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Die gefährliche Dienstreise des Kuriers des Zaren quer durch Russland: Der aus Sibirien stammende Offizier Michael Strogoff soll eine Depesche nach Irkutsk zum Bruder des Zaren bringen, um ihn zu warnen, dass sich Iwan Ogareff zusammen mit dem Tatarenfürsten an ihm rächen möchte. Inkognito als Tuchhändler Nikolaus Korpanoff macht er sich also auf die weite Reise. Doch bis er seinen Auftrag ausführen kann, muss er noch einige gefahrenreiche Hindernisse überwinden...-
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Seitenzahl: 521
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Jules Verne
Vollständige Ausgabe
Saga
Der Kurier des ZarenCoverbild/Illustration: Shutterstock Copyright © 1876, 2020 Jules Verne und SAGA Egmont All rights reserved ISBN: 9788726642896
1. Ebook-Auflage, 2020
Format: EPUB 3.0
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– a part of Egmont www.egmont.com
„Sire, ein neues Telegramm!“
„Woher?“
„Aus Tomsk.“
„Jenseits dieser Stadt sind die Drähte zerschnitten?“
„Seit gestern, jawohl.“
„Telegraphieren Sie alle Stunden nach Tomsk, General, ich wünsche, auf dem laufenden zu bleiben.“
„Zu Befehl, Sire,“ antwortete General Kissoff.
Diese Worte wurden um zwei Uhr morgens gewechselt, eben als das Fest im Neuen Palais auf den Höhepunkt seines Glanzes gelangt war. Während des Essens hatten ununterbrochen die Regimenter Preobraschensky und Pawlowsky gespielt: Polkas, Masurkas, schottische Tänze — ihre besten Musikstücke. Unzählbar schienen die Tänzer und Tänzerinnen, wie sie dahinschwebten durch die prunkvollen Säle dieses Palastes, der nur wenige Schritte entfernt lag vom alten Steinbau, wo dereinst so viele Schreckensdramen sich abgespielt hatten, deren Echo in dieser Nacht aus den Motiven von Quadrillen herauszutönen schien.
Der Oberhofmeister fand übrigens in seinen heiklen Obliegenheiten treffliche Unterstützung. Die Grossfürsten und ihre Adjutanten, die Kammerherren vom Dienst, die Schlossoffiziere leiteten selbst die Anordnung der Tänze. Die Grossfürstinnen, mit Diamanten übersät, und die Hofdamen, in Galakleidern, gingen den Frauen der hohen Militär- und Zivilbeamten aus der alten „Stadt der weissen Steine“ mit gutem Beispiel voran. Als daher das Zeichen zur Polonaise ertönte, als die Hofgäste jedes Ranges an diesem rhythmischen Rundgang teilnahmen, der bei derartigen Feierlichkeiten die hohe Bedeutung eines Nationtltanzes hat — da bot das Durcheinander der langen Spitzenroben und der mit Orden geschmückten Uniformen unter dem Licht von hundert Kronleuchtern, das die rückstrahlenden Spiegel noch vervielfältigten, ein unbeschreibliches Bild, eine blendende Augenweide. Es war ein Meer von Glanz und Prunk. Der grosse Saal, der schönste von allen, die das Neue Palais besass, war für diesen Aufzug von prunkvoll herausgeputzten Herren und Damen ein seines Glanzes würdiger Rahmen. Die reiche Deckenwölbung mit den schweren Vergoldungen, die schon etwas blind waren vom Rost der Zeit, erschien mit ihren einzelnen leuchtenden Flecken wie gestirnt. Die Brokatstoffe der Vorhänge und Portieren, die in stolzen Falten herniederfielen, waren von tiefem Purpur, der nur da, wo der schwere Stoff zu Ecken sich knickte, leuchtender erstrahlte. Die hohen, grossen Bogenfenster trübten nur wenig das Licht, das die Säle durchflutete, und es drang nach aussen wie der Widerschein einer Feuersbrunst, grell die Nacht durchstrahlend, die schon seit Stunden diesen flimmernden Palast finster umhüllte. Dieser Kontrast fiel auch wirklich denjenigen der Gäste auf, die nicht bloss für das Tanzen schwärmten. Wenn sie dann und wann an den Fensterkreuzen stehenblieben, konnten sie hier und dort im Dunkel der Nacht die Schattenrisse von Türmen sehen. Unter den mit Bildhauerarbeit verzierten Balkonen sahen sie zahlreiche Posten, die schweigend hin- und hergingen, das Gewehr auf die Schulter gelegt. Im Schein des nach aussen strahlenden Lichtes blitzte die Spitze des Helms hin und wieder flüchtig auf. Sie hörten auch die Patrouillen, die in abgerissenem Takt über die Steinfliesen stampften und die Beine jedenfalls korrekter aufsetzten als die Tänzer auf dem Parkett des Saales. Von Zeit zu Zeit erklang ein Ruf, der sich von Posten zu Posten fortpflanzte, und bisweilen übertönten die Klänge des Orchesters einen Trompetenstoss, dessen heller Ton in die allgemeine Harmonie hineinschmetterte. Noch tiefer, vor der Fassade, zeichneten sich in den Lichtstreifen, die von den Fenstern des Neuen Palais ausgingen, düstere Massen ab. Das waren Boote, die den Lauf eines Flusses hinabglitten, dessen Wasser, vor dem flimmernden Licht mehrerer Leuchtfeuer erhellt, die äussersten Grundquadern der Terrassen bespülte.
Die Hauptperson des Balles — der Mann, der dieses Fest veranstaltete und den General Kissoff mit einem den Untertanen zukommenden Titel angeredet hatte — trug die schlichte Uniform eines Offiziers der Gardejäger. Das war keine absichtlich zur Schau getragene Einfachheit seinerseits, sondern lediglich die Gewohnheit eines Mannes, der für Prunk und Pomp nicht viel übrig hatte. So stand seine Erscheinung auch in scharfem Gegensatz zu den prächtigen Kostümen, die ihn bunt umgaben, und ebenso zeigte er sich auch in der Regel inmitten seiner Leibgarde von Georgiern, Kosaken und Lesghiern, der prächtigen Schwadronen, die die prunkvollen Uniformen vom Kaukasus trugen. Diese hochgewachsene Person mit leutseliger Miene, ruhigem Gesichtsausdruck und doch sorgenvoller Stirn ging von einer Gruppe zur anderen, sprach aber wenig. Den launigen Worten junger Gäste oder den ernsteren Worten hoher Beamten oder der Mitglieder des diplomatischen Korps, die am Hofe die Hauptstaaten Europas vertraten, schien er nur wenig Aufmerksamkeit zu schenken. Einige dieser scharfsinnigen Politiker — geborene Physiognomiker — hatten auf dem Antlitz ihres Gastgebers einige Anzeichen von Unruhe wahrzunehmen geglaubt, über deren Ursache sie jedoch nichts erfuhren. Jedenfalls war es der Wille des Offiziers der Gardejäger, dass seine geheimen Besorgnisse dieses Fest in keiner Weise beeinträchtigen sollten, und da er zu den seltenen Fürsten zählte, denen — selbst in Gedanken — eine ganze Welt zu gehorchen gewohnt war, so erlitt die Ballfestlichkeit keinen Augenblick Störung.
Inzwischen wartete General Kissoff, dass der Offizier, dem er das von Tomsk gesandte Telegramm übermittelt hatte, ihm den Befehl zum Gehen erteilen würde, dieser jedoch verharrte schweigend. Er hatte das Telegramm genommen und gelesen, und seine Stirn verdüsterte sich noch mehr. Die Hand fuhr unwillkürlich nach dem Griff des Degens und hob sich dann nach den Augen, die sie ein Weilchen bedeckte. Man hätte meinen mögen, das grelle Licht blende ihn und er suche das Dunkel, um besser in sein Inneres schauen zu können.
„Also“, sagte er, nachdem er General Kissoff in eine Fensternische geführt hatte, „seit gestern sind wir ohne Verbindung mit meinem Bruder, dem Grossfürsten?“
„Ohne Verbindung, Sire, und es ist zu befürchten, dass die Telegramme bald nicht mehr über die sibirische Grenze hinüberkommen werden.“
„Aber die Truppen der Provinzen Amur und Jakutsk sowie von Transbaikalien haben doch Befehl erhalten, unverzüglich auf Irkutsk zu marschieren?“
„Dieser Befehl ist gegeben worden in dem letzten Telegramm, das über den Baikalsee hinaus befördert werden konnte.“
„Aber mit den Bezirken Jenisseisk, Omsk, Semipalatinsk und Tobolsk stehen wir doch noch immer in direkter Verbindung seit dem Beginn des Einfalls?“
„Jawohl, Sire, dorthin gelangen unsere Telegramme noch, und wir haben bis zur Stunde die Gewissheit, dass die Tataren noch nicht über den Irtysch und Obi hinaus vorgedrungen sind.“
„Und über den Verräter Iwan Ogareff liegt noch keine Nachricht vor?“
„Noch keine,“ antwortete General Kissoff. „Der Polizeidirektor kann nicht bestimmt sagen, ob er die Grenze überschritten hat oder nicht.“
„Sein Signalement soll sofort nach Nischni-Nowgorod, Perm, Jekaterinburg, Kassimoff, Tjumen, Ischim, Omsk, Jelamsk, Koliwan, Tomsk und allen Telegraphenplätzen gesandt werden, mit denen noch Verbindung besteht.“
„Die Befehle Eurer Majestät sollen augenblicklich befolgt werden,“ antwortete General Kissoff.
„Stillschweigen über dies alles!“
Nach einer Gebärde ehrfurchtsvoller Anhänglichkeit verneigte sich der General, mischte sich noch zunächst in die Menge und verliess dann die Säle, ohne dass sein Verschwinden aufgefallen wäre. Der Offizier blieb noch ein Weilchen träumerisch stehen, und als er wieder unter verschiedene Gruppen von Militärs und Politikern trat, die sich an verschiedenen Stellen in den Sälen gebildet hatten, war sein Angesicht so ruhig wie zuvor.
Inzwischen war der schwerwiegende Umstand, der diese rasch gewechselten Worte verursacht hatte, nicht so unbekannt, wie der Offizier der Gardejäger und General Kissoff es glauben konnten. Man sprach nicht offiziell davon, allerdings, nicht einmal offiziös, da der Gegenstand noch nicht auf allerhöchsten Befehl freigegeben war, aber einige hohe Personen waren mehr oder minder genau über die Ereignisse unterrichtet, die sich jenseits der Grenze vollzogen. Was sie vielleicht nur vom Hörensagen wussten, worüber sich nicht einmal die Mitglieder des diplomatischen Korps besprachen, darüber unterhielten sich jedenfalls zwei Gäste, an denen keine Uniform und keine Auszeichnung verriet, woraufhin sie im Neuen Palais empfangen worden waren, mit leiser Stimme und schienen ziemlich genaue Auskunft zu besitzen. Auf welchem Wege oder durch welchen Zwischenhandel hatten diese einfachen Sterblichen erfahren, was so viele weit bedeutendere Persönlichkeiten kaum vermuteten? Das liess sich nicht sagen. Beruhte es bei ihnen auf einer Gabe der Vorahnung oder Voraussicht? Besassen sie einen Sinn mehr, der sie befähigte, über den begrenzten Horizont hinauszublicken, auf den jeder menschliche Blick beschränkt ist? Hatten sie eine besondere Witterung, um die geheimsten Neuigkeiten aufzuspüren? Dank der bei ihnen zur zweiten Natur gewordenen Gewohnheit, von der Erkundigung und durch die Erkundigung zu leben, hatte ihre Natur sich vielleicht in dieser Weise umgeformt. Man wäre versucht gewesen, dies zuzugeben.
Von diesen zwei Männern war der eine ein Engländer, der andere ein Franzose, beide gross und mager, dieser braun wie die Leute aus der Provence, jener rot wie einer aus Lancashire. Abgemessen, kalt, phlegmatisch, sparsam mit Worten und Gebärden, schien der Anglo-Normanne nur zu sprechen oder zu gestikulieren auf die Wirkung einer Feder hin, die in bestimmten Zwischenzeiten in Tätigkeit trat. Dagegen war der Gallo-Romane lebhaft und ungestüm, redete zugleich mit Lippen, Augen und Händen und hatte zwanzig Arten, seine Gedanken wiederzugeben, während sein Widerpart nur eine einzige unlösbar in seinem Gehirn versteifte Methode besass. Diese physischen Verschiedenheiten hätten leicht auch dem ungeübtesten Menschenbeobachter auffallen müssen; aber wenn ein Physiognomiker diese beiden Fremden aus der Nähe betrachtet hätte, so würde er wohl den physiologischen Unterschied, der sie charakterisierte; mit den Worten ausgedrückt haben, dass der Franzose „ganz Auge“, der Engländer „ganz Ohr“ wäre. In der Tat hatte sich der Gesichtssinn des einen durch den Gebrauch eigentümlich vervollkommnet, die Empfindlichkeit seiner Netzhaut war ebenso gewandt in Augenblickswahrnehmungen wie die eines Taschenspielers, der eine Karte beim Schlag des schnellsten Mischens oder lediglich an einem, jedem anderen nicht wahrnehmbaren Merkmal erkennt. Der Franzose besass also im höchsten Grade, was man das, „Gedächtnis des Auges“ nennt. Der Engländer dagegen schien besonders geschaffen für das Lauschen und Hören. Wenn der Klang der Stimme einmal sein Ohr getroffen hatte, dann konnte er sie nicht wieder vergessen, und nach zehn, zwanzig Jahren hätte er sie unter Tausenden wieder herausgekannt. Seine Ohren waren freilich nicht beweglich wie die der Tiere, die mit grossen „Hörlöffeln“ ausgestattet sind; aber wenn die Gelehrten festgestellt haben, dass die menschlichen Ohren immerhin eine gewisse Beweglichkeit haben, so hätte man mit Recht behaupten können, dass die des besagten Engländers sich aufzurichten, zu verdrehen und zu neigen suchten, um in einer auch für den Naturwissenschaftler kaum auffälligen Weise die Töne zu erhaschen. Es darf bemerkt werden, dass diese Vervollkommnung des Gesichts und des Gehörs den beiden Männern in ihrem Beruf von grossem Nutzen war; denn der Engländer war Berichterstatter für den Daily-Telegraph und der Franzose Berichterstatter für den . . ., welcher Zeitung oder welcher Zeitungen, das sagte er nicht, und wenn man ihn fragte, antwortete er launig, er korrespondiere mit seiner „Cousine Madeleine“. Im Grunde war dieser Franzosn bei aller Ungezwungenheit seines Äusseren sehr scharfsinnig und höchst klug. Wenn er vom hundertsten ins tausendste schwatzte — vielleicht nur, um sein Verlangen, etwas zu erfahren, besser zu verbergen — so verriet er sich doch nie. Seine Geschwätzigkeit diente ihm vielmehr zum Schweigen, und er war vielleicht verschlossener und verschwiegener als sein Kollege vom Daily-Telegraph.
Wenn diese beiden nem Fest im Neuen Palais in der Nacht vom 15. zum 16. Juli beiwohnten, so geschah es in ihrer Eigenschaft als Journalisten und zur grössten Erbauung ihrer Leser. Es braucht nicht besonders betont zu werden, dass diese beiden Männer ihrer Mission auf dieser Welt leidenschaftlich zugetan waren, dass sie sich mit Vorliebe wie Spürhunde auf die Suche nach den unerwartetsten Neuigkeiten, begaben, dass nichts sie zurückschreckte oder vom Erfolge abbrachte, dass sie die ganze unerschütterliche Kaltblütigkeit und den wahren. Mut der Berufsjournalisten besassen. Wahre Jockeis in dieser Schnitzeljagd, in dieser Jagd nach Nachrichten, setzten sie über Hecken, nahmen die Flüsse und sprangen über die Hürden mit dem unvergleichlichen Feuer der echten Vollblutpferde, die lieber sterben, als dass sie nicht als „gute Erste“ einlaufen. Übrigens hielten ihre Zeitungen sie auch nicht knapp an Geld — dem sichersten, schnellsten und vollkommensten Mittel, etwas zu erfahren, das man bis heutigentags kennt. Auch muss — und zwar zu ihrer Ehre — hinzugefügt werden, dass sie niemals über die Mauern des Privatlebens hinweg horchten oder spähten, und dass sie nur da tätig waren, wo politische oder soziale Belange im Spiel waren. Mit einem Wort, sie besorgten, um einen seit einigen Jahren üblichen Ausdruck zu gebrauchen, „die Hauptberichte über Politik und Wehrmacht“. Man wird jedoch, wenn man sie näher beobachtet, erkennen, dass sie in der Regel eine eigentümliche Art hatten, die Tatsachen und vor allem ihre Folgen anzusehen, da ein jeder sein ganz besonderes Verfahren hatte, zu betrachten und zu beurteilen. Da sie jedoch immer den Grundsatz hegten, „leben und leben lassen“, und bei keiner Gelegenheit sich knauserig zeigten, so dürfte man unrecht tun, ihnen daraus einen Vorwurf zu machen. Der französische Berichterstatter hiess Alcide Jolivet, der Name des englischen war Harry Blount. Sie hatten sich zum erstenmal getroffen auf dieser Feierlichkeit im Neuen Palais, über die in ihrem Blatte zu berichten sie beauftragt worden waren. Die Verschiedenheit ihrer Charaktere und ein gewisser Berufsneid waren Grund, dass sie einander wenig sympathisch waren. Indessen gingen sie sich nicht aus dem Wege, im Gegenteil, sie suchten einander, um sich gegenseitig über die Neuigkeiten des Abends auszuforschen. Es waren eben zwei Jäger, die auf dem gleichen Revier, im gleichen Bannforst jagten. Was der eine fehlte, konnte vom anderen vorteilhaft abgeschossen werden, und ihr eigenes Interesse verlangte, dass sie in Seh- und Hörweite voneinander verblieben.
An diesem Abend waren sie also beide auf dem Anstand. Es lag wirklich etwas in der Luft. „Wenn es auch bloss ein Schwarm Enten sein sollte,“ sprach Alcide Jolivet bei sich, „einen Büchsenschuss lohnt es schon.“
Die beiden Berichterstatter wurden also während des Balles, kurze Zeit nach General Kissoffs Weggang, in Gespräch miteinander geführt und führten es zunächst behutsam und vorsichtig.
„Das muss man sagen, mein Herr, diese kleine Festlichkeit ist ganz allerliebst,“ sagte mit verbindlichster Miene Alcide Jolivet, der durch diese echt, französische Redensart die Unterhaltung eröffnen zu sollen meinte.
„Ich habe schon gedrahtet: splendid!“ versetzte kühl Harry Blount, indem er jenes Wort gebrauchte, das beim Bürger des Vereinigten Königreichs als Ausdruck jeglicher Bewunderung den Anstrich besonderer Weihe hat.
„Indessen meinte ich,“ setzte Alcide Jolivet seinen vorigen Worten hinzu, „zur selben Zeit meiner Cousine schreiben zu —“
„Ihrer Cousine?“ wiederholte Harry Blount mit Erstaunen, seinem Kollegen ins Wort fallend.
„Jawohl,“ versetzte Alcide Jolivet, „meiner Cousine Madeleine. Ich stehe nämlich mit ihr in Briefwechsel; sie ist gern schnell und genau unterrichtet, meine Cousine. Deshalb meinte ich ihr mitteilen zu sollen, dass es während dieser Festlichkeit den Anschein habe, als zöge ein finsterer Schatten über die Stirn des Landesherrn.“
„Mir aber ist es vorgekommen, als sei dies kein Schatten, sondern ein Sonnenstrahl gewesen,“ erwiderte Harry Blount, der vielleicht seine Gedanken über diesen Fall verschleiern wollte.
„Und selbstverständlich haben Sie auch ,Sonnenstrahl‘ in die Spalten des ,Telegraph‘ setzen lassen!“
„Ganz, wie Sie sagen.“
„Besinnen Sie sich noch darauf, Herr Blount,“ fragte Alcide Jolivet, was sich Anno 1812 in Zakret ereignete?“
„Als ob ich dabei gewesen wäre, mein Herr,“ antwortete der englische Berichterstatter.
„Dann wissen Sie auch,“ erwiderte Alcide Jolivet, „dass mitten in einem dem Zaren Alexander zu Ehren veranstalteten Fest ihm mitgeteilt wurde, Napoleon habe soeben mit der französischen Vorhut den Njemen überschritten. Der Zar verliess jedoch das Fest nicht, und trotz der ausserordentlichen Wichtigkeit einer Nachricht, die ihm sein Reich kosten konnte, liess er keine Spur von Beunruhigung merken . . .“
„. . . die auch auf seiten unseres Gastgebers nicht zu bemerken war, als ihm General Kissoff mitteilte, die Telegraphendrähte seien soeben zwischen der Grenze und dem Regierungsbezirk Irkutsk zerschnitten worden.“
„Ach! Dieser besondere Vorfall ist Ihnen bekannt?“
„Er ist mit bekannt.“
„Was mich angeht, möchte es freilich seine Schwierigkeit haben, nichts davon zu wissen, denn mein letztes Telegramm ist bis Udinsk gelangt,“ bemerkte mit gewisser Genugtuung Alcide Jolivet.
„Das meinige bloss bis Krasnojarsk,“ erwiderte Harry Blount in einem Ton, aus dem kein geringeres Mass von Genugtuung klang.
„Dann wissen Sie auch, dass schon Befehle an die Truppen von Nikolajewsk ergangen sind?“
„Jawohl, mein Herr, und zwar gleichzeitig mit dem Telegramm an den Regierungsbezirk Tobolsk, die Kosakenregimenter zusammenzuziehen.“
„Stimmt wie eine böhmische Orgel, Herr Blount. Diese Massnahmen sind mir gleichfalls bekannt geworden — Sie dürfen mir schon glauben, dass meine liebenswürdige Cousine morgen verschiedenes davon erfahren wird.“
„Genau so, wie es auch den Lesern des Daily-Telegraph bekannt sein wird, Herr Jolivet.“
„Ja, sehen Sie, wenn man für alles Augen hat, was vorgeht . . .“
„Und Ohren für alles, was gesprochen wird . . .“
„Wird einen interessanten Feldzug geben, Herr Blount.“
„Den ich mir nicht entgehen lassen werde, Herr Jolivet.“
„Dann kann es ja der Fall sein, dass wir uns auf einem Boden wiedertreffen werden, der wesentlich weniger Sicherheit aufweist als das Parkett dieses Saales.“
„Weniger Sicherheit schon, aber —“
„— aber auch weniger Glätte,“ versetzte lachend Alcide Jolivet und fasste seinen Kameraden noch gerade rechtzeitig, als er beim Kehrtmachen das Gleichgewicht zu verlieren drohte. Hierauf trennten sich die beiden Berichterstatter, im grossen und ganzen recht zufrieden, dass keiner dem anderen vorausgeeilt war. Tatsächlich waren sie einander wert.
Im selben Augenblick taten sich die Türen der mit dem grossen Saal zusammenhängenden Gemächer auf. Dort standen mehrere grosse Tafeln, herrlich gedeckt und verschwenderisch mit kostbarem Porzellan und goldenen Geschirr beladen. Auf der mittleren Tafel, sie für die Fürstlichkeiten und für die Mitglieder des diplomatischen Korps bestimmt war, strahlte ein Tafelaufsatz von unschätzbarem Wert, der aus Londoner Werkstätten stammte, und um dieses Meisterwerk der Goldschmiedekunst funkelten unter dem Lichtfeuer der Kronleuchter die tausenderlei Bestandteile des herrlichsten Services, das je seinen Weg aus der Porzellanmanufaktur von Sèvres gefunden hat.
Die Gäste des Neuen Palais begannen nun sich nach den Sälen zu verfügen, wo zum Essen gedeckt war. In diesem Augenblick trat General Kissoff, der eben wieder eingetreten war, rasch zu dem Offizier der Gardejäger. „Nun?“ fragte ihn dieser lebhaft, ganz wie er es zum erstenmal gemacht hatte.
„Weiter als bis Tomsk laufen die Telegramme nicht mehr, Sire.“
„Auf der Stelle einen Kurier!“
Der Offizier verliess den grossen Saal, um in ein anstossendes geräumiges Gemach zu treten. Es war ein Arbeitskabinett, sehr schlicht mit altem Eichenmobiliar ausgestattet und auf der Eckseite des Neuen Palais gelegen. Einige Gemälde, darunter mehrere mit Horace Vernet gezeichnete Ölbilder, hingen an der Wand. Der Offizier riss das Fenster auf, als wenn es seinen Lungen an Sauerstoff gefehlt hätte, und schlürfte auf einem grossen und breiten Balkon die reine, klare Luft einer herrlichen Julinacht ein. Unter seinen Augen dehnte sich, in Mondschein gebadet, ein befestigter. Wall, in dessen Bereich sich zwei Kathedralen, drei Paläste und ein Arsenal erhoben. Um diesen Wall herum dehnten sich drei scharf unterschiedene Städte: Kitaj-Gorod, Hjeloj-Gorod und Semljanoj-Gorod, ungeheure Stadtviertel europäischen, tatarischen und chinesischen Charakters, überragt von Spitz- und Glockentürmen und Minaretts, von den Kuppeln von 300 Kirchen, von grünen Domen, auf deren Spitzen silberne Kreuze strahlten. In einem kleinen Fluss mit gewundenem Lauf spiegelte sich das Mondlicht wider. Dieses ganze Bild stellte ein merkwürdiges Mosaik aus buntscheckigen Häusern dar, die sich in einem mächtigen Rahmen von zehn Meilen im Umfang eingefasst fanden. Dieser Fluss war die Moskwa, diese Stadt war Moskau, dieser befestigte Wall war der Kreml und der Offizier der Gardejäger, der mit übereinandergeschlagenen Armen, mit träumerischer Stirn dem von dem Neuen Palais über die alte Moskowitenstadt zitternden Lärm flüchtig lauschte, war der Zar.
Wenn der Zar so unvermutet — in dem Augenblick, als das Fest, das er den Zivil- und Militärbehörden und hervorragenden Persönlichkeiten von Moskau gab, in seinem vollen Glanz stand — sich aus den Sälen des Neuen Palais entfernte, so war der Grund dafür in dem Umstand zu suchen, dass sich jenseits der Grenzen des Urals zur Zeit sehr ernste Ereignisse abspielten. Es liess sich nicht mehr daran zweifeln, dass ein feindlicher Einfall dem russischen Zepter die sibirischen Provinzen zu entreissen drohte. Das asiatische Russland oder Sibirien bedeckt eine Oberfläche von 560 000 Meilen und zählt ungefähr zwei Millionen Einwohner. Es erstreckt sich vom Uralgebirge, das Russland von Europa scheidet, bis zu den Küsten des Stillen Ozeans. Im Süden wird es von Turkestan und China, stellenweis freilich in ziemlich unbestimmter Weise, begrenzt, und im Norden erstreckt sich, vom Karischen Meer bis zur Beringstrasse, das Eismeer. Das asiatische Russland war in Gouvernements oder Provinzen geteilt, und zwar in die von Tobolsk, Jenisseisk, Irkutsk, Omsk und Jakutsk; es umfasste zwei Distrikte, die von Ochotsk und von Kamtschatka, und besass zwei Landbereiche, die auch der moskowitischen Herrschaft unterworfen waren: die Kirgisensteppe und das Tschuktschenland. Dieses ungeheuer grosse Steppengebiet, das von Westen nach Osten über 110 Grade in sich einschliesst, war zugleich Deportationsstätte für Verbrecher und Verbannungsstätte für solche Personen, über die Landesverweis verhängt worden war.
Zwei Generalgouverneure waren die Vertreter höchster Zarengewalt in diesem weiten Landgebiet. Einer von ihnen residierte in Irkutsk, der Hauptstadt des östlichen Sibirien, der andere in Tobolsk, der Hauptstadt des westlichen Sibirien. Der Tschuma, ein Nebenfluss des Jenissei, scheidet beide Sibirien. Noch zog keine Eisenbahn ihren Strang durch diese unermesslichen Flächen, unter denen sich Gebiete von tatsächlich erstaunlicher Fruchtbarkeit befinden. Noch schaffte kein Förderwagen auf eiserner Schiene Riesenschätze aus den Bergwerken, die auf weite Strecken hin den sibirischen Boden reicher unter als auf seiner Oberfläche machen. Des Sommers reiste man dort im Tarantass oder in der Telega, des Winters im Schlitten. Eine einzige Verbindung, aber eine elektrische, bestand zwischen der West- und Ostgrenze Sibiriens, nämlich ein Draht von über 8000 Werst Länge (8536 Kilometer). Jenseits des Uralgebirges lief er durch Jekaterinburg, Kassimow, Tjumen, Ischim, Omsk, Jelamsk, Kolywan, Tomsk, Krasnojarsk, Nischni-Udinsk, Irkutsk, Werkne-Nertschinsk, Strelinsk, Albasin, Blagowstensk, Radde, Orlowskaja, Alexandrowskoj, Nikolajewsk. Für jedes bis an seinen Endpunkt laufende Wort mussten 6 Rubel und 19 Kopeken bezahlt werden. Von Irkutsk zweigte sich ein Sonderdraht ab nach Kjachta an der mongolischen Grenze, und von da, zu 30 Kopeken das Wort, schaffte die Post die Telegramme in 14 Tagen nach Peking. Dieser Draht von Jekaterinburg nach Nikolajewsk war es, der zuerst vor Tomsk und einige Stunden nachher zwischen Tomsk und Kolywan zerschnitten worden war — und darum hatte der Zar nach General Kissoffs zweiter Meldung bloss mit den Worten: „Auf der Stelle einen Kurier!“ geantwortet.
Der Zar stand seit einiger Zeit schon unbeweglich am Fenster seines Kabinetts, als die Pförtner von neuem die Tür öffneten. Der erste Chef der Polizei erschien auf der Schwelle. „Tritt ein, General,“ sprach der Zar kurz, „und sage mir alles, was du von Iwan Ogareff weisst!“
„Es ist ein äusserst gefährlicher Mensch, Sire,“ antwortete der erste Chef der Polizei.
„Er stand im Oberstenrang?“
„Zu Befehl, Sire!“
„War ein intelligenter Offizier?“
„Höchst intelligent, aber jeder Unterordnung abhold und von einem zügellosen Ehrgeiz, der vor nichts zurückschreckte. Er hat sich sehr bald in geheime Intrigen gestürzt, und auf Grund dessen ist er durch Seine Hoheit den Grossfürsten entlassen, dann nach Sibirien verbannt worden.“
„Zu welcher Zeit?“
„Vor zwei Jahren. Nach sechsmonatiger Verbannung wurde er durch Eure Majestät begnadigt und kehrte nach Russland zurück.“
„Und seit dieser Zeit ist er nicht wieder nach Sibirien gekommen?“
„Doch, Sire, diesmal jedoch freiwillig,“ versetzte der erste Chef der Polizei. Dann setzte er mit leicht gesenkter Stimme hinzu: „Es gab eine Zeit, Sire, wo man aus Sibirien nicht zurückkehrte, wenn man den Weg dahin gefunden hatte.“
„Nun, solange ich lebe, ist Sibirien ein Land und wird ein Land bleiben, aus dem man wiederkehrt!“
Der Zar war berechtigt, diese Worte mit wahrhafter Hoheit zu sprechen, denn er hatte durch seine Milde oft bewiesen, dass die russische Justiz auch Gnade kannte. Der erste Chef der Polizei gab keine Erwiderung, aber dass er kein Freund halber Massregeln war, war klar. Seiner Meinung nach sollte kein Mensch, der zwischen Gendarmen das Uralgebirge überschritten hatte, jemals den Fuss wieder rückwärts setzen. Solcher Grundsatz galt nun aber unter dem neuen Regiment nicht mehr, und das beklagte der erste Chef der Polizei aufrichtig. Wie? Keine Verbannung auf Lebenszeit mehr für andere Verbrechen als solche gegen gemeines Recht? Wie? Politische Verbannte kamen aus Tobolsk, Jakutsk, Irkutsk wieder? Fürwahr, diesem ersten Chef der Polizei, der an die selbstherrlichen Entscheidungen, die von Gnade nie etwas wussten, sattsam gewöhnt war, konnte solche Herrscherweise nicht behagen. Aber er schwieg, denn er wartete auf neue Fragen aus dem Munde des Zaren. Diese liessen auch nicht lange auf sich warten.
„Iwan Ogareff“, fragte der Zar, „ist zum zweiten Male nicht wieder nach Russland zurückgekehrt nach dieser Reise in die sibirischen Provinzen, über deren eigentlichen Zweck nichts bekannt geworden ist?“
„Er ist nach Russland zurückgekehrt.“
„Und seit seiner Rückkehr hat die Polizei seine Spuren verloren?“
„Nein, Sire, denn ein Verbannter wird wirklich gefährlich erst vom Tage seiner Begnadigung an.“
Des Zaren Stirn zog sich einen Augenblick in Falten. Vielleicht durfte der erste Chef der Polizei fürchten, zu weit gegangen zu sein — trotzdem die Verbohrtheit in seine Ideen in keiner Weise der grenzenlosen Hingabe, die er gegen seinen Herrn im Herzen trug, Abbruch tat. Aber der Zar, für dergleichen verblümte Vorwürfe gegen seine innere Politik nicht zugänglich, setzte die Reihe seiner Fragen kurz und bündig fort.
„Wo hielt sich Iwan Ogareff zuletzt auf?“
„Im Gouvernement Perm.“
„In welcher Stadt?“
„In Perm selbst.“
„Was trieb er dort?“
„Dem Anschein nach war er ohne Arbeit, und seine Aufführung gab zu Verdacht keinen Anlass.“
„Unter Polizeiaufsicht stand er nicht?“
„Nein, Sire.“
„Zu welcher Zeit hat er Perm verlassen?“
„Etwa im März.“
„Um sich wohin zu begeben?“
„Das ist nicht bekannt.“
„Und seitdem weiss niemand, was aus ihm geworden ist?“
„Niemand.“
„Nun, ich weiss es!“ antwortete der Zar. „Nachrichten, Winke, ohne Unterschrift, die den Weg nicht durch die Polizeibüros genommen haben, sind an mich gerichtet worden, und in Anbetracht der Dinge, die jetzt jenseits der Grenze vorgehen, habe ich allen Grund zu glauben, dass diese Nachrichten genau sind.“
„Ist der Sinn dieser Worte, Sire,“ rief der erste Chef der Polizei, „dass Iwan Ogareff die Hand bei diesem Einfall von Tataren im Spiel hat?“
„Jawohl, General, und ich will dir, was dir nicht bekannt ist, sagen. Iwan Ogareff hat, nachdem er dem Gouvernement von Perm den Rücken gewandt, das Uralgebirge überstiegen, hat sich nach Sibirien in die Kirgisensteppen begeben und hat dort, nicht ohne Erfolg, die nomadischen Völker aufzuwiegeln versucht. Er ist dann weiter nach Süden gegangen, bis hinunter ins freie Turkestan. Dort hat er in den Khanaten von Bochara, Khokhand und Kundus Häuptlinge willig gefunden, ihre tatarischen Horden in die sibirischen Provinzen zu werfen und in ganz Asien einen gemeinsamen Aufstand gegen das russische Reich zu entflammen. Die Bewegung ist im geheimen genährt worden, aber sie ist wie ein Blitzschlag hereingebrochen, und jetzt sind die Verbindungswege und Verkehrsmittel zwischen West- und Ostsibirien abgeschnitten. Zudem will Iwan Ogareff, von Rachedurst getrieben, sich an dem Leben meines Bruders vergreifen.“
Der Zar war warm geworden beim Reben und ging mit grossen Schritten auf und ab. Der erste Chef der Polizei gab keine Antwort, aber abseits für sich sprach er, dass damals, als die russischen Zaren gegen einen Verbannten niemals Gnade walten liessen, solche Pläne wie diejenigen Iwan Ogareffs niemals hätten zur Ausführung kommen können. Ein paar Minuten lang herrschte Schweigen. Dann trat der erste Chef der Polizei zu dem Zaren, der sich in einen Sessel geworfen hatte, und sagte: „Majestät haben zweifellos Befehle erteilt, dass dieser Aufstand schleunigst unterdrückt werde?“
„Ja,“ versetzte der Zar. „Das letzte Telegramm, das nach Nischni-Udinsk gelangen konnte, hat die Truppen der Gouvernements Jenisseisk, Irkutsk, Jakutsk, auch die der Provinzen Amur und vom Baikalsee alarmieren müssen. Gleichzeitig marschieren die Regimenter von Perm und Nischni-Nowgorod und die Grenzkosaken in Gewaltmärschen nach dem Uralgebirge. Leider werden sie aber mehrere Wochen Zeit brauchen, ehe sie sich den Kolonnen der Tataren werden gegenüberstellen können.“
„Und der Bruder Eurer Majestät, der Grossfürst, der zur Zeit im Gouvernement Irkutsk eingeschlossen ist, hat mit Moskau keine Verbindung mehr?“
„Nein.“
„Aber aus den letzten Telegrammen muss ihm doch bekannt sein, welche Massregeln von Eurer Majestät getroffen worden sind, und welche Hilfe er von den Irkutsk zunächst gelegenen Gouvernements erwarten darf?“
„Das weiss er,“ erwiderte der Zar, „aber was er nicht weiss, ist dies: dass Iwan Ogareff neben seiner Rebellenrolle die Berräterrolle spielt, und dass er in ihm einen persönlichen und blutdürftigen Feind hat. Dem Grossfürsten hat Iwan Ogareff zuzuschreiben, dass er in Ungnade fiel, und was von noch grösserem Ernst ist, der Grossfürst kennt den Menschen nicht. Iwan Ogareffs Plan ist, sich nach Irkutsk zu begeben und dort unter falschem Namen dem Grossfürsten seine Dienste anzubieten. Wenn er dann sein Vertrauen gewonnen hat, und wenn die Tataren in Irkutsk eingedrungen sein werden, wird er die Stadt und mit ihr meinen Bruder ausliefern, dessen Leben damit bedrohtv ist. Das sind die Dinge, die ich aus meinen Berichten weiss — das ist es, was der Grossfürst nicht weiss — und das ist es, was der Grossfürst wissen muss!“
„Nun denn, Sire, ein kluger, mutiger Kurier . . .“
„Auf ihn rechne ich.“
„Und beeilen soll er sich,“ setzte der erste Chef der Polizei hinzu, „denn, geruhen Sire, mir die Bemerkung zu erlauben, diese sibirische Erde ist ein günstiger Boden für Rebellionen.“
„Meinst du, General, dass die Verbannten mit den Verbrechern gemeinsame Sache machen könnten?“ rief der Zar, der angesichts solcher Andeutung des Polizeichefs die Herrschaft über sich verlor.
„Majestät geruhen zu entschuldigen,“ stotterte der erste Chef der Polizei, denn wirklich war dies der Gedanke, den ihm sein unruhiger und misstrauischer Geist eingegeben hatte.
„Ich traue den Verbannten doch mehr Patriotismus zu,“ erwiderte der Zar.
„Es gibt andere als politische Verbannte in Sibirien,“ bemerkte der Polizeichef.
„Die Verbrecher! O, General, die überlasse ich dir. Das ist der Abschaum des menschlichen Geschlechts, die haben kein Vaterland. Aber der Aufstand oder die Rebellion vielmehr ist nicht gegen den Kaiser gerichtet, sondern gegen Russland, gegen dieses Land, auf dessen Wiedersehen die Verbannten nicht völlig Verzicht geleistet haben — und das sie wiedersehen werden . . .! Nein, niemals wird sich ein Russe mit einem Tataren verbünden, und wäre es bloss auf eine Stunde, um die moskowitische Macht zu schwächen!“
Der Zar glaubte mit Recht an den Patriotismus derjenigen, die seine Politik zeitweilig des Landes verwiesen hatte. Die Milde war die Grundlage seiner Justizpflege, und solange es in seiner Hand lag, sie zu ermessen und zu üben, verbürgten ihm die erheblichen Vergünstigungen, die er bei der Ausführung der ehedem so schrecklichen Urteile walten liess, dass er auf falschem Wege sich nicht befinden konnte. Aber selbst wenn dem tatarischen Einfall diese mächtige Hilfe nicht zuteil wurde, blieben die Dinge noch immer äusserst ernst, denn es stand zu befürchten, dass ein grosser Teil der kirgisischen Bevölkerung sich zu den eindringenden Haufen schlagen würde.
Die Kirgisen zerfielen in drei Horden, die grosse, die kleine und die mittlere, und zählten etwa 400 000 Zelte oder zwei Millionen Seelen. Von diesen verschiedenen Stämmen waren manche unabhängig, andere erkannten die russische Oberhoheit an oder diejenige der Khanate von Khiwa, Khokhand und Bochara, also der gefürchtetsten Häuptlinge von Turkestan. Die mittlere Horde, die reichste, war zugleich die bedeutendste, und ihre Lagerplätze nahmen den ganzen Raum ein zwischen den Wasserläufen des Sara-Su, des Irtysch, des oberen Ischim, des Hadisangund des Aksakal-Sees. Die grosse Horde, die die östlich von der mittleren Horde gelegenen Gegenden besetzt hielt, erstreckte sich bis zu den Gouvernements Omsk und Tobolsk. Wenn sich also diese kirgisischen Völker erhoben, so bedeutete das die Überflutung von Russisch-Asien und in erster Linie die Abtrennung Sibiriens östlich vom Jenissei. Allerdings waren diese Kirgisen in der Kriegskunst noch grosse Neulinge und plünderten lieber nächtlicherweile oder überfielen Karawanen, als dass sie regulären Kriegsdienst verrichteten. Wie Lewschin von ihnen gesagt hat: „Eine geschlossene Front oder ein tüchtiges Infanteriekarree widersteht einer zehnmal zahlreicheren Kirgisenmasse, und eine einzige Kanone kann ihrer eine schreckliche Menge vernichten.“ Das mochte wohl sein, aber vorerst musste solch tüchtiges Infanteriekarree in dem aufständischen Lande sein, und die Feuerschlünde mussten aus den Artillerieparks der russischen Provinzen die 2000 bis 3000 Werst Entfernung zurückgelegt haben. Bis auf die direkte. Linie Jekaterinburg—Irkutsk waren nun aber die häufig sumpfigen Steppen nicht leicht passierbar, und es würden ganz sicher mehrere Wochen verstreichen, bevor sich die russischen Truppen in die Lage gesetzt sehen konnten, die tatarischen Horden zurückzudrängen.
Omsk war der Mittelpunkt des westlichen Sibirien, dessen Aufgabe es war, die Kirgisenbevölkerung in Respekt zu halten. Dort lagen die Grenzbezirke, die diese nur teilweise unterjochten Nomaden mehr als einmal verwüstet hatten, und im Kriegsministerium hatte man allen Grund zu der Annahme, dass Omsk bereits stark bedroht würde. Die Kette der Militärkolonien, nämlich jene Kosakenposten, die von Omsk bis Semipalatinsk staffelweise verteilt waren, musste an mehreren Punkten bereits überrumpelt worden sein. Nun stand aber zu befürchten, dass die über die kirgisischen Distrikte herrschenden „Grosssultane“ der Herrschaft der gleich ihnen muselmanischen Tataren entweder sich freiwillig gefügt hatten oder sich unfreiwillig hatten fügen müssen, und dass sich dem durch die Unterjochung wachgerufenen Hass jener andere Hass beigesellen würde, der aus dem Gegensatz zwischen griechisch-orthodoxer und muselmanischer Religion geboren wird. Seit langer Zeit suchten nämlich die Tataren Turkestans, und hauptsächlich diejenigen der Khanate von Bochara, Khokhand und Kundus, sowohl im Wege der Gewalt als durch Überredung, die kirgisischen Horden der moskowitischen Herrschaft abtrünnig zu machen.
Nur ein paar Worte über diese Tataren. Das Volk der Tataren gehört, genauer gesagt, zwei unterschiedlichen Rassen an, nämlich der kaukasischen und der mongolischen Rasse. Die kaukasische Rasse vereinigt unter ein und derselben Bezeichnung die Türken und die Eingeborenen persischen Ursprungs. Die rein mongolische Rasse begreift die Mongolen, die Mandschu und die Tibetaner. Die Tataren, die damals das russische Reich bedrohten, waren kaukasischer Rasse und Hausten vorwiegend in Turkestan. Dieses geräumige Land war in verschiedene Staaten abgeteilt, die durch Khans beherrscht wurden, woher die Benennung Khanat rührt. Die hauptsächlichsten dieser Khanate waren: Bochara, Khiwa, Khokhand, Kundus und so weiter. Zu dieser Zeit war das bedeutendste und gefürchtetste dieser Khanate Bochara. Mit dessen Fürsten oder Häuptlingen hatte Russland schon wiederholt Kämpfe führen müssen. Teils aus persönlichem Interesse, teils um die Kirgisen unter ein anderes Joch zu beugen, hatten sie die Unabhängigkeit derselben gegen die Herrschaft der Moskowiter aufrechterhalten. Der gegenwärtige Fürst oder Häuptling, Feofar-Khan, wandelte in den Bahnen seiner Vorgänger. Dieses Khanat von Bochara erstreckte sich von Norden nach Süden zwischen dem 37. und dem 41. Breitengrad, und von Ost nach West zwischen dem 61. und 66. Längengrad, das heisst, über eine Fläche von etwa 10 000 Quadratmeilen. Man zählte in diesem Staate eine Bevölkerung von 2½ Millionen Einwohnern, ein Heer von 60 000 Mann Fussvolk (Sarbassen), das zu Kriegszeiten verdreifacht war, und von 30 000 irregulären Reitern. Im Schutze seiner Gebirge, bei der durch seine Steppen bewirkten Abgeschlossenheit bildete es ein furchtbares Staatswesen, und Russland würde sich gezwungen sehen, ihm ganz bedeutende Streitkräfte gegenüberzustellen.
Feofar-Khan, ruhmsüchtig und blutdürstig, hatte sich an die Spitze des Aufstandes gestellt, dessen Seele Iwan Ogareff war. Unter seinem Einfluss hatte der Emir — so lautete der Titel, den die Khans von Bochara führten — seine Horden über die russische Grenze geworfen. Er war in das Gouvernement Semipalatinsk eingefallen, und die Kosaken, die sich an diesem Punkt in zu schwacher Anzahl befanden, hatten vor ihm zurückweichen müssen. Er war über den Balkasch-See vorgedrungen und hatte die kirgisischen Völker auf seinem Zuge mit sich fortgerissen.
Wo weilte er in diesem Augenblick? Bis wohin waren seine Krieger zu der Zeit gedrungen, als die Nachricht von dem Einfall in Moskau eintraf? Bis zu welchem Punkte Sibiriens hatten die russischen Truppen zurückweichen müssen? Das zu sagen, war nicht möglich. Die Verbindungen waren unterbrochen. War der Draht zwischen Kolywan und Tomsk von Plänklerkolonnen des tatarischen Heeres zerschnitten worden, oder war der Emir bis in die Provinzen des Jenisseisk vorgedrungen? Stand das ganze westliche Unterland von Sibirien in Flammen? Erstreckte sich der Aufstand schon bis in die östlichen Regionen? Auch das liess sich nicht sagen. Der einzige Bote, der weder Kälte noch Feuer fürchtet, den weder die Strenge des Winters noch die Hitze des Sommers aufhalten kann, der mit der Geschwindigkeit des Blitzes fliegt, der elektrische Strom war nicht mehr durch die Steppe zu leiten, und den in Irkutsk eingeschlossenen Grossfürsten von der Gefahr zu benachrichtigen, die ihm durch Iwan Ogareffs Verrat drohte, war nicht mehr möglich. Bloss ein Kurier konnte den unterbrochener Strom ersetzen. Solcher Mann würde, um die 5200 Werst (5523 Kilometer) zu bezwingen, die zwischen Moskau und Irkutsk liegen, einer gewissen Zeit benötigen. Um sich durch die Kolonnen der Aufständischen und feindlichen Eindringlinge den Weg zu bahnen, würde er einen Mut und eine Intelligenz aufbieten müssen, die gewissermassen ans Übermenschliche streifen würden . . . Aber wer Kopf und Herz auf dem rechten Fleck hat, der kommt weit in der Welt!
„Werde ich solchen Mann mit Kopf und Herz auf dem rechten Fleck finden?“ Diese Frage stellte sich der Zar.
Die Tür des kaiserlichen Kabinetts öffnete sich balb, und der Pförtner meldete den General Kissoff.
„Der Kurier?“ fragte lebhaft der Zar.
„Ist zur Stelle, Sire,“ antwortete General Kissoff.
„Du hast den Mann, den wir brauchen, gefunden?“
„Zu Befehl, Sire!“
„Du kennst ihn?“
„Von Person — er hat schon mehrere Missionen schwieriger Natur erfolgreich ausgeführt.“
„Im Ausland?“
„Sogar in Sibirien!“
„Woher stammt er?“
„Aus Omsk. Er ist Sibirier.“
„Er besitzt Kaltblütigkeit Intelligenz, Mut?“
„Jawohl, Sire, alles, was dazu gehört, um dort, wo vielleicht andere scheitern würden, mit Erfolg zu arbeiten.“
„Sein Alter?“
„Dreissig Jahre.“
„Ist er ein kräftiges Mensch?“
„Sire, er vermag Kälte, Hunger, Durst, Strapazen bis zum äussersten Masse auszuhalten.“
„Er hat einen Körper von Eisen?“
„Zu Befehl, Sire!“
„Und ein Herz . . .?“
„Ein Herz von Gold, Sire.“
„Sein Name?“
„Michael Strogoff.“
„Ist er reisefertig?“
„Er wartet im Gardensaal auf Eurer Majestät Befehle.“
„Er soll hereintreten,“ sagte der Zar.
Kurz darauf stand Michael Strogoff, der Kurier, im Kabinett des Kaisers. Michael Strogoff war von hoher Gestalt, kräftig, breitschultrig und von stattlicher Brustweite. Sein mächtiger Kopf zeigte die schönen Merkmale der kaukasischen Rasse. Seine festgefügten Gliedmassen waren gleich ebenso viel Hebeln, zum Zweck besserer Vollbringung von energischer Arbeit mechanisch gegliedert und angeordnet. Dieser schöne, kräftige, gutgebaute, vollentwickelte Mann wäre nicht wider seinen Willen von der Stelle zu bringen gewesen, denn wenn er einmal mit beiden Füssen fest auf dem Boden stand, schien es ganz, als seien diese festgewurzelt. Auf seinem nach dem oberen Teil zu viereckigen, in der Stirngegend breiten Kopf kräuselte sich üppiges Haar, das in Locken hervordrang, wenn er die Moskowiterkappe aufsetzte. Sollte sich sein gewöhnlich bleiches Gesicht verändern, so war dies einzig und allein möglich, wenn sein Herz unter dem Einfluss eines lebendigeren Blutumlaufs, der ihm die Arterienröte zuführte, schneller schlug. Seine Augen zeigten ein tiefes Blau; ihr Blick war gerade, frei, unwandelbar, und sie funkelten unter einer Bogenwölbung, deren schwach zusammengezogene Brauenmuskeln von gesteigertem Mut zeugten, „von jenem des Zornes, baren Mute der Heroen“, um den Ausdruck der Vertreter physiologischer Wissenschaft zu gebrauchen. Seine kräftige, um die Nüstern breite Nase ragte über einem harmonisch geformten Mund mit den etwas zu weit vorlaufenden Lippen des edelgesinnten, gutmütigen Wesens.
Michael Strogoff besass das Temperament des resoluten Mannes, der rasch seinen Entschluss fasst, der nicht in Unsicherheit an den Nägeln kaut, der sich nicht im Zweifel hinter den Ohren kratzt, der nicht in Unentschiedenheit herumstampft. Nüchtern von Gebärden sowohl wie von Worten, verstand er, sich vor seinem Vorgesetzten unbeweglich zu halten wie ein Soldat; wenn er aber marschierte, bekundete seine Haltung eine grosse Ungezwungenheit, eine bemerkenswerte Klarheit und Schärfe in Bewegung und im Auftreten — Augenblicke, die von Vertrauen und Zuversicht und lebhafter Willenskraft des Geistes sprachen. Er war einer von jenen Männern, deren Hand immer „am Schopf der Gelegenheiten“ zu ruhen scheint, mit etwas gezwungenem, verhängtem Gesicht, das sie aber mit einem einzigen Zuge malt, wie sie sind. Michael Strogoff war mit einer vornehmen Militäruniform bekleidet, die der Offiziers-Feld-uniform der berittenen Jäger stark ähnelte: Stiefel, Sporen, ziemlich prall sitzendes Beinkleid, mit Pelz verbrämter und mit gelben Schnüren auf braunem Grund besetzer Rock. Auf seiner breiten Brust funkelten ausser einem Kreuz verschiedene Medaillen. Michael Strogoff gehörte zu dem Leibkurierkorps des Zaren und stand unter dieser Elitemannschaft im Offiziersrang. Was in seiner Haltung, seiner Stimme, seinen Gesichtszügen, seiner ganzen Persönlichkeit offenbar zum Ausdruck kam und was der Zar ohne Mühe erkannte, war eins, nämlich dass Michael Strogoff „ein Vollführer von Befehlen“ war. Er besass mithin eine Eigenschaft, die in Russland zu den allerbesten Empfehlungen gehörte und zu den höchsten Ämtern des moskowitischen Kaiserreichs führte. Fürwahr, wenn ein Mensch imstande war, diese Reise von Moskau nach Irkutsk durch ein von feindlichen Horden besetztes Land gut auszuführen, all die vielfältigen Hindernisse zu bewältigen, all den vielseitigen Gefahren zu trotzen, so war unter allen vorhandenen Männern Michael Strogoff der richtige Mann.
Ein für das Gelingen seiner Pläne höchst günstiger Umstand war, dass Michael Strogoff eine wunderbare Kenntnis des Landes besass, das er durchqueren sollte, und die verschiedenen Mundarten seiner Bevölkerung verstand, und zwar nicht bloss daher, weil er das Land schon einmal durchquert hatte, sondern weil er sibirischer. Herkunft war. Sein Vater, der alte, schon zehn Jahre tote Peter Strogoff, wohnte in der im Gouvernement gleichen Namens gelegenen Stadt Omsk, und seine Mutter, Marfa Strogoff, wohnte auch dort. In den wilden Steppen der Provinzen Omsk und Tobolsk hatte dieser gefürchtete sibirische Jäger seinen Sohn Michael, wie man im Volksmunde sagt, „hart an der Kandare“ aufgezogen. Von bürgerlichem Beruf war Peter Strogoff Jäger. Im Sommer wie im Winter, bei Gluthitze sowohl wie bei Eiseskälte, die dort bis zu 50 Grad unter null sinkt, durchstreifte er die hartgefrorenen Ebenen, die Lärchen- und Birkendickichte, die Fichtenwälder, stellte seine Fallen und lauerte dem Kleinwild mit der Büchse, dem Grosswild mit Spiess oder Weidmesser auf. Grosswild hiess dort kein geringeres Tier als der sibirische Bär, jenes furchtbare und reissende Tier, dessen Grösse derjenigen seiner Vettern in den Polargebieten gleichkommt. Peter Strogoff hatte über 39 Bären erlegt, das heisst, der 40. war unter seinen Stichen gefallen — und wenn man den Jägergeschichten Russlands glauben darf, so ist es ein offenes Geheimnis, wieviel Jäger es glücklich bis zum 39. Bären gebracht haben, vor dem 40. aber ins Gras beissen mussten. Peter Strogoff hatte aber, ohne dass er auch nur eine Schramme abbekommen, die verhängnisvolle Zahl hinter sich. Von da ab durfte ihn sein elf Jahre alter Sohn Michael regelmässig begleiten und musste die „ Ragatina“, nämlich den Spiess, tragen, um seinem bloss mit dem Messer bewaffneten Vater beizuspringen. Als er 14 Jahre zählte, hatte Michael Strogoff seinen ersten Bären erlegt, und zwar ganz allein — was nichts auf sich hatte — aber nachdem er das riesige Tier abgehäutet und ausgeweidet hatte, hatte er das Fell bis zu der mehrere Werst entfernten väterlichen Behausung geschleppt, was bei dem Kinde auf das Vorhandensein ungewöhnlicher Körperkraft hinwies. Diese Lebensweise nützte ihm, und als er in das Alter des reifen Mannes trat, war er fähig, alles zu ertragen gleich seinem Vater, Kälte, Hitze, Hunger, Durst, Strapazen. Gleich dem Jakuten der nördlichen Länder, war er ein Mann von Eisen. Er konnte 24 Stunden ohne Nahrung aushalten, zehn Nächte ohne Schlaf sein und verstand, sich mitten in freier Steppe, dort, wo andere unter freiem Himmel erfroren wären, ein Nachtlager herzurichten. Ausgestattet mit Sinnen von äusserster Feinheit, mit echtem Indianerinstinkt den Weg durch die weisse Ebene findend, wenn der dichte Nebel allen Horizont verhüllt, auch dann nie irrend, wenn er sich in Ländern hoher Breitengrade befand, wo sich die Polarnacht tagelang erstreckt; immer den Weg wiederfindend, wo andere keinen Fuss vor den anderen zu setzen gewusst hätten, waren ihm schliesslich alle Geheimnisse vertraut geworden, über die sein Vater gebot. Er hatte gelernt, sich nach Anzeichen zu richten, die für ein gewöhnliches Auge nicht oder fast nicht bemerkbar waren, wie Fall und Form der Eisnadeln, Lage der kleinen Baumzweige, Dünste, die von den äussersten Grenzen des Horizonts herübergetragen wurden, gestampftes Gras im Walde, durch die Luft dringende Töne unbestimmter Natur, Knalle aus weiter Ferne, der Zug der Vögel in der nebligen Atmosphäre — tausenderlei Einzelheiten, die als tausenderlei Ansporne gelten für den, der Verständnis für sie hat. Zudem hatte er eine eiserne Gesundheit, ganz wie General Kissoff es gesagt hatte, und dazu, was nicht minder zutraf, ein Herz von Gold.
Eine einzige Leidenschaft erfüllte Michael Strogoff, das war die Liebe zu seiner Mutter, der alten Marfa, die niemals dazu zu bringen war, die alte Wohnstätte der Familie Strogoff in Omsk, an den Ufern des Irtysch, wo der alte Jäger mit ihr so lange gelebt hatte, zu verlassen. Als ihr Sohn den Fuss aus dieser Stätte setzte, war ihr das Herz schwer; als er ihr aber versprach wiederzukommen, sobald es ihm möglich sei — ein Versprechen, das er immer fromm und getreulich gehalten hatte — hatte sie froher in die Zukunft geblickt. Es war bestimmt worden, dass Michael Strogoff mit seinem 20. Jahre in den persönlichen Dienst des Zaren von Russland treten sollte, und zwar in das Leibkurierkorps. Der junge Sibirier bei seiner Kühnheit, Intelligenz, seinem Eifer und seiner vorzüglichen Führung hatte zuerst Gelegenheit, sich auszuzeichnen, auf einer Reise in den Kaukasus, mitten durch ein schwieriges, von einigen aufrührerischen Banden damals aufgewiegeltes Land; hierauf gelegentlich einer wichtigen Mission, die ihn bis nach Petropolowski in Kamtschatka, an die äusserste Grenze des asiatischen Russland, führte. Während dieser langen Reisen entfaltete er bewunderungswürdige Eigenschaften: Kaltblütigkeit, Klugheit, Mut, die ihm den Beifall und die Gunst aller Vorgesetzten eintrugen, und so machte er schnelle Fortschritte in seiner Laufbahn. Den ihm nach solchen fernen Missionen von Rechts wegen zustehenden Urlaub versäumte er nie bei seiner greisen Mutter zu verleben, und wenn er durch Tausende von Wersten von ihr getrennt war und der Winter die Wege unpassierbar gemacht hatte. Indessen hatte, und zwar zum erstenmal, Michael Strogoff, der eben im Süden des Reiches alle Hände voll zu tun gehabt hatte, die alte Marfa diesmal drei Jahre — für ihn drei Jahrhunderte — nicht wiedergesehen. Nun sollte ihm aber sein zustehender Urlaub in einigen Tagen bewilligt werden, und er hatte seine Vorbereitungen zur Abreise nach Omsk bereits getroffen, als sich die dem Leser bekannten Umstände abspielten.
Michael Strogoff wurde also dem Zaren vorgestellt, ohne die geringste Ahnung, was seiner bei dem Herrscher bevorstand. Der Zar richtete nicht gleich das Wort an ihn, sondern betrachtete ihn eine Zeitlang schweigend und mit durchdringenden Blicken, während Michael Strogoff in gänzlich unbeweglicher Haltung verharrte. Hierauf trat der Zar, jedenfalls befriedigt von dieser Musterung, zu seinem Schreibtisch, winkte dem Polizeichef, sich zu setzen, und diktierte ihm mit leiser Stimme einen Brief, der bloss wenige Zeilen enthielt. Als der Brief abgefasst war, las der Zar ihn mit höchster Aufmerksamkeit noch einmal durch, unterzeichnete ihn, nachdem er seinem Namen die Worte: „Byt po szemu!“ die auf deutsch: „Also geschehe es!“ bedeuten und die sakramentale Formel der Kaiser von Russland darstellen, beigesetzt hatte. Der Brief wurde nun in einen Umschlag gesteckt, der durch ein Siegel mit dem kaiserlichen Wappen geschlossen wurde. Nun erhob sich der Zar wieder und befahl Michael Strogoff heranzutreten. Michael Strogoff trat einige Schritte vor und verharrte von neuem unbeweglich, bereit, Rede und Antwort zu stehen. Der Zar sah ihm noch einmal voll ins Gesicht — Auge in Auge. Dann fragte er kurz und schroff: „Dein Name?“
„Michael Strogoff, Sire.“
„Dein Rang?“
„Kapitän im Kurierkorps des Zaren.“
„Du kennst Sibirien?“
„Ich bin Sibirier.“
„Geborener?“
„Zu Befehl, Sire!“
„Wo?“
„In Omsk.“
„Hast du Verwandte in Omsk?“
„Zu Befehl, Sire!“
„Was für welche?“
„Meine alte Mutter?“
Der Zar setzte die Reihe seiner Fragen eine Weile aus. Dann wies er auf den Brief, den er in der Hand hielt, und sagte: „Hier diesen Brief übergebe ich dir, Michael Strogoff, mit dem Auftrage, ihn dem Grossfürsten, bloss ihm und keinem anderen, zu übergeben.“
„Der Grossfürst wird ihn erhalten, Sire.“
„Der Grossfürst ist in Irkutsk.“
Ich werde nach Irkutsk gehen.“
„Der Weg führt durch ein von Rebellen aufgewiegeltes, von Tataren überschwemmtes Land, und Rebellen und Tataren werden Interesse daran haben, diesen Brief in die Hände zu bekommen.“
„Ich werde diesen Weg nehmen.“
„Vor einem Verräter insbesondere, der sich vielleicht dir auf deiner Reise entgegenstellen wird, wirst du dich zu hüten haben, vor Iwan Ogareff.“
„Ich werde mich vor ihm hüten.“
„Wirst du über Omsk gehen?“
„Das ist mein Weg, Majestät.“
„Wenn du deine Mutter aufsuchst, so läufst du Gefahr, erkannt zu werden. Du darfst deine Mutter nicht aufsuchen!“
Michael Strogoff zauderte zum zweiten Male. „Ich werde sie nicht aufsuchen,“ sagte er.
„Schwöre mir, dass dich nichts zu dem Bekenntnis bringen soll, wer du bist, noch wohin du dich begibst!“
„Ich schwöre es.“
„Michael Strogoff,“ sprach der Zar nun weiter, indem er dem jungen Kurier den Brief in die Hand legte, „also nimm diesen Brief, von dem das Heil ganz Sibiriens und vielleicht das Leben des Grossfürsten, meines Bruders, abhängt.“
„Dieser Brief wird in die Hände Seiner Hoheit des Grossfürsten gelangen.“
„Du wirst also bis zu ihm dringen, koste es, was es wolle!“
„Ich werde zu ihm dringen, oder man soll mich erschlagen.“
„Du musst aber leben bleiben.“
„Ich werde am Leben bleiben und werde zum Grossfürsten dringen,“ versetzte Michael Strogoff.
Der Zar schien von der schlichten, ruhigen Sicherheit zufriedengestellt zu sein, mit der ihm Michael Strogoff geantwortet hatte. „So geh, Michael Strogoff,“ sprach er, „geh mit Gott für Russland, für meinen Bruder, für mich!“
Michael Strogoff salutierte, verliess auf der Stelle das kaiserliche Kabinett und wenige Minuten später das Neue Palais.
„Ich glaube, du hast eine glückliche Hand gehabt, General,“ sagte der Zar.
„Ich glaube es auch, Majestät,“ versetzte General Kissoff. „Und dass Michael Strogoff alles tun wird, was in Menschenkräften steht, dessen dürfen sich Majestät versichert halten.“
„Er ist ein Mann,“ sagte der Zar, „in der Tat ein Mann!“
Die Entfernung, die Miachel Strogoff von Moskau nach Nischni-Nowgorod zurückzulegen hatte, betrug 5200 Werst (5523 Kilometer). Da zwischen den Uralbergen und der Ostgrenze Sibiriens noch keine telegraphische Verbindung hergestellt war, so wurde der Depeschendienst durch Kuriere besorgt, von denen die schnellsten 18 Tage brauchten, um von Moskau nach Irkutsk zu gelangen. Aber dies war die Ausnahme, und in der Regel dauerte eine solche Durchquerung des asiatischen Russland vier bis fünf Wochen, obwohl alle Beförderungsmittel diesen Sendboten des Zaren zur Verfügung gestellt wurden. Als Mann, der Kälte und Schnee nicht fürchtete, wäre Michael Strogoff weit lieber in der rauhen Winterszeit gereist, wo er die ganze Strecke im Schlitten hätte fahren können. Zu dieser Zeit sind die vereinzelten Schwierigkeiten, die sonst das Weiterkommen verschiedentlich erschweren, auf den durch den Schnee geebneten Stätten teilweise vermindert. Kein Wasserlauf war zu überschreiten. Überall lag ja die Eisdecke, über die der Schlitten leicht und schnell dahingleitet. Höchstens sind zu dieser Zeit vielleicht einige Naturerscheinungen zu fürchten, wie anhaltender dichter Nebel, ausserordentlicher Frost, langes und entsetzliches Schneetreiben, dessen Wirbelstürme manchmal ganze Karawanen einhüllen und vernichten. Es kommt auch vor, dass Wölfe; von Hunger getrieben; die Ebene zu Tausenden beleben. Aber weit lieber hätte er sich diesen Gefahren unterzogen, denn die tatarischen Eindringlinge wären im strengen Winter grösstenteils in den Städten geblieben, ihre plündernden Nachzügler hätten nicht die Steppe durchstreift, jede Truppenbewegung wäre unausführbar gewesen, und Michael Strogoff wäre leichter hindurchgekommen. Aber ihm blieb zwischen Zeit und Stunde keine Wahl. Wie die Umstände auch lagen, er musste sie hinnehmen und sich auf den Weg machen.
Dies war die Lage, die Michael Strogoff klar überschaute, und er rüstete sich, ihrer Herr zu werden. Zuvörderst befand er sich unter anderen Verhältnissen als ein gewöhnlicher Kurier des Zaren. Es war sogar erforderlich, dass niemand unterwegs ahnte, dass er in dieser Eigenschaft reiste. In einem vom Feinde besetzten Lande wimmelt es von Spionen. Wenn er erkannt wurde, war seine Sendung vereitelt. General Kissoff hatte ihm wohl eine bedeutende Summe eingehändigt, die auf seiner Reise genügen musste und ihm diese in gewissem Masse erleichtern sollte, aber er hatte ihm keinen schriftlichen Ausweis mitgegeben, mit der Bezeichnung: „Im Dienst des Kaisers“ — was sonst doch stets ein wirksamer Zauberstab war. Er hatte ihm nur ein „Podaroschna“ ausgestellt auf den Namen Nikolaus Korpanoff, Kaufmann in Irkutsk. Darin war Nikolaus Korpanoff ermächtigt, sich im Notfall von mehreren Personen begleiten zu lassen, und es war besonders darauf vermerkt, dass das Podaroschna auch in dem Falle Gültigkeit haben sollte, wenn die russische Regierung es allen anderen Nationalitäten verbieten sollte, sich aus Russland hinauszubegeben. Das Podaroschna war nichts anderes als die Befugnis, Postpferde zu nehmen; aber Michael Strogoff durfte sich seiner nur in dem Falle bedienen, wo diese Befugnis ihn nicht der Gefahr aussetzte, seine Eigenschaft zu verraten, das heisst, solange er auf europäischem Boden war. Hieraus ergab sich, dass er in Sibirien, das heisst, während seiner Reise durch die aufständischen Provinzen, auf den Postämtern nicht als Mann, der Gehorsam zu fordern hat, auftreten konnte, dass er ferner nicht im Vorzug vor allen anderen mit Pferden bedient zu werden verlangen konnte, und dass er schliesslich auch die Transportmittel zu seinem persönlichen Gebrauch sich nicht verschaffen konnte. Dies durfte Michael Strogoff nicht vergessen; er war nicht mehr Kurier, sondern der einfache Kaufmann Nikolaus Korpanoff, der von Moskau nach Irkutsk reiste und als solcher allen Misshelligkeiten einer gewöhnlichen Reise unterworfen war. Unbemerkt hindurchzukommen — ob schneller oder langsamer — aber jedenfalls hindurchzukommen, das musste sein Vorsatz sein. Und nur die ersten 1400 Werst (1493 Kilometer), die die Entfernung zwischen Moskau und der russischen Grenze betrug, konnten keine Schwierigkeiten bieten. Eisenbahn, Postkutschen, Dampfboote und Pferde auf den verschiedenen Stationen standen aller Welt zur Verfügung und infolgedessen auch dem Kurier des Zaren.
Noch am Morgen des 16. Juli ging also Michael Strogoff nach dem Bahnhof, um mit dem ersten Zug zu fahren. Die Uniform war völlig verschwundert, er trug auf dem Rücken einen Reisesack und war in einfache russische Tracht gekleidet: die um den Leib zusammengebundene Tunika, den herkömmlichen Muschikgürtel, weite Hosen und Stiefel, die an den Kniekehlen zusammengeschnürt waren. Er hatte keine Waffen bei sich, wnigstens nicht sichtbar; unterm Gürtel verborgen aber trug er einen Revolver und in der Tasche eines jener langen Dolchmesser, die das Mittelding sind zwischen Jagdmesser und Türkensäbel und mit denen ein sibirischer Jäger einen Bären gut auszuweiden versteht, ohne den kostbaren Pelz zu beschädigen.
Auf dem Bahnhof von Moskau war recht grosser Andrang von Reisenden. Die russischen Bahnhöfe sind häufig Versammlungspunkte ebensogut für die, die jemand abfahren sehen wollen, wie für die Abfahrenden. Die Bahnhöfe sind gewissermassen kleine Börsen für Neuigkeiten. Der Zug, in den Michael Strogoff stieg, sollte ihn nach Nischni-Nowgorod bringen. Hier war damals die Eisenbahn zu Ende, die jetzt Moskau mit St. Petersburg verbindet.
Dies war eine Fahrt von etwa 400 Werst (426 Kilometer), die der Zug in zehn Stunden zurücklegen sollte. Von Nischni-Nowgorod aus wollte Michael Strogoff, je nach den Umständen, entweder den Landweg nehmen oder mit dem Wolgadampfer fahren, um möglichst bald das Uralgebirge zu erreichen.
Michael Strogoff streckte sich also in seiner Ecke aus, wie ein würdiger Bürger, dem seine Geschäfte nicht sonderliche Kopfschmerzen machen und der die Zeit durch Schlafen herumbringen will. Da er jedoch nicht allein in seinem Abteil war, so schlief er nur mit einem Auge und horchte mit seinen beiden Ohren. Das Gerücht vom Aufstande der Kirgisenhorden und vom Einfall der Tataren war in der Tat ein wenig laut geworden. Die Reisenden, die der Zufall zu seinen Gefährten gemacht hatte, sprachen darüber, allerdings mit Vorsicht und mit Zurückhaltung. Diese Reisenden, wie überhaupt die meisten von allen, die den Zug benutzten, waren Kaufleute, die nach dem berühmten Markt von Nischni-Nowgorod fuhren. Das war notgedrungen eine gemischte Gesellschaft, die aus Juden, Türken, Kosaken, Russen, Georgiern, Kalmücken und anderen bestand. Aber fast alle redeten die Nationalsprache. Man besprach das Für und Wider der ernsten Ereignisse, die jenseits des Ural sich zur Zeit vollzogen, und diese Kaufleute befürchteten, dass die russische Regierung, vor allem in den Grenzprovinzen, einige Massregeln zur Einschränkung ergreifen würde, unter denen der Handel jedenfalls zu leiden hätte. Allerdings, diese Egoisten betrachteten den Krieg, das heisst, die Unterdrückung des Aufstandes und den Kampf gegen die unrechtmässige Besitznahme, nur vom Standpunkt ihrer bedrohten Interessen aus. Die Anwesenheit eines einzigen Soldaten in Uniform — und man weiss, welche bedeutende Rolle in Russland die Uniform spielt — hätte sicher genügt, die Zungen dieser Kaufleute im Zaum zu halten. Aber in dem Abteil, wo Strogoff sass, liess nichts die Anwesenheit einer militärischen Person vermuten, und der Kurier des Zaren, dem daran lag, unerkannt zu reisen, war nicht der Mann danach, sich zu verraten. Er hörte also zu.
„Es wird versichert, der Karawanentee stiege im Kurse,“ sagte ein Perser, der an seiner Astrachanpelzmütze kenntlich war und an seiner abgetragenen, weitfaltigen Kleidung.
„O, es steht auch nicht zu befürchten, dass der Tee fallen würde,“ antwortete ein Jude mit runzligem Gesicht. „Was der Markt von Nischni-Nowgorod an Tee hat, das wird sich leicht nach Westen handeln lassen, aber leider wird es nicht das gleiche sein mit Sen Teppichen von Bochara.“
„Wie? Sie erwarten wohl eine Sendung aus Bochara?“ fragte ihn der Perser.
„Nein, aber eine Sendung aus Samarkand, und die ist eher noch mehr gefährdet. Wer möchte denn auf die Expeditionen eines Landes rechnen, das durch die Khans von Khiwa bis zur chinesischen Grenze in Aufruhr gesetzt ist!“
„Schön, entgegnete der Perser, „wenn die Teppiche nicht ankommen, dann werden wohl die Produktenzufuhren auch nicht ankommen, denke ich.“
„Und der Gewinn? Gott Israels!“ rief der kleine Jude. „Rechnet Ihr das gar nicht an?“
„Sie haben recht,“ sagte ein anderer Reisender, „die Artikel aus Zentralasien dürften am Markt wohl fehlen, und das wird mit den Teppichen Samarkands ebenso der Fall sein wie mit der Wolle, der Seife und den Tüchern des Orients.“
„He, Väterchen, nehmen Sie sich in acht!“ warf ein russischer Reisender mit dem Gesicht eines Spassvogels ein. „Sie werden sich Ihre Tücher wohl schön fettig machen, wenn Sie die Seife dazwischen packen.“
„Das ist nun was zum Lachen für Sie!“ versetzte ärgerlich der Handelsmann, der an dieser Art von Scherzen wenig Gefallen zu finden schien.
„Nun, wenn man sich auch das Haar zerrauft und sich in Sack und Asche tut,“ antwortete der Reisende, „würde das am Lauf der Dinge etwas ändern? Nein, und ebensowenig auch am Transport der Waren.“
„Man sieht, Sie sind kein Handelsmann,“ bemerkte der kleine Jude.
„Nein, meiner Treu, würdiger Spross Abrahams! Ich handle weder mit Hopfen noch mit Teer, weder mit Honig noch Wachs, ich mache weder in Hanfsamen noch in Pökelfleisch, weder in Kaviar noch in Holz, ich verkaufe weder Wolle noch Bänder, weder Hanf noch Flachs, weder Saffian noch Rauchware —“
„Aber kaufen Sie vielleicht so etwas?“ warf ein Perser ein, den Wortschwall des Reisenden unterbrechend.
„So wenig wie möglich, und nur das, was ich unbedingt selbst haben muss,“ antwortete dieser, mit den Augen zwinkernd.
„Das ist ein Bruder Lustig,“ sagte der Jude zu dem Perser.
„Oder ein Spion,“ antwortete dieser in gedämpftem Ton. „Wir wollen auf der Hut sein und nicht mehr sprechne, als nötig ist. Unter den obwaltenden Umständen ist mit der Polizei nicht gut Kirschen essen, und man weiss nicht, wen man da zum Reisegefährten hat.“
In einer anderen Ecke des Abteils wurde weniger über Handelsprodukte gesprochen, dagegen drehte sich die Unterhaltung mehr um den Tatareneinfall und seine misslichen Folgen.
„Die Pferde von ganz Sibirien werden requiriert,“ sagte ein Reisender, „und in den verschiedenen Provinzen Zentralasiens werden sich die Verkehrsverhältnisse sehr schwierig gestalten.“
„Steht es fest,“ fragte sein Nachbar, „dass die Kirgisen sich mit den Tataren vereinigt haben?“
„Es wird gesagt,“ antwortete der Reisende leise, „aber wer in diesem Lande kann sich schmeicheln, etwas genau zu wissen?“
„Ich habe gehört, dass an der Grenze Truppen zusammengezogen werden. Die Kosaken vom Don sind schon an der Wolga entlang vereinigt worden und sollen den aufständischen Kirgisen entgegengesandt werden.“
„Wenn die Kirgisen den Irtysch entlanggezogen sind, ist auch die Strecke nach Irkutsk nicht sicher,“ antwortete der Nachbar. „Übrigens habe ich gestern ein Telegramm nach Krasnojarsk gesandt, und das hat nicht befördert werden können. Es steht zu befürchten, dass bald die Tataren das östliche Sibirien völlig erobert haben werden.“
„Alles in allem, Väterchen,“ sagte wieder der, der zuerst gesprochen hatte, „haben diese Handelsleute recht, um ihren Handel und ihre Transaktionen besorgt zu sein. Wenn man erst die Pferde requiriert hat, wird man auch die Boote, die Wagen und alle Transportmittel requirieren, bis man zu guter Letzt im ganzen Reich keinen Schritt mehr wird tun dürfen.“
„Ich fürchte, die Messe in Nischni-Nowgorod wird nicht so glänzend enden, wie sie begonnen hat,“ antwortete der zweite kopfschüttelnd. „Aber die Sicherheit und Unversehrtheit des russischen Grund und Bodens geht vor allem. Die Geschäfte sind dabei Nebensache.“