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Mit sechzig einen Neuanfang wagen? Es ist ein Zufall, der Martha im wahrsten Sinne des Wortes aus ihrer achtunddreißigjährigen unglücklichen Ehe mit Karl entführt. Und da sie schon einmal unterwegs ist, möchte sie auch nicht mehr zurück. Es beginnt eine Odyssee, die sie immer wieder in Verzweiflung stürzt. Doch weitere Zufälle und vor allem ihre Leidenschaft fürs Backen verhindern Kapitulation. Martha macht's. Ein eigener Youtube-Kanal. Mehr geht nicht! Oder doch? Denn da ist noch dieser Rune ...
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Seitenzahl: 239
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RASVAN
IRENE
EIN BAHNHOF WIE EINE KIRCHE
DIENSTAG
MITTWOCH
DONNERSTAG
FREITAG
SAMSTAG
SONNTAG
MONTAG
COLETTE
ENRIK
KARL
WORLD WIDE WEB
KUCHEN
SECONDCHANCE
GELUK
EIN WIEDERSEHEN
FRANKFURTER KRANZ
GÜNZBURG
CHRISTOPH
FAMILIENBESUCH
KIRSCHEN
TELEFONATE
AUFBRUCH
MARTHA MACHT’S
KLICK
EIN ANRUF
HAMBURG
RUNE
ROTE STERNRENETTE
NUR KAFFEE UND KUCHEN
KEKSE
AMARYLLIS
INA
SCHLÜPFEN
VOGELPERSPEKTIVE
RADISSON BLUE
EIN NEUES JAHR
ZWEI JAHRE SPÄTER
Martha protestierte nicht. Sie dachte auch gar nicht darüber nach, warum sie nicht protestierte. Aber sie spürte, dass es nichts mit Gefügigkeit zu tun hatte wie bei Karl. Bei Karl ordnete sie sich unter. Seit achtunddreißig Jahren. Bei dem Mann mit dem Tigerhemd war es der Bruchteil einer Sekunde, der ausreichte, geschehen zu lassen, was gerade geschah.
Karl wollte nur kurz zur Toilette und Martha starrte vom Beifahrersitz auf das junge Pärchen, das engumschlungen aus der Raststätte stolperte. Würde ich alles anders machen, wenn ich könnte?
Den Schlüssel hatte Karl stecken lassen. Er wäre ja gleich wieder da.
Jetzt aber war es der Mann mit dem Tigerhemd, der den Motor von Karls Mercedes aufheulen ließ.
Martha kippte nach vorne, als er rückwärts aus der Parklücke stieß, um dann an der Tankstelle Hockenheimring vorbei auf die A6 zu rasen.
Bis zur Ausfahrt Speyer fiel kein Wort. Das waren genau sechs Minuten. Allerdings überschlug sich derweil in ihrem Kopf so einiges, ohne dass sie in der Lage war, irgendeine Ordnung hineinzubringen.
»Karl fährt nie über Speyer hinaus«, unterbrach Martha die Stille. »Karl entfernt sich immer nur eine halbe Tankfüllung von Günzburg. Wegen der Stammtankstelle an der Ulmer Straße.«
Das schien den Tigermann weniger zu interessieren. Der fingerte eine Zigarette aus der Brusttasche und fragte Martha, ob sie auch eine wolle. Das ›R‹ von ›Zigarette‹ rollte. Martha schüttelte den Kopf.
»In Karls Auto wurde noch nie geraucht.« Martha schaute dem Qualm hinterher, der sich an der Windschutzscheibe brach. Das wäre ihm scheißeegal, sagte der Fremde und schnippte die Asche auf die Mittelkonsole. Jetzt wollte Martha doch protestieren, fragte dann aber nur nach seinem Namen.
»Rasvan«, rollte es mit dem Zigarettenrauch aus seinem Mund, während er sich mit der freien Hand durch die dichten schwarzen Haare fuhr. Eine Angewohnheit, die Martha kannte. Auch sie zupfte gerne an ihrer Frisur, wenn sich Unsicherheit einstellte und überspielt werden musste. Die Tiger waren offensichtlich nur auf dem Hemd und sie spürte, wie aus ihrem kleinen, dicken Körper die Spannung wich und sie auf ihrem Sitz zusammenrutschen ließ.
»Ich heiße Martha. Martha Müller. M&M.« Sie lachte. »Wo fahren wir denn hin?«
»Irgendwo. Scheißeegal. Weg …«
»Irgendwo … aber sagen Sie mir wenigstens, woher Sie kommen.« Martha drehte sich ein wenig zu ihm hin.
»Nix fragen!«
»Ich dachte nur wegen der Sprache. Sie rollen das ›R‹ so stark. Ich dachte an Balkan.«
»Romania.«
»Rrrrrromania! Da lag ich ja richtig mit dem Balkan.«
Schade, dass das Karl jetzt nicht mitbekam. Martha klatschte in die Hände. »Und was machen Sie in Deutschland?«
»Nix fragen!« Rasvan nahm einen tiefen Zug, und die Glut der Zigarette blitzte auf wie eine Warnleuchte.
Martha schwieg, verschränkte ihre dicken Arme und schaute in die schmutzige Winterlandschaft. Sie war enttäuscht. Hinter Speyer hatte sie mehr erwartet. War doch Neuland! Da müsste es doch etwas zu bewundern geben!
Es war Brandgeruch, der sie aus ihren Gedanken riss. Rasvan hatte die Zigarette erfolglos in den Fahrtwind geschnippt. Jetzt sengte der Stummel ein Loch in Karls Mantel, der auf dem Rücksitz lag.
»Der Mantel, er brennt! Ich muss das Feuer ersticken. Bitte anhalten!«
Rasvan dachte nicht daran, und so schnallte sich Martha kurzerhand ab und versuchte, sich zwischen den beiden Sitzen hindurchzuzwängen. Das war nicht ganz einfach, und sie kam Rasvan so nahe, dass sie seine Körperwärme spüren konnte. Es war der Schweißgeruch, der sie den Mantel kurz vergessen ließ. Mit geschlossenen Augen und ohne sich zu rühren zog sie den Dunst genussvoll durch die Nase ein.
»Was du willst ersticken, mich oder die Mantel?«
Martha spürte, wie ihr das Blut in den Kopf schoss. Hastig schob sie sich über die Rückenlehne. Mit ihrer Handtasche haute sie auf die glimmende Stelle, bis sich nichts mehr rührte, wie sie sagte. Erschöpft rutschte sie zurück auf ihren Platz, legte den Gurt wieder an und stopfte die Haare zurück, die sich aus der Hochsteckfrisur gelöst hatten.
»Karls Geschenk zu meinem Fünfzigsten.« Sie drehte die Tasche und kontrollierte, ob sie Schaden genommen hatte. »Karls Mantel … der ist nun hinüber. Und jetzt steht er an der Raststätte Hockenheimring Ost ohne Mantel. Und ohne Auto und ohne Frau …Sie haben auch keinen Mantel. Sie laufen im Sommerhemd rum, mitten im Winter! Ein ungebügeltes Sommerhemd! Ich könnte Ihnen das in nullkommanix bügeln, wenn ich ein Eisen zur Hand hätte. Seit achtunddreißig Jahren bügele ich Hemden. Hat Karl in einem Liebesbrief an mich geschrieben … ob ich jemanden wüsste, der seine Hemden bügelt. War quasi ein Heiratsantrag. Ich habe JA gesagt. Sind Sie verheiratet?«
»Du nix fragen!« Rasvan zündete sich eine zweite Zigarette an.
Dass er sie duzte, gab ihr ein Gefühl von Vertrautheit. »Wir haben drei Söhne … die brauchen mich schon lange nicht mehr, haben ihr eigenes Leben. Eigentlich müssten wir jetzt in Speyer bei Karls Schwester Waldtraud sein. Die wurde Donnerstag siebzig. Die Feier haben sie aufs Wochenende verlegt. Im Kofferraum ist ein Frankfurter Kranz. Habe ich gebacken. Karl wünscht sich immer einen Frankfurter Kranz, wenn seine Schwester Geburtstag hat. Ist sein Lieblingskuchen. Haben Sie … nein, … hast du auch einen Lieblingskuchen?«
»Rahat!«, brüllte Rasvan und Martha prallte trotz Gurt gegen seine Schulter, um gleich wieder in ihren Sitz gedrückt zu werden.
»Warum rast du so? Wir sind doch nicht auf der Flucht!« Martha umklammerte den Haltegriff über dem Fenster.
»Rahat, rahat … politisti, Bullen!«
Martha drehte sich um, und dann musste sie lachen. »Das ist Karls Telefon! Vielleicht ruft er gerade bei sich an oder es ist Waldtraud, wo wir denn bleiben.« Sie lachte mit dem ganzen Körper, hörte aber sofort auf, als Rasvan ihr seinen behaarten Arm vor die Brust schlug.
»Gib mir die Handy … imediat!«
Martha erschrak, zog mit einer Hand den Mantel vom Rücksitz und griff in die Tasche, aus der das Martinshorn tönte.
»Verfickte Handy!«, schrie Rasvan und Martha konnte dem Telefon nur kurz hinterherschauen, als es aus dem Fenster flog.
»Wir sind auf der Flucht, stimmt’s?« Martha schaute Rasvan mit einem verschwörerischen Lächeln an. »Wir sind auf der Flucht und ich bin deine Geisel. Bin ich doch, oder?«
Rasvan murmelte etwas auf Rumänisch, klopfte auf seine Brusttasche und holte die leere Zigarettenpackung raus, die er fluchend mit einer Hand zerknüllte und ebenfalls aus dem Fenster warf.
»War vielleicht auch die Polizei, die angerufen hat. Die suchen Karls Mercedes und möglicherweise auch mich. Karl wird der Polizei allerdings gesagt haben, dass ich ganz selten Auto fahre und nicht aus einer Laune heraus einfach weggefahren sein kann.« Sie nahm die Hand vom Haltegriff und setzte sich entspannt auf. Rasvan raste nicht mehr, hatte sich rechts eingereiht und fuhr auf die Raststätte Wonnegau bei Worms.
»Komm mit und nix reden.«, zischte Rasvan, als er die Beifahrertür öffnete und Martha bei der Schulter packte. Er kaufte drei Dosen Bier, zwei Fläschchen Korn und Zigaretten. Martha hätte gerne noch ein Wasser gehabt, aber sie durfte ja nichts sagen. Sie nahm die Drohung, die sich auch in Rasvans Blick widerspiegelte, ernst. Und mit diesem Blick kam auch die Angst, die bisher noch keine Möglichkeit gehabt hatte, sich zu melden. Ihre naive Unbekümmertheit war verflogen, der Druck auf der Blase kaum noch auszuhalten. Wortlos deutete Martha mit dem Kopf in Richtung Toiletten. Rasvan verstand, packte sie am Ärmel und schob sie zum Eingang. Fünf Finger hob er in die Luft. Auch Rasvan brauchte keine Worte, und sie wusste, dass sie genau fünf Minuten hatte. Die aufsteigenden Tränen schluckte sie weg. Gegen die aufkommende Panik, als sie ohne Geld vor der Sanifair- Schranke stand, konnte sie allerdings nichts tun. Während sie ihre Manteltaschen durchwühlte, musste sie andere Wartende vorbeiziehen lassen.
»Aber der Bon geht an mich.« Eine Frau drückte ihr die notwendigen siebzig Cent in die Hand. Die Dankbarkeit auf Marthas Gesicht löste sich hinter der verriegelten Tür gleich wieder auf. Nichts lief, außer der Zeit und den Tränen, die sie nun nicht mehr zurückhalten konnte. Soll er doch ohne mich fahren. Was hat er von mir? Soll den Mercedes nehmen und mich hier sitzen lassen. Ich in Wonnegau, Karl am Hockenheimring Ost.
Die Hände im hochgeschobenen Rock festgekrallt, weinte sie tonlos. Den Griff lockerte sie, als es endlich lief. Schien aber nicht aufhören zu wollen. Wann würden die fünf Minuten enden? Mit rasendem Puls zupfte sie Toilettenpapier aus dem Spender und hörte erst damit auf, als der letzte Tropfen fiel.
Zwei Handvoll kaltes Wasser sollten ihr verheultes Gesicht richten. Es anschließend unter den Luftstrom des Händetrockners zu halten, zog sie nur kurz in Erwägung.
Rasvan stand noch dort, wo er seine fünf Finger in die Luft gestreckt hatte. Die Bierdosen vor die Brust gedrückt, eine Zigarette zwischen den Fingern, folgte er Martha, die offensichtlich keine Zeit verlieren wollte und auf den Parkplatz zusteuerte.
Schweigend standen sie sich am Auto gegenüber, bis Martha schüchtern fragte, ob er ein Stück vom Frankfurter Kranz haben wollte. Der kommt heute eh nicht mehr zu Waldtraud, dachte sie und holte tief Luft.
»Weißt du überhaupt, was ein Frankfurter Kranz ist?« Martha wünschte sich, dass es wieder so wird wie es war, als sie sich wohlgefühlt hatte. Rasvan schüttelte den Kopf.
»Dann zeig ich ihn dir.« Frisch beflügelt öffnete sie den Kofferraum, während Rasvan frierend im Kurzarmhemd danebenstand, Bier aus der Dose trank und rauchte.
»Wie schön . . . trotz der Raserei sind alle kandierten Kirschen noch da, wo sie hingehören!« Stolz hielt sie den Deckel vom Tortenwunder in die Höhe und überlegte, wie sie ohne Messer zurechtkommen sollte, aber da versenkten sich schon Rasvans Finger im Geburtstagskuchen. Er brach sich einfach ein Stück heraus, ließ seine Zigarette von den Lippen fallen und stopfte sich den Brocken in den Mund. Martha schaute gekränkt einer kandierten Kirsche hinterher, die auf die braun-beige karierte Wolldecke gekullert war.
»Gud!« sagte Rasvan und leckte sich die Finger ab, mit denen er sich gleich ein weiteres Stück herausbrach. Martha legte den Deckel vom Tortenwunder beiseite, zögerte etwas und griff dann auch in den Kuchen. Sie lachte mit vollem Mund, und auch Rasvan lachte, bevor er die Bierdose ansetzte, um alles hinunterzuspülen. Dann drängte er zum Aufbruch.
»Karl fährt nie Auto, wenn er Alkohol getrunken hat.«, sagte Martha, die umständlich mit einem Finger die Beifahrertür öffnete.
»Dein Karl ist scheisseegal!« antwortete Rasvan und wischte seine klebrigen Finger im Autositz ab.
»Wenn Karl . . .«
»Noch einmal diese Karl, dann rrrraus!« Rasvan war richtig böse, das R von raus wollte gar nicht mehr aufhören zu rollen. Martha zuckte zusammen und suchte so geräuschlos wie möglich im Handschuhfach nach Erfrischungstüchern. Erst als ihre Hände nicht mehr klebten, zog sie sich den Gurt über den Bauch. Sie musste mehrfach nachfassen, bis die Länge stimmte und das Endstück einklickte. Raus wollte sie jetzt doch nicht mehr.
»Ich bin zu dick, stimmt’s?«
»Mir egal.«
Dass es Rasvan nicht scheisseegal war, klang in Marthas Ohren fast wie ein Kompliment. Karl war es auch egal. Aber eben anders. Unpünktliche Mahlzeiten waren Karl nicht egal. Sie schaute nach draußen, wo die Landschaft noch immer nicht das bot, was sie erwartete. Im Gegenteil, sie wurde immer flacher und lag teilweise unter Plastik.
»Spargel.«, sagte Martha. »Unter den Folien wächst Spargel. Geht bald wieder los. Ist mein persönlicher Jahresanfang. Ich habe immer das Gefühl, dass mit dem Spargel alles wieder von vorne anfängt. Spargel mit Pellkartoffeln, Kochschinken und Buttersoße. Keine Experimente, sagt Karl jedes Jahr.« Sie schlug die Hand vor den Mund wegen Karl, aber Rasvan hatte das gar nicht bemerkt. Vielleicht hörte er gar nicht zu.
»Ich würde Spargel gerne mal anders kochen.«
»Dann mach doch . . . «
Offensichtlich hatte er doch zugehört. Darüber freute sich Martha.
»Magst du Spargel?«
»Fleisch.« Rasvan zeigte auf den LKW, den sie gerade überholten. Vorsicht lebende Tiere, las Martha. Im LKW waren keine Tiere. Vielleicht, weil Wochenende war.
»Warum soll man Rücksicht nehmen auf die armen Tiere, wenn sie auf dem Weg zum Schlachthof sind? Manchmal hört man im Radio, dass ein Tiertransporter auf der Autobahn verunglückt ist. Dann wird vor herumlaufenden Schweinen gewarnt und ich wünsche mir jedes Mal, dass wenigstens ein paar abhauen können, nicht mehr gefunden werden und sich ein schönes Leben machen können.«
Rasvan sagte dazu nichts und als Martha fragte, ob sie sich eine Dose Bier nehmen könne, sagte er ja. Nur ihr großer Durst ließ sie den widerlichen Geschmack überwinden. Rasvan schien ihre Abneigung zu bemerken.
»Nimm anderes, schmeckt gud.« Er streckte sich, fuhr mit der Hand in die Hosentasche und hielt ihr ein Fläschchen mit dem Korn hin.
»Oh, ich trinke solche Sachen nicht!« Martha schob seine Hand weg.
»Is gud. Trrrinken!«
Aus Angst, ihn zu enttäuschen, griff sie nach dem Fläschchen, drehte langsam an dem roten metallenen Verschluss und hielt ihre Nase an die Öffnung.
»Trrrrinken!«
Das waren zu viele Rs. Martha schloss die Augen, nahm einen Schluck und konnte es nicht verhindern, sich schütteln zu müssen. Zumindest schmeckte das Bier jetzt besser, und weil sie Durst hatte, trank sie eine halbe Dose. Rasvan lachte und zeigte auf den Schnaps.
»Noch eine Schluck!«
Den handhabte sie wie bittere Medizin: Sie hielt die Luft an und spülte mit Bier nach. Jetzt klopfte Rasvan lachend aufs Lenkrad und auch Martha lachte. Ein unkontrolliertes Lachen, aber keineswegs unangenehm und irgendwann lachte sie nur noch, weil sie so lachen musste. Dabei trank sie Bier im Wechsel mit Schnaps. Auch Rasvan machte sich einhändig eine Dose auf, wobei das Bier aus der Öffnung schäumte und sich auf seine Hose und den Sitz ergoss. Jetzt lachte Martha Tränen und haute ihren Kopf mehrfach gegen die Nackenstütze. Die Landschaft draußen fand sie gar nicht mehr so schrecklich und als sich Rasvan eine Zigarette anzündete, wollte sie auch eine. Als gehöre sie dazu ‒ wozu auch immer ‒, haute er ihr anerkennend auf die Schulter und hielt ihr die Packung entgegen. Es fiel ihr schwer, eine zwischen die Finger zu bekommen, also nahm sie die ganze Schachtel, hatte dann aber gleich drei Zigaretten in der Hand. Eine schob sie sich zwischen die Lippen und die beiden anderen zerbrach sie beim Versuch sie zurückzustecken.
»Eşti vacă proastă!«, das klang nicht freundlich. Trotzdem hielt er ihr das Feuerzeug hin. Dass sie zwei Flammen sah, machte sie stutzig und forderte eine Entscheidung ab, auf die Rasvan offensichtlich nicht mehr länger warten wollte, denn das Auto schlingerte schon. Fluchend warf er das Feuerzeug auf ihren Schoß.
»Nix mehr lache!«
Das war für Martha nicht einfach, hörte aber von selbst auf, als sie den ersten Rauch aus ihrer Lunge hustete.
»Sehr gud . . . « Wieder klopfte er ihr auf die Schulter, zündete sich eine Zigarette an und zeigte ihr, wie sie den Rauch tief einatmen musste. Martha hörte gar nicht mehr auf zu husten. Ihr wurde schwindelig und sie dachte, das liege am Duftbäumchen, das am Rückspiegel hin und her pendelte. Sie schloss die Augen, aber das machte es nicht besser. Aufgeben wollte sie nicht. Schon wegen der neuen, ungewohnten Kraft nicht, die im Begriff war, sich in etlichen Fasern einzunisten, auch wenn ihr Körper gerade etwas außer Kontrolle schien. Sie rauchte so lange, wie auch Rasvan rauchte. Der Geschmack im Mund blieb und sie überlegte, ob ein Erfrischungstuch die Lösung wäre.
»Was ist mit Geld?«, Rasvan klopfte auf die Tankanzeige.
»Ich habe nur das Restgeld vom letzten Einkauf im Portemonnaie, aber ich schau mal bei . . . meinem Mann nach. Martha beugte sich schwerfällig nach hinten, erwischte den Mantel nach dem dritten Versuch, zog ihn vom Rücksitz und plumpste zurück. Sie schloss die Augen und atmete konzentriert mit offenem Mund, bevor sie die Innentaschen abtastete. Triumphierend wedelte sie mit Karls Brieftasche in Rasvans Blickfeld herum. Der schob ihre Hand beiseite und fragte, »wieviel?«
Martha zählte nach. »Fünfundneunzig. Das ist zu wenig.«
»Reicht für tanken.«
Martha reichte das nicht. Koblenz war die nächste Ausfahrt.
»In Koblenz wohnt Irene. Meine Cousine. Die habe ich schon eine Ewigkeit nicht mehr gesehen. Und in Koblenz gibt es sicherlich eine Sparkasse.« Jetzt wedelte sie mit der Bankkarte.
Mit den Händen formte sie einen Lautsprecher vor ihrem Mund. »Bitte nehmen Sie die Ausfahrt!« Es war knapp, aber es reichte, um die Autobahn bei Metternich zu verlassen.
Martha blätterte in Karls Notizbuch, in dem sie nicht nur Irenes Anschrift suchte, sondern auch die Geheimzahl für die Bankkarte. Du brauchst keine eigene Bankkarte, hatte Karl wiederholt, wenn sie darauf hinwies, dass es doch praktischer wäre. Da Karl der Technik nicht bedingungslos vertraute, hielt er die Daten, die sich gewöhnlich als Telefonnummer getarnt auf dem Handy befanden, zusätzlich handschriftlich fest. Unter ›S‹ fand sie, was sie suchte. Sparling Horst, und die Zahlenfolge hinter der Vorwahl von Günzburg.
»S-P-A-R-ling . . .« Sie kicherte wie herumalbernde Mädchen. »Verstehst du? S-P-A-A-A-A-R, wie Sparkasse! Und dann noch Horst …« Martha lachte wieder Tränen, Rasvan aber fand das gar nicht komisch.
»Wo ist Spaaaaakasse?«
Er solle sich einfach Richtung Schentrum halten, das Sprechen funktionierte nicht mehr wie gewohnt. Auch drehte sich im Kopf so einiges und sie musste sich konzentrieren, um auf die Schilder achten zu können. Als sie über eine Brücke fuhren und sie aufs Wasser schaute, erinnerte sie sich an einen Schulausflug in der sechsten Klasse, als sie bei strömendem Regen und frierend am Deutschen Eck standen. Ob das nun der Rhein war oder die Mosel, konnte sie nicht sagen. Aber dass hier bei Koblenz die Mosel in den Rhein mündet, das hatte sie nicht vergessen, und das machte sie ein bisschen stolz.
»Da vorne … rot und mit Parkplatz!«
Beide stiegen aus und gingen zur Eingangstür, an der Martha verärgert rüttelte, weil sie geschlossen war.
»Du musst hier Karte rein.«, sagte Rasvan und wollte sie ihr aus der Hand nehmen. Aber das wollte Martha nicht. Zur wiedergewonnenen Unbekümmertheit gesellte sich eine leise Ahnung, dass es so besser wäre. Sie steckte die Karte in den Schlitz und Rasvan, der sie um zwei Köpfe überragte und dicht hinter ihr stand, drückte die Tür auf, als es summte. Ein Blick ins Cockpit eines Flugzeugs war zweifellos verwirrender. Hatte sie im Fernsehen gesehen und sich gefragt, wofür die unzähligen Schalter und Hebel da waren. Jetzt stand sie vor einem Bankautomaten, das erste Mal in ihrem Leben und ganz ohne Karl. Sie musste weder starten noch landen, die Tasten waren übersichtlich, das Display hieß sie willkommen. Das fand sie sympathisch. Rasvan dafür immer weniger, der klebte ihr schon wieder nervös am Rücken, aber sie bestand darauf, alles selbst zu erledigen. Ohne Anweisungen von einem Mann im Tigerhemd oder vom Tower.
»Irgendwann muss ich ja mal damit anfangen.« Mit viel Ruhe ‒ alleine schon ihr Zustand erforderte das ‒ las sie alle Informationen und Rasvan meinte, dass sie damit nicht gerade heute anfangen müsste.
»Hier Karte rein.«
»Das habe ich auch schon gesehen.« Die Karte kam aber gleich wieder raus und Rasvans Hände fuhren blitzschnell dazwischen.
»Anders rein.« Er griff nach der Karte, aber Martha drückte sie an ihre Brust.
»Du kannst den Mercedes haben, den will ich gar nicht. Aber das hier mache ich ganz alleine.« Sie musste sich mit einer Hand an der Wand abstützen, auch weil ihr leicht übel wurde, als sich eine Eieruhr auf dem Display drehte.
»Abhebung. Hier drucken.« Den Schweißgeruch, der ihr vor gut zwei Stunden ein leichtes Kribbeln verursacht hatte, fand sie jetzt abstoßend.
»Ich kann auch lesen . . .«, Martha machte einen halben Schritt zurück, um Rasvan abzudrängen.
»Andere Betrag drucken . . .« Rasvan schob sie den halben Schritt wieder nach vorne.
»Und was mach ich da?«
»Schreib tausend.«
»Tausend? Das ist viel. Geht das überhaupt?«
»Schrrrreib . . .«
Widerspruchslos gab sie die Zahl ein und Rasvan drückte die grüne Taste.
»Rasvan, lass das!«
»Siehst du, ged doch tausend . . .«, er grinste.
Geben Sie Ihre Geheimzahl ein, las Martha und befolgte den Hinweis, ihre Hand schützend über die Tastatur zu halten. Das war ihr auch wichtig, denn Rasvan war ohne Zweifel ein Krimineller.
Die Hand musste sie aber gleich wieder wegnehmen, die brauchte sie, um in Karls Notizbuch zu blättern, denn die Geheimzahl hatte sie nicht im Kopf. Mit der Linken hielt sie die entsprechende Seite geöffnet, mit der Rechten tippte sie im Verborgenen.
Einen Moment bitte . . . wieder drehte sich die Eieruhr und dann kam die Karte aus dem Schlitz. Während Martha danach griff, schnappte sich Rasvan das Geld, das sich aus der Klappe schob.
»Rasvan! So geht das nicht, das ist mein Geld!« Martha hielt fordernd die offene Hand hin. »Gib mir die Scheine, sonst . . .«
»Sonst was?«
»Sonst rufe ich die Polizei!«
Rasvan lachte mit dem Kopf im Nacken und direkt in die Überwachungskameras hinein.
»Rrrraus!«
Martha stolperte nach draußen. »Rasvan, du willst weg und ich will weg. Verstehst du? Ich will auch weg! Und ich brauche Geld. Das ist mein Geld! Ich hätte dir sowieso etwas abgegeben, aber eben nicht alles. Und dann hast du ja auch noch das Auto!«
Martha sah sich schon mit dem Restgeld des letzten Einkaufs zurückgelassen, umso mehr überraschte es sie, als Rasvan ihr die Scheine entgegenstreckte.
Jetzt wollte sie es nur noch hinter sich bringen, zählte dreihundert Euro ab und stopfte den Rest in ihre Handtasche.
»Noch eine . . .«
»Was eine? Ich gebe dir noch fünfzig und dann kannst du verschwinden. Ich komme von nun an alleine zurecht.« Das sagte Martha mit fester Stimme, hinter der sich die Unsicherheit verbergen konnte. Aus Karls Mercedes holte sie noch die Erfrischungstücher, die im Handschuhfach lagen. Dann war es wie ein Abschied. Auch von Rasvan.
Der saß schon hinterm Steuer und beugte sich zur geöffneten Tür der Beifahrerseite. »Frrrrankefuter Krrrranz gud!« Martha lachte und schlug die Tür zu. Sie rief ihm noch hinterher, dass er auch Karls Mantel behalten könne, aber das konnte er nicht mehr hören.
Neunzehn Minuten zu Fuß zum Deutschen Eck. Neunzehn Minuten ‒ die konnte sie sich leisten. Sie konnte sich gerade alles leisten. Nur Angst zu haben, das konnte sie sich nicht leisten, und deshalb setzte sie auf das Gefühl der Freiheit. Zum Klacken ihrer Absätze schwenkte sie ihre Handtasche hin und her und rechnete nach, wieviel Geld sich darin befand. Zählte sie das Kleingeld aus ihrem Portemonnaie dazu, dürften es rund siebenhundertfünfzig Euro sein.
Fünfzig Pfennig hatte sie dabeigehabt, als sie vor etlichen Jahren am Deutschen Eck stand. »Damit du dir am Kiosk was kaufen kannst«, hatte ihre Mutter gesagt. Das war wenig, allerdings hatte sie damals noch das ganze Leben vor sich und jetzt war davon nicht mehr so viel übrig.
Es fing an, leicht zu regnen. Da Marthas Schirm im Kofferraum bei den Kuchenresten lag, hielt sie Ausschau nach einem Taxi, wurde dann aber vom Reiterdenkmal abgelenkt. Auf dem monumentalen Sockel wehte damals nur die Deutschlandfahne. Ein Mahnmal der Deutschen Einheit, hatte Herr Breinig, der Klassenlehrer, erklärt. Das Reiterstandbild Wilhelm I. sei im Zweiten Weltkrieg zerstört worden. Martha wollte wissen, warum der Wilhelm mit seinem Pferd jetzt wieder auf dem Sockel thronte. Die Neugierde war neu. Sie wollte sich darum kümmern, ganz ohne Karl.
Sie salutierte dem grünspanigen Kaiser und freute sich über die erste Aufgabe in ihrem neuen Leben, zumal das momentane Herumschlendern noch ziellos war. Was hatte sich in all den Jahren doch alles verändert, während ihr Leben im Tagein-Tagaus stehengeblieben war!
Die Betonbänke mit den Sitzflächen aus Holz hatte es damals nicht gegeben, die Seilbahn über den Rhein, da war sie sich sicher, auch nicht, und an solch einen schönen Spielplatz konnte sie sich auch nicht erinnern. Sie erinnerte sich an eine Rutsche und an eine Schaukel, auf der nur die Stärksten saßen. Da gehörte sie nicht dazu. Sie gehörte zu denen, die gehänselt wurden, weil sie mit zwölf schon zu dick war.
Der Spielplatz war leer und hinterließ eine Traurigkeit wie eine unbewohnte Siedlung. Das brauchte Martha jetzt nicht. Martha brauchte ein Taxi und einen trockenen, warmen Ort. Der Regen hatte zugenommen, er tropfte aus den Haaren und versickerte im Mantel. Sie erwischte eins an der Peter-Altmeier-Uferstraße. Glücklich schien der Fahrer nicht, als sich Martha mit tropfendem Mantel auf der Rückbank niederließ. Aber Martha war glücklich. Wie eine Königin saß sie im Fond, eine warmherzige Königin, die feierlich Irenes Adresse verkündete.
»Stimmt so.« Die Großzügigkeit klang in den Worten mit, als sie dem Fahrer den Zwanzig-Euro-Schein entgegenstreckte. Fünfeurofünf- undvierzig Trinkgeld. Das reichte, um ohne Hemmungen einen nassen Sitz zurückzulassen.
Rhododendron. Ein Teppich immergrüner Bepflanzung und mittig eine Schneise aus grauen Granitstufen, die zum zweiflügeligen Eingang eines Walmdachbungalows führte. Noch musste sich Martha beim Gehen auf ihre Füße konzentrieren, aber es ging ihr schon viel besser und auch der Schwindel war verschwunden. Ohne zu zögern, drückte sie auf die Klingel. Die kleine Melodie spielte immer noch, als sich ein dunkler, größer werdender Schatten auf dem ockerfarbenen Riffelglas zeigte.
Dann öffnete sich der rechte Flügel der Tür.
»Ja bitte?« Der Ton hatte etwas Vorwurfsvolles.
»Hallo Irene!« Martha wollte wie eine freudige Überraschung klingen.
»Also ich …«, dann zog Irene die Augenbrauen zusammen und die Stimme ging nach oben. »Martha? Bist du das?«
»Ja, das bin ich …« Eine Weile standen sie sich wortlos gegenüber. Irene mit verschränkten Armen im Türrahmen und Martha im offenen Wintermantel auf der großzügigen Fußmatte.
»Ich hätte dich aber auch kaum wiedererkannt, wenn da nicht Fackelmann auf dem Klingelschild stehen würde.« Sie zeigte auf das getöpferte Familienglück zu dritt.
»Was machst du hier in Koblenz? Alleine … und wo ist Karl? Aber komm doch erstmal rein …«
Ihre zwei Jahre jüngere Cousine ging voran, den Blick dabei besorgt auf den nassen Mantel und die Orientbrücke im Flur konzentriert.
»Den hängen wir gleich mal im Heizungskeller auf!« Sie nahm einen Kleiderbügel von der Garderobe und hielt ihn Martha entgegen, die blind hineinlief, weil ihre Aufmerksamkeit von einer ausladenden Elchtrophäe über der Wohnzimmertür beansprucht wurde. Sie spürte den Kleiderbügel wie eine Schwertspitze auf ihrer Brust, das Wort hängen schwang in ihrem Kopf und sie dachte an Hinrichtung. Irene hätte Gründe. Als sie Kinder waren und nicht selten bei Familienfeiern aufeinandertrafen, hatte sie unter Martha zu leiden gehabt. Nicht nur die zwei Jahre Altersunterschied gaben Martha Überlegenheit, da war schon immer mehr Körpermasse im Vergleich zur schmächtigen Cousine, an der sie sich für die Schikanen ihrer Klassenkameraden rächte. Bohnenstange. Vogelscheuche. Dürr ist sie heute noch, stellte Martha fest. Die störrischen Haare mittlerweile grau, aber mittels einer extremen Kurzhaarfrisur gebändigt. Ob sie noch sauer ist, weil ich bis heute nicht zugegeben habe, dass ich es war, die an Opas Fünfundsechzigstem alle Kaninchenställe aufgemacht hatte?
»Den Mantel Martha, zieh ihn aus!«
Martha zuckte zusammen. »Natürlich, … der Mantel. Entschuldigung …«
Es war nicht einfach, aus dem klatschnassen Mantel herauszukommen. Martha schwankte und stieß gegen Irene, die noch mit dem Bügel in der Hand herumstand.
»Tschuldigung!« hauchte sie ihrer Cousine direkt ins Gesicht.
»Martha, hast du getrunken?«
Martha ahnte, dass eine Antwort gar nicht erwartet wurde, dass es sich lediglich um eine Feststellung handelte. Sie sagte trotzdem »Ja« und grinste. Dann reichte sie ihr den Mantel. »Mein Kostüm scheint auch nicht ganz trockengeblieben zu sein.« Sie fuhr mit beiden Händen über den wollenen Zweiteiler.
»Da kann ich dir leider nicht aushelfen.« Mit einem zynischen Lachen verschwand Irene im Keller und rief ihr noch zu, doch bitte die Schuhe auszuziehen. Die waren auch nass, und die blickdichte Strumpfhose klebte an den Beinen.
»Hat Bruno den geschossen?« Martha zeigte auf den Elchkopf, als Irene wieder aus dem Keller kam.
»Nein, Bruno schießt nicht, der schweißt nur.« Jetzt war das Lachen nicht mehr zynisch, eher erwartungsvoll. Aber diese Erwartung wollte Martha nicht bedienen. Wirklich witzig war ihre Cousine noch nie gewesen. Die schob Martha mit beiden Händen in ein Wohnzimmer mit großem Panoramafenster und viel Blick in einen geordneten Garten.
»Schön habt ihr’s hier.«
»Ihr habt uns nie in Koblenz besucht.«
»Wegen der Stamm -Tankstelle in der Ulmer Straße.«
»Wegen einer Tankstelle?«
»Karls Prinzipien. Will ich jetzt aber gar nicht länger erklären.« Dass Karl Bruno nicht mochte, wollte sie nicht erwähnen.
»Wo ist er überhaupt, dein Karl? Und wie lange ist das her, dass wir uns das letzte Mal gesehen haben?« Irene zeigte auf ein Sofa mit vielen Kissen und Martha setzte sich. Sie selbst nahm den Sessel, schob ihn aber vorher etwas näher ran.