendwas damit bewirken!“
Sophia verstand nicht. „Aber was will sie denn bewirken?“
Er winkte ab. „Ach komm, frag nicht. Scheiß Heiratspläne und so. Wie im Mittelalter! Und fast immer, wenn ich ‘was mit ‘ner anderen Frau als der Auserwählten anfange, schießt sie eben dazwischen.“
„Und wer ist diese ‚Auserwählte‘?“, wollte Sophia neugierig wissen.
Er seufzte und guckte in die Ferne, so als sah er diejenige dort vor seinem inneren Auge auftauchen.
Kopfschüttelnd sagte er: „Eine Prinzessin. Sie ist ganz niedlich, aber Heiraten?! Ich kenne sie kaum, und sie ist noch ein Teenager.“
Der Arme, dachte Sophia. So eine Mutter wünschte man niemandem.
„Und dein Bruder?“, fragte sie.
„Wir sind zweieiige Zwillinge, Jo und ich. Also richtig Joachim. Er hatte Glück: Er ist bei unserer Geburt als Zweiter herausgeplumpst.“
Vincent trank einen weiteren Schluck Wasser und fuhr sich mit dem Handrücken über den Mund. „Er führt ein ruhiges Leben. Kann machen, was er will. Hatte freie Wahl, was seine Frau angeht. Wieso er sich ausgerechnet für die entschieden hat, weiß der Himmel, aber ok, wo die Liebe hinfällt… Und wieso er eine Gärtnerei führen muss, entzieht sich auch meinem gesunden Menschenverstand. Aber gut. Hauptsache, er ist glücklich!“
Wissbegierig entlockte Sophia ihm weitere Details und lauschte Kekse knabbernd seinen Schilderungen: von seiner Kindheit und wie er aufgewachsen war, in einem unterirdischen, geheimen Palast mit Angestellten und Privatlehrern. Er erzählte von seiner Erziehung und den Vorbereitungen auf die zukünftige Krone und all die Aufgaben, die er dann übernehmen sollte, wenn seine Mutter einmal nicht mehr war oder nicht mehr konnte. Wie zuvor seine Großmutter, die vor ein paar Jahren abgedankt hatte, weil ihr Gesundheitszustand das Regieren nicht mehr zuließ.
Ihr, seiner Großmutter sei im Übrigen der Fall der Mauer zu verdanken, behauptete Vincent ernsthaft, und Sophia nickte nur kauend und nuschelte: „Ja, klar…“
Ohne es zu bemerken hatte sie ihre Kekse fast aufgegessen.
„Du glaubst mir nicht, oder?“, unterstellte Vincent zu recht.
Er stellte klar, dass, was auch immer sie glaubte oder nicht, niemand etwas davon wissen durfte, und nur wenige Menschen eingeweiht wären, Sophia nun eingeschlossen.
Sie musste Stillschweigen wahren. Das sollte sie schwören.
Also schwor sie. Wem hätte sie auch davon erzählen sollen?
Und bald würde sie sowieso aufwachen.
Sie fuhr erschrocken zusammen, als es klingelte und spätestens hier hätte sie aus ihrem Traum aufwachen müssen. Aber nichts geschah. Vincent saß weiter auf dem Fensterbrett, und als es wiederholt klingelte, maulte er auffordernd: „Es hat geklingelt. Willst du vielleicht zur Tür gehen?“
Also stand sie schnell auf, um zu öffnen.
Vor ihrer Tür stand ein Bild von einem Mann, außer Atem, verschwitzt, als sei er gerannt, er wirkte gestresst, gejagt, aber ein Bild von einem Mann! Ihr Herz setzte für eine Sekunde aus.
Er flüsterte: „Ich bin Jo, Vincents Bruder. Bist du Sophia?“
Als sie wortlos nickte, schob er sich in ihre Wohnung und sagte leise: „Mach schnell zu!“
Er lehnte sich gegen die Wand, machte entschuldigend eine Einhalt gebietende Handbewegung, schloss die Augen und versuchte zu Atem zu kommen. Sophia starrte ihn schweigend an und wartete.
Schließlich warf er ihr einen Blick zu und lächelte sanft: „Ok, jetzt geht es wieder. Irgendjemand war hinter mir her. Es tut mir leid, dass du hier mit reingezogen wirst. Danke erstmal!“
Seine Manieren schienen auf alle Fälle besser als die seines Bruders zu sein.
Ein paar Sekunden blickte er in ihre Augen, als wollte er erkennen, was sie wohl über diese ganze Geschichte wusste und erkundigte sich vorsichtig: „Hat er dir etwas über uns erzählt?“
„Ein bisschen“, entgegnete sie.
Er nickte: „Ok. Wo ist er jetzt?“
Wortlos wies sie auf ihre offenstehende Wohnzimmertür.
Tief durchatmend ging Jo voraus und sah sich um. Als er seinen Bruder auf dem Fensterbrett ausmachte, brach er in schallendes Gelächter aus. Er lachte, dass ihm Tränen kamen und hielt sich seinen Bauch, krümmte sich und sank auf die Knie, direkt neben die Kleidungsstücke seines Bruders, von denen er einen Zipfel hochhob und sofort wieder losprusten musste. Er wischte sich die Tränen aus den Augenwinkeln und schüttelte feixend, schniefend und sich entschuldigend immer wieder den Kopf.
„Vince … Winzling …“, und ein weiterer Lachkrampf übermannte ihn. „Sorry, es tut mir leid.“
Seine Heiterkeit war so ansteckend, dass auch Sophia der ganzen Situation etwas Komisches abgewinnen konnte und unweigerlich kichern musste.
Und mit einem Mal erkannte und begriff sie, dass alles real war! Es war kein Traum! Das alles geschah tatsächlich und in Wirklichkeit!
Die Erkenntnis war beunruhigend und spannend zugleich.
Der Kronprinz verschränkte verärgert seine Arme, ließ die Häme über sich ergehen und wartete die Augen verdrehend ungeduldig ab, bis man sich beruhigt hatte.
Das dauerte eine Weile, aber dann wurde Jo plötzlich ernst: „Hey, wir müssen ganz schnell weg hier! Ich wurde verfolgt.“
„Schon wieder?“, fragte Vincent skeptisch.
„Ja, scheint so“, entgegnete Jo. „Ich habe eine paar Straßenecken weiter weg geparkt und versucht, mich durch die Hinterhöfe zu kämpfen. Ich weiß nicht, ob man mich hier reingehen gesehen hat.“
Sophia warf ihm einen alarmierten Blick zu. War es bis hierhin nicht beängstigend und verwirrend genug?!
Er versuchte, ein weiteres schadenfrohes Glucksen bei Vincents Anblick zu unterdrücken und fragte: „Sophia, hast du ‘was, wo wir seine Sachen reintun können? Wir müssen sofort los!“
Unschlüssig nickte sie und wankte in ihre Küche, um eine Tüte zu organisieren.
Als sie gemeinsam Vincents Sachen in der Tüte verstauten, verhandelte Jo leicht belustigt mit seinem Bruder: „Möchtest du auf meiner Schulter sitzen, Kleiner? Oder vielleicht packe ich dich doch lieber in meine Brusttasche?“
Ohne seine Meinung abzuwarten, schob er seinen Bruder kurzerhand in die Brusttasche seines Jacketts und sagte zu Sophia: „Es tut mir leid, aber du kannst nicht hierbleiben. Zu gefährlich! Ich muss dich bitten, mitzukommen.“
„Aber …“, wollte sie widersprechen, doch er legte seine Hand auf ihre Schulter und sagte mit Nachdruck: „Bitte. Ich habe keine Ahnung, wer oder was hinter mir oder uns her ist. Aber was immer es ist, es ist gefährlich! In deinem eigenen Interesse ist es besser, wenn du mit uns kommst.“
Da war etwas zutiefst Überzeugendes in seiner Stimme und in seinem eindringlichen Blick, so dass sie nicht weiter fragte oder zögerte und Jo nach draußen folgte.
Vincent schlug vor, mit seinem Wagen zu fahren, was Jo angesichts seiner mutmaßlichen Verfolgung für sinnvoll hielt.
Es wunderte Sophia kaum, dass es sich bei Vincents Auto um einen teuren Luxus-SUV handelte, in den sie einstiegen. Wahrscheinlich ebenfalls ‚Limited Edition‘…
„Setz mich auf dem Armaturenbrett ab!“, ordnete Vincent an. Sein Bruder wandte ein: „Aber, wenn ich beschleunige, fliegst du durch die ganze Karre.“
„Ja, ja“, gab Vincent gereizt und schroff von sich. „Mach einfach! Ich bin schon groß und kann mich festhalten.“
Jo schmunzelte: „Ja, groß. Vince-ling“, und stellte Vincent ab, indem er ihm mit seinem improvisierten Kleidungsstück behilflich war und an dem Taschentuch herumzupfte. „Mach das mal ordentlich! Wir haben eine Lady an Bord.“
„Nimm deine Flossen weg!“, schimpfte Vincent, machte es sich im Schneidersitz bequem und zuppelte alleine weiter. Jo grinste.
Sie fuhren los, einmal durch die halbe Stadt. Jo telefonierte mit seiner Mutter und kündigte ihr Erscheinen an.