Der letzte Mann - Andreas Latzko - E-Book

Der letzte Mann E-Book

Andreas Latzko

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Beschreibung

Wie stampfende Riesen arbeiteten sie sich durch die Verhaue, stürzten die Pfähle, traten den Draht nieder, kamen näher -— näher! Den meisten war das Singen schon vergangen, nur hier und dort krähte noch einer, aber seine Stimme versank in dem Röcheln, Knirschen und Wimmern der Getroffenen, die wie riesige Spinnen zwischen den Drähten zappelten, unbarmherzig überrannt, wie Würmer zertreten von den Nachstürmenden. Aber sie kamen — — — kamen näher! In das Knallen der Handgranaten mischte sich, aus dem eigenen Graben aufsteigend, immer dichter das Jammern und Stöhnen der Kameraden. Ein wilder Fluch entfuhr Gadsky, als seine zitternd tastende Hand kein Magazin mehr in den Patronentaschen fand. Jemand musste ihm aushelfen! Er wandte sich um und erstarrte beim Anblick der Lücken, die auf beiden Seiten neben ihm gähnten. so viele schon?. . . Der ganze Grund des Grabens war ausgefüllt mit einem Gekröse von kriechenden Menschen, blutigen Gliedern, die aus dem wirren Haufen griffen; da und dort saß einer aufrecht, bestaunte mit unsagbarer Trauer im Gesicht seine Wunde. So! — — — so durften Menschen gemartert, zermalmt, auf die Erde hingestreut werden, wie Unrat, den man nur angewidert durchwatet? — — —

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Andreas Latzko

DER LETZTE MANN

 

 

Erstmals erschienen im Dreiländerverlag,

München/Wien/Zürich, 1919

__________

Vollständig überarbeitete Ausgabe.

Ungekürzte Fassung.

© 2021 Klarwelt-Verlag

 

www.klarweltverlag.de

Inhaltsverzeichnis

 

 

Titel

Der letzte Mann.

Der letzte Mann.

Der kleine Schneidermeister vom ersten Zug, der „Gesangskomiker“, wie er im Bataillon wegen seiner orientalisch gebogenen Nase und seiner Säbelbeine genannt wurde, hatte als erster Verdacht geschöpft. Gegen Mittag mit einem Verwundeten abkommandiert, kam er erst bei Nacht zurück, weil der Hilfsplatz spurlos verschwunden war, und er seinen vollkommen erschöpften Kameraden, nach langem Umherirren, einem vorbeifahrenden Munitionswagen hatte anvertrauen müssen. Mehr war nicht aus ihm herauszukriegen, solange ein Kreis von Neugierigen ihn umstellte; als er aber, einige Minuten später, Georg Gadsky im Laufgraben begegnete, da blickte er rasch um sich, und fiel, wild gestikulierend, mit einer wahren Flut von Alarmnachrichten über ihn her.

Warum hatte man den Hilfsplatz zurückgezogen? . . .

Warum waren alle Straßen mit zurückmarschierenden Kolonnen besät? . . . Und vor allem: warum war der Schlosspark da hinten auf einmal verlassen, wie ein Kirchhof um Mitternacht, statt wie sonst, von Offizieren und Ordonnanzen zu wimmeln? Warum? He, warum? Wenn nicht, weil die dünne Vorpostenkette, die noch vorne in den Gräben lag, schon den Raben zugedacht war zum Fraß? „Nachhut, sage ich Ihnen. Der Schmarrn, der für die Gläubiger auf Lager bleibt bei einer falschen Pleite! Sie werden schon sehen, dass ich recht habe! Morgen um die Zeit sind wir alle erledigt. Wenn der Nebel hochgeht, ist Schluss der Vorstellung. Passen sie auf!“

Der magere, hohlwangige Semite, mit dem pfiffigverschlagenen Gesicht und den ängstlich blinzelnden Augen, hatte das alles wie eine gut memorierte Lektion heruntergeleiert, und in seinem Eifer Gadsky immer tiefer in die Grabenecke hineingedrängt. seine mageren Arme waren fuchtelnd durch die Luft gefahren, wie die Flügel einer Fledermaus; dass es von weitem so aussehen musste, als ginge er seinem Zuhörer an die Gurgel.

Gadsky hatte die ganze Schauergeschichte anfangs mit einem Achselzucken abgetan. Er konnte den spaßigen kleinen Kerl ganz gut leiden, und fand es nur begreiflich, dass so ein verschüchterter Hasenfuß, der sein Leben lang auf der Elle geritten war, den Kopf verlor in der Atmosphäre von Gefahr und Tod, die ihn umgab. Erst später, als trotz der hereinbrechenden Dunkelheit die Essenträger ausblieben, und Befehl gegeben wurde, die eiserne Ration anzubrechen, kamen die Prophezeiungen des Schneiders ihm wieder in den Sinn. Das überlegene Lächeln wollte nicht mehr so gut gelingen, und wurde ganz matt, einem erzwungenen Zähnefletschen ähnlich, als der „Gesangskomiker“ wie mit Unheil übergossen, vorbeischlich, und „Na, was hab’ ich Ihnen gesagt?“ mauschelte.

Er versuchte das Unbehagen im Unterstand loszuwerden, wo, einem Namenstag zu Ehren, selbst die verrufensten Knicker mit ihren Liebesgabenpaketen herausrückten, — aber das laute Treiben, die lustigen Sticheleien wurden ihm unerträglich, und er flüchtete bald wieder in den Graben zurück.

Allein in einer Ecke, bot er seine ganze Willenskraft auf, um der lächerlichen Nervosität Herr zu werden. Aber nun war der Kinematograph entfesselt, jagte, von den rasend pochenden Adern getrieben, unaufhaltsam, die tollsten Bilder vorbei. Alle Phasen eines verzweifelten Kampfes, — — — Gefangennahme, — — — Turkos, die mit weißen Augen auf Verwundeten knieten, die kältestarren Finger in heißen Blutströmen erwärmten, — — — tausend Schauermärchen, die er im Vorbeigehen aufgefangen und hochnäsig belächelt hatte, verdichteten sich zu greifbarer Deutlichkeit, — — — und die Vernunft kam nicht auf gegen die aufgepeitschten Sinne.

Das Unglück wollte, dass er auch noch Posten stehen musste, gerade um Mitternacht; und dort, im weit vorgetriebenen Graben, zwischen Freund und Feind, wie auf einem Tauende, in die undurchdringliche Finsternis hineinhängend, erlag er vollends seiner fiebernden Phantasie. Der Regen sickerte mit monotonem Geflüster durch die aufgeworfene Erde, tropfte auf seinen Helm, mit einer Gleichmäßigkeit, die, wie an den Saiten einer Gitarre, an seinen Nerven zupfte. Es war ein ununterbrochenes Konzert von zweifelhaften Lauten, bis endlich jedes Glucksen, Rascheln und Pochen, die Schattenrisse einer heranschleichenden Gefahr in nächster Nähe auftauchen ließ. Der Nebel tat noch sein Übriges, warf über jeden verdächtigen Schatten rasch seinen Schleier, um sich eine Sekunde später mit flatternden Tüchern an die Pflöcke des Drahtverhaues hinzuhängen, als riefe er mit Signalen den Feind herbei. Umsonst versuchte Gadsky sich loszureißen von dem unheimlichen Treiben! Die losen Streifen sanken, zu schweren Klumpen gehallt, auf die Erde nieder, wälzten sich bis vor das Guckloch hin, schlichen knisternd heran, dass für Augenblicke sein Blut erstarrte, der eigene Atem, wie von oben kommend, zu ihm in den Graben drang; und er, die zuckenden Finger um das Gewehr gekrallt, ganz deutlich das Blinken eines fremden Auges durch die schmale Öffnung blitzen sah! —- — — —

Das leuchtende Zifferblatt seiner Armbanduhr zeigte halb Eins, die Hälfte erst dieser fürchterlichen Wacht, als der Nebel, von einem Windstoß gepackt, in die Höhe schnellte, so weit, dass plötzlich das ganze Vorfeld wie eine leere Bühne vor ihm lag. Das Auftauchen der bekannten Pfosten und Hügel wirkte beruhigend; das rasende Pochen in den Schläfen verebbte, er sah sich um, wie einer, der nach langer Wanderung ins heimatliche Tal hinabblickt. In stundenlanger Einsamkeit hatte er sich jede größere Erdscholle, jedes Drahtende fest ins Gedächtnis eingeprägt, sich an diese trostlos öde Mondlandschaft wie an liebgewordenes Gerät, wie an den Blick aus dem Fenster seines Arbeitszimmers in den Nachbargarten gewöhnt, und er lächelte melancholisch über eine Genügsamkeit, die sich an Leichenreste und Granattrichter mit einer Art Heimatgefühl attachierte.

Mit geglätteter Stirne ließ er seine Augen über die bekannten Punkte streiten und blieb hängen an der kleinen, schwarzen Insel, die wie eine Pfütze zwischen den hohen Pflöcken des Drahtverhaues lag. „Der Franzose“ war’s, ein Pechvogel, den damals, bei Einnahme der Stellung, eine letzte, nachgeschickte Kugel aus dem Rudel der Fliehenden geholt, und in das Gewirr der eigenen Drähte hineingeschleudert hatte. Wie ein Seiltänzer war „der Franzos“ lange Zeit vor ihnen geschwebt, hufeisenförmig zurückgebogen, leicht wippend, wenn ein naher Einschlag die Drähte erzittern machte. Ein Volltreffer in den Verhau hatte ihn endlich aus seiner luftigen Lage zwischen Himmel und Erde befreit, und nun lag er längst friedlich hingestreckt, „empfahl sich aus seinen Kleidern“, „verflüchtigte sich“ -— wie die Soldaten zynisch sagten. Bei Nacht sah er nur mehr wie ein kleiner Erdhaufen aus; bei Tag schien er, von weitem, halbiert zu sein, als läge der größere Teil seines Körpers, in der Erde schwimmend, unter der Oberfläche. Höchstens eine Ablösung noch, und der beliebte Orientierungspunkt war aus dem Vorfeld verschwunden, das stereotype rechts oder links „vom Franzosen“ in Befehlen und Meldungen, musste mit etwas Neuem ersetzt werden.

„Mut ist Mangel an Phantasie, sonst nichts!“ — hatte der arme Weiler einmal behauptet. Er war schon in Sicherheit der Weiler! Wer aber noch hier stand, zu zweit mit diesem menschlichen Dunghaufen! — — Es war doch schwer, sich einen Sonnenaufgang vorzustellen über einen toten Georg Gadsky, der wie „der Franzos“ da vorne, nur ein zerfallenes Häufchen mehr war! — — —

Wenn aber morgen früh? — Wenn der Gesangskomiker richtig gesehen? — -— —

Giftig reckte sich Gadsky in die Höhe, und sah nach der Uhr. Wollte denn diese Stunde nie zu Ende gehen? Der Schweiß stand ihm auf der Stirne; er schob den Sturm-helm ins Genick zurück, und hielt das Gesicht dem Winde entgegen, der eben stärker anschwoll und wie mit zornigen Fingern den Nebel zerfetzte. Der Regen floss vom Helm-rand in seinen Kragen, den nackten Rücken entlang; er merkte es nicht. sein Blick war wieder am „Franzosen“ hängengeblieben, der neckisch Versteck mit ihm spielte, den Nebel wie eine Decke über die Ohren zog und wieder vorlugte. . . . Ob er noch jung war, als ihn die Kugel holte? . . . Wahrscheinlich. Es waren lauter junge Burschen gewesen, schlank, mit verwegenen kleinen Schnurrbärtchen. Er erinnerte sich an einen, — — — Aber nein! Daran wollte er nicht denken. Es war ja doch nur gemeiner Mord, sie mochten sagen, was sie wollten. Und er lockerte unwillkürlich den Griff um das Gewehr, als ekelten seine Finger sich untereinander vor der gegenseitigen Berührung! — — —

Den einen da vorne hatte, Gott Lob, jemand anders auf dem Gewissen. Der Feldwebel vom zweiten Zug rühmte sich, ihn herausgefischt zu haben. Und nun lag er da, auf dieser kranken Erde, die der Krieg mit riesigen Pocken-narben besät und zerfetzt und ermordet hatte, genau wie die Menschen. Und während er sich hier „verflüchtigte“, lief ein weißes, duftiges, gepflegtes Frauchen vielleicht immer noch jeden Morgen aufgeregt dem Briefträger entgegen, und hielt den Platz für ihn frei in dem breiten französischen Doppelbett? . . .

Gadsky schloss für eine Sekunde die Augen und blähte die Nüstern, als wären die Schwaden, die aus den Trichtern stiegen, wie Rauch, geschwängert mit dem Duft zärtlicher Erinnerungen; als wäre eine Wolke von süßem Parfüm aufgeflogen aus dem breiten Mahagonibett, das ihm von irgendwoher, wie einem alten Bekannten, zuwinkte.

War das nicht zum Verrücktwerden? Auf der Höhe seiner Lebenskraft hier das Ende abzuwarten, sich nieder-machen zu lassen, wie ein tolles Tier, in der Mitte kaum des Weges? War er nicht bis zum Rande noch mit Hoffnungen gefüllt, eine unverbrauchte, vollkräftige Maschine? Und sollte freiwillig auf dreißig herrliche Jahre verzichten, auf Frauen, Erfolge, Musik, auf. ein ganzes, reiches Virtuosenleben?

Warum? . . .

Ganz plötzlich war Weiler wieder vor ihm aufgetaucht, der vielbedauerte Weiler, dem das ganze Bataillon mit feuchten Blicken nachgestarrt hatte! Nun lag er vielleicht in einem weisen Bett, hinter einer Glasscheibe, die ihn vor Wind und Regen schützte; und morgen, — morgen wird er die Sonne über die Dächer steigen und wird sie abends wieder Versinken sehen — — — Narr oder nicht, — er lebt? Und wird weiter leben. Wiegenden Frauenhüften mit den Augen folgen, ein leises, warmes Summen im Blut. Im heißen, pochenden Blut! . . . Und an seiner Seite promeniert der Verwundete, den der „Gesangskomiker“ am Vormittag, vor wenigen Stunden erst, nach rückwärts geführt hatte! Arm in Arm gehen die beiden durch einen blühenden Lazarettgarten, schauen durch eine Fliederhecke auf die Straße hinaus, wo die Trambahnen vorbeidonnern, hellgekleidete Frauen zärtlich hinüberblicken zu den „Helden“. Der Mann, der heute Morgen erst weiß und zähneknirschend — — —

Der Mann, der hier, mit ihm — — -— mit den anderen — — —

Und darum? . . .

Darum also? Weil ein blödes Stück Eisen dreißig Schritte zu weit nach rechts gefallen war, und die Rückfahrkarte ins Leben einem andern ins Fleisch gerissen hatte? . . . Nein! Das konnte nicht sein! Das war ja . . . Der Teufel sollte den verdammten Gespensterseher holen! Georg Gadsky, der Liebling des Schicksals, benahm sich genau wie der schäbige kleine Schulmeister Fröbel. Hatte er sich nicht freiwillig gemeldet? Und greinte nun wie der erstbeste Philister, der zwischen Leben und Atmen keinen Unterschied weiß? Der arme Fröbel konnte einem leidtun! Wer immer so, das Unheil vor Augen, um sein Leben zittern müsste, ohne das geringste Vertrauen in seinen Stern? Furchtbarer Gedanke! Wem aber, wie Georg Gadsky, der Erfolg immer treu geblieben war, der versündigte sich; forderte die Götter heraus mit seinem Undank! . . .

Er ballte die Fäuste, entschlossen, die kleine Viertelstunde, die ihn noch von der Ablösung trennte, freundlicheren Gedanken zu widmen, sich nicht noch einmal überrumpeln zu lassen. Wenn nur der Nebel nicht gewesen wäre! Er lag vor den Augen und auf der Brust, rollte schwere, steingraue Kugeln über das Trichterfeld und verdeckte alles, was den Blick fesseln, die Gedanken hätte ablenken können. Es war schwer, derart isoliert, sich nicht mit Trübsinn vollzusaugen, wie ein Schwamm. Da war selbst eine tüchtige Beschießung noch leichter zu tragen! Wenn die Dinger so heranpfiffen, und nach jeder Explosion das Leben neu in einem erblühte, als hätte man es schon verloren gehabt, und eben wieder gefunden, — — — in diesen komprimierten Existenzkampf verstrickt, blieb für Reflexionen keine Muse. Und diese Spannung wiederholte sich von Minute zu Minute. erfüllte Zehntausende mit lodernder Lebensgier, flammte verzehrend auf, sooft ein Geschoss drohend sich neigte, und schwelte qualmend weiter hinter der Front, wo von Tag zu Tag ein Wunder herbeigesehnt wurde, ein überraschender Friedensschluss vor Ablauf der Rastzeit!

Gadsky wurde es heiß ums Herz, wenn er an diese Orkan von fiebernden Pulsschlägen dachte, an dieses ungeheure Hoffen, das Millionen in Atem hielt.

Als wäre die große Lebensuhr sichtbar vor sie hingehängt, waren alle vereint in gemeinsamer Erwartung, hingen die Vordersten am Sekundenzeiger, der im Takt. der Geschosseinschläge hämmerte, während die Nachfolger hinter ihnen die Stunden zählten, und noch weiter rückwärts das Meer der vielen wogte, die jeder Tag näher an die Gefahr heranschob. Aus jedem Winkel sickerte eine winzige Ader; Millionen Herzen trieben das Blut in diesen mächtigen Hoffnungsstrom, dass er anschwoll zu ungeahnter, nie gesehener Wucht und Breite, und brandend sich dorthin wälzte, wo die Mächtigen saßen, die Herren waren über so viel bangendes Leben!

Und die blieben ruhig? . . . sahen sie den Strom nicht steigen, immer höher, zu ihren Füßen, zu ihrem Herzen hin? Wie war das möglich?