Der letzte Rabe des Empire - Patrick Hertweck - E-Book

Der letzte Rabe des Empire E-Book

Patrick Hertweck

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Beschreibung

Spannender Schmöker über unheimliche Mordfälle im viktorianischen England.
London 1888. Eine Mordserie versetzt die Stadt in Angst und Schrecken. Voller Entsetzen verfolgt Melvin die Ereignisse, denn er kannte jedes einzelne Opfer. Als auch noch das Mädchen getötet wird, das er heimlich liebt, setzt er alles daran, den Mörder aufzuspüren. Noch ahnt er nicht, dass in den dunklen Gassen des East End unheimliche Wesen auf ihn lauern. Und dass ihm ein einbeiniger Rabe auf Schritt und Tritt folgt …

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Das Buch

London 1888. Eine Mordserie versetzt die Stadt in Angst und Schrecken. Voller Entsetzen verfolgt Melvin die Ereignisse, denn er kannte jedes einzelne Opfer. Als auch noch das Mädchen getötet wird, das er heimlich liebt, setzt er alles daran, den Mörder aufzuspüren. Noch ahnt er nicht, dass in den dunklen Gassen des East End unheimliche Wesen auf ihn lauern. Und dass ihm ein einbeiniger Rabe auf Schritt und Tritt folgt …

Der Autor

© Joerg Schumacher

Patrick Hertweck, geboren 1972, bereiste nach dem Abitur mit dem Fahrrad viele Gegenden Europas, arbeitete danach im Management eines Medienunternehmens und beschloss irgendwann, seine heimliche Passion zum Beruf zu machen. Seither lebt und arbeitet der Vater von drei Söhnen als freier Schriftsteller an der Schweizer Grenze unweit von Basel.

Der Verlag

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Deshalb sind alle Inhalte dieses E-Books urheberrechtlich geschützt. Du als Käufer erwirbst eine Lizenz für den persönlichen Gebrauch auf deinen Lesegeräten. Unsere E-Books haben eine nicht direkt sichtbare technische Markierung, die die Bestellnummer enthält (digitales Wasserzeichen). Im Falle einer illegalen Verwendung kann diese zurückverfolgt werden.

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Viel Spaß beim Lesen!

London Docks, Wapping, East End of London

Ein zäher Nebel war an die Küste geweht und den Fluss hinaufgekrochen. Nun trieb er an den Rümpfen der Schiffe vorbei, schlich in die Wege zwischen den verwitterten Gebäuden der Docklands und drang allmählich in die Stadt jenseits der Häfen vor.

Obgleich am Horizont eben erst die Sonne erschien, herrschte an den Kais entlang der Themse längst geschäftiges Treiben. Neben der allgegenwärtigen Brandung der Wellen gegen die Hafenmauern erfüllten ein Kauderwelsch fremder Sprachen, das Rasseln der Ankerketten, das Flattern von Segeln und das Rattern unzähliger Lastkarren die rauchige Luft. Unterdessen führte eine Heerschar von Arbeitern einen Kampf gegen die Zeit. Die Schiffsladungen mussten vor dem Erwachen der Metropole gelöscht sein, damit die unzähligen Bündel, Fässer und Säcke rechtzeitig zu Londons Märkten und Geschäften gelangten.

Kaum einer der Handlanger und Tagelöhner, die an den Piers der Docks schufteten, beachtete den Dreimaster, der sich aus dem fahlen Nichts schälte. Ein Schriftzug am Bug der Bark verriet, dass die Hope auf den Kai zuhielt.

Als der Segler angelegt hatte, wurde die Laderampe aufgestoßen und eine Horde wettergegerbter Matrosen flutete an Land. Umgehend machte sich die Besatzung daran, den Bauch des Schiffes zu entladen.

Auf dem Oberdeck der Hope glomm unterdessen im Kopf einer Pfeife Tabak auf. Die Glut warf einen rötlichen Schein auf die markanten Züge eines Mannes in einem knielangen Frack. Den Zylinder hatte der Fremde tief in die Stirn gezogen. Mit der Linken umfasste er den Messingknauf eines Gehstocks. Seine Augen hafteten auf einer vernagelten Kiste und einem silberbeschlagenen Sarg, die gerade mittels einer Seilwinde vom Schiff gehievt wurden.

Während die Seeleute die Fracht zu einer wartenden Kutsche schleppten, polterten schwere Schritte über die Bordplanken. Der stille Beobachter wandte sich nun von dem Geschehen ab und blickte zu einem erschreckend farblosen und missgestalteten Gesicht auf. Der Mann an seiner Seite überragte ihn trotz der eigenen beachtlichen Körpergröße um mehr als einen Kopf.

Schweigend sahen die zwei Reisenden zu, wie die Holzkiste und der Sarg auf dem Dach der Kutsche vertäut wurden. Kurz darauf betraten Vincent Berengar und Samuel Seymour den Boden der Hauptstadt.

Whitechapel, East End of London

Als er blinzelnd die Augen aufschlug, zupfte ein kühler Windhauch an den Gardinenresten vor dem Fenster und das erste Licht des Tages kroch über den staubigen Boden.

Der Junge setzte sich auf und sein Blick verharrte auf der vergilbten Fotografie eines Brautpaares an der Wand. Während eine Ratte über die Dielenbretter huschte und durch ein Loch im Mauerwerk verschwand, versuchte er sich an den Traum zu erinnern, der ihn mitten in der Nacht aus dem Schlaf geschreckt hatte. Doch die Bilder in seinem Kopf blieben vage und schleierhaft.

Auf einmal war ein spitzer Schrei zu hören. Diesem folgten entsetzte Rufe und das Trillern einer Polizeipfeife. Kurz darauf drang das Echo aufgebrachter Stimmen in die Kammer.

Was war da draußen geschehen?

Schon war Melvin auf den Beinen, eilig in seine Schuhe geschlüpft und aus dem Fenster geklettert.

Er rannte durch eine Gassenschlucht, eilte darauf die Ellen Street entlang und folgte dem Gewirr aufgebrachter Stimmen in die Tiger’s Bay.

Abrupt blieb Melvin stehen, als er den Menschenauflauf erblickte, der sich vor einer Häuserfront zu einem Halbkreis formiert hatte. Mit zögernden Schritten näherte er sich der schaulustigen Meute. Im Rücken der erregt wispernden und Hälse reckenden Ansammlung hielt er erneut an und stellte sich auf die Zehenspitzen. Nun erhaschte er einen kurzen Blick auf die schmale Zufahrt von Dutfield’s Yard. In dem Hof hatten sich zwei Constables postiert, die ein Laken in die Höhe hielten. Offensichtlich um zu verbergen, was man dort entdeckt hatte.

Geschwind tauchte Melvin ab und gelangte – auf allen vieren und an vielen Beinen vorbei – zur Öffnung in der Häuserzeile. Hinter einem Polizisten, der alle Mühe hatte, die Menge auf Abstand zu halten, richtete er sich wieder auf.

Einer der beiden Bobbys, der interessiert hinter das Laken gelugt hatte, erklärte eben dem anderen: »Die da ist noch übler zugerichtet als die letzten beiden. Warum trifft sie sich auch mit ihrem Freier in so einem abgeschiedenen Loch?«

Sein übergewichtiger Kollege, in dessen krebsrotem Gesicht ein buschiger Schnauzbart wucherte, erwiderte: »Ich frag mich, wieso der Mörder immer wieder spurlos entwischen kann. Der Fuhrmann, der sie entdeckt hat, muss ihm praktisch über die Zehen gefahren sein.«

»Henry, du vergisst, dass unser Zeuge halb blind ist. Außerdem hatte er eine Fahne.«

Der Dicke stöhnte ärgerlich. »Mag schon sein, James. Aber eigentlich hätte den Kerl doch irgendwer sonst auf der Berner Street sehen müssen.«

»Was weiß ich! Eins steht auf jeden Fall fest: Abberline wird den Ripper nie schnappen.«

»Da hast du gottverdammt recht! Die Spatzen pfeifen es schon von den Dächern. Wenn der Herr Inspektor diesen Irren nicht demnächst einbuchtet, ist er die längste Zeit unser Chef gewesen.«

Die Polizisten stimmten in ein gehässiges Lachen ein. Dabei hoben sie das Tuch so weit an, dass Melvin einen leblosen Arm erkennen konnte.

Ihm stockte der Atem.

Da hörte er ein Räuspern. Die Bobbys wandten sich mit ertappten Mienen zu dem Inspektor um, der sich mit einer Handvoll seiner Männer durch die Menge gekämpft hatte und gerade in den Hof trat.

Wutgerötet peilte er die Polizisten an. »Constable James Harvey, Constable Henry Lamb! Sie stellen augenblicklich Ihr unangemessenes Grinsen ein und nehmen Haltung an, ansonsten werde ich Sie künftig nur noch der Nachtwache zuteilen! – Haben Sie mich verstanden?«

»Jawohl, Inspektor Abberline!«, pressten beide gleichzeitig hervor. Dann zogen sie das Laken weg, damit der Vorgesetzte den Tatort betreten konnte.

Jetzt erblickte Melvin den hingestreckten Körper. Er sah abgetragene Schuhe, graue Wollsocken, einen Rock aus rauem Stoff und einen schmutzigen Mantel mit Felleinsätzen. Neben der Toten lag eine Haube in einer Pfütze aus Regenwasser und Blut.

Leise stieß Melvin einen Namen aus: »Long Liz!«

Er kannte die Frau. Sie war eine der Dirnen, die früher am Ten Bells Stellung bezogen hatten und eine Zeit lang für seine Pflegemutter auf die Straße gegangen waren.

Er sah wieder zu dem Inspektor, der über der Toten stand und missmutig auf diese hinabblickte.

»Um wen handelt es sich hier?«

»Ihr Name ist … ähm, war Elizabeth Stride«, antwortete der kleinere Bobby eifrig. »Ein Fuhrmann, der seinen Gaul in dem Stall dahinten unterstellt, hat die Leiche gefunden. Identifiziert hat die Tote vorhin einer dieser Sozialisten vom Berner Club nebenan. Die Dame trieb sich für gewöhnlich beim Queen’s Head in der Commercial rum. War sicher eine von Michael Kidneys Bienen. Eine recht betagte Biene, wenn ich mir die Bemerkung erlauben darf.«

»Dürfen Sie nicht, Harvey!«, schnauzte sein Vorgesetzter. »Schaffen Sie mir die Zeugen und diesen Kidney ins Revier. Und zwar schleunigst!«

Der Inspektor holte zischend Luft, kniete nieder und begutachtete die Tote mit gerümpfter Nase. Dann zog er ein Taschentuch hervor und tupfte sich den Schweiß von der Stirn.

Mehrere Polizisten beobachteten ihren Chef interessiert. Zwei Uniformierte wechselten bedeutungsvolle Blicke.

»Was glotzen Sie so dumm?«, schmetterte der Inspektor seinen Männern plötzlich entgegen. »Verscheuchen Sie gefälligst die Leute vom Tatort.«

Sofort begannen die umstehenden Beamten den Pöbel wegzudrängen. Melvin wurde von einem Bobby am Kragen gepackt und mitgezogen, bis er zu weit entfernt war, um noch etwas zu erkennen. Es war ohnehin Zeit, von hier zu verschwinden. Mr Packer erwartete ihn sicher schon.

Berner Street, Whitechapel, East End of London

Zeitgleich wandte sich ein Mann, dessen Gesicht unter der Kapuze seines weißen Überwurfs verborgen war, von dem Geschehen ab und stieg in eine Kutsche. Der in eine Mönchskutte gekleidete Fahrer hieb seine Peitsche über die Rücken der schwarzen Pferde, die sogleich ungestüm lospreschten.

Auf der High Street reihte sich das Gefährt in den Verkehr ein. Hoch im Norden der Stadt bog es schließlich in eine einsame Allee ab und näherte sich drei Kirchtürmen, die in den sich aufhellenden Morgenhimmel stachen. Minuten später hielt der Wagen auf ein Tor aus schweren Bohlen in einer mächtigen Mauer zu, das von einer Handvoll Wachmänner aufgezogen wurde. Ein harsches »Brrrr« und ein Ruck an den Zügeln brachte das Gespann vor dem Portal des düsteren Sakralbaus zum Stehen.

Der Mann in dem seidenen Überwurf sprang sogleich aus der Kabine. Ehe er in das Gotteshaus ging, glitt sein Blick über das moosige Mauerwerk zu den verwitterten und von Taubenmist verdreckten Troll- und Koboldfratzen der Wasserspeier und weiter zu den Zwillingstürmen, die an den Seiten des Chorschiffes emporragten.

Leichtfüßig sprang der drahtige Mann die Stufen zum Portal hinauf und betrat das in feierlicher Andacht schlummernde Hauptschiff.

Sogleich bog er links ab und gelangte durch eine unscheinbare Wandöffnung in ein Treppenhaus. Ausdauernd erklomm er die vielen Stufen bis zu den Turmgemächern in luftiger Höhe. Er betrat diese durch eine unverschlossene Tür.

Hinter der Schwelle streifte er die Kapuze ab. Zum Vorschein kamen eine Petrus-Tonsur und ein wächsernes Gesicht mit eingefallenen Wangen und rasierklingendünnen Lippen.

Gleißendes Morgenlicht flutete durch die Balkontür. Die Augen des Priesters streiften durch das Gemach, in dem sich nur ein Stuhl, ein Tisch und ein Stehpult befanden. Da betrat ein Mann von breiter Statur den Raum. Grußlos schritt dieser in seinem karmesinroten Gewand an dem Priester vorbei, der demutsvoll das Haupt senkte.

Mit sinnierender Miene stellte sich der Bischof an das Pult und blickte auf die Pergamentseiten, die vor ihm lagen. Dabei strich er sich mit einer breiten Hand über das kahle Haupt, das im Sonnenlicht wie ein polierter Speckstein schimmerte.

»Joseph«, sagte er, »wie lange bist du schon in meinen Diensten?«

»Seit vielen Jahren, Meister«, antwortete der Priester. »Und das bis zu meinem Tod.« Er hob den Kopf und blickte in die wimpernlosen Augen seines Herrn.

»Mein Sohn, sei gewiss, du brauchst den Tod nicht zu fürchten.« Der Bischof legte seine Rechte auf die Seiten vor sich.

»Ja, Meister.«

»Liest du jeden Tag in deinem Evangelium?«

»Noch ehe die Sonne aufgeht und bevor sich meine Augen nachts schließen.«

Der bullige Mann taxierte den Untergebenen mit seinen grauen unergründlichen Augen. Dann breitete er die Arme aus und erhob die Stimme zu einem sakralen Singsang. »Da kam die Sintflut vierzig Tage auf Erden und alles Fleisch verging, das auf Erden war, und alles, was einen lebendigen Odem hatte auf dem Trockenen, das starb.«

Jetzt brach er seine Rede ab. Der Kaplan verstand die unausgesprochene Forderung. Mit leiser Stimme führte er die Rede des Bischofs fort: »Also ward vertilgt alles, was auf dem Erdboden war.«

Der Bischof nickte anerkennend. Er kam hinter dem Pult hervor und schritt mit raschelndem Gewand auf seinen Zögling zu. Dicht vor ihm blieb er stehen. Seine Pranken sanken auf die Schultern des Lakaien herab.

»So steht es im Buch der Bücher geschrieben.«

»Ja, Meister.«

»Was glaubst du, warum brachte Gott die Sintflut über die Menschen?«

»Weil die Erde verderbt war vor Gottes Augen und voll des Frevels«, hauchte der Priester. »Denn der Herr sah, dass der Menschen Bosheit groß war auf Erden und alles Trachten ihres Herzens böse war immerdar.«

Der Bischof lächelte zufrieden und ließ von seinem Gehilfen ab. Nun trat er zur Glastür vor dem Balkon. Dahinter erstreckte sich ein schier endloses Häusermeer bis zum Horizont. Der Geistliche verschränkte die Hände hinter dem Rücken und sein Blick streifte über die Dachfirste.

Schließlich machte der Bischof entschlossen kehrt und ließ sich auf seinem Stuhl nieder. »Mein Sohn, berichte, welche Nachrichten gibt es aus diesem elenden Pfuhl?«

Joseph drehte sich gleichfalls um und faltete die Hände vor dem Körper.

»Abberline, der Inspektor, den man mit den Ermittlungen betraut hat, tappt nach wie vor im Dunkeln«, sagte er am Ende seines Berichts und erntete ein zufriedenes Nicken des Kahlköpfigen.

»Gut«, murmelte der Ordinarius. »Nicht mehr lange und Jack wird aus seinem Loch kriechen, um uns mit seinem Besuch zu beehren.« Der Bischof klatschte einmal kräftig in die Hände, als wolle er eine lästige Fliege erschlagen. »Dann schnappt unsere Falle zu.« Das breite Lächeln, welches für wenige Augenblicke auf seinen Lippen gelegen hatte, wich einem zornigen Zug um den Mund. »Ich habe dieses Versteckspiel allmählich satt. Es ist an der Zeit, dass wir die entscheidenden Figuren auf dem Schachbrett versammeln.« Der Bischof sank tiefer in den Sitz und verschränkte die Arme vor der Brust. »Was gibt es aus der Ferne zu berichten?«

»Wir haben heute Morgen von unserem Jäger Nachricht erhalten.« Der Priester zögerte und schob dann rasch hinterher: »Er hat die vier aus den Augen verloren.«

Das Gesicht seines Meisters versteinerte.

»Kyle Hunter weiß aber aus sicherer Quelle, dass sie auf dem Weg hierher sind«, beeilte sich Joseph hinzuzufügen.

»Sie haben also angebissen.« Der Bischof bleckte die Zähne. »Wurde ein gebührender Empfang für sie vorbereitet?« Er sah den Jüngeren durchdringend an, erhielt aber keine Antwort.

Ungehalten wuchtete er sich aus dem Stuhl. »Unsere Leute sollen unverzüglich den Hafen sichern. Veranlassen Sie die Überprüfung aller infrage kommenden Schiffe. Finden Sie heraus, ob sich jemand nach unserem Sitz erkundigt hat. Suchen Sie zur Not alle Ecken und Winkel dieser Stadt ab. Spüren Sie diese Kreaturen auf!«

Commercial Road, Spitalfields, East End of London

An der Ecke zur Commercial Road blieb Melvin vor Mr Packers Stand stehen. Wie an jedem Morgen klemmte ein Zigarrenstummel zwischen den Lippen des Alten.

»Bist heut spät dran«, raunte der Obst- und Gemüsehändler und deutete auf die Kisten, die neben dem Hauseingang in seinem Rücken standen.

»Kommt nicht wieder vor«, sagte Melvin.

Sogleich machte er sich daran, die Behälter heranzuschleppen. Anschließend schichteten sie die Ware gemeinsam auf den Handkarren. Als sie damit fertig waren, warf der Händler seinem Helfer als Lohn zuerst einen Sixpence und dann einen Apfel zu.

»Bis morgen, mein Junge«, krächzte er und Melvin erwiderte: »Bis morgen, Mr Packer.« Dabei lüpfte er seine Schlägermütze und machte eine übertrieben elegante Verbeugung, was dem Alten ein kratziges Lachen entlockte, welches jäh von einem lang anhaltenden Husten verscheucht wurde.

Melvin betrachtete den Mann besorgt. Aber dann marschierte er weiter, bis er an einer halb verfallenen Ziegelsteinmauer anlangte. Auf diesem Überbleibsel eines Hauses ließ er sich nieder.

Allmählich erwachte die Straße zum Leben. Gegenüber schloss Ms Marsh vor sich hin pfeifend die Tür ihres Ladens auf. Unter Poltern und Ächzen rollte eine Bierkutsche heran. Von den Hausmauern hallte das Rufen eines Zeitungsjungen wider.

Melvin sah zu dem Wirtshaus neben der Gemischtwarenhandlung. Um diese Uhrzeit waren die Läden des Ten Bells noch geschlossen. Er zog den Apfel hervor und blickte zu der unbeleuchteten, mit Zeitungspapier zugeklebten Luke im Giebel der Kaschemme. Dahinter lag das Mansardenzimmer, in dem er aufgewachsen war. – Dort, im Halbdunkeln auf einer Pritsche, musste sie gerade schlafen: Ayleen.

Melvin schrak auf und blickte zerstreut auf die Fotografie einer Toten auf dem Titelblatt der Tageszeitung, die ihm plötzlich jemand unter die Nase hielt. Schaudernd betrachtete er die Schlagzeile, die mit folgenden Lettern begann:

J-A-C-K.

Er blickte an der Seite vorbei zu dem Jungen, der vor der Mauer stand und ihm das Blatt entgegenstreckte. Dessen Grinsen offenbarte eine Reihe schiefer und desolater Zähne.

Thad!

Thad gehörte zu der Horde verlauster Jungen, die tagsüber in den Straßen des Viertels umherstreiften.

Melvin stopfte sein Frühstück zurück in die Jackentasche. Das Foto hatte ihm den Appetit verhagelt. Er schaute den Jungen vorwurfsvoll an, weil der ihn so unsanft aus seiner Träumerei gerissen hatte. Normalerweise plauderte er mit ihm über dies und das, wenn er ihm begegnete, aber nach dem Schrecken an diesem Morgen wollte er seine Ruhe haben. Deshalb murmelte er nur »Danke«, als er nach der Zeitung griff und sie sich demonstrativ vor die Augen hielt.

»Ich muss eh weiter. Will mich gleich noch mit ’nem neuen Stapel Blätter eindecken«, sagte Thad und nahm die nächste Zeitung aus seinem Bauchkasten. »Die gehn echt weg wie warme Semmeln, seit der Bekloppte die Weiber niedermetzelt. In der heutigen Ausgabe steht was zu ’nem Mord von gestern drin. Wie ich gehört hab, ist die Polente heut Morgen schon über die nächste Tote gestolpert. – Deine Zeitung geht wie immer aufs Haus«, bemerkte Thad noch, dann schlurfte er weiter die Straße entlang und rief: »WANN SCHLÄGT JACK THE RIPPER WIEDER ZU? ALLES ÜBER SEINE BESTIALISCHEN TATEN. HEUTE IM DAILY TELEGRAPH!«

Während sich die Stimme des Zeitungsjungen in der Ferne verlor, dachte Melvin über die Mordserie nach, die seit geraumer Zeit in aller Munde war. Das öffentliche Interesse hatte den Siedepunkt erreicht, seit der Mörder der Presse seinen Namen zugespielt hatte. Obgleich die grauenvollen Taten von Jack the Ripper inzwischen Menschen im ganzen Land in ihren Bann schlugen, grassierte das Fieber aus Faszination und Angst in Whitechapel heftiger als irgendwo sonst, denn der Mörder machte in diesem Viertel Jagd auf die leichten Mädchen.

»Gestern Nacht hat er schon wieder gemordet«, flüsterte Melvin tonlos und eine Gänsehaut kroch über seinen Rücken, weil er plötzlich die Tote im Dutfield’s Yard wieder vor sich sah.

Er begutachtete nun den Artikel auf der Titelseite genauer und versuchte anschließend, den Sinn der Worte unter der Fotografie zu entschlüsseln.

Dabei presste er einzelne Buchstaben hervor: »A-N-N-I-E C-H-A-P-M-A-N.«

Jetzt konnte er die Schriftzeichen zu einer flüssigen Folge zusammenfügen. »Annie Chapman«, stieß er erschrocken aus.

Er kannte die Tote auf der Fotografie! Auch sie war eine der Frauen, die für seine Ziehmutter gearbeitet hatten.

Mit einem mulmigen Gefühl in den Eingeweiden sah Melvin noch einmal zum Fenster unter den Schindeln des Ten Bells, dann richtete er seine Aufmerksamkeit wieder auf die Straße. Kutschen, Kaleschen und Fuhrwerke rumpelten an ihm vorbei. Die Gehsteige hatten sich merklich mit Menschen gefüllt, die mit hochgeschlagenen Kragen und tief ins Gesicht gezogenen Hüten vorübergingen.

Melvin schwang sich von der Erhöhung. Es war Zeit, sich ein paar Groschen für die nächste Mahlzeit zu erbetteln.

London Borough of Hackney, zur selben Zeit

Zwei Stunden nach ihrer Ankunft an Bord der Hope hatten sie das Anwesen am Rande Londons erreicht. Der weißhaarige Riese stieß das rostige Tor auf und die Kutsche holperte einen von Unkraut überwucherten Weg den Hügel hinauf. Vor einem Haus, das inmitten eines verwilderten Gartens stand und mit seinen Erkern und Türmen trotz Alter und Verfall noch immer ansehnlich aussah, kam sie zum Stehen.

Vincent Berengar richtete sich auf dem Kutschbock auf und betrachtete das verlassene Gebäude. Sein riesiger Begleiter hatte das Tor geschlossen und marschierte mit stampfenden Schritten zur Kutsche zurück. Er deutete auf Kiste und Sarg und ließ übel gelaunt vernehmen: »Geh ruhig schon mal vor. Ich bringe die beiden rein!«

Vincent ging bedächtig die Stufen zur Veranda hinauf, zog einen Schlüssel aus seiner Manteltasche und stieß ihn in das Schloss der Eingangstür. Knarrend schwang diese auf und gab die Sicht ins Innere des Hauses frei. Wehmütig ließ Vincent seine Blicke durch das Vestibül wandern und nahm jedes Detail in sich auf. Das Schachbrettmuster des Marmorbodens, die Eichenpaneele an den Wänden, der ehemals glitzernde und nun blinde Kristallleuchter an der Decke, die holzgetäfelten Stiegen der beiden gewundenen Treppen zu den oberen Stockwerken.

Langsam näherte er sich einer geschlossenen Tür und umfasste deren Klinke. Er wartete ein paar Augenblicke, dann drückte er die Tür auf und sah in das dahinterliegende Zimmer: ein Raum voller Staub. Wenige Möbel, allesamt von Leintüchern verhüllt. Der orientalische Teppich zusammengerollt in einer Ecke. Ein Stapel Holzscheite auf dem Rost des Kamins, unter dem Sims die gebogenen Nägel, an welchen einst mit Süßigkeiten und kleinen Geschenken gefüllte Strümpfe hingen – und an der Wand darüber schwarz umrandete Rechtecke ...

Wie ein heißes Funkensprühen glühte in ihm die Erinnerung an die gerahmten Fotografien auf, die hier einmal gehangen hatten. Onkel Thierry und Tante Audrey in steifen Posen von einem Atelierphotographen in Szene gesetzt. Daneben sein eigenes jugendliches Abbild, das er einst Onkel und Tante geschenkt hatte: ein siebzehnjähriger Vincent Berengar in Schuluniform und mit einem ersten Flaum aufkeimender Männlichkeit auf den Wangen.

Zehn Jahre war es her, seit Sam, Byron, Nat und er aus der Stadt geflohen waren und Existenz, Freunde, Familie hinter sich zurücklassen mussten. Am Ende einer Odyssee durch ferne Länder waren sie nun zurückgekehrt. Als Fremde. Sie waren Heimatlose, denn es gab niemanden, der sie in London oder sonst wo empfangen hätte. Von ihrem alten Leben war ihnen nichts geblieben.

»So eine elende Bruchbude!«

Sams grollender Donnerhall holte Vincent zurück in die Gegenwart. Schweres Stiefelstampfen auf der Kellertreppe, dann ein dumpfer Knall, der die Wände zum Erzittern brachte und den Schmutz der Zeit vom Gebälk fegte.

»Heiliger verteufelter Kruzefix! Ein richtiges Zwergenhaus ist das!«

Vincent lächelte ein bekümmertes Lächeln. Wie er seinen Freund beneidete! Um sein Dasein ohne Schlaf und ohne Hetzjagden durch Albtraumwelten, in denen Byron, Nathaniel und auch er diesem Schattenwesen ausgeliefert waren.

Commercial Road, Spitalfields, East End of London, Nacht

Viele Stunden später saß Melvin abermals auf der Steinmauer vor der Schenke. Über das Straßenpflaster rumpelten die Räder von Mietdroschken, Pferdewagen und Handkarren. Vor den Häuserfassaden hatten die Straßenhändler im Licht der Talglampen ihre Stände aufgebaut, Schuhputzer ihre Stühle platziert und Glücksspieler ihre Decken ausgebreitet. Davor schleppten sich abgerissene Passanten die Straße entlang oder standen bei den Händlern herum, um mit ihnen zu feilschen. Es war also ein normaler Abend in dieser Ecke der Welt.

Melvin linste zu dem Lockenkopf, der neben ihm auf der Erhöhung hockte und nachdenklich an einer Brotkrume herumknabberte, seit er ihm von der grausigen Entdeckung am Morgen erzählt hatte. Wilkie war sein einziger Freund und gehörte einer Bande von Straßenjungen an, die sich als Schuhputzer, Laufburschen und Zeitungsjungen verdingten oder ihr Revier mit Bauchläden voller Schnürsenkel, Hemdsknöpfe, Miederschnüre und Zündhölzer abschritten. Außerdem waren die Jungen als Waste Picker und Schlammkriecher unterwegs, das heißt, sie lasen in der Gosse Zigarettenstummel auf, die sie für drei Pence das Dutzend an die ärmsten unter den armen Schluckern verhökerten, oder suchten bei Ebbe im Schlamm am Themseufer nach Kohlestücken, Segeltuchfetzen und anderen Dingen, die man zu Geld machen konnte.

Seit Melvin Wilkie kannte, versuchte dieser ihn zu überreden, Mitglied der Bande zu werden. Im vergangenen Winter hatte Melvin sich breitschlagen lassen und war der Gemeinschaft beigetreten. Doch nach wenigen Wochen sah sich Melvin darin bestätigt, dass er trotz der Annehmlichkeiten – die Bande bot ihren Mitgliedern Schutz und eine halbwegs gesicherte Versorgung – doch lieber frei und unabhängig war. Also hatte er Wilkies Einwände in den Wind geschlagen und war zurück in seine Kammer gezogen. Seither hielt er sich wieder auf eigene Faust mit Betteln, als Botenjunge am Hafen und Handlanger für Mr Packer und andere Kaufleute über Wasser.

»Ich wette, dieser Ripper ist ein Fleischhacker«, murmelte Wilkie nun und über Melvins Rücken kroch eine Gänsehaut.

»Wieso?«, fragte er zögerlich.

»Na, wer jeden Tag Tiere um die Ecke bringt, muss doch einen echten Hau haben. Würd mich nicht wundern, wenn so einer irgendwann auf die Idee kommt, nicht nur Vierbeiner zu zerlegen.«

Melvin verspürte erneut ein unangenehmes Ziehen in der Magengegend. Er wollte lieber nicht darüber nachdenken, was sich in dem Kopf dieses Mörders abspielte.

Beide hüllten sich wieder in Schweigen und Melvin beobachtete die Dirnen auf dem Gehsteig, die mit gestrafften Schultern Männern aufreizende Blicke zuwarfen.

Melvin konnte ihr Gebaren nicht täuschen, denn er hatte eine Zeit lang mit Dirnen zusammengewohnt. In der stickigen Kammer des Ten Bells hatten seine Mitbewohnerinnen nach getaner Arbeit eher wie Überlebende einer verlorenen Schlacht ausgesehen. Sobald sie sich im Morgengrauen die Schminke von den Wangen gewaschen und die Korsetts gelockert hatten, waren sie zu Tode erschöpft auf ihre Matratzen gesunken, während für die meisten Menschen draußen ein neuer Tag begann.

Melvin fühlte sich mit einem Mal niedergeschlagen. Das ging ihm oft so, wenn er an das Leben in den Fängen der alten Rose erinnert wurde. Erneut blickte er zum Ten Bells. Ayleen war gerade aus dem Hof neben der Spelunke auf den Gehsteig hinausgetreten. Augenblicklich überkam ihn eine entsetzliche Angst um sie. Ein Unbekannter ermordete aus rätselhaften Gründen Straßenmädchen und dessen letzte beide Opfer waren ehemalige Dirnen seiner Ziehmutter gewesen.

War das nur ein Zufall oder bedeutete dies, dass Ayleen in großer Gefahr war?

Wie jede Nacht lief das Mädchen mit dem goldblonden Haar und den graugrünen Augen an den anderen Dirnen vorüber und lehnte sich an die Mauer des Wirtshauses.

Erst beim dritten Räuspern seines Freundes, das von dem Stoß eines spitzen Ellenbogens unterstützt wurde, nahm Melvin seine Umwelt wieder wahr. Er drehte den Kopf. Wilkie taxierte ihn und prompt stieg ihm eine unangenehme Hitze in die Wangen.

»Ist ein niedliches Ding, zugegeben«, sagte Wilkie in einem mitleidigen Tonfall, in dem auch eine Prise Spott mitschwang. »Aber schlag sie dir aus dem Kopf. Die ist zu alt für dich.«

Melvin antwortete seinem Freund nicht. Wilkie konnte ja nicht ahnen, was ihn und das Mädchen verband. Er hatte weder ihm noch sonst wem je verraten, dass sie zusammen aufgewachsen waren und wie beide unter der Fuchtel der alten Rose gelitten hatten.

»Ich muss los!«, sagte Wilkie. Er sprang von der Mauer und blickte mit zusammengekniffenen Augen zu ihm hoch. »Du passt doch nicht etwa auf sie auf?«

Melvin tat, als hätte er ihn nicht gehört, und blickte wieder zur anderen Straßenseite.

Sein Freund rollte kurz mit den Augen, dann stopfte er eine rostrote Locke unter die aufgeschlagene Krempe seines Schlapphutes und zog ohne eine weitere Bemerkung davon.

Melvin blieb allein zurück. Lange saß er da, in düstere Gedanken versunken.

Unterschlupf der vier, London Borough of Hackney, Mitternacht

Vincent Berengar zog an seiner Pfeife und sah in den Raum, der vom Kaminfeuer nur ungenügend erhellt wurde. Dennoch konnte er die drei Personen, die sich auf der anderen Zimmerseite befanden, so deutlich erkennen, als stünden sie im Tageslicht vor ihm. Er wusste, sie warteten darauf, dass er das Wort ergriff.

»Ich kann eure Rastlosigkeit durchaus verstehen. Zunächst gilt es aber, einen klaren Kopf zu bewahren. Womöglich konnten unsere Gegner bereits in Erfahrung bringen, dass wir zurückgekehrt sind. Ohne den Schutz der Nacht erregen wir Aufmerksamkeit. Das ist leider Gottes unser Schicksal.«

Der größte der Männer quittierte die Äußerung mit einem verbitterten Auflachen.

»Ein Schicksal, dem wir die Stirn bieten werden, Sam! Übe dich in Geduld! Wir harren hier aus, bis der richtige Zeitpunkt gekommen ist. Dann schlagen wir zu.«

»Die Nacht, lieber Vincent, ist unser Freund nicht.« Die scharfzüngig gezischte Erwiderung stammte von dem Mann mit der dünnen Haut über dem fleischlosen Schädel. »Sie ist unser Gift, von dem wir trinken. So wie Verdurstende gierig einen Schierlingsbecher leeren, wohl wissend, dass sie an ihm elendig ersticken werden.«

»Gut gesprochen, Byron«, sagte die gesichtslose Gestalt neben ihm, die in der Hocke an der Wand lehnte und die verbundenen Hände in den Schoß gebettet hatte. »Ich muss gestehen, dass auch mir der Sinn nicht sonderlich nach Schlaf steht. Vor diesem grafitschwarzen Gespenst, das mich in meinen Träumen heimsucht, hätte selbst der alte Thot Reißaus genommen. Sam, Vincent hat recht. Wir sollten uns vorsehen.«

»Teufel auch, Nat! Glaubst du etwa, dass ich nicht mitreden kann, weil ich mir als Einziger hier die Tage und die Nächte um die Ohren schlagen muss und nebenbei dich und Byron in euren Schlafgemächern in der Gegend herumkutschieren darf?« Der weißhaarige Riese wandte sich ab und stierte aus dem Fenster. Aus seiner klotzigen Brust drang ein aufgebrachtes Schnaufen. »Ich würde diesem Mistkerl liebend gern in meinen Träumen begegnen. Dann könnte ich ihm wenigstens in diesen die Fresse polieren!«

Plötzlich hieb er seine Faust gegen die Zimmerwand. Seine Fingerknöchel hinterließen dabei deutliche Spuren in dem Mörtel.

»Sam, beruhige dich. Du kommst früh genug zu deinem Recht«, erklärte Vincent, während er seine Pfeife ausklopfte. »Zuerst müssen wir herausfinden, was mit Jack wirklich geschehen ist. Wir dürfen ihn nicht fallen lassen, solange wir nicht vollkommen sicher sind, dass wir ihn für immer verloren haben.«

Whitechapel, East End of London, zur gleichen Zeit

Über die Commercial Road bog Melvin auf das löchrige Pflaster der Back Church Lane und an der nächsten Ecke in eine ungepflasterte Gasse ohne Namen. Ein paar Meter weiter schlüpfte er durch einen Spalt in der Häuserzeile in einen übel riechenden Hof, zu dem es bis auf die unscheinbare Kluft zwischen den Fassaden sonst keinen Zugang gab. Trotzdem war er mit verfaulendem Abfall und den stinkenden Ausscheidungen von Anwohnern der umliegenden Häuser übersät, weil diese ihren Unrat und den Inhalt der Nachttöpfe aus den rückwärtigen Fenstern der Unterkünfte kippten. Melvins Stiefel versanken in einer klebrigen Schlammbrühe, als er sich einem Bretterzaun näherte. Dort angelangt, klappte er ein loses Brett beiseite und zwängte sich in die entstandene Lücke. Dahinter kämpfte er sich durch einen verwilderten Streifen, der in besseren Zeiten einmal ein Vorgarten gewesen sein musste. Dann endlich stand er vor der zerbröckelnden Fassade eines Häuschens mit eingesunkenem Mauerwerk und allerhand Lücken im Schindeldach.

Wie Hunderte Male zuvor kletterte er an dem rostigen Fallrohr in die Höhe und schlüpfte über ein demoliertes Fenster in die Hausruine.

Er landete in einem dunklen Raum und tastete sich vorwärts. Auf der anderen Seite des Zimmers riss er ein Zündholz an und hielt es an den Kerzenstumpf auf der umgedrehten Kiste vor sich. Aus der Dunkelheit schälte sich ein Bett, bestehend aus einer Holzpalette, einer fadenscheinigen Wollmatratze und einer Flickendecke.

Melvin bückte sich und steckte den Zeigefinger in ein Loch im Holzboden. Er zog an dem Brett. Widerstandslos ließ es sich anheben. In dem Hohlraum unter den Dielen stand eine verbeulte Teedose, in der er seine Einnahmen versteckte. Außerdem verwahrte er darin ein paar Erinnerungen. Als er die wenigen Münzen aus seiner Tasche in die Dose legte, blieb sein Blick kurz auf einem mattsilbernen Haarreif haften. Rasch schloss er das Versteck wieder. Dann streifte er die Schuhe ab, sank auf sein Bett und blickte unwillkürlich zu der Fotografie an der gegenüberliegenden Wand.

Die Kerze warf ihr flackerndes Licht auf die Züge eines jungen Brautpaares. Der Mann hatte einen gezwirbelten Schnurrbart und eine gescheitelte Frisur, die Frau an seiner Seite hatte das lange Haar geflochten und sah mit einem glücklichen Lächeln zu ihrem Gatten auf.

Müdigkeit übermannte Melvin. Er drehte sich zur Seite, blies die Kerzenflamme aus und schlief auf der Stelle ein.

Draußen fuhr ein Blitz wie ein gezacktes Messer über den Himmel. Während das Rauschen des Regens die Kammer erfüllte und ein kühler, nach feuchter Erde riechender Nachtwind an den Überbleibseln der Vorhänge zerrte, lag der Junge, die Stirn feucht benetzt, im Dunkeln seiner Stube. Der Schlafende murmelte flehende Worte, als wolle er die wilden Träume, die ihn peinigten, verscheuchen.

Commercial Road, Spitalfields, East End of London

Melvin saß nach seinem Abstecher zu Mr Packer auf seinem angestammten Platz. Er zog an diesem Morgen jedoch nicht nur einen Apfel aus der Jackentasche. Weil er auf seinem Fußmarsch an einigen Mülltonnen haltgemacht hatte, befand sich darin zudem eine Auswahl zerknitterter Zeitungsseiten aus dem Daily Telegraph, der Morning Post und dem East End Advertiser. Alle enthielten Berichte über die Whitechapel-Mordserie.

Melvin breitete sie nun neben sich aus und platzierte einen Stein auf dem Stapel, damit die Blätter nicht vom auffrischenden Wind fortgeweht wurden.

Als er wieder aufsah, kullerte auf dem Gehsteig unter ihm ein Hut vorbei, verfolgt von einem barhäuptigen Fußgänger, der seinem Bowler hinterherjagte. Auf der gegenüberliegenden Straßenseite schlenderten derweil zwei Knocker-Ups an den Häuserzeilen entlang, die mit einer Stange über der Schulter allmorgendlich durch die Arbeitersiedlungen streiften und mit ihrem Klöppel an schmutzige Scheiben hämmerten. Die Londoner Wachklopfer sorgten auf diese Weise dafür, dass die Fabrikarbeiter rechtzeitig aus ihren Betten kamen, um sich an dampfspeienden Maschinen für einen Hungerlohn die Gesundheit zu ruinieren.

Als Melvin den Apfel verputzt hatte, machte er sich daran, einzelne Zeitungsseiten unter dem Stein hervorzuziehen und diese zu studieren. Er unterstrich gerade mit einem Kohlestück einen Namen in einem Artikel zu den Ripper-Morden, da schob sich ein Schatten zwischen ihn und die Morgensonne. Eilig drehte er das Blatt um und wandte den Kopf. Direkt neben ihm auf der Mauer stand Wilkie.

Neugierig und mit verschränkten Armen betrachtete der Lockenkopf die Zeitungen.

»Ich denke, du bist mir eine Erklärung schuldig«, sagte er und fixierte Melvin dabei mit strengem Blick.

»Hast du Zeit?«, erwiderte Melvin.

»Jede Menge.«

»Gut.«

Melvin faltete sorgfältig das Blatt zusammen, steckte es in eine Jackentasche und richtete sich auf, denn auf der anderen Straßenseite hatte Ms Marsh soeben ihren Laden aufgeschlossen.

»Komm.« Er winkte Wilkie hinter sich her.

Die Betreiberin der Gemischtwarenhandlung stand auf einem Stuhl und schrieb mit weißer Kreide die Angebote des Tages auf die Tafel über der Eingangstür.

»Ms Marsh?«

Die Frau sah die Halbwüchsigen kurz desinteressiert an und kritzelte dann weitere Buchstaben auf die Tafel.

»Ms Marsh! Dürfen wir kurz stören?«

»Dürft ihr nicht.«

»Es dauert auch nicht lange.«

»Ihr seht doch, dass ich zu tun hab.«

»Eine einzige Frage.«

Ms Marsh musterte Melvin missbilligend vom Kopf bis zu den erdkrustigen Stiefeln. »Ich kenn dich. Du sitzt jeden Morgen auf diesem Schandfleck in der Landschaft und glotzt wie ein Bekloppter zu der Spelunke. Jungchen, ich geb dir mal einen Rat: Die Biertränke macht erst abends auf.« Die beleibte Frau rümpfte die Nase. »In deinem Aufzug würdest du sowieso nicht reingelassen – nicht mal in so eine üble Pinte wie das Ten Bells.«

Melvin ignorierte diese Unfreundlichkeit. »Wir suchen eine Frau …«

»… die hab ich grad nicht im Angebot. Also macht die Fliege!«

Melvin ließ sich nicht beirren. »Wissen Sie, wo Mary Kelly so ungefähr vor zwei Jahren hingezogen ist? Sie wohnte damals im ...«

»Ich weiß, wo die gewohnt hat«, unterbrach ihn die Ladenbesitzerin. Sie betrachtete ihn plötzlich mit erwachtem Interesse. »Was wollt ihr Früchtchen von der?«

»Hören Sie mal zu«, mischte sich jetzt Wilkie ein. »Entweder Sie beantworten die Frage meines Kumpels und verkneifen sich Ihre blöden Bemerkungen oder ich werde Ihren Plunderschuppen heute Nacht mal mit meinen Kumpels besuchen kommen.«

Melvin warf seinem Freund einen tadelnden Blick zu und linste zu Ms Marsh. Eine dunkle Röte war auf ihre Wangen getreten. Doch anstatt loszubrüllen, lachte die Frau lauthals los. Dabei wackelte ihr Stuhl so bedenklich, dass man Angst bekam, sie würde gleich runterfallen.

Als ihr Lachen verebbt war, sah sie friedfertiger zu den Jungen. »Na, dann sollte ich wohl lieber auspacken. Mal sehen, wo deine frühere Zimmergenossin abgeblieben ist.« Sie zwinkerte Melvin zu, der ein verwundertes Gesicht zog. »Glaubst du, ich erkenne meinen Stammgast von damals nicht wieder? Die Rose hat jede Menge Schotter für ihren Fusel bei mir gelassen. Wenn mich meine grauen Zellen nicht täuschen, hast du den immer für sie abholen dürfen. Zu schade, dass sie von uns gegangen ist. Vor allem schade für meine Finanzen.«

Melvin ignorierte Wilkies fragende Grimassen. Unterdessen wischte die Betreiberin des kleinen Ladens die Kreide an ihrer Schürze ab und rieb sich nachdenklich übers Kinn.

»Lasst mich mal überlegen. Die Kelly wohnt, glaub ich, nicht weit weg. Hat, so viel ich gehört hab, ein neues Leben angefangen und verdient jetzt auf anständige Weise ihre Kohlen für den Winter. Wie hieß denn die Straße bloß? Ah, jetzt hab ich’s! In der Dorset soll sie ein Zimmer gemietet haben. Aber fragt mich bloß nicht, in welchem Haus.«

»Vielen Dank, M’am«, stieß Melvin erleichtert hervor und hob zufrieden die Hand zum Abschied.

Aus dem wolkenlosen Himmel über dem East End flutete ein klares Sonnenlicht auf die Giebel der Häuser und warf ihr verzerrtes Abbild in die Straßen.

Melvin bummelte mit Wilkie die engen und verwinkelten Gassen Whitechapels entlang. Ihr Ziel, die Dorset Street, war nicht mehr weit.

Melvin war froh, Wilkie an seiner Seite zu haben, auch wenn er ihm wohl oder übel einiges erklären musste. Wilkie war nicht entgangen, dass ihn etwas beschäftigte. Darum hatte er ihm einen Besuch abgestattet. Der Freund wollte wissen, was los war. Melvin sah zu seinem Begleiter, der geduldig schweigend neben ihm hermarschierte.

Er wartet, bis ich so weit bin, dachte Melvin. Wilkie ist ein echter Freund!

Genau genommen war Wilkie der einzige Freund, den er hatte. Und umgekehrt verhielt es sich ebenso.

Sie kamen nun an einem verwitterten Torbogen vorbei, aus dem ein vielstimmiges Schnarchen auf den Gehsteig drang. Flüchtig blickten die beiden zu den Stadtstreichern, die dort gemeinsam vor der Nachtkälte Schutz gesucht hatten und noch ihren Rausch ausschliefen. Mit vornübergekippten Köpfen lehnten die Männer wie achtlos abgestellte Mehlsäcke aneinander.

Kaum hatten die Freunde die Einbuchtung passiert, mussten sie einem Kerzenzieher ausweichen, der auf einem Holzbalken über seinen Schultern zwei Körbe balancierte, aus denen heißer Talg auf den Boden tropfte.

»Hör zu, Wilkie ...«, setzte Melvin an, als sie den Gehsteig wieder für sich hatten.

»Na, wird auch Zeit«, brach es aus seinem Begleiter hervor. »Ich dachte schon, du lässt mich bis zum Sankt Nimmerleinstag schmoren.«

Melvin lächelte matt und kramte in seiner Tasche. Schließlich faltete er eine Seite der Post mit einem Artikel auseinander, in dem die Namen aller Ripper-Opfer standen. Er reichte Wilkie das Blatt, der es sogleich gewissenhaft studierte und schließlich hilflos die Hände hob.

»Mel, was steht da?«

Erst jetzt fiel Melvin wieder ein, dass Wilkie wie die allermeisten Straßenjungen weder lesen noch schreiben konnte. Woher denn auch? Kaum einer von ihnen hatte jemals eine Schule von innen gesehen. Er selbst jedoch konnte lesen, wenn auch nur bruchstückhaft und unbeholfen. Diese Fähigkeit war eines der wenigen sinnvollen Dinge, die er aus seinem früheren in sein heutiges Leben mitgenommen hatte.

Peggy Rose hatte ihm außer einer ganzen Litanei an Flüchen auch das Lesen nahegebracht. Natürlich hatte sie ihm keinen Unterricht erteilt. Für Melvin stand es außer Frage, dass diese Schreckschraube bestenfalls ihren eigenen Namen schreiben konnte. Vielmehr hatte sie ihm irgendwann ein dünnes, reichlich bebildertes Schulbüchlein hingestreckt, das sie allein für diesen Zweck irgendwo aufgetrieben haben musste. Er erinnerte sich noch gut an die damalige Ansprache seiner Ziehmutter: »Lern das! Es kann nicht schaden, wenn du das kannst. Merk dir eines: Wenn du in Zukunft irgendwo ein Schild siehst, auf dem VERBOTEN! steht, lohnt es sich, mal genauer nachzusehen. Dann hat nämlich jemand was zu verstecken.«

So hatte er an diesem Morgen den eingesammelten Zeitungen die wichtigsten Informationen entnehmen können.

»Siehst du die unterstrichenen Wörter?«, erklärte er nun seinem Freund. »Das sind die Namen der Frauen, die von Jack the Ripper ermordet wurden. Mary Ann Nichols, Annie Chapman, Elizabeth Stride, Catherine Eddowes.«

Wilkie blickte ihn fragend an. »Worauf willst du hinaus, Mel?«

Melvin holte Luft und offenbarte dem Freund, dass er bis vor zwei Jahren mit einer Kupplerin und deren Dirnen in der Dachkammer des Ten Bells gehaust hatte.

Als er geendet hatte, zog Wilkie zuerst die Stirn kraus, dann weiteten sich seine Augen. »Du meinst, das sind alles Frauen, mit ...«

»... denen ich damals unter einem Dach gelebt habe. Richtig.«

»Heiliger Strohsack!« Wilkie blieb stehen und kratzte sich am Nacken.

Beide sahen in die Straße, die vor ihnen lag und von hinfälligen Behausungen gesäumt wurde. Sie waren in der Dorset angekommen.

»Jetzt sind von meinen ehemaligen Mitbewohnerinnen nur noch Ayleen und Mary Kelly am Leben«, sagte Melvin.

»Darum kennst du also die Kleine!«, rief Wilkie erstaunt aus. »Und deswegen hast du vorhin Ms Marsh gefragt, wo diese Kelly wohnt! Was für einen Grund sollte der Ripper denn haben, sich ausgerechnet diese Frauen vorzuknöpfen?«

»Ich habe keinen blassen Schimmer«, murmelte Melvin. »Das ergibt überhaupt keinen Sinn. Und doch …« Er zögerte und blickte Wilkie fest in die Augen. »Ich kann nicht einfach abwarten. Ich muss Ayleen beschützen und verhindern, dass auch ihr etwas zustößt.«

Landsitz von Russel Wallace, Broadstone, Dorset

Während im elenden Osten der Stadt zwei Jungen über die Motive eines Mörders rätselten, saß weit entfernt von der Stadt ein beleibter Mann im Büro seines Landhauses, das einsam auf einer Anhöhe thronte. Vor ihm auf dem Schreibtisch lagen drei Briefe, die soeben zugestellt worden waren. Er setzte sich seine Schildpattbrille auf die Nase und betrachtete die Umschläge. Verwundert hoben sich seine buschigen Brauen, als er den dritten Umschlag begutachtete, denn auf diesem fehlte jeder Hinweis auf den Absender. Lediglich am Poststempel konnte man erkennen, dass er aus London stammte. Die Adresse des Empfängers war in unpersönlichen Druckbuchstaben geschrieben, aber das elfenbeinfarbene Kuvert rief eine brennende Erinnerung in dem Betrachter wach.

Mit unsicherer Hand griff der ältere Herr nach dem Brieföffner. In der Hülle steckte ein einziges Blatt. Vorsichtig faltete er es auseinander. Die auffällig kleinen Buchstaben und die geschwungenen Bögen der Schrift bestätigten seine Vermutung, denn sie verrieten zweifelsfrei, wer ihr Verfasser war. Seine Hand bebte, während Russel Wallace las:

Lieber Russel,

in Erinnerung an ein Versprechen, das ich Ihnen einst gegeben habe, möchte ich Sie darüber in Kenntnis setzen, dass ich den Zeitpunkt für ein Wiedersehen für gekommen halte.

Ich möchte Sie darum ersuchen, umgehend nach London zu reisen. Es tut mir leid, dass meine Einladung erst spät und darüber hinaus so kurzfristig erfolgt. Gewisse Umstände, über welche ich Sie noch eingehend unterrichten werde, nötigen mir die Eile auf.

Kurz und knapp: Ich bin in einer wichtigen Angelegenheit auf Ihre Unterstützung angewiesen.

In der Hoffnung, Ihre Verpflichtungen erlauben eine Anreise und Sie erinnern sich nach all den Jahren meiner, wäre es mir eine Ehre, Sie morgen in meinem Haus als Gast willkommen zu heißen. Ich war so frei, Ms Ratcliffe bereits entsprechende Vorbereitungen treffen zu lassen.

Ihr ergebener Freund W. Crookes

Dorset Street, Spitalfields, East End of London

Melvin und Wilkie näherten sich derweil einer alten Frau, die vor einer schimmeligen Hauswand kniete und schmutzige Lumpen auf einem Waschbrett wusch.

Melvin setzte seine unschuldigste Miene auf.

»Verzeihen Sie, M’am. Wo, bitte schön, wohnt Mary Kelly?«

Die Frau musterte ihn zuerst misstrauisch, dann wandte sie den Kopf zu einer Einfahrt zwischen den Häusern.

»Miller’s Court 13. Das Zimmer Parterre.«

Melvin wedelte dankend mit seiner Mütze.

Durch einen gemauerten Bogengang gelangten die Freunde in den Hof. Die Läden der Erdgeschosswohnung waren geschlossen. Wilkie blieb mit den Händen in den Hosentaschen stehen und sah sich um.

Melvin ging um die Ecke zur Tür. Er klopfte. Weil niemand antwortete, hämmerte er heftiger gegen das Holz und rief: »Mary? Mary Kelly?«

Keine Antwort. Die Wohnung schien verlassen zu sein.

Zwischen den Lamellen der Läden spähte er in das Zimmer. Vage waren die Konturen weniger Möbelstücke zu erkennen: die Umrisse eines Betts, daneben ein niedriger Tisch und ein Stuhl, auf dem verschiedene Kleidungsstücke lagen.

»Vergiss es. Da ist niemand«, hörte Melvin seinen Freund sagen.

Er richtete sich auf und zog den Artikel aus der Hosentasche, auf dem er die Namen der ermordeten Frauen gekennzeichnet hatte. Ehe sie den Miller’s Court verließen, schob Melvin das gefaltete Papier unter dem Türspalt durch.

Sie traten wieder auf die Dorset hinaus. Die Straße zeigte sich nun leer und verlassen.

Da wehte ihnen plötzlich ein heulender Wind ins Gesicht, der den Straßendreck zu ihren Füßen aufscheuchte und mit sich riss. Braunes Laub wirbelte umher.

Melvin und Wilkie hatten eben ihre Kopfbedeckungen wieder eingefangen, da war der Spuk auch schon vorbei. Anstelle des Windheulens war jetzt ein schreckliches Gejaule zu hören.

Wilkie packte Melvin an der Schulter. »Das gefällt mir nicht. Ganz und gar nicht.«

Melvin, der selbst eine gehörige Gänsehaut hatte, erwiderte nichts darauf, denn seine Kehle war plötzlich wie zugeschnürt. Er sah die Dorset hinunter, im Wissen, dass der Wind und diese schieftönende Melodie Vorboten waren. Er wusste, wer da näher kam.

»Verflixt, das Gewinsel kenn ich doch!«, hauchte Wilkie nervös. »Das klingt wie ...«

Mit einem schneidenden Pssst! brachte Melvin den Freund zum Verstummen. Dann deutete er die kopfsteinbepflasterte Straße hinab.

»... der Knochensammler!«, beendete Wilkie mit belegter Stimme den Satz. Prompt bohrten sich seine Finger noch fester in Melvins Schulter.

Erstarrt beobachteten sie, wie sich ihnen ein krummbuckliger Mensch näherte. Auf unsicheren Beinen taperte das Männlein neben seinem störrischen Esel her, während sein rollender Blick unter der kegelförmigen Filzmütze über den Boden irrte und er wilde Flüche in seinen verfilzten Ziegenbart brabbelte. Der klapprige Körper des Alten steckte in einem bunt geflickten Cordanzug und um die Schultern hatte er eine schmutzstarrende Pferdedecke geschlungen, die dermaßen stank, dass man sie wahrscheinlich noch in Westminster riechen konnte.

Allmählich konnten Melvin und Wilkie Einzelheiten seines Gebrabbels verstehen.

»Gamfield, dir mach ich Beine, du sturer Bock! Scherben und Rasierklingen geb ich dir ins Fressen, undankbares Vieh. Sargnägel hau ich in deine Pfoten, du törichter Esel. Das wird dir schon Dampf machen.«

Mit einem Ruck an der Kandare hielt der Alte das Tier vor ihnen an und hob den Kopf. Wegen seines schiefen Rückens musste er ihn in den Nacken pressen, um die Jungen direkt ansehen zu können.

Wilkie und Melvin warfen voller Unbehagen einen Blick auf den ungesund gebogenen Hals. Lederne Haut spannte sich über einen spitzen Adamsapfel, der nun auf und nieder zu hüpfen begann.

»Wen lesen da meine trüben alten Augen auf?«, ertönte die schnarrende Stimme des fahrenden Händlers. »Sehr erfreut, euch zu sehen, meine Bürschchen.«

Beide Jungen schluckten gleichzeitig. Melvins Schulter begann langsam zu schmerzen, denn Wilkies Finger piksten noch immer in seine Haut.

Ein schiefes Lächeln riss jetzt tiefe Schluchten in das sonnenverbrannte Gesicht vor ihnen.

»Schaut sie euch an, Gamfield!

Flink die Beine,

rein das Blut in allen Venen.

Scharf das Auge, hell das Ohr,

stark die Muskeln, straff die Sehnen.

Doch unter all dem welkenden Fleisch verborgen,

wartet beharrlich das Gebein.

Es weiß genau, es wird noch sein,

wenn alles andre ist schon längst verdorben ...«

Ein zittriger Arm winkte zu dem Karren. Wie von einer unsichtbaren Schnur gezogen, drehten Wilkie und Melvin die Köpfe dorthin. Was sie sahen, war ihnen hinlänglich bekannt. Dennoch fuhren sie innerlich zusammen. Auf rostigen Nägeln, die irgendwann ringsherum in die Seiten getrieben worden waren, baumelten hohläugige Tierschädel. Dazwischen hingen an Seilen verknotete Knochengebilde, die für das schreckliche Klappern verantwortlich waren, sobald sich der Wagen in Bewegung setzte oder der Wind an ihnen vorbeistrich.

»… Denn es kennt den einzig wahren Reim:

Hinter allem hungrigen Streben und erbaulichem Lob lauert inmitten der Blüte jeden Lebens schon der sichere Tod.«

Nun endete das Hüpfen in seinem Hals und der Knochensammler schwieg wie seine leblosen Utensilien. Gleichwohl sah Melvin in seinen Augen bereits die Frage, die er gewöhnlich stellte: Habt ihr was Hübsches für mich?

Obzwar niemand den Namen dieses buntscheckigen Vagabunden kannte, war er eine lebende Legende, um die sich die abwegigsten Geschichten rankten. Viele nannten den wunderlichen Einzelgänger schlicht den Knochensammler. Normalerweise hätte jeder Bewohner im East End vor dieser schauerlichen Erscheinung Reißaus genommen. Weil jedoch gerade die Bettelarmen abergläubisch waren und in jeder schwarzen Katze, jedem Stolpern oder Husten einen Wink des Schicksals vermuteten, hießen sie den Alten mit offenen Armen willkommen. Schließlich hatte der Knochensammler gegen jede unglückliche Wendung im Leben und für die Errettung jeder noch so kümmerlichen Seele ein Mittelchen in seinem Lastkarren. Dazu zählten mumifizierte Hasenpfoten, rostige Hufeisen oder geräucherte Pferdehoden. Zum Schutz vor Geldverlust empfahl er vertrocknete Hühnerklauen und für Opfer eines Unfalls Zähne und Krallen, die man sich um den Hals binden musste. Muscheln, Perlen und glitzernde Steine aus seiner Hand sollte man bei einer Pechsträhne in die Hosentasche stopfen und bei drohendem Unheil über die Schulter werfen. Vor allem aber gab es Knochen jeder Art und Größe. Elfenbeinweiße Knochen, graue, faserige Knochen und Knochen so gelb wie saure Butter. Dazu gehörten vielgestaltige Tierschädel mit lang gezogenen oder gedrungenen Schnauzen, mit kleinen spitzen Zähnen oder bedrohlichen Hauern, mit riesigen gewundenen Hörnern oder wuchtigen Wölbungen über den leeren Augenhöhlen. Ferner gab es durchbohrte Schädelfragmente, in die eigenartige Symbole und Anagramme geschnitzt waren, sowie mittels dünnen Garns gefertigte Figuren und Gebilde aus Knorpeln, Rippen und anderen Knochenstücken.

Insbesondere auf die Überbleibsel vergangenen Lebens hatten es die Leute abgesehen, denn sie galten als wirkungsvollstes Mittel gegen Krankheit und Tod. Überall im East End wurden Knochen an Türbalken genagelt, in Jackensäume genäht, unter Matratzen versteckt, an Ketten umgebunden und in Schuhe gestopft oder, zu einem feinen Mehl zerrieben, in Suppen und Brotteige gerührt. Im Preis inbegriffen war jeweils der passende Zauberspruch, mit dem die verschiedenartigsten Gebrechen geheilt oder der Sensenmann zur nächsten Haustür geschickt werden sollte.