Der Leinwandmesser - Leo Tolstoi - E-Book + Hörbuch

Der Leinwandmesser E-Book und Hörbuch

Leo Tolstoi

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Beschreibung

Das titelgebende Pferd wird wegen seines langen, weit ausschreitenden Ganges Leinwandmesser genannt. Als alter, scheckiger Wallach erzählt es in seinem letzten Gestüt in fünf aufeinanderfolgenden Nächten seinen jüngeren Artgenossen seine Lebensgeschichte. Es war einst wegen seiner Kraft im ganzen Land berühmt und ging in jungen Jahren in den Besitz eines Husarenoffiziers über. Dieser draufgängerische Lebemann reitet Leinwandmesser in einer Nacht, in der er einer untreuen Geliebten hinterherjagt, dermaßen zugrunde, dass dieses von neuen Besitzern fortan hauptsächlich als Lasttier genutzt wird. Gegen Ende der Erzählung kommt der Offizier, inzwischen verfettet, hochverschuldet und von einstigen Geliebten endgültig verlassen, zum Besitzer des letzten Gestüts von Leinwandmesser. Er erinnert sich an seinen scheckigen Wallach und schwelgt in glorreichen Zeiten, was dem Leser den inzwischen eingetretenen Verfall nur umso mehr verdeutlicht. Tolstoi beschreibt zum Schluss das Sterben Leinwandmessers ebenso wie das Hinsiechen seines einstigen Herrn und setzt menschlichen und tierischen Niedergang in Beziehung zueinander.

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Seitenzahl: 82

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Zeit:1 Std. 49 min

Sprecher:Friedrich Frieden
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Inhaltsverzeichnis

Kapitel I

Kapitel II

Kapitel III

Kapitel IV

Kapitel V - Die erste Nacht

Kapitel VI - Die zweite Nacht

Kapitel VII - Die dritte Nacht

Kapitel VIII - Die vierte Nacht

Kapitel IX - Die fünfte Nacht

Kapitel X

Kapitel XI

Kapitel XII

Kapitel XIII

I.

Immer höher und höher schien sich der Himmel zu heben, immer weiter breitete sich die Morgenröte aus, immer weißer wurde der matte Silberschimmer des Taues, immer glanzloser die Mondsichel, immer vernehmlicher das leise Rauschen des Waldes … Die Menschen begannen, sich vom Lager zu erheben, und im herrschaftlichen Gestüt hörte man immer häufiger Schnauben, Stampfen im Stroh und sogar zorniges, kreischendes Wiehern der Pferde, die sich zusammendrängten und um etwas stritten.

»Na, na! Immer Geduld! Seid wohl hungrig geworden?«, sagte der alte Pferdehüter, während er rasch das knarrende Tor öffnete. »Wohin?«, schrie er und scheuchte eine Stute, die sich durch das Tor drängen wollte, mit dem ausgestreckten Arm zurück.

Der Pferdehüter Nestor trug einen Kosakenrock und um den Leib einen ledernen, rot ausgenähten Gurt; die Peitsche hatte er um die Schulter geschlungen; am Gurt hatte er einen Beutel mit Brot hängen. In den Händen hielt er einen Sattel und Zaumzeug.

Die Pferde waren über den spöttischen Ton des Pferdehüters ganz und gar nicht erschrocken, fühlten sich auch nicht dadurch gekränkt; es sah aus, als ob sie sich gar nichts daraus machten, und sie gingen ruhig von dem Tor weg. Nur eine alte dunkelbraune, langmähnige Stute legte das eine Ohr an und drehte sich schnell mit dem Hinterteil herum. In diesem Augenblick kreischte eine junge Stute, die ganz hinten stand, und die das Ganze gar nichts anging, laut auf und schlug mit den Hinterfüßen gegen das erste beste Pferd aus, das in ihrer Nähe war.

»Na, na!«, schrie der Pferdehüter noch lauter und drohender und begab sich in eine Ecke des Hofes.

Von allen Pferden, die sich auf dem Hof befanden – es mochten ihrer etwa hundert sein –, zeigte die geringste Ungeduld ein scheckiger Wallach, der alleine für sich in der Ecke unter dem Vordach eine Schuppens stand und, die Augen halb zukneifend, an einem eichenen Pfosten des Schuppens leckte.

Es war schwer zu sagen, welchen Genuss der scheckige Wallach daran fand; aber er machte, während er das tat, eine ernste nachdenkliche Miene.

»Was machst du da für Dummheit!«, rief ihm der herantretende Pferdehüter zu; dann legte er den Sattel und die fettglänzende Schweißdecke neben ihn auf einen Düngerhaufen.

Der scheckige Wallach hörte auf zu lecken und sah, ohne sich zu regen, den Pferdehüter lange an. Er lachte nicht, er wurde nicht zornig, er machte keine finstere Miene; sondern er schüttelte sich nur mit dem ganzen Leib und wandte sich mit einem schweren, tiefen Seufzer ab. Der Pferdehüter fasste ihn um den Hals und legte ihm das Zaumzeug an.

»Was hast du denn zu seufzen?«, fragte Nestor.

Der Wallach schwenkte den Schweif, als wollte er sagen: »Ach, ich habe das bloß so in Gedanken getan; etwas Besonderes habe ich nicht, Nestor!« Nestor legte ihm die Schweißdecke und den Sattel auf, wobei der Wallach die Ohren an den Kopf legte, doch wohl um sein Missvergnügen auszudrücken; aber er wurde dafür nur »Du Aas!« geschimpft, und der Untergurt wurde festgezogen.

Dabei blies der Wallach sich auf; aber Nestor steckte ihm einen Finger in das Maul und stieß ihn mit dem Knie gegen den Bauch, sodass er ausatmen musste. Trotzdem legte er, als dann Nestor den Obergurt mit den Zähnen anzog, noch einmal die Ohren zurück und sah sich sogar um. Obgleich er wusste, dass ihm das nichts half, hielt er es doch für notwendig, zum Ausdruck zu bringen, dass ihm das unangenehm sei, und dass er es sich nicht nehmen lasse, das zu zeigen. Als er gesattelt war, setzte er den geschwollenen rechten Vorderfuß seitwärts heraus und begann am Gebiss zu kauen, auch wieder mit irgendeinem besonderen Hintergedanken; denn dass das Gebiss seinen Geschmack habe, musste er schon lange wissen.

Nestor stieg mittels des kurzen Steigbügels auf den Wallach, wickelte die Peitsche los, zog seinen Rock unter dem Knie hervor, setzte sich auf den Sattel in der besonderen Art der Kutscher, Jäger und Pferdehüter zurecht und zog die Zügel an. Der Wallach hob den Kopf in die Höhe und bekundete damit seine Bereitwilligkeit, zu gehen, wohin es ihm befohlen würde, rührte sich aber nicht vom Fleck. Er wusste, dass, ehe es losging, sein Reiter noch ein großes Geschrei vollführen und dem anderen Pferdehüter Waska und den Pferden noch allerlei Weisungen erteilen werde. Und wirklich begann Nestor zu schreien: »Waska! He, Waska! Hast du auch die Mutterstuten herausgelassen? Wohin gehst du denn, verfluchter Kerl? Hoho! Du schläfst wohl. Mach das Tor auf! Lass die Mutterstuten vorangehen« – und dergleichen mehr.

Das Tor knarrte. Verdrossen und schläfrig stand Waska, ein Pferd am Zügel haltend, beim Pfosten und ließ die Pferde hinaus. Die Pferde, behutsam durch das Stroh schreitend und daran schnuppernd, gingen nacheinander hinaus: junge Stuten, jährige Hengste mit kurzgeschnittenen Mähnen, Saugfohlen und schwerfällige Mutterstuten, diese einzeln und vorsichtig ihre Leiber durch das Tor hindurchtragend. Die jungen Stuten drängten sich mitunter zu zweien und dreien zusammen, legten eine der anderen den Kopf auf den Rücken und beschleunigten ihren Gang im Tor, wofür sie jedes Mal von den Pferdehütern mit Schimpfworten bedacht wurden. Die Saugfohlen liefen manchmal zu den Beinen fremder Mutterstuten hin und wieherten hell auf als Antwort auf den kurzen Lockruf ihrer Mütter.

Eine junge übermütige Stute bog, sobald sie das Tor passiert hatte, den Kopf nach unten und zur Seite, sprang mit dem Hinterteil in die Höhe und kreischte auf; aber sie wagte doch nicht, der alten grauen Fliegenschimmelstute Schuldüba vorzulaufen, die mit ruhigem, schwerfälligem Schritt, den Bauch nach rechts und nach links schaukelnd, würdevoll wie immer allen Pferden voranging.

Nach einigen Minuten lag der vorher so belebte Hof traurig verödet da. Trübselig ragten die Pfosten unter dem leeren Vordach auf, und es war nur zertretenes, mit Mist untermengtes Stroh zu sehen. Wenn auch diese Verödung dem scheckigen Wallach ein längst gewohntes Bild war, so schien sie ihn doch traurig zu stimmen. Langsam, als ob er Verbeugungen machte, senkte und hob er den Kopf, seufzte, soweit es ihm der fest angezogene Sattelgurt erlaubte, und wanderte hinkend mit seinen krummen Beinen, die gar nicht auseinandergehen wollten, hinter der Herde her, indem er den alten Nestor auf seinem knochigen Rücken trug.

»Ich weiß schon, sobald wir auf die Landstraße hinauskommen, wird er Feuer schlagen und sein hölzernes Pfeifchen mit dem Kupferbeschlag und dem Kettchen anzünden«, dachte der Wallach. »Ich freue mich darüber, weil früh morgens, wenn alles betaut ist, dieser Geruch mir zusagt und mancherlei angenehme Erinnerung bei mir wachruft. Verdrießlich ist nur, dass der Alte, sobald er die Pfeife zwischen den Zähnen hat, in allerlei wunderliche Fantasien über sich selbst hineingerät, sich wie ein Held vorkommt und sich schief setzt, unbedingt schief; und gerade auf der Seite, wo er sich hinsetzt, tut es mir weh. Aber mag er es meinetwegen tun; es ist mir nichts Neues, um des Vergnügens anderer willen zu leiden; ich finde sogar schon eine Art von Pferdevergnügen darin. Mag er sich ein Held dünken, der arme Kerl! Er spielt ja die Rolle des Tapferen nur sich selber vor, wenn ihn niemand sieht; meinetwegen mag er auch schief sitzen!« So reflektierte der Wallach und trottete, vorsichtig mit den krummen Beinen auftretend, in der Mitte der Landstraße dahin.

II.

Nachdem Nestor die Herde zum Fluss getrieben hatte, an welchem die Pferde weiden sollten, stieg er von dem Wallach herunter und nahm ihm den Sattel ab. Unterdessen fing die Herde schon an, sich langsam über die noch nicht zertretende Wiese zu verteilen, die mit Tau bedeckt und von dem Dunst überzogen war, der sowohl von ihr wie von dem sie zum Teil umgebenden Fluss aufstieg.

Nestor nahm dem scheckigen Wallach den Zaum ab und kratzte ihm unter dem Hals; als Antwort darauf schloss der Wallach zum Zeichen der Dankbarkeit und des Vergnügens die Augen. »Das hat er gern, der alte Hund!«, sagte Nestor. Indessen liebte der Wallach dieses Kratzen ganz und gar nicht und tat nur aus Zartgefühl so, als ob es ihm angenehm sei. Er schüttelte ein wenig mit dem Kopf, um sein Einverständnis auszudrücken. Aber plötzlich, ganz unerwartet und ohne jede Ursache, stieß Nestor, vielleicht in der Annahme, eine allzu große Vertrautheit könne den scheckigen Wallach zu falschen Vorstellungen von seinem Wert bringen, ohne jede Vorbereitung den Kopf des Wallachs von sich, holte mit dem Zügel aus und schlug den Wallach mit der Schnalle des Zügels sehr schmerzhaft gegen das magere Bein. Dann ging er, ohne ein Wort zu sagen die Anhöhe hinauf zu dem Baumstumpf, bei dem er zu sitzen pflegte.

Obgleich diese Behandlung den scheckigen Wallach kränkte, ließ er es sich doch nicht anmerken und ging, indem er langsam den dünnhaarigen Schweif hin und her schwenkte, ab und zu an etwas schnupperte und, nur um sich zu zerstreuen, hier und da etwas Gras abrupfte, zum Fluss hin. Er blickte mit seinem Auge danach, was um ihn her die jungen Stuten, die jährigen Hengste und die Füllen in ihrer Freude über den schönen Morgen anstellten, und da er wusste, dass es, namentlich in seinem Alter, das Gesündeste sei, zuerst auf nüchternen Magen einen tüchtigen Schluck zu trinken und dann erst zu fressen, suchte er sich am Ufer einen geräumigen, sanft abgedachten Platz, trat so weit in den Fluss, dass er sich die Hufe und das Kötenhaar benetzte, steckte sein Maul in das Wasser und begann es mit seinen zerrissenen Lippen einzusaugen, die sich allmählich füllenden Seiten sachte zu bewegen und mit der kahlen Rübe des dünnen, scheckigen Schweifes zu wedeln.