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Magdalena ist 5 Jahre alt, als sie während eines Rombesuchs vom Papst auf die Stirn geküsst wird. Für die krankhaft religiöse Großmutter Frida ein Zeichen von ganz oben, für die Enkelin Magdalena ein Verhängnis. Frida, Magdalena und ihre Mutter Anna führen ein liebloses Leben zu dritt in einem kleinen Dorf im Harz. Magdalenas Aufwachsen ist geprägt von der strenggläubigen Erziehung ihrer Großmutter, die Anna hierfür jegliches Mitspracherecht verweigert. Eine wirkliche Mutter-Tochter-Beziehung kann so nicht entstehen. Erst nach Fridas Tod, Magdalena ist längst erwachsen und lebt ihr eigenes Leben im fernen Berlin, nehmen Mutter und Tochter sich vor, das zu ändern. Kein leichter Weg, ein Ringen um Nähe, Vertrauen und die Sicherheit, es wert zu sein, geliebt zu werden.
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Seitenzahl: 168
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Danke, liebe Anke
Prolog
Unvertraute Nähe
Rauschen
Rot
Brocken
Farbe
Fiona
Andere Gelegenheiten
Homeoffice
Pakete
Ostern
Jurek
Väter
Tiramisu
Toni
Robert
Friede
Glücksfall
Systemwechsel
Verfilzt
Besuche
Fliegende Untertasse
Tauchgang
Oxytoxin
Agavengrün
»Da kommt er!« Meine Großmutter schrie, ohne dabei laut zu sein, dann hob sie mich hoch. Ich glaube, das war das einzige Mal in meinem Leben, dass sie mich auf den Arm genommen hat.
Nach der langen Warterei hinter der metallenen Absperrung, an der mir das Rumturnen verboten wurde, war ich froh, dass endlich etwas passierte. Und ich würde das Eis bekommen, das mir versprochen worden war.
Mit ausgestreckten Armen hielt mich meine Großmutter über das Gatter hinweg. Kraft durch Glauben.
»Magdalena!« Völlig außer Atem stellte sie mich wieder auf die Erde und strich mir die hellblonden Locken aus der Stirn, die an der Stelle vom Schweiß festklebten, auf die mir der Papst gerade einen Kuss gedrückt hatte.
Sie bekreuzigte sie sich in einem fort, als wollte sie nie mehr damit aufhören, fuhr dann aber doch mit ihren Händen über meinen Kopf, ohne ihn dabei zu berühren und sagte zu meiner Mutter: »Anna, ich glaube, der liebe Gott hat gewollt, wie alles gekommen ist.«
Ich fand das Handy schließlich in der Küche, in der es noch nach Rosenkohl roch. Den hatte ich gestern Abend gekocht. Unser beider Lieblingsgemüse. Gegessen hatten wir ihn nicht.
Die Hoffnung, dass es Leo war, zerschlug sich, als ich die Stimme meiner Mutter hörte:
»Oma ist tot.«
Sie sagte Oma und nicht wie üblich Großmutter, doch ohne eine Spur von Trauer im Tonfall, und als ich ihr sagte, dass Leo weg ist, weinte ich.
Ich weinte nicht um Leo, auch nicht um Großmutter, ich weinte über die Unfähigkeit, mein Leben in den Griff zu bekommen. Vor Leo hatte es einige andere Männer gegeben, aber bei ihm hatte ich gedacht, dass es klappen könnte.
»Wann?«, fragte ich und wischte mir die Tränen mit der Papierserviette weg, die gefaltet neben Leos Teller lag.
»Gestern.«
»Ich komme morgen.«
*
Ich hatte nur eine kleine Reisetasche gepackt, so wie jedes Mal, wenn ich nach Hüttach fuhr. Der knappe Inhalt sorgte für einen kurzen Aufenthalt. Mehr als drei Tage hielt ich nicht aus.
Im Gegenzug hatte mich meine Mutter in den achtzehn Jahren, die ich in Berlin lebe, nur einmal besucht. Es sei ihr alles zu laut und zu groß. Ich glaube, sie ertrug es nicht, mich in dieser Freiheit erleben zu müssen, die sie sich nie genommen hatte.
Ich freute mich auf die Zugfahrt. Die monotonen Geräusche, derer ich mir erst bewusst werde, wenn sie nicht mehr da sind, das Gefühl, dass sich jemand um mich kümmert, sobald ich meinen Platz eingenommen habe, und wenn es nur darum geht, irgendwo anzukommen. Einmal bin ich von Berlin nach Bari mit dem Zug gefahren. Es gab nichts, was mich in Bari oder drumherum interessiert hätte, es waren die dreiundzwanzig Stunden Zugfahrt mit ihren kurzen Unterbrechungen, die die Reise lohnenswert gemacht hatten.
Bis nach Braunschweig waren es nur eineinhalb Stunden, und gerade deshalb entschied ich mich für die Erste Klasse und reservierte einen Fensterplatz in Fahrtrichtung. Im Abteil war es warm. Überheizt, meinte der ältere Herr, der sich mir gegenüber umständlich einrichtete.
Als hätten sie nur darauf gewartet, trieben Regentropfen schräg über die Scheibe, als der Zug aus dem Bahnhof ins Tageslicht fuhr. Es schüttete aus einem Himmel, der seit Tagen wie eine unverrückbare Betonplatte über der Stadt lag, die das üppige Grün des Sommers zu einem großen Teil schon abgelegt hatte, um sich schon bald von ihrer hässlichen Winterseite zu zeigen.
Im traurigen November war’s kam mir in den Sinn und ich dachte, dass dieser Monat nicht nur für melancholische Lyrik taugte, sondern auch die passende Kulisse für ein Begräbnis lieferte.
Die gesamte Kirchengemeinde würde anrücken und der ausgefranste Chor, dem immer irgendeine Stimmgruppe fehlte, würde sich an Großer Gott, wir loben dich abarbeiten.
Verwandte?
Meine Mutter und ich.
Ob meine Mutter in Hüttach bleiben würde?
Ich versuchte, die Melodie von Großer Gott, wir loben dich hinzubekommen. Tonlos. In mir drinnen. Als Kind konnte ich alle elf Strophen auswendig.
Großer Gott, wir loben dich, Herr wir preisen deine Stärke. Vor dir neigt die Erde sich und bewundert deine Werke.
Nachdem der Papst mich geküsst hatte, war Großmutter felsenfest davon überzeugt, dass der liebe Gott Großes mit mir vorhat. Von dieser Überzeugung rückte sie genauso wenig ab, wie von ihrer krankhaften Religiosität, die sich wie eine Geschwulst in sie hineingefressen hatte.
Ich war damals fünf Jahre alt. An den Kuss selbst konnte ich mich nicht erinnern, aber ich wusste darum. Noch Jahre danach hatte meine Großmutter immer wieder notorisch mit dem Finger auf die gesegnete Stelle getippt. Was ich hingegen nicht vergessen hatte, war das Eis nach den Stunden des Wartens in der glühenden Sonne. Vor allem, wie ich untröstlich geweint hatte, als ich mich kurz darauf auf der Spanischen Treppe übergeben musste. Erdbeer und Schokolade.
Ich schloss die Augen und konzentrierte mich auf die minimalen Erschütterungen, die mich entschweben ließen. Ein schwereloser Zustand, ohne denken zu müssen. Ich spürte nur das dünne Lächeln in mir drinnen, das sich nach außen nicht zeigen wollte.
Der Absturz kam mit Leo. Mit geballten Händen in den Taschen sah ich ihn im Türrahmen der Küche stehen. Groß, breitschultrig ‒ unverwüstlich.
»Deine Kälte, die halte ich nicht mehr aus!«
Der spürbare Luftzug kam durch die geöffnete Schiebetür des Abteils: »Die Fahrkarten bitte!«
Leo hatte ich eine WhatsApp-Nachricht hinterlassen, dass ich nach Hüttach zur Beerdigung fahre. Die beiden Häkchen waren blau. Vielleicht nutzte er meine Abwesenheit, um spurlos aus meinem Leben zu verschwinden.
Der Zug fuhr in Braunschweig ein.
In der Regionalbahn nach Goslar überlegte ich, was ich meiner Mutter als Erstes sagen würde, wenn wir uns gegenüberstanden, aber als ich später im Bus nach Hüttach saß, wusste ich es immer noch nicht.
Ich schaute aus dem Fenster. Der Regen schien nicht aufhören zu wollen. Ich betrachtete mein Spiegelbild in der Scheibe und zog die Mundwinkel nach oben. Wann regnete es hier nicht? Sechste Klasse, Erdkundeunterricht bei Herrn Poldinger: Hat mit den Staueffekten zu tun. Die feuchten Westwinde regnen sich an der Westflanke des Gebirges ab. Das hatte ich mir gemerkt, weil ich den Poldinger mochte. Ich stellte mir immer vor, er wäre mein Vater. Ich hatte mir ständig Männer ausgesucht, die ich gerne als Vater gehabt hätte. Mein Vater war gesichtslos. Nicht einmal meine Mutter kannte ihn.
Meine Mutter wartete an der Haltestelle. Ich wollte nicht nass werden, eilte auf sie zu und schon im nächsten Augenblick standen wir in unvertrauter Nähe unter ihrem aufgespannten Regenschirm.
»Scheiß Wetter!«, sagte ich und schaute dem Bus hinterher.
»Soll auch morgen noch ordentlich regnen.«
Dann machten wir uns auf den Weg.
*
Trotz der strengen Mittelscheitelfrisur, die im Nacken von einem Knoten kontrolliert wurde, strahlte meine Großmutter etwas Freundliches aus, was auch an ihren ungewohnt volleren Lippen liegen mochte. »Beiß die Zähne zusammen, ich tue mein ganzes Leben nichts anderes!« Ihr Leben war nun vorbei. Sie musste die Zähne nicht mehr zusammenbeißen, die ihre Lippen zu einem Strich hatten verkommen lassen. Sie hatte es geschafft. Ich betrachtete ihren Tod als Erlösung, hatte sie mir doch stets von der Bürde erzählt, die ihr der liebe Gott auferlegt hatte. Leben bedeutet Leiden. Meine Mutter und ich durften da keine Ausnahme machen.
Am offenen Sarg konnten wir uns verabschieden, bevor sich die kleine, ungeheizte Kirche hinlänglich füllen würde. Meine Mutter zupfte an Großmutters schwarzem Kleid, als müsste sie einen Fussel entfernen. Ich legte kurz meine Hand auf ihre Stirn, nur um zu spüren, wie sich ein kalter menschlicher Körper anfühlte.
Dann nickte ich dem Gemeindearbeiter zu, der teilnahmslos am Eingang stand. Augenblicke später war der Sarg geschlossen.
Großer Gott, wir loben dich.
Der Chor löste sich nach der Andacht auf und letztendlich standen wir zu sechst im Regen an der Grube. Ich fühlte mich schlecht, weil ich nicht traurig war. Jetzt an Leo zu denken, nur um traurig zu werden, empfand ich als Verrat. Ich schaute zur Seite, traf den Blick meiner Mutter und verzog den Mund zu einem schwachen Lächeln. Diesmal standen wir jeweils unter einem eigenen Schirm. Sie lächelte zurück, ein Alles-wird-gut-Lächeln, und kurz meinte ich, daran glauben zu dürfen. Dann wurde der Sarg hinabgelassen.
Statt des üblichen Leichenschmauses im Wehrhaften Schmied, der einzigen Gaststätte in Hüttach, die sich nur noch wegen der Kegelbahn halten konnte, hatte meine Mutter ein großes Blech Streuselkuchen gebacken. Auf einen Kaffee, bei ihr zu Hause. Sofia Kowalski war die Einzige, die der Einladung folgte. Vermutlich aus Dankbarkeit darüber, dass Großmutter ihr vor Jahren das Ehrenamt in der Kirche überlassen hatte, als es mit ihrer Arthrose schlimmer geworden war.
Sofia Kowalski erzählte mit vollem Mund, wie glücklich sie mit dieser Aufgabe sei, und hatte Mühe, dabei die Krümel zurückzuhalten. Ob uns das Blumenarrangement gefallen habe, das rechts vom Altar stand? Voller Stolz gönnte sie sich einen kräftigen Schluck Kaffee. Ich hatte tatsächlich während der Andacht zu den Blumen geschaut. An dieser Stelle hatten schon immer Blumen gestanden, darum hatte sich meine Großmutter jahrelang gekümmert und es war eine Selbstverständlichkeit gewesen, dass ich sie dabei regelmäßig begleitete.
»Wirst du in Hüttach bleiben?«, fragte ich meine Mutter, die den Rest vom Streuselkuchen in Stücke schnitt, um sie einzufrieren.
»Ich habe noch nicht darüber nachgedacht.« Sie bewegte ihren Kopf hin und her und fuhr dabei mit den geschlossenen Lippen am ausgestreckten Zeigefinger entlang. Eine Angewohnheit, die ich gut kannte. Dann grübelte sie, um danach doch alles beim Alten zu belassen.
»Du könntest das Haus verkaufen und irgendwo neu anfangen. Was hält dich in diesem Kaff? Hier haben sie ja bis heute nicht einmal eine eigene Fußballmannschaft. Ganz zu schweigen von einer freiwilligen Feuerwehr!« Ich musste lachen.
»Es ist schon komisch, dass sie nicht mehr da ist.« Meine Mutter schaute auf den leeren Stuhl am Kopfende des Küchentischs. »Ich hatte es mir immer gewünscht, nein, vorgestellt hatte ich es mir, aber jetzt …«
Ich hatte Angst, dass sie anfangen würde zu weinen.
Das unerwartete Licht der Morgensonne in der Küche erhellte auch meine Stimmung etwas. Allerdings roch es nicht mehr nach frischgebackenem Streuselkuchen ‒ der Weihrauch hatte sich wieder durchgesetzt. Eingenistet in jeder Ritze.
»Das dient der Reinigung«, hatte meine Großmutter jedes Mal gesagt, wenn sie das Teelicht unter dem Stövchen anzündete, damit die Harzkörner ihren Duft absondern konnten. Ich schaute zur Eichenkonsole in der Ecke mit dem geschnitzten Jesus am Kreuz. Der Kopf mit der Dornenkrone befand sich in einem Neigungswinkel, der es dem Sohn Gottes erlaubte, uns bei jeder Mahlzeit zu beobachten. Schon früher hatte ich das gehasst. Machte ich Hausaufgaben, setzte ich mich auf den Stuhl, auf dem ich ihm den Rücken zukehren konnte. »Der Sohn Gottes ist für unsere Sünden am Kreuz gestorben.«, ermahnte mich meine Großmutter meine gesamte Kindheit lang. Als ich erfuhr, wie lange das schon her war, fühlte ich mich nicht mehr ganz so schuldig. Für meine Sünden musste er nicht mehr sterben, er war ja schon tot. Trotzdem musste ich immer daran denken, wie fürchterlich das wohl wehtat, wenn man Nägel durch Hände und Füße geschlagen bekommt.
Meine Mutter kam ganz in Schwarz durch die Tür. Die Haare noch offen, eine Kaskade dunkler Locken, die sie gerade mit einer Spange zusammenfassen wollte.
»Lass das so!«, rief ich. Ich dachte, das könnte der Anfang von etwas Neuem sein, aber schon klickte die Spange.
»Willst du jetzt den Rest deines Lebens Schwarz tragen wie deine Mutter?«
»Nur bis zum Sechswochenamt.«
»Du weißt doch, im Dorf …«, hörte ich mich gehässig und mit verstellter Stimme sagen. Dann tat sie mir leid.
Nach dem Frühstück beschlossen wir, zum Friedhof zu gehen. Da die Novembersonne an diesem Morgen in unseren Gesichtern noch angenehm spürbar war, nahmen wir nicht den direkten Weg, sondern machten den Schlenker zur Kastanie mit der umlaufenden Bank. Wegen des Anstiegs kamen wir ins Schwitzen und knöpften unsere Mäntel auf. Auf die Bank setzten wir uns mit Blick Richtung Brocken, der nur bei klarem Wetter in der Ferne auszumachen ist.
»Schau, der erste Schnee hat ihm eine Haube verpasst. Erinnerst du dich, dass ich als Kind immer hinwollte zum Schlittenfahren, wenn es hier bei uns bisher nur geregnet hat?«
»Du wirst lachen, ich war noch nicht einmal oben, seit es möglich ist«, sagte meine Mutter, ohne das Panorama aus den Augen zu lassen.
Ich hatte damals nie eine zufriedenstellende Antwort bekommen, wenn ich fragte, warum wir dort nicht hinkonnten. Dann wird auf uns geschossen. Angst war schon immer ein gutes Mittel gewesen, damit ich mich widerstandslos fügte.
»Wir beide könnten einen Ausflug zum Brocken machen, solange ich noch hier bin. Was meinst du?«
»Jetzt sollten wir erst einmal zum Friedhof aufbrechen, mir wird kalt.« Demonstrativ schlug sie ihren Mantel vor der Brust zusammen und stand auf.
»Wir könnten den Bus nach Schierke nehmen und dann mit der Schmalspurbahn nach oben. Also ich hätte richtig Lust dazu!« Und das stimmte. Ich hatte plötzlich sogar Lust auf meine Mutter, die vor mir herlief, groß, schlank und mit diesen wundervollen Haaren. Richtig jung sah sie von hinten aus, sie hätte eine Freundin sein können. Ich überlegte, einen Schritt zuzulegen und mich bei ihr einzuhaken. Aber dann dachte ich, dass ein gemeinsamer Ausflug zum Brocken für den Anfang genug wäre.
Auf Großmutters Grab türmte sich kein gebundenes Grün mit breiten Schleifen, auf denen letzte Grüße und viele Namen gedruckt waren. Drei Gestecke und zwei Thuja-Kränze mit schlichten Trauerschleifen machten einen verlorenen Eindruck. Das provisorische Holzkreuz neigte sich im aufgeweichten Boden etwas zur Seite.
Frida Schachmeier geb. Schuch
*12.04.1940 † 09.11.2019
*
»Morgen muss ich wieder nach Berlin. Ich habe versprochen, Donnerstag und Freitag im Büro zu sein. Wie sieht es aus mit dem Brocken?« Meine Begeisterung von gestern hatte über Nacht spürbar nachgelassen und so war ich froh, als meine Mutter mit geschlossenen Lippen über den ausgestreckten Zeigefinger fuhr.
»Mir wäre es viel lieber, du würdest mir bei dem ganzen Papierkram helfen. Das hat sicherlich nichts mit deiner Arbeit als Steuerberaterin zu tun, aber ich habe so gar keine Ahnung davon.«
Wovon, fragte ich mich, hatte sie überhaupt eine Ahnung. Trotz meiner schwindenden Bereitschaft, war ich wütend über die Absage, die in ihren Worten steckte, und war mir gleichzeitig im Klaren darüber, dass diese Wut sinnlos war.
»Erbschaftssteuer ist zwar nicht mein Fachgebiet, aber da werde ich mich ganz schnell schlau machen. Das sind eben die Situationen im Leben, bei denen man nicht auf Erfahrungen zurückgreifen kann. Aber wir können uns gemeinsam darum kümmern.« Ich lächelte meine Mutter an, die sich erleichtert bekreuzigte.
»Das kriegen wir auch ohne ihn hin«, sagte ich, klappte meinen Laptop auf und gab Was tun nach einem Todesfall in das Suchfeld ein.
»Gibt es ein Testament?« Meine Mutter zuckte mit den Schultern, während ich Notizen machte: Totenschein, Sterbeurkunde, Sterbegeldversicherung, Sterbeurkunde Ehepartner, Krankenkasse, Konto, Testament, Amtsgericht, Erbschein.
»Oh Gott, das ist ja eine ganze Menge!« Wieder eilte ihre Hand von der Stirn zur Brust, endete dann aber vor dem geöffneten Mund.
»Wir suchen jetzt erst einmal nach einem Testament.«, sagte ich in einem Ton, der versuchte, ihrer Aufregung etwas entgegenzusetzen. »Und damit fangen wir in Großmutters Zimmer an.«
Die Treppe knarrte. Ein Geräusch, das in meinem Kopf festsaß, wie eine Klette in langen Haaren. Wie häufig hatte ich als Kind das Einschlafen hinausgezögert, nur um den späten Schritten zu lauschen und auf das Schleichen meiner Mutter zu warten, nachdem Großmutter polternd vorangegangen war. Dann wünschte ich mir, dass sie bei mir reinschaute und mir über den Kopf strich, während ich vorgab, zu schlafen. Der notwendige kleine Ruck beim Schließen ihrer Zimmertür sagte mir, dass ich nicht mehr warten musste. Mein Weinen ließ mich immer schnell im Schlaf versinken, aber die Traurigkeit am Morgen hielt sich zäh.
Großmutters Tür machte ein schleifendes Geräusch. Mit der Klinke in der Hand drehte sich meine Mutter um, den Blick in den düsteren Flur gerichtet, wo ich bewegungslos auf der Treppe stand.
»Was ist?«, fragte sie und ich sagte: »Nichts.«
Nichts.
»Da hast du nichts zu suchen!« Die schneidende Stimme meiner Großmutter. Das Zimmer blieb ein ewiges Geheimnis. Die drohende Sünde hielt die kaum auszuhaltende Neugierde in Schach.
»Kommst du?«
Ich atmete tief ein, nahm die letzten Stufen und trat ins bewahrende Dunkel. Stumm lauschten wir eine Weile unserer Anwesenheit, aber dann zog meine Mutter mit einer mir völlig fremden Entschlossenheit den Rollladen nach oben, so wie man mit einem Griff ein Denkmal enthüllt. Das einfallende Licht ließ mich blinzeln, Schicht um Schicht zeichneten sich Bett, Schrank und Stuhl vor meinen Augen ab.
Das einsame Kreuz über einer kleinen Kommode unterstrich eine Trostlosigkeit, wie ich sie mir in einer Klosterzelle vorstellte.
Bloß keinen Spaß ins Leben lassen, das war meiner Großmutter mustergültig gelungen!
Ihr Geist wehte weiter durch das Zimmer und ließ meine Mutter, aber auch mich in eine ungewollte Habachtstellung verfallen. Kurz nur, dann riss ich eine Schublade aus der Kommode und knallte sie aufs Bett.
»Alles, was nach Dokumenten ausschaut, nimmst du raus und packst es auf einen Haufen.« Da kam auch in meine Mutter wieder Bewegung. Sie setzte sich sparsam auf den Bettrand, beide Füße auf dem Boden, die für den nötigen Halt zu sorgen hatten.
Ich nahm mir den Schrank vor. Zweiflügelig und in seiner Schlichtheit dem Inhalt gerecht werdend: Schwarz.
Seit meiner Kindheit war mit dieser Farbe der Geruch von Mottenkugeln verbunden. Großmutter roch ganzjährig danach. In der Grundschule durfte einmal jeder sagen, was er gerne roch und auch, was nicht. Ich mochte den Duft von Kakao, den es sonntags gab, den Geruch meiner Oma nicht.
Die ganze Klasse lachte und meine Lehrerin, Frau Schnabel, sagte, dass das nicht schön sei, meine Großmutter nicht riechen zu können. Und dann erklärte sie, was es bedeutet, wenn man einen Menschen nicht riechen kann. Was also gab es da zu lachen!
Ich fuhr mit der Hand über die Hüllen, in denen einst meine Großmutter steckte und brachte sie in Bewegung. Es dauerte nicht lange und schon hingen sie wieder wie stumme Zeugen reglos auf der Stange. Ohne Großmutter weckten sie Mitleid und mich überkam eine Trauer, die sich während der Beerdigung nicht hatte einstellen wollen.
»Hat Großmutter immer Schwarz getragen, auch als du Kind warst?« Mit dem Blick blieb ich im Schrank. Erst, als ich zu lange auf die Antwort warten musste, drehte ich mich um.
»Sie war dreiundzwanzig, als mein Vater starb. Da war sie mit mir schwanger. Ich kenne sie nur in Schwarz.«
»Und kein Mann hatte danach Lust auf eine ewig trauernde Witwe!« Mit einem energischen Handschlag brachte ich die Motten-Klamotten erneut in Bewegung. »Oder hat sie meinen Großvater so geliebt, dass eine weitere Liebe gar nicht mehr möglich war?« Die Ironie in meiner Stimme war nicht zu überhören. Ich machte eine kleine Pause, quasi als Entschuldigung, was nicht nötig war, da meine Mutter keine Regung der Empörung zeigte.
»Ich weiß, sie hat ja so gut wie nie über Großvater gesprochen. Wegen des Fotos auf der Anrichte habe ich mich manchmal getraut, nach ihm zu fragen, aber irgendwann war dieser stumpf gewordene Silberrahmen einfach verschwunden.« Ich nahm einen Bügel von der Stange. Großmutters Sonntagskleid.
»Weißt du überhaupt irgendetwas über deinen Vater?«
Meine Mutter legte die Schachtel mit den Tabletten aufs Bett, die sie die ganze Zeit in ihren Händen gedreht hatte.
»Er liebte Zinnsoldaten.« Ganz leise sagte sie das, es klang fast wie ein Geständnis.
»Er liebte Zinnsoldaten!! Ist das alles? Und Großmutter? Liebte er Großmutter?«
»Das weiß ich nicht. Aber er hat ihr dieses Haus gebaut. So was macht man wohl, wenn man jemanden liebt. Er hat nur nicht lange darin wohnen können.«
»Ein Unfall, ich weiß, aber mehr auch nicht. Durfte ja keine Fragen stellen.«
»Im Wasserkraftwerk. Er war Ingenieur. Seinen Chef kannte er aus dem Krieg.«
»Großvater war im Krieg? Moment … dann muss er ja um einiges älter gewesen sein.«
»Möglicherweise.«
»Möglicherweise, möglicherweise … wie du immer alles einfach nur so hinnimmst, das macht mich wahnsinnig!«
»Ich weiß es eben nicht. Großmutter hat mir doch auch nicht viel erzählt.«
Wie ein Häufchen Elend saß meine Mutter ganz in Schwarz auf dem weißen Bettbezug und starrte auf ihre Füße.