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Der letzte Held , eine Herbst Novelle soll ein Zeugnis für die Trauer und Wut der Hinterbliebenen sein, wenn eine von uns geliebte Person unerwartet und viel zu früh von uns geht. Aber auch dass, egal wie schwer die Situation zu sein scheint, man kann sie bewältigen und im Leben voran gehen. Es soll aber auch auf die Wirkungen von Depressionen hinweisen.
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Seitenzahl: 210
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Sterben ist hienieden keine Kunst. Schwerer ist’s: das Leben bau´n auf Erden.
- Majakowskij
In Erinnerung an meinen guten Freund Arne Wirth
Freitag, 29. September
Montag, 02. Oktober
Dienstag, 03. Oktober
Mittwoch, 04. Oktober
05. Oktober
06. Oktober
Samstag 07.10.
Sonntag, 08. Oktober
Montag, 9. Oktober
Dienstag, 10. Oktober
Mittwoch, 11. Oktober
Donnerstag, 12. Oktober
Freitag, 13. Oktober
Samstag, 14. Oktober
Sonntag, 15. Oktober
Montag, 16. Oktober
Dienstag, 17. Oktober
Mittwoch, 18. Oktober
Donnerstag, 19. Oktober
Freitag, 20. Oktober
Samstag, 21. Oktober
Sonntag, 22. Oktober
Montag, 23. Oktober
Dienstag, 24. Oktober
Mittwoch, 25. Oktober
Donnerstag, 26. Oktober
Freitag, 27. Oktober
Dienstag, 14. November
Epilog
Depressionen
Zwar war es ein Freitag, doch es war mein erster Tag zurück in der Arbeit. Nach dem Stress der Sommerferien und unzähligen, freiwilligen Überstunden im Ferienprogramm mit meinen Jugendlichen hatte ich mir fast den gesamten September über frei genommen. Naja, das stimmte nicht ganz, denn es war ein Mix aus Urlaub, Weiterbildung und Bildungsurlaub. Zunächst war ich mehrere Tage in Weimar, um mich zu Thema Zeugnisse Holocaust weiterzubilden. Nun könnte man sagen, dass eine Weiterbildung zu diesem Thema wohl kaum als Entspannung, geschweige denn als Urlaub durchgeht. Doch für mich, der über fast 3 Monate dauerhaft mit Kindern und Jugendlichen gearbeitet hatte, war das Zusammenspiel von hartem Wissen und anderen, erwachsenen Teilnehmer schon eine geistige Ablenkung. Es war etwas Neues, etwas Herausforderndes und vor allem eine Ablenkung vom Alltag meines Berufes. Am Ende waren es auch nur drei Tage und sie markierten die Zeit, die ich fern meines beruflichen Alltags mich mal wieder nur auf mich konzentrieren konnte. Vor allem, da ich die darauffolgenden zwei Wochen wirklichen, reinen Urlaub haben würde. Zunächst wollte ich, so war mein Ziel, bei mir zuhause renovieren. Ein ehrenhaftes Ziel, renovierte ich doch schon seit 2 Jahren an meinem Haus herum. Aber wie es so ist bei mir, es kommt immer etwas dazwischen und mein Hobby im Verein war ja auch noch ein Thema. Tja, als 2. Vorsitzender eines Vereins hatte man immerhin immer auch eine Verantwortung gegenüber seinen Mitgliedern. Ok, ich habe diesbezüglich gelernt, dass man sich auch dort vor zu aufdringlichen Menschen abgrenzen muss, aber mit unserem 1. Vorsitzenden Konstantin hatte ich auch einen kongenialen Vorstandskollegen, mit dem die Arbeit richtig Spaß machte. Wir waren wie das dynamische Duo der Vereinsarbeit und irgendwie fühlte sich unser Hobby manchmal für uns an, als würden wir ein riesiges Unternehmen führen oder mit der nächsten Veranstaltung die Welt retten. Es passte einfach!
Ich muss dazu sagen, dass Konstantin und ich uns schon etliche Jahre kannten, als er vor 4 Jahren zum neuen Vorsitzenden gewählt worden war. Mit 13 Jahren nahm er zum ersten Mal, damals noch als Teilnehmer, an meinen Jugendfreizeiten teil. So lief das die nächsten 5 Jahre, bevor Konstantin ins Betreuerteam wechselte. Ab diesen Zeitpunkt übernahm er auch Aufgaben im Verein, vor allem in der Jugendarbeit und aus einem Teilnehmer wurde ein Freund. Als Konstantin dann auch, ähnlich wie ich, beruflich in die Jugendsozialarbeit einstieg, wurde diese Freundschaft durch fachlichen Austausch noch intensiver. Daneben wurde Konstantin fast schon ein Teil meiner Familie, was bei all den gemeinsamen Aktionen, allem voran die vielen Freizeiten und Fahrten nach Schweden, nicht verwunderlich war. Egal ob Junggesellenabschied meines Bruders oder intensive Gespräch über unser beider Liebesleben, wir gaben uns gegenseitig Ratschläge, Konstantin war ein freundschaftlicher Teil meines geworden. Daher war es nicht verwunderlich, dass wir in schließlich für die sich überschneidende Urlaubszeit einen gemeinsamen Urlaub in Kroatien mit Zwischenstopp in Prag planten. Die Idee zu dieser Tour war spontan bei einem gemeinsamen Sanitätsdienst entstanden. Auch, was etwas komisch ist, weil ich mich zu diesem Zeitpunkt gegen die Offerten einer Verehrerin erwehren musste und Konstantins geplanter Urlaub mit einem Freund wegen fehlenden Urlaubes der anderen Begleiter ausgefallen war.
So entschieden wir uns innerhalb von Stunden dafür, gemeinsam nach Kroatien zu fahren.
Neben dem angenehmen wollte wir die Fahrt auch nutzen, um unseren Partnerverein vor Ort zu besuchen. Soweit der Plan, auf den wir uns sehr freuten und voller Vorfreude dem Ereignis entgegensahen. Scherzhaft machten wir schon Pläne, für wie lange die Selfies und Fotos dieses Urlaubs für unseren Social Media Auftritt reichen würde. Dabei schwankten wir zwischen 1-4 Monate Content. Da war noch alles in Ordnung, wobei mir Konstantin schon Sorgen machte. Nicht weil ich irgendwas erahnt hätte oder sich was andeutete, was seine seelischen Abgründe offenlegen würde. Konstantin wirkte nur überarbeitet auf mich. Eher ging ich von einem Burnout, einer beruflichen Überlastung, die auf den Körper schlägt, aus, als auf eine tiefsitzende Depression.
Nur drei Tage vor der Abfahrt dann aber die niederschmetternde Nachricht. Konstantin hatte sich wohl bei der Arbeit mit Corona angesteckt. Damit war ein Urlaub in Kroatien nahezu unmöglich geworden. Zwar sprachen wir uns ab, dass wir noch die verbleibenden zwei Tage abwarten wollten, Storno hätten wir so oder so schon zahlen müssen, doch auch dieses Warten änderte nichts an der Diagnose. Nun hätte ich auch allein losfahren können, brauchte ich nach einem mehr als anstrengenden Jahr, mit vielen persönlichen Tiefschlägen und beruflichen Anstrengungen auch dringend eine Auszeit, doch fand ich das in gewisser Weise unfair Konstantin gegenüber. Schließlich brauchte er den Urlaub aus meiner Sicht dringender als ich. Darin war aber auch das schon von mir angesprochene fehlender der eigenen Sicht der eigenen Fehlbarkeit und Verletzlichkeit.
So fuhr ich nicht und setzte meine Renovierungen zuhause fort. Für Konstantin lief es derweil schlechter. Durch die Corona Infektion holte er sich noch einen viralen Infekt, der ihn völlig aus der Bahn war. Statt entspannenden Urlaub mit Kaffee und Eis an der Strandpromenade, leckeres Essen in der Taverne auf der anderen Straßenseite oder dem Schwimmen im Mittelmeer am Abend, galt für ihn nun die triste Einsamkeit der eigenen vier Wände. Statt sich von der stressigen Zeit bei der Arbeit mental und physisch zu erholten, nur die Möglichkeit auf dem Sofa zu sitzen, Medikamente zu schlucken und sich endlos dem Streaming hinzugeben. Etwas Abwechslung gab es dann für ihn, in der gemeinsamen Arbeit im Verein, blieben wir telefonisch oder per Chat fast täglich im Kontakt. Wenn man sich nicht über 1000km von seinen Aufgaben, und seien es die ehrenamtlichen im Verein, entfernt, dann holen sie einen ohne Kompromisse ein. So erging es uns beiden auch. Alles war im Grunde so, als wären wir gar nicht im Urlaub, sondern nur zuhause am Arbeiten.
Ende September stand dann bei mir noch der Bildungsurlaub in Berlin an. Endlich mal eine Veranstaltung, die ich nicht organisieren oder leiten musste. Einfach nur ein Teilnehmer unter anderen Teilnehmern, keine Verantwortung als nur mir selbst gegenüber. Man könnte es schon fast Urlaub nennen. Nichtsdestotrotz war ich immer noch mit Konstantin im Kontakt, schrieben uns gegenseitig Ideen zu, was wir in den nächsten Monaten und im nächsten Jahr so alles mit unserem Verein vorhatten. Auch eines unserer Lieblingsthemen, wenn auch bittersüß und aufgezwungen, die ständigen unnötigen Angriffe von unserem Dachverband und einem Nachbarverein, oder besser gesagten von einigen missgünstigen Mitgliedern dieser Gliederungen, war wieder mal Thema. Wie sehr dies an Konstantin nagte, war mir damals nicht bewusst, waren wir beide von diesen ständigen Angriffen doch genervt, aber an Aufgeben dachten wir beide nicht. Wie falsch ich doch lag, auch wenn es nicht der ausschlaggebende Punkt für Konstantins spätere Entscheidung war, so war ein einer von vielen kleinen Kieseln, die zu seiner finalen Entscheidung beitrugen. In unseren Gesprächen war diese aber nicht sichtbar und er gab sich siegessicher.
Während wir also in Berlin waren, schrieb Konstantin mir, dass er Mitte der Woche wieder zur Arbeit wollte. Meinen Eltern, die auch mit in Berlin war, und mir schien das zu früh zu sein. War er doch noch am Wochenende schwer angeschlagen gewesen und seine Erkrankung noch im vollen Gange. Er selbst sah das aber aus einer anderen, in Verantwortung gegenüber seinen beruflichen Schützlingen anders. Mit Ablauf seines regulären Urlaubs, oder besser gesagt, dem Zeitpunkt, wann dieser offizielle, ohne die Erkrankung, zu Ende gegangen wäre, wollte er wieder einsteigen. Das er körperlich und damit verbunden auch mental noch nicht in der Lage war, schien ihm egal. Er sah nur die Notwendigkeit, dass aufgrund des Personalmangels, er dringend gebraucht würde. Es würde schon gehen, hatte er mir noch geschrieben.
So kam es, dass ich einige Tage später, eben am Freitag, dem 29. September, meinem ersten Arbeitstag nach fast 4 Wochen Abwesenheit, ich mich auch mit den ersten Fragen zur Jugendfreizeit im kommenden Jahr beschäftigen musste. Wichtigster Punkt für mich, neben der Frage nach dem Transport oder der Unterkunft, war die Frage nach fähigen und guten Betreuern und Betreuerinnen. Da mir eine wichtige Betreuerin schon für den Sommer abgesagt hatte und dies nun auch für die zukünftigen Fahrten erweitert hatte, brauchte ich hier dringend zumindest einen erfahrenen Betreuer wie Konstantin. Nicht zu vergessen, dass die Fahrt zu einem seiner Traumziele an den Garda See zu einer Großveranstaltung des Roten Kreuz gehen sollte. Nur dass Konstantin auch erzählte hatte, dass er sich m kommenden Jahr beruflich weiter entwickeln wollte und auch im Verein kürzertreten müsste. Daher musste ich von ihm wissen, wie es nun mit der Freizeit stehen würde. Ohne ihn würde es kritische werden. Ein Verlust von Konstantin und Carola, so hieß die Betreuerin, die mir schon abgesagt hatte, würde die Fahrt ziemlich schwächen, wenn nicht sogar unmöglich machen. Zwar gab es gute Nachwuchskräfte, aber gerade Konstantin und Carola waren die Jahre zuvor das Rückgrat meines Teams gewesen. Nicht zu vergessen waren beide mit meine engsten Freunde und allein das würde den Spaß Faktor für mich bei der Durchführung erheblich schmälern. Ich brauchte also eine Antwort.
„Klar bin ich dabei, zu dem Zeitpunkt der Fahrt habe ich Semesterferien in meinem Masterstudiengang und auch schon Urlaub bei meinem Arbeitgeber eingereicht und genehmigt bekommen“ hatte er mir noch voller Energie am Telefon gesagt. Allgemein wirkte er voller Kraft, zwar noch stimmlich angeschlagen, aber merkbar auf dem Weg der Besserung. Im Nachhinein wird mir bewusst, dass er sich da schon entschieden haben musste, mich im Grunde anlog und die Energie aus einem anderen Grund da war. Aber egal was es nun war, es war das letzte Mal, dass ich meinen guten Freund Konstantin gesprochen habe, das letzte Mal, dass ich ihn lebend erleben durfte. In diesem Gespräch war er der Konstantin, mit dem ich seit Jahren zusammengearbeitet habe, mit dem ich noch so viel vorhatte. Der Konstantin, der immer für alle ein positives Vorbild gewesen ist und Menschen inspiriert hat. Leider war es auch der Konstantin, der nie wieder sein würde! Ein letztes Mal waren wir für die Zukunft am planen, wobei die Zukunft schneller vorbei war, als mir damals bewusst war.
Kennt ihr diese Tage, die Tage, an denen ihr aufsteht und schon von der ersten wachen, teils noch schlafenden Sekunde an wisst, dass dieser Tage etwas bringen wird. Ein Etwas, dass ihr noch nicht greifen könnt, noch wisst, was überhaupt der Auslöser für dieses Gefühl der Überlastung sein wird. Wenn ihr dieses Gefühl, solch einen Tag kennt, dann wisst ihr, was an diesem Montag bei mir los war.
An diesem Morgen nahm ich dieses Gefühl wahr, jedoch schob ich es auf die Menge an Sachen, die ich zu erledigen hatte. Zwar hatte ich den Tag beruflich frei, war es doch ein Brückentag und ich hatte ihn bewusst, direkt an meinem Urlaub angeschlossen, frei genommen. Keinen Urlaub, nein einfach mal die Menge an Überstunden abbauen, bevor es in den Herbstferien wieder maximal damit nach oben gehen würde. Aber frei bedeutet nicht immer frei von allem. Und wie der Zufall wollte, war ich noch Vermieter eine kleine Wohnung, in der eine Dame fortgeschrittenen Alters lebte. Dieser Zufall sorgte seit 2 Jahren regelmäßig dafür, dass immer dann, wenn ich entweder frei oder im Gegenteil wieder mal extrem viel bei der Arbeit zu tun hatte, meiner Mieterin irgendeinen Notfall hatte, der sofort zu erledigen sein müsste. So war es nun auch dieses Mal und mein Plan für diesen Montag bestand darin, eine neue Duschkabine in ihre Wohnung einzubauen. Das Material war da und der kommende Feiertag inklusive des heutigen Brückentages waren der ideale Zeitpunkt das ganze schnell zu erledigen und mich dann auf die stressige Herbstferienzeit vorzubereiten. Das zuvor beschriebene Gefühl beruhte, so kam es mir vor, eben auf dieser Pflichtaufgabe meines Vermieterlebens. Motiviert, wenn auch nicht wirklich, machte ich mich also auf, die letzten Materialien beim Baumarkt, um die Ecke zu besorgen. Die Sonne schien und irgendwie freute ich mich auch etwas, die gestellte Aufgabe zusammen mit einem Kollegen abzuschließen. Es dauerte auch keine 30 Minuten und ich hatte Bauschaum, flexible Schläuche, Schrauben und Muttern sowie etwas Styropor im Einkaufswagen und war auf den Weg zur Kasse. Schnell die Selbstbedienungskasse benutzt und schon war alles in meinem Auto verstaut. Ein kurzer Blick auf meine Uhr ließ mich schmunzeln. Ich hatte alles so schnell erledigt, dass ich nun gut im Zeitplan lag. Daher entschied ich mich, die paar Meter weiter zu wandern und mich ins Einkaufzentrum nebenan zu begeben. Die Lust auf einen Kaffee trieb mich an und das Gefühl vom Morgen war wie weggeblasen, weit weg in die tiefsten Tiefen meiner Erinnerung verbannt und nicht mehr präsent.
Doch noch bevor ich die große, gläserne Eingangstür zum Einkaufszentrum erreicht hatte, kehrte dieses Gefühl zurück. Mit aller Wucht und mit einer fast kaltblütig wirkenden Gewalt, die man sonst nicht in seinem Leben kennt. Direkt vor der Tür bemerkte ich, wie mein Handy in meiner Hosentasche Alarm schlug, wild vibrierend auf den Erhalt einer Nachricht aufmerksam machte. Instinktiv, nicht ahnend welche Nachricht mich erwarten würde, griff ich in meine Tasche, zog das Handy heraus und öffnete die App und wollte sehen, wer mir geschrieben hatte. Licht verwundert bemerkte ich, dass es gar keine Nachricht auf WhatsApp handelte. Das fast automatische Öffnen der App zeigte nur einen leeren Eingangsordnung. Leicht verwirrt schloss ich die App, um dann festzustellen, dass die Nachricht über Messenger gekommen war. Nun ist Messenger nicht so ungewöhnlich, aber direkte Nachrichten, außer beruflichen, bekam ich da kaum noch. Irgendjemand hatte mich, also die Privatperson, angeschrieben.
Interessiert öffnete ich die Nachricht und bemerkte, dass sie von Konstantins großen Bruder gekommen war. Meine Verwunderung stieg, denn ich kannte ihn zwar, hatte aber kaum Kontakt zu ihm. Neugierig lass ich die Nachricht und sofort war dieses Gefühl vom morgen wieder da. Aus Neugierde wurde eine Mischung aus aufsteigender Kälte und dem Gedankengang, naja so schlimm ist es bestimmt nicht. Grund war der Inhalt der Nachricht, denn sein Bruder bat mich darum, mich schnellstmöglich bei ihm zu melden. In meinem Kopf wurde es schlagartig wirr, Gedanken rasten und die Kälte versuchte sich wie ein Schatten auf meine Seele zu legen. Dies gelang ihr aber nicht, zu massiv dran, fast schon wie ein Abwehrspieler einer Fußballmannschaft der einen angreifenden Stürmer den Weg abschnitt, meine immerwährende Hoffnung, mein Wille das Gute in allem zu sehen auf den Plan. Es wird schon nichts ein, ach es geht bestimmt darum, dass Konstantins Handy immer noch kaputt ist. Bestimmt lässt er mir das über seinen Bruder ausrichten. Garantiert ist der gerade wegen des Brückentages zu Gast und Konstantin nutzt die Situation, um mir das mitzuteilen. So oder so ähnlich hatte Konstantin es schon öfter mal gemacht und sein Handy war in der letzten Woche auch schon kaputt. Zwar hatte ich noch am Freitag mit ihn telefoniert. Mein Hirn war mir diesen Gedanken über alles hinweg, wollte mich damit beruhigen. Trotzdem wurde ich das mulmige Gefühl, diese Kälte im Hintergrund nicht los.
Also wählte ich die angegebene Nummer und wartete, an einem Elektrokasten nur 20 Meter vom Eingang des Einkaufszentrums entfernt angelehnt darauf, dass Konstantin sich melden würde. Einmal klingelte es, zwei Mal, schon wollte ich mir einreden, dass niemand ran ginge, da es doch nicht so wichtig sei, als sich Konstantins Bruder meldete. Das Gespräch, dass nur knapp 2 Minuten dauerte, brannte sich, wahrscheinlich für immer, in mein Gehirn. Vor allem der Anfang, nach dem ich ihm gesagt hatte, dass ich, also Jan am Telefon war, werde ich nie vergessen. Ein Satz, so oft in Filmen gesehen, so oft darüber nachgedacht und doch in seiner Aussagekraft so simpel und selbsterklärend. Das Brechen seiner Stimme, die Traurigkeit, vor allem aber die spürbare Ermüdung einer aussichtslosen Situation geschuldet eine war sofort darin erkennbar „Ich muss dir leider sagen…“. Ab diesen Moment war das Gefühl vom Aufstehen vollends da, begleitet von einer eisigen Kälte, die sofort und ohne die Möglichkeit einer Abwehr da. Fast schon gefühllos vernahm ich die Stimme von Konstantins Bruder und dem, was er mir gerade mitteilte. Mein Gehirn arbeitete, versuchte das gehörte zu verarbeiten, in eine Form zu giesen und ihm einen Sinn zu geben. Meine Augen wanderte dabei über den Platz vor dem Eingangsbereich des Einkaufzentrum, meine Arme drückten sich so fest auf den Elekrokasten, dass sich die raue Oberfläche in meine Haut prägte. Langsam, ganz langsam drangen seine Worte zu mir durch, wobei auch hier wieder sämtlich Abwehrspieler meiner Mannschaft losrannten und sich dem Sturmlauf des Gegners entgegenwarfen. Eine teils hilflose und vor allem dem Inhalt des Gespräches geschuldeten sinnlose Abwehrschlacht. Das Tor war unvermeidlich, die Frage war nur, wie schnell sich meine Mannschaft davon erholen würde und das Spiel, in diesem Fall meinem direkten, unmittelbaren Leben, hier direkt vor dem Einkaufszentrum, wieder in den Griff bekommen würden und nicht gleich das nächste Tor zuließen und das Spiel aus dem Ruder laufen würde.
Wie der erste Satz erwarten ließ, hatte mir Konstantins Bruder keine gute Nachricht zu überbringen. So erfuhr ich, dass man Konstantin am Abend vorher mit Hilfe der Feuerwehr und der Polizei bewusstlos und leblos in seiner Wohnung aufgefunden hatte. Mit immer wieder brechender Stimme erzählte mir sein Bruder, dass die ebenfalls vor Ort befindlichen Rettungskräfte Konstantin reanimiert hätte und er sofort auf die Intensivstation gebracht worden wäre. Dort läge er seitdem im Koma. Da Konstantin und ich so eng befreundet waren und wir auch zusammen im Ortsverein als Vorstand zusammenarbeiten würden, hatte man mich als einen der ersten angerufen. Meine Abwehrspieler, den ersten Sturmlauf zwar nicht verhindernd, nun aber sofort wieder auf ihrer Position, trennten den Gegner vom Ball und brachten Ruhe in das Spiel meiner Gedanken.
Von der Seitenlinie rief der Trainer, mein Verstand, mit einer Sachlichkeit seinen Spielern zu und ich fing an, das Gespräch mit Diedrich, der Name fiel mir da erst wieder ein, fast schon tröstend zu führen. So fragte ich ihn, wie es ihm ginge, was nun anliege und eben all diese allgemeinen Dinge, die man in so einer Situation so sagt. Auch als Diedrich, merkbar hoffnungslos über den Zustand von Konstantin berichtete, arbeitete mein Gehirn daran, wieder alles in eine hoffnungsvolle Richtung zu lenken. Dies machte sich vor allem in meinen Worten an Diedrich bemerkbar, da ich ihm versuchte Hoffnung zu geben, ihn versuchte aufzumuntern. „Er ist eine Kämpfernatur, das wird schon, …“ Eben diese fast standardmäßige Aussagen, die man den Verwandten und Angehörigen zuwirft, wenn man eigentlich nicht weiß, was man sagen soll. Koma, das war eben auch nicht so richtig greifbar. Wieder geprägt durch Filme und Medien war das etwas, was wie im Märchen von einem Tag auf den anderen zu Ende sein könnte, Konstantin einfach so aufwachen wurde. Leider aber auch, dass irgendwann die Geräte abgestellt würden und die Person nicht wieder die Augen aufschlägt, für immer geht. Oder, vielleicht noch viel schlimmer, jahrelang im Koma verbleiben würde. Während das Gespräch also noch lief, arbeitete es in meinem Kopf wie wild, Gedanken über Gedanken, Szenarien über Szenarien.
Wie schon erwähnt dauerte das Gespräch kaum 2 Minuten und ohne es bemerkt zu haben, war ich in dieser Zeit wieder zu meinem Auto gelaufen. Erst als sich Diedrich von mir verabschiedete, ich bat ihn noch mich auf dem Laufenden zu halten, fiel mir dies auf. Ohne ein großes Zögern steckte ich das Handy wieder in meine Hosentasche, setzte mich ins Auto und fuhr los. Wie auf Schienen ging es auf die Autobahn, die Auf- und Abfahrt wurde ohne wirkliche darüber nachdenken genommen und ohne ein Gefühl von vergangener Zeit stand ich auf dem Parkplatz am Haus meiner Eltern. Man sagt ja, Zeit ist relativ, für mich war sie auf der gut 10-minütigen Fahrt nicht existent. Mir war nur noch bewusst, dass ich etwa auf der Hälfte der Strecke, von einer Sekunde auf die andere in Tränen -ausgebrochen war. Hemmungslose und tieftraurige Tränen. So schnell diese Tränen aber gekommen waren, so schnell waren sie wieder verschwunden. Meine Abwehr war wieder dazwischen gegrätscht. Nein, du darfst keine roten Augen haben, darfst nicht trauern, alles wird gut, du wirst schon sehen. Tja, die Hoffnung verlässt mich eben nie, selbst jetzt nicht. Und dann war da noch was anderes, auch so typisch ich. Statt mich selbst über meine Gefühle zu reflektieren, rannten meine Gedanken wie ein 100 Meter Sprinter dem Ziel entgegen und ich begann darüber nachzudenken, wie ich es allen anderen beibringen müsste, wie ich das alles noch vor unseren Mitgliedern geheim halten könnte. Immerhin hatte mich Diedrich darum gebeten. Niemand, außer dem engsten Familienkreis und Freunden sollte davon erfahren. Die Familie bräuchte seine ganze Kraft um für Konstantin dazu sein. Kraft die nicht in die Beantwortung der Fragen der vielen Freunde und der Bekannten genutzt werden sollte. Wie schwer das werden würde, als ich dem zustimmte, war mir da noch nicht bewusst.
Nun stand ich am Haus meiner Eltern und lief, wie zuvor im Film, durch die Hintertür in die Küche und das anliegende Esszimmer meiner Eltern. Im Esszimmer, auf ihrem Ostfriesensofas sitzend, traf ich auf meine Mutter. Geräusche, die aus dem ersten Stock kamen, ließen mich vermuten, dass mein Vater sich oben in seinem Arbeitszimmer befand. Nur mit einem kurzen Hallo, zog ich meine Jacke aus und setzte mich an den Esstisch. Schweigend saß ich da und blickte ich mich nervös im Raum um. Sollte ich es ihr sagen? Oder sollte ich schweigen? Ich war mir nicht sicher. So saß ich da und versuchte den Blickkontakt zu meiner Mutter zu verhindern. Das half aber nichts, denn wie es nun mal so ist, erkennen Mütter immer, wenn es ihren Kindern nicht gut geht. Und mir ging es nicht gut. In meinem Kopf hämmerte es wie wild. Scheinbar versuchten die Gedanken zu Konstantins Koma sich eine extra breite Autobahn durch das Gebirge meiner Gedankenwelt zu sprengen. „Was ist los?“ kam dann auch die Frage von ihr. Bevor ich aber ansetzen konnte, trat mein Vater in den Raum und begab sich direkt zu seinem Sessel neben dem Sofa meiner Eltern.
„Moment, lass Dad sich erstmal hinsetzen“ antwortete ich ihr. Mein Vater sah auf und auch er wusste sofort, dass etwas vorgefallen war, dass mich komplett gefangen hatte. In den folgenden Minuten erzählte ich beiden von dem Gespräch mit Diedrich, dem bitteren Inhalte, der Türöffnung und dem Koma, in dem er sich jetzt befindet. Was mich dabei am meisten traf, war der Blick meiner Mutter, den ich in dem Moment bemerkte, als ich von dem Unglück um Konstantin erzählte. Da war dieses Blitzen in ihren Augen. Aber nicht dieses positive Blitzen, dass man bei der Verkündung eines Preises, eines Geschenkes, sondern ein Blitzen aus dem tiefen Gefühl der endlosen Trauer, der Hilflosigkeit in der Erkenntnis, dass etwas unausweichlich ist und wir nichts daran ändern können. Es brach mir fast das Herz, diesen tiefen Schmerz in ihr wahr zu nehmen. Ein Blick rüber zu meinem Vater ließ mich sehen, dass auch er in sich drinnen mit dieser bitteren Realität kämpfte und auch ihn der Schmerz erfasst hatte.
Doch sah ich dies nur ganz kurz, denn wie schon bei mir selber, nur Minuten zuvor, griffen auch bei meinen Eltern ihre seelischen Abwehrspieler an und die Hoffnung übernahm auch bei ihnen das Spiel. Immerhin, so beide, hieße ein Koma nicht, dass es automatisch zu Tode führen würde. Nein, Konstantin sei ein Kämpfer und er würde das Schaffen. Kollektiv wandelte sich unser Schmerz in eine Mischung aus Zuversicht und positiver Bestärkung. Hoffnung ist doch was Feines und sie kann einem aus dem schwarzen, dunklen Tal der eigenen Verlorenheit in nur ganz kurzer Zeit an dem sonnigen Strand einer positiven Wendung führen. Und da hatten wir noch Hoffnung.
Die Nachricht von Konstantins Koma hatte mich erst spät einschlafen lassen. Eine traumlose und recht kurze Nacht lag nun hinter mir und wir hatten versucht, die Dusche bei meinen Mietern weiter einzubauen. Ob nun durch Karma, Schicksal oder doch einer versteckten, in mir schlummernden Kraft, war unverständlicherweise einer der Glastüren der Duschkabine, fast schon wie von Geisterhand berührt, in Millionen von Teilen explodiert. Einfach so und von mir mitten im Raum haltend. Dies hatte den Einbau natürlich gestoppt und mir einen unfreiwillig freien Tag verschafft. Immerhin war es an einem Feiertag nicht möglich, eine Ersatztür zu bekommen. Ohne war ein Einbau nicht möglich.