Der Mädchenflüsterer - Eva Fürst - E-Book

Der Mädchenflüsterer E-Book

Eva Fürst

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Beschreibung

Tatort Erzgebirge: Der Albtraum jeder Mutter wird wahr

Ein kalter Novembermorgen. Eine Mutter öffnet einen rosafarbenen Brief, der vor ihrer Haustür liegt. Darin entdeckt sie die Handschrift ihrer seit Jahren vermissten Tochter – und einen verzweifelten Hilferuf ... Gleichzeitig untersucht Rechtsmedizinerin Maja Heuberger eine grausam zugerichtete Leiche. Die Obduktion ergibt, dass es sich um das Skelett jenes vermissten Mädchens handelt, allerdings ist es seit sechs Jahren tot. Niemand anderes als ihr Mörder kann den grausamen Hilferuf an ihre Mutter gesandt haben. Doch der Brief bleibt nicht der einzige, und als auch Maja Heuberger einen erhält, ist klar, dass sie den Mörder höchstpersönlich fassen muss.

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Seitenzahl: 486

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Buch

Ein nebliger Novembermorgen. Eine verhärmt aussehende Frau tritt vor die Tür ihres Hauses und eilt zum Briefkasten. Der rosafarbene Brief, der mit der Zeitung zu Boden fällt, lässt ihr Herz aussetzen. Zitternd öffnet die Frau den Umschlag – und bricht daraufhin in hysterisches Schluchzen aus … Maja Heuberger hat Bereitschaftsdienst, als ein Skelettfund gemeldet wird. Obwohl sich die Leiche bereits mehrere Jahre unter der Erde befunden haben muss, stellt Maja fest, dass die Tote eine junge Frau war – die bestialisch ermordet wurde. Ein DNA-Abgleich ergibt, dass es sich um die seit Jahren vermisste Leah Gärtner handelt. Doch wer hat Leahs Mutter nun jenen grausamen Brief geschickt, in dem das Mädchen in ihrer eigenen Handschrift um Hilfe bettelt?

Autorin

Eva Fürst ist im Erzgebirge aufgewachsen und auch heute noch ihrer Heimat treu. Sie lebt und arbeitet in Sachsen als Redakteurin, Autorin, Lektorin und Leiterin von Schreibwerkstätten. Die passionierte Literaturliebhaberin verehrt Erich Kästner, Roald Dahl, Gert Prokop, John Ronald Reuel Tolkien, Mario Vargas Llosa, Waltraut Lewin und Einar Turkowski. Zurzeit schreibt sie an ihrem nächsten Psychothriller.

Bei Blanvalet von Eva Fürst bereits erschienen:

Bluttänzer

EVA FÜRST

DERMÄDCHEN-FLÜSTERER

PSYCHOTHRILLER

1. AuflageCopyright © der Originalausgabe 2015 by Blanvalet Verlag,in der Verlagsgruppe Random House GmbH, MünchenDieses Werk wurde vermittelt durch die Literarische AgenturThomas Schlück GmbH, 30827 Garben.Umschlaggestaltung: © Johannes Wiebel | punchdesign,unter Verwendung eines Motivs von Shutterstock.comRedaktion: Eva C. SeifertHerstellung: samSatz: DTP Service Apel, HannoverISBN: 978-3-641-15905-4www.blanvalet.de

1

Susann Gärtner stierte regungslos auf das Gewirr sinnentleerter Metallstäbe in ihrer Hand.

Aluminiumfarbenes Metall kreuzte sich mit graphitgrauem. Der winzige Panda an dem Ring, der alles zusammenhielt, schielte ein bisschen. Sein ehemals weißer Kopf und der Bauch waren im Lauf der Jahre grau geworden. Ein Wunder, dass das kleine Plüschtier nach so langer Zeit überhaupt noch existierte.

Irgendetwas in ihrem Kopf zählte immer wieder die Schlüssel – eins – zwei – drei – vier – fünf – eins – zwei – drei – vier – fünf – eins – …

Draußen hupte ein Auto, und Susann Gärtner erwachte aus ihrer Erstarrung. Sie schloss die Faust um den Schlüsselbund und presste die Finger zusammen, bis die Zacken sich in ihre weiche Handinnenfläche bohrten. Der Panda hatte Leah gehört.

Noch einmal hupte es, lauter nun, und schlagartig fiel ihr wieder ein, was sie mit den Schlüsseln gewollt hatte. Die Zeitung hereinholen.Du wolltest zum Briefkasten gehen und nachsehen, ob etwas darin ist.

Mit ungelenken Bewegungen wie bei einer Achtzigjährigen tappte Susann vorwärts. Sie musste ihr Bild im Flurspiegel nicht betrachten, um zu wissen, dass sie mit ihren Augenringen und den Falten um die Mundwinkel Jahre älter aussah, als sie tatsächlich war.

Noch ehe sie die Klinke ganz heruntergedrückt hatte, riss ein Windstoß ihr schon die Tür aus der Hand und stieß sie mit lautem Knall gegen die Wand.

Susann zog die Strickjacke fester um die Schultern und beschleunigte ihre Schritte. Sie hasste den November. Es war ein grausamer Monat, feucht, kalt, böse. Er saugte der Welt die Farben aus und überzog alles mit einem Trauerflor. Selbst die Mahoniesträucher im Vorgarten sahen im November nicht mehr grün, sondern aschgrau aus. Niemand hielt sich freiwillig draußen auf. Den Blick auf die feuchten Schieferplatten am Boden gerichtet, hastete sie zum Tor.

Der Briefkasten befand sich im Innern einer der gemauerten Säulen, die das Gartentor einfassten. Man konnte die Klappe vom Garten aus öffnen. Susann schüttelte die Schlüssel zurecht und suchte dann nach dem kleinen silbernen, der neben dem Haustürschlüssel befestigt war. Auf der Straße fauchte der Wind heiser über die kahlen Zweige der Pappeln, rüttelte an den Ästen, zischte und pfiff. Erst jetzt bemerkte Susann, dass ihre Hände zitterten. Der kleine Panda wackelte hin und her, während ihre Finger versuchten, den Briefkastenschlüssel in das Schloss einzufädeln.

Im November fühlte sie sich immer besonders schlecht. Nicht dass es ihr in den anderen Monaten deutlich besser gegangen wäre. Es gab nur wenige Tage, an denen Susann ihren Kummer fast vergessen und Dinge genießen konnte, aber wenn die Sonne schien und die Vögel zwitscherten, war alles einfacher. Manchmal hatte sie das Gefühl, es würde nie besser werden und dass es leichter wäre, sich davonzumachen. Einfach aufgeben, sich hinlegen und schlafen. Aber solange nur ein winziges Fünkchen Hoffnung bestand, dass Leah wiederkam, konnte sie nicht alles hinschmeißen. Was, wenn ihre Tochter eines Tages vor dem Haus stand, und Fremde öffneten die Tür und erklärten ihr, dass ihre Mutter sich umgebracht habe?

Endlich rutschte der Schlüssel ins Schloss. Der Wind hatte sein Heulen eingestellt, als wartete er auf etwas, und in der Stille konnte Susann hören, wie sich der kleine Riegel in der Klappe zur Seite drehte.

Über ihr flatterte ein großer Vogel schwerfällig mit den Flügeln, und sie schaute nach oben. Eine Taube. Das Symbol für Liebe und Sanftmut. Die Taube ließ sich in der Kiefer neben der Auffahrt nieder und schaute mit ihren schwarzen Knopfaugen herab.

Während Susann dem Blick des Vogels begegnete und darüber nachdachte, ob das Tier sie bewusst wahrnahm, tastete sie nach der Zeitung.

Feiner Nieselregen sank sacht vom Himmel und benetzte ihr Gesicht mit einem zarten Schleier. Die Finger ergriffen das Bündel Papier und zogen es heraus. Dann klappte Susann den Briefkasten wieder zu und schloss ab. Es war jeden Morgen das Gleiche: aufstehen, waschen, Zähne putzen, irgendetwas anziehen und danach Kaffee trinken und die Zeitung lesen. Das, was die Journalisten schrieben, interessierte sie nicht wirklich, aber es lenkte ab, und deshalb hatte sie das Abonnement trotz Internet und Fernsehnachrichten behalten.

Susann erschauerte. Geh wieder rein. Du fängst dir sonst eine saftige Erkältung ein.

»Na und? Wenn interessiert’s?« Sie hatte laut gesprochen. So weit war es also schon gekommen. Susann Gärtner, einst eine eloquente, gut aussehende Businessfrau mit Mann und Kind, war zu einer ungepflegten Schlampe verkommen, die Selbstgespräche führte.

Langsam drehte sich Susann um und ließ dabei den Schlüsselbund in die Jackentasche gleiten. Die Haustür stand noch immer offen.

Das leise Rascheln, das vor ihr ertönte, nahm sie verzögert wahr. Etwas hatte sich aus den Seiten der Zeitung gelöst und war zu Boden geflattert. Susann blickte nach unten. Ein Brief. Direkt vor ihren Filzpantoffeln. Rosafarbenes Papier. Die Rückseite zeigte nach oben.

Ihr Herzschlag setzte für ein paar Sekunden lang aus, dann galoppierte er davon. Kälte stieg in Susann nach oben, griff mit Eisfingern nach ihrer Kehle, drückte zu. Mit einem Ächzen ging sie schließlich in die Knie und berührte den Umschlag. Das Papier fühlte sich warm an, so als habe es eben noch die Wärme eines Körpers aufgenommen.

Den Brief fest umklammernd, richtete sich Susann wieder auf. Erst dann drehte sie ihn um.

Ihr Name, ihre Adresse. Kein Absender. Schmutzige Schlieren zogen sich über die Buchstaben. Susann rang nach Luft. In ihrer Brust blähte sich das Herz wie ein spröder Ballon. Sie kannte diese Schrift. Kannte sie in- und auswendig.

Lies das nicht, du wirst es bereuen, flüsterte eine Kinderstimme in ihrem Kopf, aber Susanns Finger hatten sich schon unter die Lasche geschoben, den Brief aufgerissen und ein einzelnes rosafarbenes Blatt hervorgeholt.

Mit offenem Mund starrte sie auf das Papier. Die Worte verschwammen vor ihren Augen und brannten doch unauslöschlich in ihrem Kopf.

Liebe Mama! Bitte hilf mir. Ich halte das nicht mehr aus. Leah

Leah hatte statt der i-Punkte immer kleine Kreise gemalt. Höhnisch begann der Novemberwind erneut sein fauchendes Kichern.

Susann Gärtner sank auf die Knie und weinte lautlos.

2

Eine Woche vorher

Siegfried Tolke stolperte über eine Wurzel und fluchte halbherzig. Dann sah er sich um, obwohl niemand in der Nähe war, der ihn hätte hören können. Bruno war schon wieder verschwunden. Wahrscheinlich wühlte er irgendwo im Moos herum oder versuchte, ein kleines Tier auszugraben. Waldspaziergänge im Spätherbst waren die schönsten. Jedenfalls für ihn und Bruno. Besonders wenn es so wie heute kalt und ungemütlich war und dazu leicht regnete. Die lästigen Pilzsucher hockten in ihren warmen Wohnungen, Familien mit schreienden Kindern waren längst verschwunden, es gab keine Beeren, die man sammeln konnte, und die Tiere des Waldes hatten keinen Nachwuchs, den Bruno hätte aufscheuchen können.

Siegfried Tolke blieb stehen, vergrub die Fäuste in den Jackentaschen und sah sich um. Heute hatte er die große Runde gewählt. Sie führte an der Talsperre Eibenstock vorbei durch den Wald bis zurück zum Talsperrenweg, wo er sein Auto geparkt hatte. Hier, im erzgebirgischen Grenzgebiet zu Tschechien, gab es noch weitreichende Waldflächen, in denen sich ein Unkundiger verlaufen konnte. Die Gegend war nicht so dicht besiedelt und besonders im Winter unwirtlich. Früher hatten hier Zwerge, Berggeister, die Weiße Frau, der Reiter ohne Kopf und andere Sagengestalten ihr Unwesen getrieben, heute war es für einen aufgeklärten Menschen einfach nur ein Mittelgebirge mit viel Nadelwald.

Siegfried Tolke betrachtete die schartigen Äste der Fichten neben dem Weg. Graugrüne Flechten überzogen die Borke, hingen teilweise wie verfilztes Gespinst herab. Auch die Steinbrocken, die wie von Riesenhand überall verstreut lagen, waren von Moos und Flechten bedeckt. Unter den narbigen Stämmen wuchs nichts. Keine Pflanze hielt der ewigen Dämmerung und dem dicken Nadelteppich stand. Sogar die untersten Zweige der Bäume waren längst abgestorben und hatten Nadeln und Rinde verloren.

Jetzt kam Bruno herangeschnauft und blieb schwanzwedelnd vor seinem Herrchen stehen. Sein Blick schien ihn zu fragen, warum er stehen geblieben war, wo es doch noch so viel zu entdecken gab.

Recht hatte er. Siegfried Tolke beugte sich nach vorn und kraulte dem Labrador den Nacken. »Lass uns weiterziehen, Bruno.« Noch ehe der Satz ganz ausgesprochen war, rannte der Hund auch schon davon. Sein Hinterteil wackelte vor Freude. Gemächlich folgte sein Herrchen. Bruno und er hatten alle Zeit der Welt. Es war Sonnabend, und daheim wartete niemand auf sie.

Den Blick zu Boden gerichtet, um nicht wieder über eine Wurzel zu stolpern, marschierte Siegfried Tolke voran. Die Hundeleine, die von seiner Brust herabbaumelte, schwang bei jedem Schritt mit. Er kannte den Weg. Bruno und er spazierten hier oft entlang. Noch etwa fünfhundert Meter, dann kam eine kleine Lichtung, auf der er an schönen Tagen Rast machte und sich mit seinem Hund ein belegtes Brot teilte. Heute jedoch würden sie nicht anhalten. Für ein Picknick war es einfach zu ungemütlich. Neben ihm erschnüffelte der Labrador eine unsichtbare Spur und drehte dann ab, um den Geruch genauer zu erkunden.

Noch immer fädelte feiner Regen vom grauen Himmel herab. Im Wald war es Siegfried Tolke nicht aufgefallen, weil die Fichten das Wasser wie Schirme aus Nadelgeflecht ableiteten, aber hier, auf der Lichtung, spürte er den Regen wieder.

Er schaute zur Uhr. Fast drei. Das Gefühl, die Dämmerung käme heute eher als sonst, verstärkte sich. Und allmählich krochen Feuchtigkeit und Kälte durch die gewachste Baumwolljacke und tasteten mit ihren klammen Fingern nach seiner Haut.

Siegfried Tolke beschleunigte seine Schritte. Es war an der Zeit, sich auf den Heimweg zu machen. Während er nach Bruno pfiff, betrachtete er die nackten Äste der Lärchen, an denen kleine Zapfen hingen, und lauschte dann, ob der Hund kam.

Der Wald blieb still. Kein Rascheln, kein Schnaufen. Nicht ein einziges Geräusch durchbrach die Stille. Hierher, tief ins Herz des erzgebirgischen Waldes, verirrte sich in den Wintermonaten selten jemand, und auch die Tiere hatten anscheinend schon ihre Winterruhe angetreten.

Siegfried Tolke fröstelte und drückte die Hände zurück in die Jackentaschen, bevor er einen weiteren Pfiff ausstieß und dann stehen blieb. Das war gar nicht Brunos Art. Spätestens beim zweiten Pfeifen oder Rufen kam er zurück und ließ sich anleinen. Er blieb auch nie lange weg.

Es sei denn, er hatte etwas wirklich Unwiderstehliches gefunden. Siegfried Tolke lächelte in sich hinein. Was Hunde eben spannend fanden.

Noch einmal pfiff er nach dem Labrador.

Jetzt rumorte es zwischen den Haselnusssträuchern am Rande der Lichtung, und dann kam Bruno hervor und trabte heran. Obwohl er einen Stock zwischen den Zähnen hielt, schien er zu grinsen.

Siegfried Tolke schüttelte unmerklich den Kopf und nestelte dabei am Verschluss der Leine vor seinem Bauch. »Komm her, mein Freund. Ich glaube, du hattest genug Spaß für heute. Wir machen uns jetzt auf den Heimweg.«

Der Hund blieb vor ihm stehen und schaute erwartungsvoll. Den Stock trug er dabei noch immer wie eine Trophäe quer im Maul.

»Willst du den etwa mitnehmen?« Siegfried Tolke bückte sich. »Von mir aus, aber nur bis zum Auto.« Er griff nach dem Halsband des Hundes, wobei er den Gegenstand, den Bruno mitgebracht hatte, genauer betrachtete.

»Was zum …« Feiner Regen tröpfelte in Siegfried Tolkes Kragen und zog die eiskalte Spur nach, die seinen Rücken hinablief. »Wo hast du das gefunden, Bruno?« Er berührte den Knochen, den der Hund noch immer fest zwischen den Zähnen hielt, und wiederholte seine rhetorische Frage, während er versuchte, das Mitbringsel einzuordnen. Der Labrador wedelte mit dem Schwanz. Endlich schien sich sein Herrchen für die gleichen Dinge zu interessieren wie er. Siegfried Tolke musterte den langen graubraunen Schaft, dessen linkes Ende in einer Kugel auslief. Am rechten Ende verbreiterte er sich in eine Art Sattel. Er war kein Experte für Skelettteile, aber das hier sah aus wie ein menschlicher Arm- oder Beinknochen.

»Mist!«

Bruno hatte aufgehört, mit dem Schwanz zu wedeln, und sah sein Herrchen, dessen Empfindungen sich unmittelbar auf ihn übertragen zu haben schienen, aufmerksam an. Siegfried Tolke wühlte in der Hosentasche nach seinem Handy, bis ihm einfiel, dass er es im Auto gelassen hatte.

»Gib mir mal das Ding, Bruno.« Ein kurzes Zerren am runden Ende des Knochens, aber Bruno wollte ihn nicht hergeben. Ein kräftiges »Aus!« bewirkte, dass der Hund sein neues Spielzeug widerwillig losließ, und jetzt konnte Siegfried Tolke es endlich näher betrachten. Eindeutig ein Knochen, so viel war sicher. Ob das Teil jedoch von einem Tier oder tatsächlich von einem Menschen stammte, wagte er nicht zu entscheiden.

Ein zerknittertes braunes Laubblatt segelte vor ihm zu Boden, und sein Blick folgte ihm unwillkürlich. Die abgebrochenen Äste, die neben den knorrigen Wurzeln lagen, sahen auch fast aus wie Knochenteile. Siegfried Tolke ging in die Knie und hob einen von ihnen auf. Dann klemmte er sich den von Bruno mitgebrachten Knochen unter die Achsel, fasste den Ast an beiden Enden und zerbrach ihn, bevor er heftig den Kopf schüttelte und sich zur Räson rief. Nicht alles, was im Wald herumlag, waren menschliche Skelettteile. Er zog den Knochen unter dem Arm hervor und hielt ihn neben seinen linken Oberarm. Das Fundstück war deutlich länger. Wenn, dann war das hier ein Bein. Oder, besser gesagt, der Oberschenkel.

Nun hob Siegfried Tolke Brunos Mitbringsel bis dicht vor die Augen. Der Himmel hatte sich noch ein wenig mehr verdüstert. Nicht mehr lange, und es würde dunkel werden.

Ihm blieb nicht mehr viel Zeit, wenn er herausfinden wollte, ob dort, wo Bruno den Oberschenkelknochen herhatte, noch mehr Teile lagen. Er klickte den Verschluss der Leine am Halsband fest und hielt seinem Hund den Knochen unter die Nase.

»Wir machen ein Suchspiel! Woher hast du das? Zeig es mir!« Bruno schien zu verstehen, was er von ihm wollte. Ein »Such!«, und los ging es. Mit einem Ruck zog er sein Herrchen nach rechts in Richtung der Haselnusssträucher. Siegfried Tolke konnte gar nicht so schnell folgen, wie der Labrador voranstürmte.

3

Alle Mitarbeiter-Stellplätze am rechtsmedizinischen Institut der Uni Leipzig waren besetzt. Maja Heuberger spürte, wie ihre Zähne sich in die Unterlippe gruben, und versuchte, ihren Ärger zu unterdrücken. Ein typischer Montag – nichts klappte wie geplant. Wenn das so weiterging, wäre sie heute diejenige, die zu spät kam, und nicht wie sonst ihr Kollege Alfred. Zuerst hatte sie auf der Fahrt von Zwickau hierher kurz nach Meerane mehrere Kilometer lang hinter einem Laster herzuckeln müssen, dann war sie hinter Borna in einen Stau geraten, und zu guter Letzt war auch noch die Richard-Lehmann-Straße, durch die sie sonst zur Johannisallee fuhr, gesperrt gewesen. Da gestaltete sich die Fahrt nach Chemnitz eindeutig stressfreier. Und kürzer.

Maja atmete auf, als fünfzig Meter vor ihr ein Auto aus einer Parklücke fuhr. Glück gehabt. Wenn sie sich ein bisschen beeilte, würde sie es gerade noch rechtzeitig zur montäglichen Besprechung schaffen.

Als sie die Stufen zu der braunen Holztür hinaufstieg, kam von rechts Alfred Walden herangeschnauft. Sein Gesicht war hochrot, und er rang nach Luft. Er quetschte ein atemloses »Morgen!« heraus, und Maja konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen. Der Mann kriegte es einfach nicht auf die Reihe. Dabei wohnte er in Leipzig und nicht wie sie in Zwickau.

»Wie war dein Wochenende?« Sie drückte die Tür auf und wartete, bis er hindurchgeschlüpft war.

»Prima. Und deins?«

»Ruhig. Schön, wenn man mal keinen Dienst hat.« Maja wickelte sich im Laufen den Schal ab und entschied, gleich zur Besprechung zu gehen. Ihre Sachen konnte sie auch später in ihr Zimmer bringen. Gernot Hagen hasste es, wenn jemand zu spät kam, und sie wollte es sich nicht mit ihm verderben.

»Da hast du recht.« Alfred schnaufte noch immer. Sie waren angekommen. Dieses Mal öffnete er die Tür und ließ sie vorangehen. Wohl damit auch alle bemerkten, dass auch Maja Heuberger auf den letzten Drücker kam. Gernot Hagen saß schon vorn und sortierte Papiere in seinem Ordner. Maja hängte ihre Jacke über die Lehne, ließ sich neben Oliver Brand plumpsen und atmete tief durch.

»Du kommst spät.« Er zwinkerte ihr zu.

»War allerhand los auf den Straßen. Das übliche Montagmorgengetümmel.« Sie wischte sich mit dem Ärmel über die Stirn. »Dabei bin ich rechtzeitig losgefahren. Na egal. Nun bin ich ja da.« Ein kurzer Blick nach vorn. Gernot klappte gerade seine Mappe zu. Maja musterte Olli. Der Kollege sah müde aus. Entweder hatte er außergewöhnlich viel zu tun gehabt oder privat zu wenig Schlaf bekommen. Maja dachte kurz über Olli nach. Was wusste sie eigentlich über ihn, außer dass er geschieden war und keine Kinder hatte? Gab es eine Lebensgefährtin?

»Wie war der Wochenenddienst? Irgendwas passiert?«

»Das wirst du gleich hören.« Er deutete nach vorn. Professor Gernot Hagen, Leiter des rechtsmedizinischen Institutes, war aufgestanden und schaute in die Runde. Nachdem alle Gespräche verstummt waren, räusperte er sich und begrüßte die versammelte Mannschaft, ehe er sich wieder setzte. Zu den Morgenbesprechungen nahmen außer den Ärzten auch immer die forensischen Chemiker und Biologen sowie mindestens einer der Sektionstechniker teil.

»Wir haben zwei Leichen vom Wochenende, bei denen wir ein Tötungsdelikt ausschließen müssen. Das machen Ingrid und Raik.« Ingrid, die Maja gegenübersaß, verzog den Mund und kritzelte etwas auf ihren Block. Raik Glaser war einer der Ausbildungsassistenten, und Ingrid hatte vor einiger Zeit durchblicken lassen, dass sie ihn nicht mochte. Solche Dinge interessierten Gernot Hagen jedoch nicht, falls er überhaupt von der Abneigung seiner Kollegin wusste. Die Mitarbeiter sollten ihre Arbeit gewissenhaft erledigen und sich nicht von persönlichen Dingen beeinflussen lassen.

»Von letzter Woche sind noch vier Leichen übrig. Davon halten wir zwei für das morgige Leichenschaupraktikum zurück, bleiben zwei. Die nimmst du dir vor.« Gernot sah Alfred an und wartete, bis dieser genickt hatte, ehe er fortfuhr. »Gemeinsam mit Oliver. Es sind keine außergewöhnlichen Fälle. Das müsstet ihr also gut schaffen.«

Während Maja zusah, wie Gunnar Kunz, der Sektionsassistent, sich Notizen machte, welche Leichen er für wen auflegen musste, fragte sie sich, warum Olli plötzlich mit Alfred arbeiten sollte und was Gernot für sie vorgesehen hatte.

»Leider haben wir noch eine unschöne Sache.« Jetzt blickte der Institutsleiter zu ihr. »Die würde ich gern dir übergeben, Maja.«

Das Gekritzel auf Blöcken und in Notizbücher hörte auf. Maja hatte das Gefühl, dass sich alle Augen auf sie richteten, während sich jeder fragte, was das für eine »unschöne Sache« sein mochte. Nur Olli schien Bescheid zu wissen, denn er stupste sie in die Seite und nickte, als sie ihn ansah, als wolle er ihr mitteilen, dass er es doch gleich gesagt habe.

»Gestern haben wir einen Sack voller Knochen reinbekommen. Gefunden wurden sie in einem Waldstück bei Eibenstock. Leider handelt es sich um die Worst-Case-Version eines Knochenfundes. Der Polizist, der sie abgeliefert hat, hat einfach alles in einen Müllbeutel gestopft. Den Rest kann dir Olli erzählen. Erstelle bitte ein osteologisches Gutachten, dann entscheiden wir, ob die Kripo ranmuss. Das war’s für heute. Frohes Schaffen.« Prof. Dr. Gernot Hagen schob den Kugelschreiber in die Hemdtasche, nahm seine Mappe und erhob sich.

Getuschel setzte ein. Ingrid schickte Maja einen mitleidigen Blick und zuckte kurz mit den Schultern.

In Sachsen galt laut sächsischem Gesetz über das Friedhofs-, Leichen- und Bestattungswesen der Körper eines toten Menschen so lange als »Leiche«, bis der »körperliche Zusammenhang durch Verwesung vollständig aufgehoben« war. Das hieß, dass Skelette oder Skelettteile nicht unter die Leichenschaupflicht fielen. Und daraus folgte, dass bei Knochenfunden auch nur selten ein Rechtsmediziner hinzugezogen wurde. Die Entscheidung, wer sich mit solchen Funden beschäftigte, fiel meist zufällig – je nachdem, wer zuerst am Fundort war. Manchmal handelte es sich um Bauarbeiter, manchmal um Förster oder Jäger, auch Hausbesitzer hatten schon Teile menschlicher Skelette auf ihren Grundstücken entdeckt. Nicht immer rief derjenige auch die Polizei, ab und zu befassten sich auch Bodendenkmalpfleger oder Archäologen mit den Funden.

Maja griff nach Jacke und Schal und folgte Olli nach draußen. »Dann erzähl mir doch mal, was es mit diesem Sack voller Knochen auf sich hat.«

»Wie Gernot schon sagte, hat ein Polizeibeamter ihn gestern hier abgegeben. Gut, dass ich da war, sonst hätte er die Knochen womöglich wieder mitgenommen. Es reicht schon, wie er sie eingesammelt und transportiert hat.« Olli schüttelte den Kopf über so viel Unwissenheit. Gernot hatte nicht umsonst von einer »Worst-Case-Version« gesprochen. So nannten sie es, wenn keine fachgerechte Bergung erfolgte und weder Fundort und Position der Knochen noch sogenannte Beifunde wie Kleidungsreste oder Knöpfe beachtet wurden. Zudem erwischten die Laien auch nie alle relevanten Teile, kleine Knöchelchen oder Fragmente fehlten oft.

Olli öffnete die Tür zu seinem Zimmer und bedeutete Maja, sich auf den Stuhl vor seinem Schreibtisch zu setzen, während er weiterredete. »Gefunden wurden sie wohl am Sonnabend. Von einem Mann, der mit seinem Hund im Wald spazieren war. Der hat das Ganze dann beim Revierförster gemeldet, welcher die Knochen als menschlich eingestuft und die Polizei informiert hat.«

»Und die haben dann alles in den Müllsack gestopft.«

»›Wir finden doch dauernd Knochenreste im Wald‹, hat der Typ, der sie hergebracht hat, gesagt. ›Da können wir doch bei der Bergung nicht jedes Mal einen Rechtsmediziner hinzuziehen.‹« Oliver Brand schüttelte den Kopf. »Und ob die tatsächlich alles erwischt haben, bezweifle ich stark. Es sind allerhand Einzelteile. Aber kein Schädel. Der liegt wahrscheinlich in irgendeiner Wildschweinkuhle.«

»Hast du schon drauf geschaut?« Maja sah, wie Olli die Augenbrauen zusammenzog und grinste. »Klar hast du. Lass dich doch nicht foppen.«

Die erste Frage, die sie sich in solch einem Fall stellten, war: Handelte es sich tatsächlich um menschliche Überreste? Nicht selten wurden Tierknochen, Holzstücke oder sogar Teile alter Schulskelette aus Plastik abgegeben. Schließlich hatten nur die wenigsten Erfahrung damit, wie echte Knochen zu identifizieren waren.

»Sie sind menschlich.« Olli schabte mit der Handfläche über seine Bartstoppeln. »Ich habe sie gereinigt und zum Trocknen ausgelegt. Für weitere Untersuchungen hatte ich jedoch keine Zeit. Erstens eilt es nicht – die Knochen sind alt. Zweitens hatte ich alle Hände voll mit den Gutachten für die beiden Gerichtsprozesse zu tun, in denen ich aussagen muss. Gernot war der Meinung, dass du die Richtige dafür bist. Schließlich hast du die meiste Erfahrung mit forensischer Anthropologie.«

»Das stimmt natürlich.« Maja stand zeitgleich mit ihrem Kollegen auf. »Lass uns runtergehen. Dann will ich mir die Teile mal vornehmen. Hoffentlich ist es nichts Schlimmes.«

4

Maja zog die Handschuhe hoch und betrachtete dabei die Knochen, die Olli auf dem Seziertisch ausgelegt hatte. Die Frage, die sie in ihren Gutachten stets als Erstes beantworteten – nämlich, ob es sich tatsächlich um Knochen handelte, erübrigte sich hier. Das hatte Olli schon gecheckt, und der Kollege hatte die vorhandenen Einzelteile auch schon anatomisch korrekt angeordnet, was die zweite Frage – menschlich oder nicht – beantwortete. Diese beiden Feststellungen bereiteten erfahrenen Rechtsmedizinern keine Schwierigkeiten. Sie würde sich jetzt erst einmal ansehen, ob es Teile eines »modernen« Menschen und nicht Fossilien waren, und dann die vorliegenden Knochen katalogisieren und prüfen, ob sie alle zu einer Person gehörten.

Sie schaute kurz zu Ingrid Reichmann hinüber, die Raik Glaser irgendetwas erklärte. Ihr Gesichtsausdruck war angestrengt. Olli und Alfred hingegen arbeiteten konzentriert. Die Leiche, die die beiden Kollegen gerade obduzierten, hatte die typische marmoriert-grüne Farbe, die nach mehreren Tagen durch das Wirken von Bakterien im toten Körper entstand. Und sie stank. Aber das waren sie ja gewohnt.

Auf der Haut des Mannes hatten sich bereits die typischen Blasen gebildet, die durch gasförmige Stoffwechselprodukte der Bakterien entstanden, die Zunge war aufgedunsen, und aus Mund und Nase troff Flüssigkeit. Schon nach wenigen Wochen verflüssigte sich fast das gesamte innere Gewebe. Der Tote, den die Kollegen auf dem Tisch hatten, war eine sogenannte Wohnungsleiche gewesen – jemand, der allein in seiner Wohnung gestorben und erst Wochen später entdeckt worden war. Eigentlich hatten sie noch Glück mit dem Gestank – im Hochsommer gingen die Zerfallsprozesse deutlich schneller vor sich.

Maja wandte sich wieder ihrem Knochenpuzzle zu. Auch wenn sie den Geruch von Fäulnis und Verwesung gewohnt war – nicht riechende Körper waren ihr lieber. Aber das hatten sie leider fast nie.

Sie betrachtete die Teile und listete in Gedanken auf, was alles fehlte. Eigentlich hatte sie nur mehrere Arm- und Beinknochen, dazu einige Rippen und das Becken.

Sämtliche kleineren Skelettteile wie Hand- und Fußwurzelknochen oder Rückenwirbel fehlten. Auch das kam oft vor, wenn Laien die Knochen auflasen. Entweder waren die Teile von Tieren verschleppt worden oder vom Einsammelnden gar nicht als Knochen wahrgenommen worden, weil sie mit ihrer rundlichen oder würfelförmigen Gestalt Steinchen glichen.

Leider fehlte der Schädel, was eine Altersbestimmung deutlich erschwerte, aber wenigstens war das Becken dabei. Zwar konnte man auch an anderen Knochen das Geschlecht bestimmen, aber mit Schädel und Becken war es am einfachsten.

Maja betrachtete die breite, flache Beckenform. Eindeutig von einer Frau. Männer hatten ein hohes, schmales Becken, schließlich mussten sie ja auch keine Kinder austragen und gebären.

Aber ihre Gedanken eilten voraus. Vor der Geschlechtsbestimmung kam die Untersuchung, ob alle Teile von einer Person stammten. Am Sektionstisch neben ihr knirschte es. Raik Glaser hatte die Rippenschere angesetzt.

»Hoppla!«

Ingrid, die das Tun des Ausbildungsassistenten eben noch kritisch beäugt hatte, schaute herüber und hob fragend die Augenbrauen.

»Dieser Humerus hier …«, Maja deutete auf den Oberarmknochen, »… gehört nicht zu dieser Ulna.« Ulna war die Elle, einer der Knochen des Unterarms.

»Warten Sie einen Moment.« Ingrid vollführte eine wischende Handbewegung in Richtung Raik Glaser, dann trat sie an den Tisch. »Zeig mal.«

»Schau.« Maja hielt das schnabelartige Ende der Elle an die Gelenkrolle des Oberarmknochens. »Passt nicht. Sie ist auch viel zu kurz für diesen Humerus.« Alle Knochen eines normal gewachsenen Menschen standen zueinander in einem bestimmten Größenverhältnis. Es gab Maßtabellen zum Vergleich, die auch zur Größenbestimmung herangezogen wurden, aber Maja brauchte sie in diesem Fall nicht. Hier war der Fall eindeutig. Die Knochen gehörten zu zwei verschiedenen Menschen.

»Na, das ist ja ein schöner Schlamassel.« Ingrid verzog das Gesicht.

Durch ihr Gespräch aufmerksam geworden, kam nun auch Olli herüber. »Ich hatte gestern beim Auslegen schon so eine Ahnung, wollte dich aber nicht schon vorher beeinflussen.« Normalerweise mischten sie sich nicht in die Arbeit der Kollegen ein, jedes Team obduzierte seine eigenen Leichen und dokumentierte die Ergebnisse, aber Olli hatte schließlich die Knochen entgegengenommen, und so war ihm ein bisschen Neugierde nicht zu verdenken.

»Du sagst es.« Maja zeigte auch ihm die beiden Armknochen, und er nickte bedächtig.

»Hab ich also recht gehabt … Da kommt einiges auf uns zu.«

»Es gibt eben immer wieder Überraschungen. Na dann, viel Spaß noch.« Ingrid drehte sich um und marschierte zurück zu ihrem Sektionstisch.

Im Hintergrund kreischte die Knochensäge. Alfred hatte unbeeindruckt von ihrem Gespräch weitergearbeitet.

»Dann bleibt mir mal wieder nichts anderes übrig, als die Kripo zu informieren, wenn ich hier fertig bin.« Maja dachte an Kriminaloberkommissar Andreas Melzer. Letztes Jahr hatten sie gemeinsam den »Bluttänzer«-Fall bearbeitet, und sie war das Gefühl nicht losgeworden, dass er mit ihr geflirtet hatte. Nachdem der Täter festgenommen worden war und in U-Haft saß, hatten sie sich jedoch irgendwie aus den Augen verloren. Vielleicht war das hier die Gelegenheit, den Kontakt wieder aufleben zu lassen.

Während sie zusah, wie Olli die Knochen noch einmal prüfte, überlegte Maja, ob sie das überhaupt wollte. War sie bereit für eine neue Beziehung? Nach der Scheidung von Jörg, die eine Folge von Hannahs Verschwinden gewesen war, hatten ihr der Antrieb und die Entschlossenheit für ernsthafte Kontakte zu Männern gefehlt.

»Da gibt es keinen Zweifel.« Olli streckte sich mit einem Ächzen. »Das sind zwei verschiedene Individuen. Hast du die Kallusbildung an der linken Speiche gesehen?« Er zeigte auf den verdickten Teil am Unterarmknochen, der sich wie eine knöcherne Manschette um den Schaft gelegt hatte.

Maja nickte. »Die rechte sieht ähnlich aus.«

»Du weißt, was das heißt?«

Wieder ließ Maja den Kopf wippen. Sie wusste genau, wodurch eine solche Kallusbildung hervorgerufen wurde und was das für den Betroffenen bedeutet hatte.

5

»Maja, mach die Tür auf!« Peter Holzings Stimme klang energisch. Zuerst hatte er Sturm geklingelt – was sie jedes Mal in Rage versetzte –, jetzt hämmerte er zudem gegen den Türrahmen.

»Ich bin unterwegs!« Maja hörte den verärgerten Klang ihrer Stimme, während sie über einen der Stiefel stolperte, die sie vorhin beim Nachhausekommen achtlos im Flur abgestreift hatte.

Peter war ihr ältester Freund. Sie kannten sich schon vom Gymnasium und hatten zusammen Medizin studiert, bevor sie sich für längere Zeit aus den Augen verloren hatten. Seit einigen Jahren waren sie wieder näher zusammengerückt, und auch wenn Peter nicht besonders emotional war, gab es doch ein unsichtbares Band zwischen ihnen, das über bloßes Befreundetsein hinausging. Ab und zu verschwand der Freund von der Bildfläche und war dann nicht zu erreichen. Maja erfuhr nie, wo er sich aufhielt und was er dort tat, und mittlerweile hatte sie es aufgegeben nachzubohren. Auch jetzt lag sein letzter Besuch etliche Tage zurück. Exakt zwei Wochen, um genau zu sein. Und genau wie heute tauchte er dann unverhofft wieder auf und tat so, als wäre er nie weg gewesen. Unverbesserlich. Sie lächelte kurz, setzte dann einen mahnenden Gesichtsausdruck auf und öffnete die Tür.

»Ich habe Pizza mitgebracht!« Freudestrahlend streckte er ihr den Karton entgegen.

»Wo warst du?«

»Das willst du nicht wissen.« Er schob die Wohnungstür mit dem Fuß zu und grinste sie spitzbübisch an. »Eine schöne heiße Pizza mit viel Käse. Dazu trinken wir ein Glas Rotwein!«

Noch ehe sie protestieren konnte, war er schon in der Küche verschwunden. Schranktüren klapperten. Maja schüttelte den Kopf und folgte ihm. »Für mich keinen Wein, bitte.«

»Ach was. Jeder ein Glas. Wir müssen doch nicht die ganze Flasche trinken.«

»Nein.«

»Eben. Ich trinke auch allein.« Das war das Schöne an Peter. Er nahm das, was sie sagte, einfach hin. Keine Diskutiererei, kein Gemaule, kein Willst-du-es-dir-nicht-doch-anders-überlegen.

»Alkohol gibt’s bei mir nur noch am Wochenende.«

»Sehr löblich, liebe Maja.« Peter zog das Messer durch den Teig. »Essen wir hier?«

»Hier oder im Wohnzimmer, wie du willst.«

»Dann hier. Bring mir mal den Korkenzieher, bitte.«

»Sofort, Chef.« Maja ging zum Fenster und sah einen Moment lang auf die schwarzglänzende Straße hinunter, ehe sie die Gardinen zuzog. Es war noch nicht mal sechs und schon dunkel.

»Wie war’s auf der Arbeit?« Er hob sein Glas und prostete ihr zu.

Peter Holzing würde auch heute nichts über seine Aktivitäten in den letzten beiden Wochen erzählen, fragen hatte keinen Zweck. Sein Interesse an ihrer Arbeit jedoch war ehrlich. Peter liebte alles, was mit Rechtsmedizin zu tun hatte. Oder besser gesagt – die Bereiche ihrer Tätigkeit, die auf Verbrechen fußten.

Heute habe ich was für dich. Und ich muss nicht mal personenbezogene Details preisgeben. Maja dachte an die Skelettteile, während sie beobachtete, wie Peter Pizza auf ihre beiden Teller bugsierte.

»Heute hatte ich einen außergewöhnlichen Fall.« Sie lächelte, als sie sah, wie Peters Augen zu funkeln begannen. »Ein Knochenpuzzle.«

»Ich kann es kaum erwarten, Details zu hören!«

Während sie ihm erklärte, was sie bei der Untersuchung der Knochen gefunden hatte, schob er sich ein Stückchen Pizza nach dem anderen in den Mund. Sein enthusiastisches Nicken zum Zeichen, dass er aufmerksam zuhörte, wäre gar nicht nötig gewesen. Maja konnte auch so sehen, dass ihn der Fall faszinierte.

»Also waren es mindestens zwei Leichen?«

»Exakt.«

»Beides Frauen?«

»Bei einer ist das sicher, da habe ich das Becken.« Sie musste Peter nicht erklären, was ein weibliches Becken auszeichnete. Schließlich hatte er selbst Medizin studiert. Auch wenn das lange her war und er nie in diesem Beruf gearbeitet hatte – bestimmte Sachen vergaß man nicht.

»Die Knochen der zweiten Leiche konnte ich nicht eindeutig zuordnen. Es fehlen eine Menge Teile, vor allem die Schädel. Da muss das Labor ran und die DNA untersuchen. Jedenfalls haben wir zwei Tote, die nicht fossil sind. Von allein sind die Skelette nicht in den Wald gewandert. Wir müssen da nochmal hin und alles gründlich untersuchen. Ich habe gleich die Kripo angerufen. Morgen …«

»Halt!« Peter hatte sie mitten im Satz unterbrochen. »Nicht so voreilig. Immer schön der Reihe nach.« Er schob den Teller von sich und zuckte entschuldigend mit den Schultern, als er ihren Gesichtsausdruck sah. »Du kennst mich doch. Ich muss immer alles ganz genau wissen. Wie alt waren die Personen, als sie zu Tode kamen?«

»Das ist schwierig. Im Normalfall beurteilen wir dazu ja den Obliterationsgrad der Schädelnähte und den Zahnstatus.« Maja sah die Zickzacklinien zwischen den Knochen vor sich. Je älter der Betreffende wurde, umso stärker wuchsen sie zusammen. Für den Verwachsungsgrad gab es Tabellen, nach denen man einen Mittelwert für das Alter erhielt. Auch die Verknöcherung der Gaumennähte wurde miteinbezogen.

»Denkst du, dass ihr die Schädel noch findet?«

»Könnte sein. Wenn wir Glück haben …« Maja sah zu, wie Peter trank. Die Gier nach dem Wein brachte sie fast um, aber sie wollte ihren Vorsätzen unbedingt treu bleiben. Alkohol, so hatte sie sich vor einigen Wochen geschworen, gab es nur noch an den Wochenenden, an denen sie keinen Dienst hatte. »Tiere verschleppen Knochen oft kilometerweit.«

»Also kannst du nichts über das Alter sagen.«

»Nun, ganz so unklar war es dann auch wieder nicht. Ich hatte ja schließlich ein komplettes Becken und diverse Langknochen zur Verfügung. Am Schambeinkamm gibt es, wie du ja sicher noch weißt, die Facies symphysialis.«

»Die der Schambeinfuge zugewandte Seite, ich weiß. Und wenn ich mich recht erinnere …«, er goss sich Wein nach, »… lässt sich auch an den Wachstumsfugen der Röhrenknochen das Alter recht gut bestimmen. Sie schließen sich beim Menschen erst ab dem neunzehnten Lebensjahr vollständig.«

Maja zog ihre Hand zurück, die sich wie ferngesteuert der Weinflasche genähert hatte, und biss sich kurz auf die Lippen. Peter beim Trinken zuzusehen war schwieriger, als sie es sich vorgestellt hatte.

»Das kommt darauf an. Am Ellenbogengelenk schließen sie sich zwischen dem vierzehnten und achtzehnten Lebensjahr, am Oberarmknochen bis zum vierundzwanzigsten, am Oberschenkel bis zum einundzwanzigsten, am Kniegelenk bis zum zwanzigsten und so weiter; bei Mädchen immer ein bis zwei Jahre eher.«

»Habt ihr die Knochen schon geröntgt? Wie alt waren denn nun deine zwei?«

»Beide noch recht jung. Die Frau, zu der das Becken gehörte, war höchstens zwanzig, eher jünger. Vom zweiten Skelett hatte ich nur eine Elle und ein paar Rippen. Aber sehr alt war die Person auch noch nicht.«

»Und die Statur?«

»Was du alles wissen willst …« Maja erhob sich und holte sich ein Glas Orangensaft zur Ablenkung. »Die junge Frau war höchstens eins fünfundsechzig, die andere Person noch kleiner.«

»Bestimmt auch eine Frau. Oder eher ein Mädchen.« Peter schaute starr geradeaus. Er schien sie nicht wahrzunehmen, während er laut über den Fall nachdachte. »Hast du die Liegezeit bestimmt?«

»Vorläufig und ungenau. Ich schätze sie zwischen fünf und zehn Jahre. Das hängt vom Boden und den Lagerungsbedingungen ab. Bei Waldboden ist davon auszugehen, dass er aufgrund der Humusbildung und der verrottenden Nadeln sauer ist. Solch einen Boden nennen wir ›tätig‹. Das heißt, die Zersetzung von organischem Material geht schneller vor sich. Wenn wir keinen hohen Lehmanteil haben, natürlich. Um es genauer zu ermitteln, muss ich mir den Boden vor Ort ansehen. Zudem lasse ich den Proteingehalt der Knochen bestimmen. Alles zusammen ergibt dann ein ganz gutes Bild.«

»Da steckt nichts Gutes dahinter, Maja. Zwei junge Mädchen, am gleichen Fundort, mitten im Wald vergraben. Denkst du das Gleiche wie ich?« Jetzt sah er sie direkt an. Seine Augen wirkten dunkler als sonst. Maja schwieg einen Moment lang, während sie vor ihrem inneren Auge wieder die gürtelförmigen Verdickungen an den Unterarmknochen vor sich sah. Auch an den Unterschenkeln hatte sie ähnliche Unregelmäßigkeiten im Knochenwachstum entdeckt.

»Ich habe mehrfache Kallusbildungen gefunden.«

»Bei beiden?« Peter sprach jetzt leiser.

»Ja.«

»Sind das nicht Spuren früherer Knochenverletzungen?« Er wedelte mit der Hand. »Also ich meine Verletzungen, die zu Lebzeiten entstanden sind?«

»Exakt.«

»Wow!« Jetzt klang er begeistert, und Maja schüttelte leicht den Kopf. Es war immer das Gleiche. Je drastischer es wurde, umso fesselnder fand Peter die Sache.

»Und diese Veränderungen an den Knochen lassen sich eindeutig von postmortalen Defekten abgrenzen?«

»Aber sicher.«

»Wie?« Trotz ihrer Einsilbigkeit gab er nicht auf. Peter Holzing war fasziniert von jeder Art von Verbrechen. Je abscheulicher, desto besser. Manchmal hatte Maja den Verdacht, dass er sich nur deswegen mit ihr abgab, weil sie solche Insiderinformationen kannte.

»Nun, prämortale Verletzungen an Knochen zeigen zuerst einmal Zeichen von Entzündungsprozessen rund um die betroffene Stelle. Danach beginnen Heilungs- und Umbauprozesse. Man nennt das ›bone remodeling‹.«

»Das habe ich schon gelesen. In einem Artikel auf implantate.com. Da ging es zwar um Zähne, aber das Prinzip ist wahrscheinlich überall gleich. Lebendes Knochengewebe reagiert damit auf Traumata, also Wunden.«

Maja stützte das Kinn auf die verschränkten Hände. Noch etwas war besonders an ihrem Freund. Er erinnerte sich Wort für Wort an alles, was er jemals gelesen hatte. Peter Holzing hatte ein fotografisches Gedächtnis.

»Echt spannend. Weißt du auch, welche Ursachen so ein Narbengewebe, wie ihr es gefunden habt, hervorrufen?«

»Ja, auch das.« Maja atmete laut aus, wusste aber gleichzeitig, dass Peter ihr Unmut egal war. Er würde sie ausquetschen, bis sie alles preisgegeben hatte, was sie wusste.

»Eine Kallusbildung in Gürtelform entsteht nach Brüchen an langen Röhrenknochen, die nicht fachgerecht versorgt werden. Im Normalfall ist es doch so: Jemand bricht sich den Arm oder das Bein, der gebrochene Knochen wird medizinisch versorgt, wieder passgenau zusammengefügt und fixiert. Die Bruchenden wachsen gerade zusammen. Man sieht zwar später im Röntgenbild noch, dass da mal ein Bruch vorgelegen hat, aber es bildet sich kein wulstiges Narbengewebe.«

»Das entsteht demnach nur, wenn es keine medizinische Versorgung gab.« Er schloss kurz die Augen, und Maja ließ ihn nachdenken. »Diese Kallusbildung hatten also beide. An mehreren Röhrenknochen. Wie lange dauert es, bis sich so etwas entwickelt?«

»Wochen … Monate …« Maja sah zum Fenster. »Ich habe auch indirekte Spuren von Weichteilveränderungen gefunden.«

»Muskelverletzungen?«

»Ja. Wenn der Muskel durch äußere Gewalteinwirkung gewaltsam gegen einen darunterliegenden Knochen gequetscht wird, kann ein Teil abreißen.«

»Dann fasse ich mal zusammen.« Peter trank den letzten Schluck Rotwein und hob den Daumen. »Erstens: Wir haben zwei Tote, beides junge Mädchen wahrscheinlich, die vor etwa fünf bis zehn Jahren dort vergraben wurden.« Der Zeigefinger gesellte sich zum Daumen. »Zweitens: Bei beiden finden sich verheilte, aber unbehandelte Knochenbrüche.« Und der Mittelfinger. »Drittens: Außerdem muss es zusätzlich stumpfe Gewalt gegeben haben. Tritte oder Schläge zum Beispiel.« Er hielt inne und schloss die Finger zu einer Faust. »Bei deinen Skeletten handelt es sich eindeutig um Opfer von Gewaltverbrechen. Vermisst denn niemand diese Mädchen?«

»So weit sind wir doch noch gar nicht, Peter.« Maja verscheuchte die Gedanken an ihre Tochter, die seit nunmehr fünf Jahren verschwunden war. Im Institut war ihr gar nicht in den Sinn gekommen, dass auch Hannah eines Tages als Skelett auf ihrem Tisch liegen könnte, dass sie ihr eigenes Kind vor sich hatte und es nicht merkte. Sie seufzte und rieb sich die Augen. So etwas darfst du nicht denken, Maja. Hannah lebt noch. Du musst nur fest genug daran glauben. Eines Tages wird sie vor deiner Tür stehen und lächeln. Als wäre sie nie weg gewesen. Hannah war in Budapest verschwunden. Der erste Urlaub allein mit ihrem Freund Caspar. Wie glücklich sie damals gewesen war … Maja schluckte und schielte auf die Weinflasche. Ein Glas war noch drin.

»Denkst du grade an deine Tochter?«

Anscheinend konnte Peter jetzt auch noch Gedanken lesen.

»Sie ist in Ungarn verschwunden.«

»Verstehe.« Peter ersparte ihr weitere Kommentare. Natürlich wusste sie selbst, dass das nicht unbedingt etwas heißen musste. Aber wenn man Teile eines weiblichen Skeletts in einem Wald im Erzgebirge fand, sprach das dafür, dass das Opfer auch hier gestorben war.

»Du sagtest vorhin, du hättest die Kripo informiert?«

»Gleich nachdem ich mit den Untersuchungen fertig war. Morgen früh treffen wir uns mit dem Polizisten, der die Knochen vor Ort eingesammelt hat, und checken den Fundort gründlich durch.«

»Wer ist wir?«

»Nun, zwei Kollegen von der Kriminalpolizei, ich und einer unserer Assistenzärzte.«

»Jemand, den ich kenne?«

»Meinst du von den Kripoleuten?«

Peter zog die Augenbrauen nach oben. »Muss ich darauf antworten?«

»Nein, eigentlich nicht. Kriminaloberkommissar Melzer kommt mit.«

»Oh, dein Verehrer von letztem Jahr!« Peter grinste spitzbübisch, als er sah, wie sie die Stirn runzelte.

»Andreas ist nicht mein …«

Er unterbrach sie mit einer Handbewegung. »Schon klar, Maja. Dass du aber auch jedes Mal darauf reinfällst! Was hofft ihr zu finden?«

Betrübt sah Maja, wie Peter sich auch den Rest aus der Flasche einschenkte. Aber vielleicht war es besser so. Die psychologische Hürde, selbst eine Flasche zu öffnen, war deutlich höher, als sich den Rest aus einer angebrochenen zu genehmigen.

»Zum einen natürlich noch weitere Skelettteile, die der Polizist gestern übersehen hat. Dann werden wir versuchen herauszufinden, wie die Leichen lagen, und Bodenproben mitnehmen. Die Kripo wird den Boden rund um den Fundort auf weitere Spuren wie Kleidungsreste, Knöpfe oder Reißverschlüsse untersuchen. Ganz wichtig für uns sind die Schädel. Die wären auf jeden Fall aufgefallen, deshalb lagen sie mit Sicherheit nicht am Fundort der anderen Knochen. Wenn wir Glück haben, wurden sie von Tieren nicht allzu weit weggeschleppt.«

»Klingt nach allerhand Arbeit. Hoffentlich habt ihr Erfolg.« Es klang eher so, als bedaure Peter, dass er nicht einfach mitkommen und sich das alles vor Ort ansehen konnte. »Ich rufe dich dann morgen Abend mal an.«

Er fragte gar nicht erst, ob ihr das recht war. Und sie musste nicht fragen, warum er sie anrufen wollte. Es war wie immer: Wenn sie einen spannenden Fall hatte, etwas, das Peter interessierte, drangsalierte er sie so lange, bis er alle Einzelheiten erfuhr. Manchmal waren seine Überlegungen für den Fortgang der Ermittlungen sogar nützlich, auch wenn sie der Kripo nicht erzählen durfte, wer sie beraten hatte. Und auch jetzt hatte der Freund schon weitergedacht.

»Irgendwer muss klären, wer die Opfer waren, wie ihre Leichen dorthin gekommen sind und vor allem wie sie getötet wurden und wo sie vorher waren.« Peter sah ihr direkt in die Augen, ehe er fortfuhr. »Jemand muss sie gefangen gehalten und gequält haben. Und diesen Jemand gilt es zu finden. Hoffentlich gibt es nicht noch mehr Opfer.«

6

»Diesmal machen wir es richtig.« Maja betrachtete den aufgewühlten Waldboden und wartete dann, bis Dirk Wilhelm ein paar Fotos geschossen hatte. Ihre Äußerung war nicht ganz korrekt, denn an diesem Fundort waren sie und ihre Kollegen noch nicht gewesen. Aber es protestierte auch niemand. Die Männer wussten, was sie meinte. Ein eisiger Wind rüttelte an den Ästen der Bäume und fuhr ihr unter den Kragen. Maja zog den Reißverschluss bis zum Kinn hoch.

»Sieht aus, als hätten hier Wildschweine gehaust.« Kriminaloberkommissar Andreas Melzer, der in der Mordkommission im Kommissariat 11 der Kriminalpolizeiinspektion Chemnitz arbeitete, tippte mit der Schuhspitze auf das Moos. Sein junger Kollege, den sie noch nicht kannte, hatte sich als Patrick Kohlmann vorgestellt.

»Leider ja. Vielleicht sind sie noch mal hier gewesen, nachdem der Spaziergänger – oder, besser gesagt, sein Hund – die Knochen gefunden und der Polizist sie eingesammelt hatte. Habt ihr eigentlich die Daten des Mannes?«

»Na klar. Zwei Kollegen sind schon unterwegs, um ihn zu befragen.«

»Gut. Dann wollen wir mal.« Maja öffnete ihren Koffer und ließ den Blick über die Ausrüstung gleiten. »Dein erster Skelettfund draußen?« Sie sah zu Dirk Wilhelm, der seit einigen Monaten als Assistenzarzt am rechtsmedizinischen Institut arbeitete und mal in Leipzig, mal in der Prosektur Chemnitz Dienst tat.

»Nein, ich hatte schon einen. Im August. Mit Frau Doktor Reichmann.«

»Dann kennst du dich ja aus. Was machen wir also zuerst?« Auch wenn dies nicht Dirk Wilhelms erste Knochenbergung war, würde sie ihm nicht alles kommentarlos vorplappern.

»Die Ermittlung der Befundumstände.«

»Genau. Aber dass es sich nicht um fossile Knochen handelt, wissen wir ja schon.« Maja nahm Schaufel und Pinsel aus dem Koffer und reichte sie dem Assistenzarzt. Wurden sie zu einem Skelettfund gerufen, bewahrte einen die genaue Untersuchung des Fundorts davor, historische Überreste als forensisch relevante Fälle aufzunehmen. Manchmal stieß man bei Bauarbeiten auf Reste alter Friedhöfe, deren Lage in Vergessenheit geraten war. Was sie hier mitten im Wald ausschließen konnten.

»Uns geht es heute vor allem um die Identifikation. Da ein räumlicher Zusammenhang zwischen Fundort und dem früheren Lebensumfeld der unbekannten Personen fehlt, müssen wir sämtliche Spuren besonders gründlich dokumentieren.« Sie sah zu den Kripobeamten. Jetzt hatte sie doch wieder das Zepter übernommen. »Ihr werdet die Umgebung absuchen, wir beide den Fundort hier. Dirk, erkläre doch den Beamten bitte, was wir machen werden.«

Erfahrene Beamte wie Andreas Melzer kannten das Prozedere, aber es ging Maja darum, den Assistenzarzt zu schulen und sich gleichzeitig auf die bevorstehenden Aufgaben zu konzentrieren.

ENDE DER LESEPROBE