Der letzte Tanz - Karoline Eisenschenk - E-Book

Der letzte Tanz E-Book

Karoline Eisenschenk

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Beschreibung

Gregor Cornelius, emeritierter Münchner Geschichts­professor, freut sich auf seinen Urlaub bei Freunden im niederbayerischen Neukirchen. Dort will er ausspannen und den legendären Schäfflertanz ansehen, der nur alle sieben Jahre aufgeführt wird. Doch die erwartete Idylle aus Brauchtum und Landleben mag sich nicht so recht einstellen. Drei Tage vor dem Schäfflertanz findet Julian Bernbacher, der erste Vortänzer, eine tote Ratte auf seinem Auto, wenig später erhält er eine Todesanzeige, seine Todesanzeige, kurz danach wird sein bester Freund bei einem Autounfall schwer verletzt. Cornelius beginnt nachzuforschen und befindet sich bald mitten in einem erschütternden Familiendrama - und in großer Gefahr.

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Buecherwurm1910

Man kann sich nicht von der Lektüre losreißen

Gregor Cornelius landet auch im zweiten Krimi von Karoline Eisenschenk mitten im Geschehen um einen schweren Autounfall und Mord. Mit seinem ausgezeichneten Spürsinn löst er den Fall noch vor der Polizei. Am Ende gibt es wieder eine spannende und überraschende Wende. Große Leseempfehlung für Krimifreunde!
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KAROLINE EISENSCHENK, geboren 1975, veröffentlichte bereits den Niederbayern-Krimi »Walpurgisnacht« (2012) und unter dem Pseudonym Katelyn Edwards die Kriminalromane »Der Shakespeare-Mörder« und »Pfadfinderehrenwort« (beide 2011). Nach ihrem Studium der englischen Sprach- und Literaturwissenschaft lebt sie heute in Geiselhöring und arbeitet in München.

Weitere Informationen über den Verlag und sein Programm unter: www.allitera.de

Wir danken dem Musikhaus Öllerer für das freundliche zur Verfügungstellen des Umschlagbildes!

Dezember 2014 Allitera Verlag Ein Verlag der Buch&media GmbH, München © 2014 Buch&media GmbH, München Umschlaggestaltung unter Verwendung eines Fotos von Musikhaus Öllerer GmbH Printed in Europe · 978-3-86906-655-4

Theseus: »Was gibt’s für Zeitvertreib auf diesen Abend? Was für Musik und Tanz? Wie täuschen wir Die träge Zeit als durch Belustigung?«

William Shakespeare: Ein Sommernachtstraum, 5. Akt, 1. Szene

Aba heit’ is’ koit! Aba heit’ is’ koit! Aba heit’ is sapp’ramontisch koit! Aba heit’ is’ koit! Aba heit’ is’ koit! Aba heit’ is sapp’risch koit!

Aba des is’ guat! Aba des is’ guat! Aba des is’ sapp’ramontisch guat! Aba des is’ guat! Aba des is’ guat! Wann ma’ Kranzl-Tanz’n tuat!

Ja, es gibt nix schön’res auf der Welt, wenn dir rund-um-a-dumm nix fehlt! Ja, es gibt nix schön’res auf der Welt, wenn dir rundum nix fehlt!

Liabe Leut’, der Mensch hat keinen Grund Zu jammern, is’ er rundum g’sund! Liabe Leut’, seids g’scheit, ob groß oder klein, all’s and’re renkt sich ein! Ja ein!

(Text zur Schäfflermelodie)

Prolog

Im Haus war es dunkel und still. Keine polternden Schritte auf der Treppe, keine lauten Stimmen; nichts, was die abendliche Ruhe hätte stören können. Die Turmuhr von St. Ulrich schlug zweimal zur halben Stunde. Tief und wohlklingend ertönten die Glocken der Dorfkirche und ließen die Person, die in einem Sessel vor dem Kaminfeuer saß, einen Blick auf ihre Armbanduhr werfen: erst halb sechs. Jetzt, Anfang Februar, waren die Tage noch kurz und boten, wenn sich, so wie heute, der Nebel überhaupt nicht lichten mochte, ein graues und trübes Einerlei. Zudem war der Winter in der vergangenen Woche mit eisiger Kälte zurückgekehrt und hatte die Landschaft unter einer dicken Schneedecke begraben.

Höchste Zeit, etwas Farbe in das Leben der Menschen zu bringen, hatte Pfarrer Hartl am Sonntag im Gottesdienst voller Vorfreude gesagt. Nach den obligatorischen sieben Jahren würde endlich wieder der Schäfflertanz in Altenberg aufgeführt werden. An den bevorstehenden Faschingstagen würde er die Kreisstadt und ihre umliegenden Dörfer mobilisieren und begeistern, wie es keinem zweiten Ereignis in der Gegend gelang. Nur er vermochte sogar die verfeindeten Nachbarsdörfer Neukirchen und Ebersbach ihre gegenseitige Abneigung in diesen fünf Tagen vergessen zu lassen. Überall herrschte eine Mischung aus freudiger Erwartung und Anspannung. Zwei Altenberger Konditoreien waren in einen regelrechten Wettstreit um die originellere und bessere Schäfflertorte getreten, und auch in den Auslagen der örtlichen Metzgereien fand sich so manche fantasievolle Neukreation. Die Lokalzeitung hatte ein Preisausschreiben gestartet und zählte in jeder Ausgabe die verbleibende Zeit bis zum Eröffnungstanz vor dem Altenberger Rathaus. Noch zehn Tage.

Doch die Person interessierte sich nicht für die bunte Anzeigenkampagne der Altenberger Nachrichten, die vor ihr auf dem Tisch lagen. Auch der Vorfreude von Pfarrer Hartl und den anderen Neukirchnern mochte sie sich nicht anschließen. Starr und unbeweglich saß sie seit einer Stunde in ihrem Sessel und blickte in das knisternde Kaminfeuer, der einzigen Lichtquelle im Raum.

Dann ging plötzlich ein Ruck durch ihren Körper und sie griff nach dem Gegenstand, der schon die ganze Zeit neben der Zeitung auf dem Tisch gestanden hatte.

Eine kleine Holzfigur in Form eines Schäfflers hing an dünnen Schnüren befestigt zwischen zwei bunten Holzleisten. Sobald man die Leisten am unteren Ende leicht zusammendrückte, machte die Figur einen eleganten Überschlag. Das fragile Konstrukt war von einem Schreiner, selbst ein ehemaliger Schäffler, eigens für die Faschingstage angefertigt worden und hatte sich in den Altenberger Geschäften schon im Vorfeld als wahrer Verkaufsschlager entpuppt.

Rolle vorwärts, Rolle rückwärts, Rolle vorwärts, Rolle rückwärts. Immer wieder drückte die Person die Holzleisten zusammen und ließ die Figur ihre akrobatische Turnübung ausführen. Dabei summte sie leise eine Melodie. Die Melodie, die die Schäffler schon bald während ihrer Tanzaufführungen begleiten würde. Der Schatten der Figur, den die Flammen des Kaminfeuers an die gegenüberliegende Wand projizierten, wirkte unnatürlich groß. Es fühlte sich an, als ob ein weiterer Mensch im Raum anwesend wäre. Als ob er auf einmal da wäre …

Abrupt hielt die Person in ihrer Handbewegung inne. Kein Ton kam mehr über ihre Lippen. Wie hypnotisiert starrte sie auf den ruhenden Schatten. Der Hass kam mit solcher Wucht, dass sie die Figur am liebsten quer durch den Raum geschleudert hätte. Abgrundtiefer Hass, gefolgt von dem Wunsch, ihn für immer auszulöschen. Ihre Hände krampften sich um das Holzspielzeug, bis die Knöchel weiß hervortraten. Sie schloss die Augen und zwang sich, ein paar Mal tief durchzuatmen.

Allmählich wurde sie ruhiger, ihre Finger lockerten sich. Fast schon mitleidig betrachtete sie den Gegenstand in ihrer Hand, ehe sie erneut die vertraute Melodie zu summen anfing. Langsam, geradezu andächtig, löste sie dabei die Fäden und riss der Figur nach und nach die angeschraubten Gliedmaßen ab. Schließlich zerlegte sie das Holzspielzeug so lange, bis sämtliche Einzelteile vor ihr auf dem Tisch lagen.

»Asche zu Asche, Staub zu Staub.«

Ein diabolisches Lächeln umspielte für einen kurzen Augenblick ihre Lippen.

»Fahr zur Hölle«, zischte sie und warf die Teile in das Kaminfeuer, wo sie innerhalb weniger Sekunden von den Flammen vernichtet wurden.

Kapitel 1

Achtung, Herr Professor, die Katze!«, ertönte hinter Gregor Cornelius Marias Warnschrei.

Gerade noch rechtzeitig, denn um ein Haar hätte er, beladen mit zwei Pappkartons, die ihm jegliche Sicht nahmen, das Tier zu seinen Füßen getreten. Wie so oft hatte es sich Max mitten auf dem Wohnzimmerboden gemütlich gemacht und lag, alle viere von sich gestreckt, auf den dank einer Fußbodenheizung angenehm warmen Fliesen. Von Cornelius’ Schritten aus dem Schlaf gerissen, blinzelte er sein Herrchen müde an, ehe er langsam aufstand, gähnte und sich genüsslich dehnte und streckte. Doch anstatt das Weite und einen neuen Schlafplatz zu suchen, schmiegte er sich laut schnurrend um Cornelius’ Beine und zwang ihn damit endgültig zum Stehenbleiben.

»Lassen Sie mich Ihnen doch helfen.« Maria eilte zu Cornelius. »Was, um Himmel willen, schleppen Sie denn da durch die Gegend? «

»Das müssen Sie meine Frau fragen. Die Pakete sind für Ramona«, schnaufte Cornelius hinter dem Kartonberg. »Der Paketdienst hat sie gerade angeliefert.«

Die Haushälterin inspizierte neugierig den Aufdruck der beiden Schachteln. »Das sind bestimmt die Faschingskostüme für Kitzbühel«, sagte sie und befreite ihn von seiner bedrohlich schwankenden Last. »Die müssen gleich gewaschen und gebügelt werden.«

Kopfschüttelnd betrachtete Cornelius die Kartons. »Wir haben doch noch mindestens drei Kisten mit alten Kostümen auf dem Dachboden stehen. Wozu muss denn jetzt schon wieder etwas Neues gekauft werden?«

Maria musterte Cornelius mit einer Mischung aus Unverständnis und Missbilligung. »Sie sagen es. Alte Kostüme. Damit kann die Frau Professor unmöglich nach Kitzbühel fahren. Schließlich reist sie in adliger Gesellschaft.«

Cornelius ging neben dem Kater in die Hocke und streichelte Max über sein schwarzes Fell. Dass ihre Haushälterin Ramona seit dem Tag, an dem Cornelius habilitiert worden war, »Frau Professor « nannte, störte ihn nicht im Geringsten. (Einem Einwand seinerseits wäre auch nicht allzu viel Beachtung geschenkt worden.) Wohl aber Marias Hinweis auf die Reisebegleitung seiner Frau.

»Sie tun ja gerade so, als wäre Ramona zum Staatsbankett der Queen eingeladen«, sagte er. »Die von Greifenbergs mögen sich zwar einbilden, zum europäischen Hochadel zu gehören, aber Wunsch und Wirklichkeit klaffen hier doch ziemlich weit auseinander. «

»Trotzdem braucht Ihre Frau etwas Anständiges zum Anziehen «, erwiderte Maria unbeeindruckt und balancierte die Kartons nach draußen. »Falls Sie den Moritz suchen, der liegt auf der Eckbank in der Küche.«

»Dann lass uns mal deinen kleinen Freund besuchen.«

Wie zur Bestätigung schnurrte der Kater noch etwas lauter und hinkte Cornelius folgsam hinterher. Sein rechtes Vorderbein war bei einem nächtlichen Streifzug in eine Marderfalle geraten. Laut der Tierpflegerin hatten seine Vorbesitzer danach jegliches Interesse an ihrem Hausgenossen verloren und ihn kurzerhand vor dem Tierheim ausgesetzt. Seit einem halben Jahr gehörte Max, genau wie der rotgetigerte Moritz, nun zu ihrer Familie.

Marias Erwähnung von Ramonas bevorstehender Reise nach Kitzbühel hatte Cornelius’ ursprünglich guter Laune einen herben Dämpfer versetzt. Obwohl sie bei ihrem letzten gemeinsamen Urlaub, einer Kreuzfahrt, nicht nur seekrank geworden war, sondern sich so heftig mit Caroline von Greifenberg zerstritten hatte, dass beide Frauen wochenlang kein Wort mehr miteinander gewechselt hatten, wollte Ramona erneut mit den von Greifenbergs verreisen. Wie schon im vergangenen Frühsommer verspürte Cornelius auch jetzt keine Lust, sich diesem Martyrium auszusetzen, und hatte sofort dankend abgelehnt.

Der Grund war weniger die werte Baronin selbst, auch wenn sie durchaus anstrengende Eigenschaften an den Tag legte, als vielmehr ihr Ehemann, Richard von Greifenberg. Allein der Gedanke an ihn ließ Cornelius’ Stimmung noch mehr in den Keller sinken.

Acht Jahre hatte Cornelius gemeinsam mit von Greifenberg die Abteilung für Mittelalterliche Geschichte an der Münchner Universität geleitet. Acht Jahre, die ihre Spuren bei Cornelius hinterlassen hatten. Unermüdlich war von Greifenberg mit seinem lärmenden Wesen auf seinen Nerven herumgetrampelt, hatte sich beim Dekan in den Vordergrund gedrängt, wissenschaftliche Assistenten ungeniert mit unliebsamen Arbeiten eingedeckt und mehr als einmal Cornelius’ Auffassung von universitärer Lehrstuhlführung lautstark als altmodisch und verstaubt abgekanzelt. Jetzt durfte er sich seit fast einem Jahr an seinem Nachfolger austoben und dessen Geduld überstrapazieren, ein Umstand, den Cornelius neben der neu gewonnenen Zeit am meisten an seiner Pensionierung schätzte.

Umso mehr versuchte er jedem privaten Zusammentreffen mit Richard von Greifenberg zu entgehen, auch wenn Ramonas Freundschaft mit Caroline von Greifenberg dieses Unterfangen nicht unbedingt einfacher machte. Im Vorjahr hatte er seine Flucht vor der drohenden Kreuzfahrt vor allem seinem Neffen zu verdanken gehabt, der ihn als Hüter für sein Zuhause in Neukirchen gebraucht hatte, während er selbst bei Ausgrabungen in Griechenland weilte.

Auch jetzt kam der rettende Anker aus Niederbayern: Anna Leitner, die Wirtin des dortigen Gasthofs, hatte ihn und Ramona über die Faschingstage in ihre erst vor Kurzem eröffnete Pension nach Neukirchen eingeladen.

Seine Frau hatte dem von Greifenbergschen Lockruf nach Kitzbühel dennoch nicht widerstehen können – ganz im Gegensatz zu Cornelius, der Anna sofort zugesagt hatte. Nach sieben Jahren würde in der nahegelegenen Kreisstadt Altenberg wieder der Schäfflertanz aufgeführt werden, ein Ereignis, das sicher auch Neukirchen nicht unberührt lassen würde.

Wie Maria vorausgesagt hatte, lag Kater Moritz zusammengerollt auf der Eckbank in der Küche und schlief tief und fest. Offenbar träumte er gerade von einer besonders aufregenden Mäusejagd, denn immer wieder ging ein Zucken durch seinen kleinen Katzenkörper. Max, in der ständigen Hoffnung auf einen Leckerbissen, blieb Cornelius dagegen dicht auf den Fersen.

Nie hätte er gedacht, dass Ramona einem Haustier zustimmen würde. Aber nachdem sie im vergangenen Jahr in Neukirchen regelmäßig Besuch von ihrer Nachbarskatze erhalten hatten, war Ramona bei ihrer Rückkehr nach München seinem Vorschlag erstaunlich zugetan. (Natürlich nur, weil Cornelius sofort klammheimlich alle Katzengeschenke in Form von toten Mäusen, Vögeln und sonstigem Getier entsorgt hatte.)

Dennoch wurden an den neuen Bewohner einige Anforderungen gestellt, unter anderem der Wunsch nach dessen reinrassiger Abstammung. Der Preis für ein solches Tier bewegte sich in geradezu astronomischen Höhen und jagte Cornelius den Angstschweiß auf die Stirn. Nach einigen hitzigen Diskussionen einigten Ramona und er sich auf einen Abstecher in das nahegelegene Tierheim. Sollte dieser allerdings nicht erfolgreich verlaufen, würde die Edelkatze Einzug im Hause Cornelius halten.

Der Besuch gestaltete sich schließlich völlig anders als erwartet, bescherte er ihnen doch zwei invalide Streuner als neue Mitbewohner: Während Max humpelte, war Moritz auf einem Auge blind.

Zweihundert Meter waren sie damals bereits wieder vom Tierheim entfernt gewesen, als Ramona ihren Mann mit diesem ganz bestimmten Blick ansah. »Also gut, dreh um. Wir nehmen die beiden Racker.«

Cornelius kraulte Max hinter den Ohren, was sofort mit einem zufriedenen Schnurren quittiert wurde. Neugierig ging Cornelius dann an den Herd und hob einen der Topfdeckel.

»Hier riecht es aber gut. Hat Maria für morgen schon vorgekocht? «

Selbst gemachtes Rotkraut. Marias Spezialität.

Voller Vorfreude öffnete er die Besteckschublade, um eine Gabel herauszuholen.

»Da bist du ja endlich. Was machst du denn hier in der Küche? Los, los! Du musst dich noch umziehen!«

Ramona stand, perfekt frisiert und geschminkt, im Türrahmen und sah ihn erwartungsvoll an. Da bei seiner Frau selten eine Haarlocke am falschen Platz saß oder eine Braue nicht millimetergenau gezupft war, bedeutete ihr Aussehen zunächst keine besonderen abendlichen Vorkommnisse. Wohl aber das schwarze Cocktailkleid und die hohen Absatzschuhe. Fieberhaft versuchte Cornelius sich daran zu erinnern, was sie für den Abend vereinbart hatten, aber es wollte ihm nicht einfallen.

»Umziehen? Wofür denn?«, fragte er schließlich.

Ramonas akkurate Augenbrauen schnellten alarmiert in die Höhe. »Sag bloß, du hast es vergessen? David Kronenburg kommt heute zum Abendessen. Und nur für den Fall, dass du das auch vergessen hast: Er ist der neue Freund unserer Tochter.«

Cornelius’ zwischenzeitlich bessere Laune rutschte endgültig in den Bereich des Untergeschosses des Münchner U-Bahnnetzes. Tief in seinem Inneren hatte er bei Ramonas Worten bereits geahnt, dass er sogleich mit etwas äußerst Unangenehmen konfrontiert werden würde.

»Wie könnte ich diesen Umstand nur vergessen«, brummte er und ließ die Gabel geräuschvoll zurück in die Besteckschublade fallen.

Ramona stemmte ihre Arme in die Hüften. »Ich frage mich wirklich, was du gegen den jungen Mann hast. Seit wir ihn das erste Mal gesehen haben, lässt du kein gutes Haar an ihm.«

»Vielleicht liegt es schlicht und einfach daran, dass ich diesen jungen Mann nicht ausstehen kann.«

»Und warum nicht? Er kommt aus einer sehr angesehenen Familie, hat einen hervorragenden Universitätsabschluss und eine vielversprechende berufliche Karriere vor sich. Andere Väter wären froh, wenn ihre Töchter so einen Freund nach Hause brächten.«

»Ich bin aber kein anderer Vater. Außerdem mangelt es dem Spross an jeglichem Taktgefühl und Bodenhaftung. Nur weil der Herr Unternehmensberater mit einem Sportwagen durch die Gegend brausen kann, muss ich ihn noch lange nicht sympathisch finden«, erwiderte Cornelius angriffslustig.

Es war in ihrem Haus nicht die erste Diskussion, die über Tabeas neueste Errungenschaft geführt wurde, und er befürchtete, es würde nicht die letzte sein. Wie immer war Ramona nicht gewillt, die Waffen zu strecken.

»Musst du auch nicht, schließlich ist Tabea mit ihm zusammen und nicht du«, entgegnete sie ungerührt. »Aber es würde nicht nur für sie die Situation erheblich erleichtern, wenn du David gegenüber nicht so negativ eingestellt wärst. Die ganze Zeit hast du dich über ihre wechselnden Freunde und ihr unstetes Leben beschwert. Jetzt hat sie endlich eine ernst zu nehmende Beziehung, und es passt dir auch wieder nicht.«

Max, dem die angespannte Stimmung zwischen Herrchen und Frauchen nicht entgangen war, ließ ein vorwurfsvolles Miauen hören und hinkte aus der Küche.

»Ramona, ich habe lediglich gesagt, dass sie eine Konstante in ihrem Leben finden muss und nicht immer so sprunghaft sein darf. Soweit ich mich erinnere, warst du ganz meiner Meinung.«

»Das bestreite ich auch nicht.«

»Wenn das konstante Ergebnis allerdings dieses unerträgliche Großmaul ist, passt mir das in der Tat nicht. David würde einen perfekten Von-Greifenberg-Sprössling abgeben: viel heiße Luft und nichts dahinter.«

Ramona sah ihn prüfend an. »Ist das der Grund, warum du David nicht ausstehen kannst? Weil er dich an Richard erinnert?«

Cornelius verschränkte die Arme vor der Brust. »Es ist einer von vielen Gründen. Ich mag es einfach nicht, wenn Leute sich aufführen, als würde ihnen die ganze Welt gehören, und sich alles ausschließlich um ihr Leben drehen.«

Ramona ging einen Schritt auf ihren Mann zu und legte ihm sanft die Hand auf den Arm. »Ich weiß, darin ist Richard wirklich ein Meister. Aber David tust du Unrecht. Er hat für sein junges Alter schon sehr viel erreicht. Da ist es doch ganz natürlich, dass er nicht immer den richtigen Ton trifft und ab und an verbal etwas über die Stränge schlägt.«

»Nicht nur verbal. Und was unseren Großmeister betrifft: Warum tust du es dir schon wieder an und fährst mit den beiden in den Urlaub? War die Kreuzfahrt nicht abschreckend genug? In Neukirchen ist es doch auch schön.«

»Ach, Gregor. Jetzt mach es mir doch nicht so schwer«, seufzte Ramona. »In Kitzbühel versammelt sich nun einmal alles, was Rang und Namen hat. Ich empfinde es als eine große Ehre, dass auch wir dazu eingeladen sind. Und falls es dich beruhigt: Ich fahre in erster Linie mit Caroline. Wenn es nach mir ginge, könnte Richard gerne zu Hause bleiben. Aber das kann ich ja schlecht von ihr verlangen.«

Cornelius zog genervt die Luft ein. »Ich erinnere mich noch gut daran, wie sehr du letztes Jahr über sie geschimpft hast. Auch wenn ich bis heute nicht weiß, warum ihr euch überhaupt so zerstritten habt.«

»Man muss Vergangenes auch einmal ruhen lassen. Die Situation an Bord war für uns alle damals nicht einfach«, antwortete Ramona nach kurzem Zögern. »Ich weiß, dass dir diese gesellschaftlichen Ereignisse nichts bedeuten. Aber mir ist die Einladung wichtig und ich bitte dich, das zu respektieren. Außerdem komme ich doch nach.«

»Am Aschermittwoch, wenn alles vorbei ist. Du siehst keine einzige Schäffleraufführung.«

»Ich bin mir ziemlich sicher, dass dieses Ereignis auch ohne mich ein voller Erfolg werden wird. Und jetzt zieh dich bitte um und versuche, ein bisschen freundlicher zu sein. Wenn schon nicht David, dann wenigstens deiner Tochter zuliebe.« Ramona sah ihn eindringlich an, ehe sie mit klappernden Absätzen aus der Küche ging.

»Was ist denn heute Abend los mit euch? Konzentriert euch endlich. Sebastian, du warst schon wieder einen Vierteltakt zu spät. Stefan, Klaus, das Element heißt Metzgersprung, nicht Schneckensprung. Also, mit etwas mehr Elan, wenn ich bitten darf.«

Armin Weingartners Stimme schallte laut durch die Sporthalle, während er mit finsterer Miene die Reihen der jungen Männer entlangschritt. Zuvor hatten ein resoluter Pfiff aus seiner Trillerpfeife und das Anhalten der Musik die Gruppe zu einem abrupten Halt veranlasst. Es war nicht die erste Unterbrechung an diesem Abend. Nichts konnten sie dem knapp fünfzigjährigen Konditormeister heute recht machen. Sebastians Gesichtsausdruck war dementsprechend. Julian, der neben ihm tanzte, lächelte ihm aufmunternd zu und flüsterte: »Denk dir nichts. Der fängt sich schon wieder. Ich war auch nicht ganz im Takt.«

Weingartner, dem das Getuschel hinter seinem Rücken nicht entgangen war, drehte sich zu seinen beiden Vortänzern um.

»Ihr solltet nicht so viel reden, sondern ordentlich tanzen. Vor allem du«, schimpfte er.

»Es tut mir leid«, murmelte Sebastian.

Weingartner verkniff sich einen weiteren Kommentar und ging auf ihn zu. Normalerweise war es nicht seine Art, einen Einzelnen vor allen anderen zu kritisieren. Aber Sebastians wiederholte Unaufmerksamkeit hatte seinen Blutdruck in ungeahnte Höhen steigen lassen. Direkt vor Sebastian blieb er stehen.

»Warum bist du denn heute so unkonzentriert?«, fragte er leise. »Gerade von dir bin ich das überhaupt nicht gewohnt.«

Sebastian spürte die bohrenden Blicke von mehr als zwanzig Augenpaaren, die auf ihn und Weingartner gerichtet waren. Nur Julian tat ihm den Gefallen und sah angestrengt in die andere Richtung.

»Tut mir leid. Kommt nicht wieder vor«, sagte er rasch und senkte den Kopf.

»Wenn du nicht fit bist, sag es. Dann setzt du halt heute mit der Probe aus. Das ist doch nicht so schlimm.« Armin Weingartner klang ehrlich besorgt.

»Nein, es geht schon. Ich hab diese Woche nur viel um die Ohren. Ich strenge mich jetzt auch richtig an«, wehrte Sebastian ab. Eine tiefe Röte hatte seine Wangen überzogen.

Weingartner musterte ihn einen Augenblick. Dann ging er zu dem kleinen Podium zurück, von dem aus er die Tanzeinlage beobachtet hatte.

»Zehn Minuten Pause. Danach fangen wir noch einmal mit dem Aufmarsch an«, rief er.

Missmutig drückte er auf den Schalter der Musikanlage. Die letzten Proben waren alle fehlerlos über die Bühne gegangen, aber jetzt, wenige Tage vor dem Eröffnungstanz, schlichen sich plötzlich Ungenauigkeiten und Leichtsinnsfehler ein. Sie ärgerten ihn vor allem, weil er wusste, dass die diesjährige Gruppe eine der besten war, mit der er bisher gearbeitet hatte. Obwohl viele ganz junge und unerfahrene Burschen dabei waren, strahlten die Elemente bei jedem Schritt Genauigkeit, Taktgefühl, ja fast schon spielerische Leichtigkeit aus. Das lag nicht zuletzt an den beiden Vortänzern.

Verstohlen sah er sich nach Julian und Sebastian um und entdeckte sie einige Meter entfernt in ein Gespräch vertieft. Von Julian Bernbacher hatte Armin Weingartner nichts anderes erwartet. Schon beim letzten Schäfflertanz war ihm der groß gewachsene, schwarzhaarige junge Mann ins Auge gestochen. Mit zwanzig Jahren war er einer der Neulinge unter den damaligen Tänzern gewesen und hatte nicht nur eine bewundernswerte Kondition, sondern auch großen Elan und Freude am Tanzen gezeigt. Schnell war klar, dass Julian sieben Jahre später ein ernst zu nehmender Kandidat für eine der beiden Vortänzerpositionen sein würde.

Bei Sebastian Kofler dagegen waren sich Weingartner und der Rest des Schäfflerausschusses anfangs nicht so sicher gewesen. Auch er hatte sieben Jahre zuvor durchaus überzeugt, aber den Sprung vom Tänzer zum Vortänzer hatten ihm die wenigsten zugetraut. Weingartner mochte sich da gar nicht ausschließen. Wie die anderen Mitglieder des Ausschusses hatte er auf Sascha Eichinger neben Julian als Vortänzer gehofft. Sascha und Julian – auf den ersten Blick hätte man sie für Brüder halten können. Weingartner hatte sie schon gemeinsam vor seinem geistigen Auge die Gruppe anführen sehen.

Doch Saschas plötzlicher Tod vor einigen Monaten hatte alle Pläne zunichtegemacht. Nach zahlreichen Debatten war ihre Wahl schließlich auf Julian und Sebastian gefallen, auch wenn Sebastians Nominierung Weingartner viel Überzeugungskraft und manch schlaflose Nacht gekostet hatte. Dazu kam noch eine äußerst unschöne Auseinandersetzung mit Benedikt Rehberg, dem Apotheker aus Altenberg und Sponsor des Neukirchner Fußballvereins, der mit aller Macht seinem Neffen die Position des ersten Vortänzers zuschanzen wollte. Es hätte nicht mehr viel gefehlt und Weingartner wäre aus dem Ausschuss ausgetreten.

Aber Julian und Sebastian hatten ihn und die übrigen Mitglieder des Ausschusses bereits in der ersten Probe überzeugt. Sebastian war zwar kein zweiter Julian, aber er war seine perfekte Ergänzung. Mit dieser Meinung stand Weingartner schon lange nicht mehr allein da. Sebastian strahlte nicht nur eine bewundernswerte Ruhe, sondern unglaubliches Charisma und großes Gespür für die Musik aus, sobald die ersten Takte erklangen. Julian vertraute ihm blind und mit ihm der Rest der Gruppe.

Der Altenberger Bürgermeister, in jüngeren Jahren selbst ein aktives Mitglied der Schäffler, nannte die Besetzung sogar einen wahren Geniestreich Weingartners, wie er ihm unlängst auf einer Faschingsfeier offenbart hatte. Zugegeben, der ungewohnte Anflug von Euphorie kam zu bereits später Stunde und nach einigen Gläsern zu viel, dennoch war das Kompliment nicht von der Hand zu weisen.

Umso mehr Sorgen bereitete Armin Weingartner jetzt Sebastians plötzliche Unkonzentriertheit. Kaum fing er zu wanken an, zog es sich wie ein roter Faden durch die ganze Gruppe. Ungewohnte Taktfehler reihten sich an schlampige Schrittkombinationen, die auch Julian nicht mehr aufzufangen vermochte. Während er noch seinen Gedanken nachhing, wurde die Tür zum Umkleidebereich geöffnet und ein älterer Mann mit silbergrauem Haar und einem Gehstock betrat die Sporthalle. Langsam, den Oberkörper leicht nach vorne gebeugt, ging er auf Armin Weingartner zu.

»Na, Armin. Will es heute nicht so recht laufen? Ich hab dich bis vor die Halle schimpfen hören.«

»Grüß dich, Josef. Irgendwie ist heute der Wurm drin«, seufzte Weingartner und fuhr sich durch sein kurz geschnittenes braunes Haar, sodass es sekundenlang in alle Richtungen abstand.

Der alte Mann runzelte die Stirn. »Julian?«

»Nein, nein. Um deinen Enkel musst du dir keine Sorgen machen. Sebastian schwächelt heute ein bisschen, und der Rest ist auch leicht unkonzentriert.«

»Sebastian? Das ist ja etwas ganz Neues«, stellte Josef Bernbacher fest.

Der Seniorchef des Neukirchner Sägewerks durfte mit Fug und Recht als das Urgestein des Altenberger Schäfflertanzes bezeichnet werden. Als junger Mann war er selbst ein exzellenter Tänzer und Reifenschwinger gewesen und hatte nach seiner aktiven Zeit lange Jahre als Vorsitzender des Schäfflerausschusses und Hauptorganisator der Veranstaltungen fungiert. Weingartner erinnerte sich noch gut an die Proben unter Josef Bernbachers Regie, in denen er selbst als unerfahrener Tänzer seine Anweisungen mehr oder weniger erfolgreich in die Tat umgesetzt hatte.

»Das sind nur die Nerven, wenn du mich fragst«, sagte Weingartner. »Es wird jetzt einfach höchste Zeit, dass es losgeht. So kurz vor dem ersten Auftritt ist es uns damals auch nicht anders ergangen. Ich weiß noch ganz genau, wie du uns bei der Generalprobe die Leviten gelesen hast.«

»Ihr werdet es schon gebraucht haben«, sagte Bernbacher und ein kurzes Lächeln huschte über sein Gesicht. »Hoffentlich fängt Sebastian sich wieder.«

»Mach dir keine Sorgen, Josef. Wir kriegen das schon hin. Willst bei der Probe noch ein bisschen zuschauen?«

»Ja, gern. Wenn ich euch nicht störe.«

Weingartner holte einen Stuhl von einem in der Ecke aufgerichteten Stapel und stellte ihn neben sein Podium. »Du doch nicht.«

Vor einigen Jahren hatte Josef Bernbacher das Amt des Ausschussvorsitzenden schließlich an Armin Weingartner abgegeben. Doch bis heute wäre es Weingartner nicht in den Sinn gekommen, ihn außen vor zu lassen. Er war nach wie vor zu jeder Sitzung eingeladen und würde immer einer von ihnen sein. Selten waren sich alle Ausschussmitglieder bei einer Frage so einig gewesen.

Josef Bernbacher nahm dankbar Platz. Das Gehen hatte ihn angestrengt und er war froh, sich ein bisschen ausruhen zu können. Obwohl sein Schlaganfall mittlerweile schon fast ein Jahr her war, hatte er immer noch mit den Folgen zu kämpfen.

Julian, der seinen Großvater mittlerweile entdeckt hatte, winkte ihm zu. Sebastian nickte grüßend in seine Richtung.

»Die beiden verstehen sich blind. Ich hab selten zwei so gute Vortänzer gesehen. Dein Enkel ist der geborene Schäffler«, sagte Weingartner. »Du kannst wirklich stolz auf ihn sein.«

»Das bin ich auch«, sagte Josef Bernbacher und sein Lächeln vertiefte sich noch.

Kapitel 2

Cornelius hörte das röhrende Geräusch des Motors lange bevor David Kronenburgs dunkelblauer Sportwagen vor ihrem Haus zum Stehen kam. Missmutig spähte er durch einen Spalt in der Küchengardine. Das Auto hatte direkt unter einer Straßenlaterne angehalten und ihr Licht gewährte ihm eine gute Sicht auf den Gehsteig und das dortige Geschehen. Ein dunkelhaariger junger Mann stieg aus, eilte dienstbeflissen um den Wagen herum und öffnete mit einem breiten Lächeln die Beifahrertür. Sekunden später erkannte Cornelius seine Tochter neben David Kronenburg auf dem Gehsteig. Während David zwei Blumensträuße aus dem Kofferraum holte, tippelte Tabea bereits Richtung Haus. Ihre schnellen, abgehackten Schritte zeigten Cornelius, dass sie ziemlich frieren musste. Schließlich hatte sich der Winter vor einigen Tagen mit einer geballten Ladung Schnee und eisiger Kälte zurückgemeldet.

Max, der die ganze Zeit nicht von seiner Seite gewichen war, sprang auf die Anrichte und blickte Cornelius erwartungsvoll an. In diesem Moment klingelte es.

Sofort brach im ganzen Haus hektische Betriebsamkeit aus. Während seine Frau mehrmals aufgeregt nach ihm rief, stürmte Maria in die Küche.

»Jetzt hätte ich vor lauter Faschingskostümen beinahe das Abendessen vergessen«, murmelte sie und stürzte sich förmlich an den Herd. Erst dann entdeckte sie Cornelius, der immer noch am Küchenfenster stand.

»Ach hier sind Sie, Herr Professor. Ihre Frau sucht Sie schon überall. Der Besuch ist da.«

»Gregor!«

Ramonas Stimme hatte mittlerweile einen bedrohlichen Klang angenommen und er beeilte sich aus der Küche zu kommen.

»Da bist du ja endlich. Wo warst du denn die ganze Zeit?«, rief sie und warf einen letzten prüfenden Blick in den Garderobenspiegel. »Willst du nicht aufmachen?«

»Tabea hat doch einen Schlüssel. Warum sperrt sie die Haustür nicht einfach auf?«

»Weil sie und David heute Abend unsere Gäste sind. Da stürmt man nicht einfach herein.« Ramona setzte ein strahlendes Lächeln auf, straffte ihre Schultern, ging zur Tür und öffnete sie. »Herzlich Willkommen, meine Lieben!«

Cornelius wartete in gebührendem Abstand, bis seine Frau die Besucher überschwänglich begrüßt und einen lauten Freudenschrei ob des überdimensionalen Blumengebindes ausgestoßen hatte. Der nächste Aufschrei ertönte, als Maria aus der Küchentür lugte und ihr ebenfalls ein Blumenstrauß gigantischen Ausmaßes überreicht wurde. Cornelius, dem beim bloßen Anblick von David Kronenburgs Dauerlächeln sämtliche Kiefermuskeln schmerzten, hoffte inständig, von einem Gastgeschenk verschont zu bleiben.

»Schau doch, Gregor. Was für wunderbare Blumen«, flötete Ramona in diesem Moment und hielt ihm den Strauß direkt unter die Nase.

Erwartungsvoll drehte sich David Kronenburg zu ihm um. Sein Lächeln wurde noch breiter und entblößte eine Reihe makellos weißer Zähne.

»Guten Abend, Herr Professor Cornelius.«

Doch anstatt den Gruß seines Gegenübers zu erwidern, brach Cornelius plötzlich in lautes Husten aus.

David Kronenburg trat einen Schritt zurück. »Ist alles in Ordnung? «, fragte er leicht irritiert.

Tabea musterte ihn besorgt. »Papa, was hast du denn?«

Cornelius fächelte sich hektisch mit der Hand etwas Luft zu, während sich sein Husten noch verstärkte.

»Allergie«, stieß er schließlich mühsam hervor. »Ich bin gegen …«, er warf einen raschen Blick auf das Blumengebinde vor sich, »… gegen Gerbera allergisch.«

»Das … das tut mir furchtbar leid«, stotterte David Kronenburg und seine Wangen färbten sich dunkelrot. Sein bestürztes Gesicht sprach Bände. Das war nicht der Einstieg, den er sich bei Cornelius für diesen Abend erhofft hatte.

»Schon gut«, sagte Cornelius heiser, ehe er noch zweimal geräuschvoll aufhustete und sich von den Blumen wegdrehte. »Sie konnten das ja nicht wissen.«

»Geht ihr beide doch schon voraus ins Esszimmer und wärmt euch ein bisschen auf. Ich kümmere mich in der Zwischenzeit um unseren Patienten«, schaltete Ramona sich in diesem Moment in das Gespräch ein.

Bisher hatte sie seinen Hustenanfall ungewohnt schweigsam verfolgt.

»Armer Papa. Geht’s wieder?« Tabea strich Cornelius sanft über die Wange, ehe sie von ihrer Mutter Richtung Esszimmer gescheucht wurde.

»Seit wann bist du gegen Gerbera allergisch?«, zischte Ramona, kaum dass sie allein im Hausflur zurückblieben.

»Schon immer. Aber meine Befindlichkeiten sind in diesem Haus ja noch nie auf großes Interesse gestoßen.«

»Treib es mit deinen Befindlichkeiten nicht zu weit. Der junge Mann wollte Maria und mir lediglich eine Freude machen.«

Cornelius verschränkte die Arme vor der Brust und gab weitere, wenn auch etwas leisere Hustlaute von sich, die Ramona sogleich mit einem strengen Blick quittierte.

»Tabea hat mir erzählt, dass Sie nach Kitzbühel fahren. Dann werden Sie bestimmt meine Eltern treffen. Sie verbringen dort seit zwanzig Jahren die Faschingstage und gehören praktisch zum Inventar«, berichtete David Kronenburg eifrig.

Ramona bedachte ihren Mann mit einem vielsagenden Seitenblick. Da siehst du mal, wie recht ich hatte, sollte ihm dieser wohl signalisieren. Alles, was Rang und Namen hat, trifft sich in Kitzbühel. Nur du bist nicht dabei. Cornelius lächelte säuerlich und widmete sich wieder ganz seiner Nachspeise.

Er hatte während des Abendessens alles getan, um ein guter Gastgeber zu sein. Er war freundlich und zuvorkommend, hatte allen Wein nachgeschenkt, versucht, interessiert zuzuhören, wenn ihr Gast etwas erzählte, und zudem auf jeglichen ironischen Kommentar verzichtet. Doch irgendwann ertappte er sich dabei, dass er beinahe eingeschlafen wäre. Nur mit Mühe konnte er ein Gähnen unterdrücken.

So sehr er sich auch anstrengte und bemühte, David Kronenburg ging ihm einfach furchtbar auf die Nerven. Er wollte weder wissen, wie viele PS sein röhrender Sportwagen hatte noch in welchen Münchner In-Lokalen er zur Stammkundschaft gehörte.

Fast noch mehr als Davids endlose Monologe nervte ihn aber dessen Mobiltelefon, ein breites Gerät mit vielen kleinen Tasten, das griffbereit direkt neben seinem Teller lag und sich in regelmäßigen Abständen mit einem lauten Brummen, gefolgt von einem wilden Blinken, meldete.

»Ich bin dort zu Hause, wo mein Blackberry ist«, erklärte David, nachdem er zum wiederholten Male mehrere Minuten auf den kleinen Bildschirm gestarrt und dann hektisch etwas in das Gerät eingetippt hatte. »Ständige Erreichbarkeit gehört zu meinem Job wie bei anderen der pünktliche Feierabend.« Er quittierte seine Bemerkung mit einem lauten Lachen.

»Ich bin in Gräfelfing zu Hause und das reicht mir vollkommen «, murmelte Cornelius.

Am liebsten hätte er das brummende blinkende Blackberry samt seinem nervtötenden Besitzer auf der Stelle vor die Tür gesetzt.

»Ihre Eltern und ich müssen uns unbedingt verabreden«, sagte seine Frau in diesem Augenblick. »Dann lernen wir uns endlich einmal kennen. Ich freue mich schon sehr auf die Tage in Kitzbühel, auch wenn mich Gregor leider nicht begleiten wird.« Ihr vorwurfsvoller Unterton war nicht zu überhören.

David Kronenburg legte sein Mobiltelefon zur Seite und sah Cornelius mit großen Augen an. »Wie ich von Tabea gehört habe, werden Sie die Faschingstage in Niederbayern verbringen.«

Cornelius tupfte sich sorgfältig mit der Serviette über den Mund, faltete sie zu einem akkuraten Viereck und legte sie neben seinen Teller. »Da haben Sie ganz richtig gehört. Ich fahre nach Neukirchen in Niederbayern. Nicht nach Sibirien.«

David lachte verunsichert. »Sibirien? Ich verstehe nicht ganz?«

»Es klang gerade so, als vermuteten Sie Niederbayern östlich des Kaukasus.«

»Nein, nein. Ich dachte nur, weil Kitzbühel … also weil doch jeder … ich meine …«, begann David und sah hilfesuchend zu den beiden Frauen am Tisch.

Doch es war Maria, die ihn schließlich rettete. »Möchte noch jemand eine Tasse Kaffee?«, fragte sie durch die geöffnete Tür.

Cornelius strahlte. »Sehr gerne, Maria. Das Essen war wie immer vorzüglich. Und mit dem Nachtisch haben Sie sich selbst übertroffen. Ein großes Lob an die Köchin.«

»Ich weiß wirklich nicht, was wir ohne unsere Perle des Hauses anfangen würden«, schloss sich Ramona sogleich an.

Es war offensichtlich, dass sie die Situation schnellstmöglich vom Thema Neukirchen abwenden wollte, um David ein weiteres Fettnäpfchen zu ersparen. Doch Cornelius tat ihr diesen Gefallen ausnahmsweise nicht.

»Maria ist viel zu bescheiden«, stellte er fest, nachdem »die Perle « die Komplimente verlegen abgewehrt hatte und in die Küche zurückgeeilt war. »Sie erinnert mich sehr an Anna Leitner: eine gute Seele, die immer für andere da ist und viel zu wenig auf sich selbst achtet. Anna ist eine Bekannte von uns aus Neukirchen.«

David Kronenburg, dem das Desinteresse an der ihm unbekannten Anna Leitner ins Gesicht geschrieben war, nickte eifrig.

»Weißt du eigentlich, dass Papa letztes Jahr mitgeholfen hat, einen Mord in Neukirchen aufzuklären?«, warf Tabea ein.

»Tatsächlich? Was ist denn passiert? Hat ein Bauer den anderen mit einer Mistgabel erstochen?« David Kronenburg lachte laut auf.

»Nein«, erwiderte Cornelius eisig. »Ein junger Mann, etwa in Ihrem Alter, ist heimtückisch erschlagen worden. Er war der Sohn meiner dortigen Nachbarn. Ich habe damals seine Leiche gefunden.«

Einige Sekunden war es am Tisch ganz still. Tabea spielte nervös mit ihrem Ohrring und vermied es krampfhaft, David oder ihren Vater direkt anzusehen. Ramona trank hastig einen Schluck aus ihrem Wasserglas.

David Kronenburg starrte verlegen auf seine Hände. »Tut mir leid. Das wusste ich nicht.«

»Dann sparen Sie sich das nächste Mal doch einfach Ihre unüberlegten Kommentare«, entgegnete Cornelius ruhig.

»Möchte noch jemand ein Glas Wein?«, rief Ramona eine Spur lauter als nötig.

»Das war’s für heute Abend. Nicht vergessen: Generalprobe für alle ist am Mittwoch um sieben Uhr. Und jetzt ab mit euch«, sagte Armin Weingartner in die Runde, die sich unter allgemeinem Gelächter und lautem Stimmengewirr rasch auflöste.

Weingartner atmete erleichtert auf. Obwohl die Probe nach der kurzen Pause fast fehlerlos über die Bühne gegangen war, konnte er die Anspannung und die Aufregung der jungen Männer förmlich spüren. Es wurde höchste Zeit, dass die Aufführungen starteten.

Julian und Sebastian gingen zu Josef Bernbacher, der das Ganze mit großem Interesse verfolgt hatte. Sie sehen erschöpft aus, dachte er, als er in ihre erhitzten Gesichter blickte.

Armin Weingartner kannte kein Pardon. Unerbittlich hatte er sie immer wieder die einzelnen Elemente üben und keine Ungenauigkeit durchgehen lassen. Aber Bernbacher wusste aus eigener Erfahrung, wie notwendig hartes Training war, wenn die Aufführungen gelingen sollten. Immerhin würden sie schon bald mehr als zehn Tänze am Tag schaffen müssen, und der letzte am Abend sollte dabei genauso perfekt sein wie der erste am Morgen. Das waren sie nicht nur ihren Gastgebern schuldig, die die Tänze bestellt und bezahlt hatten und sich seit Wochen darauf freuten, sondern auch den zahlreichen Zuschauern, die bis aus Landshut angereist kamen, um die Aufführungen der Altenberger Schäffler zu sehen.

»Servus, Opa. Warst du zufrieden mit uns?«, fragte Julian.

Bernbacher stand langsam von seinem Stuhl auf. Wie so oft seit seinem Schlaganfall hatte das lange Sitzen die Gelenke steif und unbeweglich werden lassen. Doch er ließ sich die Anstrengung und die Schmerzen, die die Bewegung auslösten, nicht anmerken und lächelte.

»Und ob ich zufrieden bin. Mit euch beiden«, fügte er mit Nachdruck hinzu.

»Gut, dass Sie vor der Pause nicht da waren, Herr Bernbacher«, murmelte Sebastian und warf einen raschen Seitenblick auf Armin Weingartner. Der war allerdings in die Musikanlage vertieft und hatte den Kommentar nicht gehört.

»Jeder kann mal einen schlechten Tag erwischen. Und das, was ich von dir gesehen hab, hat mir ausgesprochen gut gefallen.« »Siehst du. Du machst dir viel zu viele Gedanken«, warf Julian ein. »Ein Lob von meinem Opa kommt einem Ritterschlag gleich. Wenn es einer beurteilen kann, dann er.«

»Ist ja schon gut«, wehrte Sebastian verlegen ab.

»Es ist schön, wieder einmal unter Leute zu kommen«, sagte Bernbacher. »Es freut mich, dass ich hier bleiben und zuschauen durfte.«

»Willst du dich bei mir einhängen?«, fragte Julian, dem nicht entgangen war, wie müde sein Großvater auf einmal aussah.

»Ja, das wäre gut.« Dankbar ergriff Bernbacher den Arm seines Enkels.

»Wie bist du denn überhaupt nach Altenberg gekommen? Hast du etwa den Bus genommen?«

Bernbacher seufzte. »So weit bin ich leider noch nicht. Dorothee hat mich gefahren.«

»Mama hat dich gefahren? Wie hast du denn das angestellt?«

Dorothee Bernbacher hatte ihren Schwiegervater nach seinem Schlaganfall bewusstlos im Arbeitszimmer gefunden. Seitdem lebte sie in ständiger Angst, es könnte erneut passieren. Obwohl er in der Reha sichtbare Fortschritte gemacht hatte und die ärztliche Prognose vielversprechend ausfiel, behandelte sie ihn nach wie vor wie ein rohes Ei. Nur mit Mühe hatte Bernbacher sie davon abhalten können, eine Vollzeitpflegekraft einzustellen. Die Fahrt nach Altenberg hatte ihn daher auch große Überredungskunst gekostet.

»Ich musste ihr versprechen, dass du mich nach der Probe nach Hause fährst«, gestand er.

»Das versteht sich ja wohl von selbst«, sagte Julian. »Immerhin wohnen wir zusammen.«

»Wolltet ihr denn nicht alle heute Abend noch weggehen?«

Julian zeigte auf seine verschwitzte Sportkleidung. »So ganz bestimmt nicht. Ich muss mich erst einmal duschen und umziehen.

Und außerdem treffen wir uns später ohnehin beim Leitner Wirt. Also praktisch zu Hause«, fügte er mit einem Grinsen hinzu.

Bernbacher drohte ihm scherzhaft mit dem Finger. »Das lass nicht deine Mutter hören. Und sei leise, wenn du spätabends nach Hause kommst. Du weißt, auf diesem Gebiet hat sie Ohren wie ein Luchs.«

Julians Miene verdüsterte sich. »Nicht nur auf diesem Gebiet. Sie ist total übervorsichtig und besorgt.«

»Du weißt, warum das so ist«, sagte Bernbacher leise.

»Ja, Opa. Ich weiß. Tut mir leid.«

Der alte Mann tätschelte aufmunternd Julians Arm. »Ist schon gut. Dir muss nichts leidtun. Versuch einfach, sie ein bisschen besser zu verstehen.«

Julian drehte sich zu Sebastian um, der bisher schweigend hinter ihnen gegangen war.

»Basti, du bist doch später auch dabei, oder?«

Sebastian zuckte zusammen. »Wie? Was? Äh, ja … ja, klar.«

Julian musterte ihn einen Augenblick fragend, ehe er sich wieder an seinen Großvater wandte. Sie waren mittlerweile am Haupteingang angekommen, den sich die Sporthalle mit dem gegenüberliegenden Hallenbad teilte. Von dort strömte gerade eine größere Gruppe junger Männer heraus und Julian musste aufpassen, dass sein Großvater von niemandem gestoßen wurde. Das Gehen auf dem schneebedeckten Weg bereitete ihm sichtlich Mühe. Seine Schritte verlangsamten sich.

»Wollen Sie sich auch bei mir einhalten?«, fragte Sebastian. »Nicht, dass Sie mit dem Stock noch abrutschen.«

Bernbacher schüttelte den Kopf. »Nein, vielen Dank. Es geht schon. Nur der Schnellste bin ich halt nicht mehr.«

Julian blieb kurz stehen, damit Bernbacher sich etwas ausruhen konnte.

»Deine Mama dürfte uns jetzt nicht sehen.«

»Ein bisschen leichtsinnig war dein kleiner Ausflug schon. Wie hast du es überhaupt bis in die Sporthalle geschafft?«

Bernbacher lächelte. »Dorothee hat mich direkt vor den Haupteingang gefahren. Dort hat die Kassiererin vom Schwimmbad gerade eine Raucherpause gemacht und mir angeboten, mich nach drinnen zu begleiten. Außerdem hatte ich Glück. Der Steuerberater hat gerade auf Dorothees Handy angerufen.«

Mehr musste Josef Bernbacher nicht sagen. Wenn es nach ihrem Sohn und ihrem Schwiegervater etwas gab, das Dorothee Bernbacher am Herzen lag, dann war es das familieneigene Sägewerk, dessen Geschicke sie seit vielen Jahren leitete.

»Wenn sie nur immer etwas zu tun hat«, murmelte Julian.

Endlich hatten sie den Parkplatz erreicht. Aus einem der abgestellten Wagen dröhnte laute Musik.

»Da fallen einem doch die Ohren ab«, schimpfte Bernbacher und ließ Julians Arm los. »Das letzte Stück schaffe ich auch allein. Danke.«

Julian wollte einen kurzen Moment protestieren, aber der entschlossene Gesichtsausdruck seines Großvaters sagte ihm, jetzt besser nicht zu widersprechen.

Vorsichtig ging Josef Bernbacher die Reihe der geparkten Autos entlang. Er hasste nichts so sehr, wie ständig auf die Hilfe anderer Leute angewiesen zu sein. Wütend über sich und seinen gebrechlichen Körper bohrte er die Gehhilfe tiefer in den Schnee.

Julian sah sich suchend nach Sebastian um und entdeckte ihn einige Meter entfernt mit einem groß gewachsenen jungen Mann sprechen.

»Die Wasserballer haben heute Abend auch Training. Deshalb ist hier so viel los«, bemerkte Josef Bernbacher. »Das neben Sebastian ist doch der Bauer Simon, oder?«

Doch bevor Julian antworten konnte, heulte der Motor eines Wagens auf und ein schwarzer BMW schoss rückwärts aus der gegenüberliegenden Parklücke. Das Auto geriet auf dem schneeglatten Asphalt sofort ins Schleudern.

»Julian, Vorsicht!«, schrie Sebastian.

Doch Julian war unfähig, sich auch nur einen Millimeter zu bewegen. Wie angewurzelt stand er neben seinem Großvater und starrte auf die Rücklichter, die immer näher kamen …

Kapitel 3

Einen halben Meter vor Julian und Josef Bernbacher hielt der Wagen schließlich an. Schnee wirbelte auf. Julian konnte die feinen Kristalle auf seiner Haut spüren.

»Um Gottes Willen!«, entfuhr es Josef Bernbacher. Sein linkes Bein begann zu zittern und er musste sich am Kofferraum von Julians Wagen festhalten.

Sein Enkel bewegte sich nicht und starrte noch immer wie gebannt auf das Heck des Autos vor ihm. Doch plötzlich ging ein Ruck durch seinen Körper.

»Spinnt denn der!«, schrie er und rannte Richtung Fahrerseite. Laute Musik dröhnte aus dem Wageninneren.

Doch bevor er die Tür aufreißen konnte, wurde die Seitenscheibe heruntergelassen. Zwei graugrüne Augen blickten ihm entgegen.

»Jetzt hätte ich doch beinahe den ersten Vortänzer überfahren«, sagte der rothaarige junge Mann am Steuer, und ein spöttisches Grinsen breitete sich über seinem sommersprossigen Gesicht aus.

»Peter, was soll das?«, schrie Julian. »Spinnst du jetzt vollkommen? «

Aus den Augenwinkeln sah er, dass Peters waghalsiges Manöver nicht unentdeckt geblieben war und sich bereits eine kleine Menschenmenge auf dem Parkplatz versammelt hatte.

»Ich muss euch irgendwie übersehen haben«, sagte Peter, und sein Grinsen verstärkte sich noch. »Jetzt hätte ich um ein Haar verhindert, dass du an Fasching deine kostbaren Beinchen schwingen kannst. Dann wären wir schon zwei, die zuschauen müssen.«

»Ich hab dir schon tausendmal gesagt, wie leid es mir tut, dass du nicht dabei sein kannst. Aber ich kann nichts dafür.«

Peters Grinsen verschwand so schnell, wie es gekommen war. »Nein, du kannst natürlich nichts dafür. Du hast nur dafür gesorgt, dass meine Mutter mich betrunken vor dem Haus gefunden hat.«

Julian beugte sich zu Peter hinab. »Wenn du im Vorgarten deiner Mutter einschläfst, ist das nicht mein Problem. Kein Mensch hat dich damals gezwungen, so viel zu trinken und dann nach Hause zu fahren.«

»Du kannst dich rausreden, so viel du willst«, zischte Peter. »Wenn du mich an dem Abend bei dir hättest übernachten lassen, wäre nichts passiert. Aber dafür war sich der feine Herr ja zu schade.«

»Julian, was ist denn los? Ist alles in Ordnung?«, rief Josef Bernbacher in diesem Moment.

Julian drehte sich zu ihm um. »Ja, Opa. Alles gut. Ich komm gleich.« Er wandte sich wieder zu Peter. »Du weißt ganz genau, dass das nicht der Grund ist. Hör endlich auf …«

»Nein? Aber wenn der Sebastian nicht nach Altenberg zurückfahren kann, wird für ihn im Hause Bernbacher gleich der rote Teppich ausgerollt.«

Blitzschnell griff Julian durch das geöffnete Fenster und packte Peter am Kragen seiner Jacke. »Auch wenn es dich einen feuchten Kehricht angeht, wer bei uns zu Hause ein- und ausgeht, noch einmal zum Mitschreiben: Sebastian hat ein einziges Mal bei uns übernachtet. Aber nicht, weil er zu betrunken war, um nach Altenberg zurückzufahren, sondern weil es draußen spiegelglatt war. Hast du Vollpfosten das jetzt endlich verstanden?«

Peter befreite sich aus Julians Griff. »Ich hab sehr gut verstanden. Ich hätte einmal, nur ein einziges Mal, deine Hilfe gebraucht, aber du warst dir dafür natürlich zu schade. Das war schon zu Schulzeiten nicht anders. Immer hast du dich für etwas Besseres gehalten.«

»Das ist kompletter Unsinn.«

»Nein, ist es nicht. Und das weißt du ganz genau. Aber eines Tages wirst du für deinen Hochmut bezahlen. Das verspreche ich dir!«

Ehe Julian etwas erwidern konnte, legte er den Vorwärtsgang ein und fuhr mit aufheulendem Motor davon. Die Räder gruben sich dabei tief in den Schnee, der in alle Richtungen aufstob.

Julian stolperte nach vorne. Reflexartig versuchte er sich irgendwo festzuhalten, doch sein Griff ging ins Leere. Der schneebedeckte Boden kam immer näher, als er im letzten Moment von zwei kräftigen Händen aufgefangen wurde.

»Was ist denn hier los?«, fragte Sebastian außer Atem. Wie aus dem Nichts war er neben Julian aufgetaucht.

»Alles in Ordnung.« Ungehalten befreite sich Julian aus Sebastians Griff. »Vollidiot!«, rief er dann dem davonbrausenden Wagen hinterher.

»Gar nichts ist in Ordnung. Er hat dich bedroht. Ich hab es ganz genau gehört«, erwiderte Sebastian.

»Von wem wirst du bedroht?«, fragte Josef Bernbacher. Er stand plötzlich direkt hinter seinem Enkel.

»Musste das jetzt sein«, zischte Julian in Sebastians Richtung.

»Und ob das sein musste. Was zum Donnerwetter geht hier vor?«, polterte Josef Bernbacher los, ehe Sebastian antworten konnte. »Das war doch dieser Peter Seidel. Warum überfährt er uns beinahe und stößt irgendwelche Drohungen gegen dich aus?«

Julian verdrehte genervt die Augen. »Er hat mich nicht bedroht. Er ist einfach wütend, weil er nicht mehr mittanzen darf. Und das meinte er, mir noch einmal in aller Deutlichkeit sagen zu müssen.«

Bernbacher musterte seinen Enkel scharf. »Lüg mich nicht an. Er hätte uns beide um ein Haar überfahren. Am liebsten würde ich auf der Stelle die Polizei rufen, damit sie sich dieses Früchtchen vorknöpft.«

»Opa, bitte. Es reicht, wenn Mama aus jeder Mücke einen Elefanten macht. Peter ist einfach zu schnell aus der Parklücke gefahren und ins Schleudern gekommen. Lass uns jetzt einsteigen und nach Hause fahren. Es schauen schon alle.«

Noch immer hatten sich einige Schaulustige auf dem Parkplatz versammelt und sahen neugierig in ihre Richtung.

Josef Bernbacher schien einen Moment mit sich zu ringen. »Also gut. Aber darüber ist das letzte Wort noch nicht gesprochen«, brummte er.

»Komm, lass uns fahren«, sagte Julian. »Ich hab keine Lust, noch länger von allen angestarrt zu werden.« Sebastian zögerte. »Ich muss mit Simon noch etwas besprechen. Wir sehen uns später im Wirtshaus.«

Als Julians Wagen vom Parkplatz rollte, sah Sebastian ihm besorgt hinterher. Auch wenn Julian alles getan hatte, um vor seinem Großvater den Vorfall herunterzuspielen, Sebastian hatte er damit nicht täuschen können. Ihre Blicke waren sich nur kurz begegnet, doch Sebastian hatte ganz deutlich die Angst in Julians Augen gesehen.

»Simon, warte!«

Sebastian packte seinen Rucksack und rannte los. Simon Bauer hatte bereits den Weg zur Bushaltestellte eingeschlagen und war gerade mit den Kopfhörern seines iPhones zugange.

»Was ist denn noch? Wir sehen uns doch sowieso später im Wirtshaus.«

Simon, der Sebastian um einen halben Kopf überragte, zog sich seine Wollmütze tiefer in die Stirn. Nach den tropisch anmutenden Temperaturen im beheizten Hallenbad war die Kälte hier draußen umso deutlicher zu spüren. Die Nacht war sternenklar und ein kalter Ostwind pfiff ihnen um die Ohren. Simons Zehen fühlten sich bereits jetzt wie Eiszapfen an. Er wollte nicht stehen bleiben, sondern schleunigst zurück ins Warme.

»Ich muss aber noch kurz mit dir reden«, erwiderte Sebastian. »Wir können ja zusammen zur Haltestelle gehen.«

»Na gut«, murmelte Simon und fischte mit klammen Fingern eine Zigarettenpackung aus seiner Jackentasche. »Magst auch eine? «

»Nein, danke.«

Er brauchte drei Versuche, bis die Zigarette endlich brannte.

»Scheißkälte«, sagte er, ehe er genüsslich daran zog. »Wenn es irgendetwas gibt, das ich am Schäfflertanz nicht mag, dann ist es die Jahreszeit. Aber das ist wirklich das Einzige«, fügte er grinsend hinzu.

»Hm.«

Eine Weile gingen sie schweigend nebeneinander her.

»Ich frag mich, wo der Seidel seinen Führerschein gemacht hat. So ein Depp. Das war ganz schön knapp.« Simon blies kleine Rauchkreise in die Luft.

»Schon. Aber vielleicht …« Mitten im Satz hielt Sebastian inne.

»Vielleicht was?«

»Vielleicht war es kein Versehen. Der Peter ist immer noch sauer auf Julian, weil er nicht mehr bei uns mittanzen darf.«

»Wegen der Sache damals? Und jetzt denkst du, er wollte Julian absichtlich überfahren?«, fragte Simon entgeistert.

Sebastian nickte zaghaft.

Simon musterte ihn eine Weile. Dann brach er in schallendes Gelächter aus. »So ein Schmarrn. Der Seidel kann einfach nicht Auto fahren. Es ist doch allgemein bekannt, dass der nicht der Hellste ist.«

»Ja, schon …«

»An Julians Stelle hätte ich diesen Chaoten aus dem Auto gezogen, ihm ordentlich die Meinung gegeigt und dann zu Fuß heimgehen lassen«, fuhr Simon fort und trat schwungvoll gegen eine leere Coladose, die auf dem Gehsteig lag. Fast lautlos glitt sie über den schneebedeckten Asphalt.

»Hm, wenn du meinst. Der Josef hat sich auf alle Fälle ziemlich erschrocken.« Simon stippte die Asche seiner Zigarette in den Schnee. »Hat er bei eurer Probe zugeschaut? Wie lief’s denn so?«

»Ganz gut. Wird Zeit, dass es endlich losgeht.«

Auf Simons Gesicht breitete sich ein spitzbübisches Lächeln aus. »Und ob. Das werden die besten fünf Tage unseres Lebens. Lukas und ich haben uns schon so einiges überlegt.«

Simon Bauer führte die Gruppe der Kasperl und Clowns an, die die Schäffler während ihrer Tänze begleiteten und bei den umstehenden Zuschauern nicht nur Geld einsammelten, sondern auch für allerhand Unterhaltung sorgten. Vor allem die kleinen Schminktöpfe, mit denen sie durch das Publikum gingen, um Nasen und Wangen der Anwesenden zu färben, waren berühmt-berüchtigt.

Die Rolle des ersten Kasperls war Simon dabei wie auf den Leib geschneidert. Schon vor sieben Jahren hatte er das Kasperlkostüm der Schäfflertracht vorgezogen. Sebastian hätte sich nie getraut, die Dinge so offen beim Namen zu nennen, wie Simon dies tat, wenn er sich am Ende eines jeden Tanzes nach dem Auftritt des Reifenschwingers auf das Fass stellte und sein Schnapsglas zu einer Rede über den Gastgeber und das anwesende Publikum erhob. Trotz seiner scharfen Zunge, die auch vor dem Bürgermeister und anderen Honoratioren nicht Halt machte, schaffte er es immer wieder, dass ihm niemand ernsthaft böse sein konnte.

»Hm. Klingt gut.«

Simon nahm einen weiteren Zug von seiner Zigarette. »Der Gesprächigste bist du heute aber auch nicht. Wolltest du nicht mit mir reden?«

Sebastian spielte nervös am Gurt seines Rucksacks. »Ja, schon. Aber nicht über den Schäfflertanz.«

»Sondern?«

»Über Valentina.«

Simon blieb abrupt stehen. Seine gute Laune war wie weggeblasen. »Wie kommst du jetzt ausgerechnet auf meine Schwester?«

Sebastian schluckte. »Ich … ich hab sie heute zufällig in Altenberg gesehen. Ist ihre Kur schon zu Ende?«

Simon sah Sebastian finster an. »Das geht niemanden etwas an. Auch dich nicht.«

In diesem Moment waren sie an der Bushaltestelle angekommen, wo bereits Roswitha Förster, die Besitzerin des Neukirchner Gemischtwarenladens, wartete.

Die geht mir jetzt gerade noch ab, dachte Sebastian beim Anblick der stämmigen Mitfünfzigerin, die sich ihre Mütze aus dem Gesicht schob, um die Neuankömmlinge besser begutachten zu können.

Wenn es jemanden in Neukirchen gab, der über jeden Klatsch und Tratsch Bescheid wusste und nicht minder eifrig an seiner Verbreitung beteiligt war, dann Roswitha Förster. Nicht umsonst nannte Armin Weingartner sie schlicht die »größte Ratschn weit und breit«.

Sebastians Hoffnung, dass sie Simon und ihn womöglich nicht erkannt hatte, wurde sogleich zunichte gemacht.

»Grüß euch«, kam es prompt hinter dem dicken Wollschal hervor. »Na, seid’s schon aufgeregt? Bald ist es ja so weit.«

Simon nickte nur, sagte aber nichts.

»Grüß Gott, Frau Förster«, antwortete Sebastian und zwang sich ein kleines Lächeln ab. Dann stellte er sich direkt vor Simon. »Ich will dich nicht über Valentina ausfragen. Ich will nur wissen, wie es ihr geht«, sagte er leise.

Simon trippelte fröstelnd auf und ab und vergrub seine Hände tief in den Jackentaschen.

»Am Faschingssonntag seid’s beim Pfarrer Hartl. Und bei der Leitner Anna tanzt ihr am Rosenmontag, gell«, ertönte es in diesem Moment hinter Sebastians Rücken. »Ich hab das Programm direkt neben meiner Kasse hängen, damit ich keinen Tanz in Neukirchen verpasse.«

Normalerweise hätte Simon spätestens jetzt einen frechen Spruch geliefert und die gute Frau innerhalb kürzester Zeit um den kleinen Finger gewickelt. Aber seit der Name seiner Schwester gefallen war, schien er vollkommen neben sich zu stehen.

Sebastian holte tief Luft. »Ja, Frau Förster. Wir tanzen dieses Jahr ein paarmal in Neukirchen. Wird bestimmt super«, sagte er laut und wandte sich wieder an Simon. »Bitte.«

Simon malte mit seinem rechten Stiefel ein großes »V« in den Schnee. Dann sah er Sebastian direkt an. »Es geht ihr nicht so gut. Braucht halt alles seine Zeit.«

»Wie läuft’s denn in den Proben?«, fragte Roswitha Förster und kam einige Schritte näher. »Ist bestimmt nicht leicht, sich die ganzen Schritte zu merken.«

Noch einmal drehte Sebastian sich um. »Alles bestens«, sagte er. »Aber jetzt müssen Simon und ich noch etwas besprechen.«

Roswitha Förster musterte ihn argwöhnisch.

»Eine Überraschung«, fügte er mit gesenkter Stimme hinzu.

Ihre rehbraunen Augen funkelten. »Eine Überraschung«, wiederholte sie. »Ja, dann … dann lass ich euch das mal in Ruhe besprechen. « Sie verharrte noch einen Augenblick, ehe sie sich mit einem verschwörerischen Zwinkern umdrehte.

Simon wartete, bis sie sich einige Meter von ihnen entfernt hatte. »Jetzt darfst dir aber etwas einfallen lassen«, sagte er und lächelte flüchtig. Dann wurde er wieder ernst. »Seit gestern ist sie zu Hause. Wir versuchen es einfach mal.«

In diesem Moment bog der Linienbus um die Straßenecke.

»Na endlich! Eine Kälte ist das heute wieder«, rief Roswitha Förster und nahm ihren Einkaufskorb, den sie auf der Bank abgestellt hatte. »Passt gut auf euch auf, gell?«

Beide nickten folgsam und ließen ihr beim Einstieg bereitwillig den Vortritt.

»Bloß weit weg von der«, flüsterte Simon.

»Servus, ihr zwei«, ertönte es plötzlich aus dem hinteren Teil des Busses.

Simons Gesichtszüge entspannten sich, während er die Sitzreihen entlangging. »Servus, Lukas.«

Wie Simon gehörte auch Lukas Obermeier zur Gruppe der Kasperln und war stets eifrig bemüht, in die Fußstapfen seines großen Vorbildes zu treten. Altenberg würde sich über die Faschingstage auf einiges gefasst machen müssen, so viel stand für Sebastian bereits fest.

»Bestellst du Valentina schöne Grüße?«, fragte er rasch, denn es war offensichtlich, dass Simon nicht mehr länger über seine Schwester reden wollte.

Simon drehte sich noch einmal um. »Ja, mach ich.«

Sein Blick wanderte ins Leere.

»Der Albtraum ist noch lange nicht vorbei. Für keinen von uns«, fügte er bitter hinzu.

»Und was machen wir jetzt?«, fragte Tabea und hakte sich bei ihrem Vater unter.

Cornelius hob die beiden Einkaufstüten in seiner rechten Hand. »Nachdem wir über eine Stunde tatkräftig den Münchner Einzelhandel unterstützt haben, würde ich vorschlagen, zur Abwechslung etwas Kultur auf die Tagesordnung zu setzen.«

Tabeas Augen weiteten sich. »Kultur?«

Cornelius lachte. »Ja, Kultur. Aber keine Angst. Ich schleppe dich nicht in ein Museum. Lass dich einfach überraschen.«

Eigentlich war Tabea mit ihrer Mutter zum vormittäglichen Stadtbummel verabredet gewesen. Aber da Ramona, wie immer vor einer Reise, alles tat, um mit der Anzahl der gepackten Koffer einen Eintrag ins »Guinness Buch der Rekorde« zu schaffen und somit keine Zeit für den geplanten Mutter-Tochter-Ausflug hatte, war Cornelius bereitwillig eingesprungen.

»Das ist das Mindeste, was du für deine Tochter tun kannst«, hatte Ramona ihn mit vorwurfsvollem Unterton verabschiedet, ehe sie ihn resolut aus dem Schlafzimmer schob.

Obwohl das Abendessen mit David Kronenburg schon zwei Tage her war, hatte sie ihm immer noch nicht verziehen. Entsprechend unterkühlt war die Stimmung im Hause Cornelius, ein Umstand, der nicht nur den Vierbeinern unter den Bewohnern äußerst missfiel.

Tabea freute sich über die unerwartete Einkaufsbegleitung und war, anders als ihre Mutter, bester Laune. Übermütig schleppte sie ihren Vater von einem Geschäft in das nächste. Wie immer war sie sehr elegant gekleidet: roter Mantel, schwarze Stiefel, die blonden Locken unter der dazu passenden schwarzen Mütze versteckt.

Bisher hatten sie es beide vermieden, David Kronenburg und das Abendessen auch nur mit einer Silbe zu erwähnen. Cornelius war es ganz recht so.

»Gleich sind wir da«, sagte er, während sie durch die verschneite Fußgängerzone schlenderten.

Cornelius liebte Münchens Innenstadt an einem Vormittag wie diesem. Januar und Februar waren die einzigen Monate im Jahr, in denen kaum Touristen unterwegs waren und die Stadt zur Abwechslung fast nur den Münchnern gehörte. Von diesen waren um die Tageszeit noch nicht allzu viele mit ihren Einkäufen beschäftigt, so dass sie beide ungehindert an den Schaufenstern und Cafés entlanggehen konnten.

Vor ihnen wurden der Marienplatz und das Rathaus sichtbar. Auch hier hatten sich nur wenige Touristen versammelt. Cornelius führte Tabea an zwei japanischen Gruppen vorbei, die aufmerksam den Ausführungen ihrer Fremdenführer lauschten, und blieb schließlich vor dem Schaufenster eines Modegeschäfts stehen.

»So, hier wären wir schon.«

Tabea grinste. »Von wegen Kultur. Hat Mama dir verraten, dass mir die schwarze Handtasche da vorne so gefällt? Sie würde perfekt zu meinem Mantel passen.«

Cornelius warf einen flüchtigen Blick in die Auslage und einen noch flüchtigeren auf den exorbitant hohen Preis, der laut Auszeichnung für das gute Stück verlangt wurde, ehe er seine Tochter an den Schultern nahm und sie Richtung Rathausturm drehte.

»Das ist die falsche Richtung, mein Schatz. Hier vorne spielt die Musik – im wahrsten Sinne des Wortes.«

Tabea starrte zuerst das neugotische Gebäude auf der gegenüberliegenden Seite und dann ihren Vater verständnislos an.

»Papa, das ist das Rathaus. Das kenne ich nun wirklich.«

Cornelius lachte. »Das bestreite ich auch nicht. Aber wann hast du dir zum letzten Mal das Glockenspiel angehört?«

»Das Glockenspiel?«, rief Tabea entgeistert. »Das ist doch nur etwas für Touristen.«

»Das ist durchaus auch etwas für uns Münchner. Schließlich ist es unser Rathaus. Pass auf. Gleich ist es so weit.«

In diesem Moment schlug es elf Uhr. Wie auf ein Kommando drehten sich alle auf dem Marienplatz versammelten Menschen zum Turm des Rathauses. Die Mitglieder der japanischen Reisegruppen zückten begeistert ihre Fotoapparate und hielten sie nach oben. Auch Cornelius wartete gespannt. Kaum war der letzte Glockenschlag verklungen, setzte eine Melodie ein.

»Das ist ja ganz nett, aber wollen wir nicht weitergehen«, drängelte Tabea nach einigen Minuten und versuchte ihren Vater unauffällig in Richtung Taschengeschäft zu ziehen.

»Warte. Das Beste kommt doch erst noch«, sagte Cornelius und zeigte auf die bunten Figuren, die in zwei Erkern des Rathausturmes untergebracht waren.

Nach einigen Sekunden begannen sich die Figuren des oberen Erkers langsam im Kreis zu drehen. Fanfarenbläser, Herolde, Fahnenträger und Ritter zogen dabei am herzoglichen Brautpaar vorbei. Ein begeistertes Raunen ging über den Platz, und noch mehr Fotoapparate wurden nach oben gehalten. Tabea sah sich eine Weile kopfschüttelnd um, ehe sie sich schließlich mit einem lauten Seufzer in Richtung des Turmes drehte.

»Hast du dir unseren Rathausturm schon einmal genauer angesehen? «, fragte Cornelius leise.

Tabea atmete geräuschvoll ein. Als Tochter eines Geschichtsprofessors mit Leib und Seele wusste sie bereits, was jetzt auf sie zukommen würde. In der Hoffnung, keinen allzu langen Vortrag über sich ergehen lassen zu müssen und ihrem erklärten Ziel Handtaschenkauf bald ein entscheidendes Stück näher zu kommen, blickte sie ihren Vater aufmerksam an.

»Im oberen Teil des Erkers ist ein Ritterturnier dargestellt, das im 16. Jahrhundert zur Vermählung von Herzog Wilhelm V. auf dem Marienplatz abgehalten wurde«, begann Cornelius. »In der unteren Etage wird der Schäfflertanz gezeigt.«

»Schäfflertanz«, sagte Tabea. »Wegen dem fährst du doch nach Neukirchen?«

Cornelius nickte. »Die Altenberger Schäffler führen, wie übrigens auch die Münchner, alle sieben Jahre ihren Tanz auf. Die Musik, zu der sie dabei tanzen, ist genau die, die du gerade hörst.«

Die Figuren im zweiten Erker mit den roten Jacken und grünen Hüten hatten sich jetzt ebenfalls in Bewegung gesetzt.

»Drehen die sich dann auch im Kreis und halten so ein grünes Ding in der Hand?«, fragte Tabea wenig begeistert.

»Die drehen sich nicht nur einfach im Kreis«, antwortete Cornelius indigniert. »Das ist ein äußerst komplizierter Reiftanz mit einer festen Figurenfolge. Die Altenberger Schäffler tanzen mit großer Geschwindigkeit und unglaublicher Präzision. Das ist wie Hochleistungssport.«

Tabea holte ein Taschentuch aus ihrem Mantel und putzte sich die Nase. »Aha. Woher weißt du denn, wie die Altenberger Schäffler tanzen?«

»Anna Leitner hat mir eine DVD der Tanzaufführungen von vor sieben Jahren geschickt. Ich habe mir die Münchner Schäffler auch schon ein paarmal angesehen, aber die Altenberger machen das wirklich ausgezeichnet. Mit so viel Schwung und Tempo, die brauchen sich vor den Münchnern nicht zu verstecken. Ganz im Gegenteil. Und das grüne Ding, wie du es nennst, ist übrigens ein Buchsbogen.«

»Und warum tanzen sie nur alle sieben Jahre?«, fragte Tabea, die jetzt doch ein bisschen neugierig geworden war.