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Ein Fantasieabenteuer voller Liebe, Magie und lustiger Begegnungen. Ideal auch fürs Vorlesen geeignet. Die Geschichte ist abenteuerlich, fantasievoll und spannend und garantiert nichts für kleine Angsthasen. Inhalt: Als Paolo endlich das erste Türchen seines geheimnisvollen Adventskalenders öffnen möchte, stößt er auf nicht zu erwartende Hindernisse. Er ist bewohnt. So unglaublich das auch klingen mag, in Paolos Kalender hat es sich ein winziges, pelziges Geschöpf gemütlich gemacht. Sein Name ist Kasimir, ein Wesen aus einer anderen Welt. Eine Welt voller Magie und zauberhafter Geschöpfe. Zwischen Paolo und Kasimir entwickelt sich eine unzertrennliche Freundschaft. Dann, endlich ist es soweit. Paolo und seine Schwester Lara werden von Kasimir in die Geheimnisse des magischen Adventskalenders eingeschworen. Für die beiden Geschwister beginnt ein fantastisches Abenteuer. Gemeinsam gehen sie auf die Suche nach dem Geheimversteck der Pauwdies. Pauwdies? Das sind kleine Geschöpfe aus Kasimirs Welt, die alles klauen, was sie zwischen die Finger kriegen. Paolo und Lara gelingt das scheinbar Unmögliche. Aber dann passiert es. Der Rückweg ist versperrt. Paolo und Lara, sind in der Welt der Pauwdies gestrandet und es gibt nur eine Chance zurück nach Hause, zu ihren Eltern zu kommen. Sie müssen es irgendwie schaffen, die Stadt der Pauwdies zu finden. Und sie haben nur 14 Tage Zeit, denn danach schließen sich die Himmelstore des magischen Adventskalenders für immer. Ein spannendes Fantasieabenteuer für Kinder. 4. Auflage: Was hat sich geändert? Fehlerteufel wurden ausgemerzt und die Kapitellängen wurden angepasst. Liebe Grüße, Ihre Sophie Lang alias Manuel Neff Bände dieser Reihe: Band 1: Der magische Adventskalender Band 2: Der magische Adventskalender & Das Licht der Weihnacht Band 3: Der magische Adventskalender - Aqua-Terra
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Seitenzahl: 433
Veröffentlichungsjahr: 2022
Impressum neobooks
Manuel Neff
Der magische Adventskalender
Über den Autor
Manuel Neff, geboren 1973 in Offenburg, studierte BWL in Saarbrücken. Anschließend arbeitete er viele Jahre im Projektmanagement bei einem mittelständischen Automobilzulieferer. Mittlerweile ist er als freiberuflicher Autor, Moderator und Yogalehrer tätig und lebt in der Grimmelshausenstadt Renchen. Der magische Adventskalender war sein Debütroman. Unter dem Pseudonym Sophie Lang, schreibt er auch dystopische Bücher für Erwachsene. Die Begnadet-Trilogie und die Violet- Reihe.
Nach der Veröffentlichung des zweiten Teils des magischen Adventskalenders, hat sich Manuel Neff einer neuen Buchreihe für Kinder und Jugendliche gewidmet: Element High - Die Schule der magischen Kinder
Manuel Neff
&
Sophie Lang
(Pseudonym)
Impressum:
Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.
Alle Rechte vorbehalten.
Copyright © 2019 by Manuel Neff, Renchen
3. Auflage, September 2021
Umschlaggestaltung: Manuel Neff unter Verwendung von Motiven von © justdd - Fotolia.com / © herryfaizal-Shutterstock.com
Sie finden den Autor im Internet unter www.manuel-neff.de
Für meinen Sohn Philip.
Die Erinnerungen
an jene vorweihnachtlichen Abende,
an das Vorlesen aus dem Manuskript
des magischen Adventskalenders,
sind voller Wärme und Glück.
Paolos leise Füße tapsten über den kalten Küchenfußboden. Er war so was von gespannt, welche Überraschung sich hinter dem ersten Türchen seines neuen Adventskalenders befinden würde.
Er hatte ihn von seinem Vater vor vier Tagen geschenkt bekommen und ihn sofort in der Küche aufgehängt.
Seine Eltern schliefen noch fest, als Paolo seine rote Taschenlampe anknipste. Er betrachtete seinen Adventskalender im Lichtschein der Lampe und fand, dass er wunderbar über die alte Küchenbank passte.
Der Kalender war aus dunklem Holz geschnitzt, das im Licht edel schimmerte. Er war etwa zehn Zentimeter dick und somit dicker als jeder andere Adventskalender, den Paolo kannte. Ihm war nicht ganz klar, ob es sich bei diesem Exemplar tatsächlich um einen echten Adventskalender handelte, denn er hatte 28 anstatt 24 Türchen.
Die Motive, die ihn schmückten, waren auch nicht gerade weihnachtlich. Bilder von Planeten und Sonnensystemen, die in goldenen Farben mit Linien verbunden waren, erinnerten Paolo eher an eine Sternenkarte als an Weihnachten.
»Zumindest die goldenen Farben passen ein wenig zu Weihnachten«, dachte er.
Aber eigentlich war es auch egal, schließlich kam es ihm mehr auf den Inhalt an. Und bei 28 Türchen durfte er ganze vier mehr aufmachen als seine Klassenkameraden.
Paolo war zehn Jahre alt und einen Meter vierzig groß. Eigentlich war er ein bisschen zu klein für sein Alter, aber das war nicht so wichtig. Schließlich kam es nicht so sehr auf das Äußere an, sondern auf das, was in einem steckt. Und in Paolo schlummerte eine Menge. Vor allem Mut und Tapferkeit und außerdem war er zäh. Er hatte auf andere Menschen eine besonders anziehende, magnetische Ausstrahlung, was ihn bei seinen Freunden sehr beliebt machte.
Aber das war in diesem Augenblick nicht so wichtig, denn jetzt stand er vor seinem Adventskalender und suchte mit seinen braunen Augen das 1. Türchen, auf das er sich schon so freute.
»Bestimmt ist leckere Schokolade drin«, dachte er, als er es gefunden hatte und sich schon daran zu schaffen machte. Nach zwei vergeblichen Versuchen das Türchen zu öffnen, musste Paolo aber feststellen, dass an diesem Kalender das Türchenaufmachen nicht so einfach war.
»Gibt es vielleicht einen besonderen Mechanismus«, überlegte er und kratzte mit seinen Fingernägeln an dem schmalen Türspalt herum. Möglicherweise würde er es aufhebeln können? Er bemühte sich eine Weile, schaffte es aber nicht.
»Das kann jetzt nicht wahr sein«, dachte er. »So schwer ging das im letzten Jahr aber nicht auf! Kann man die Türchen gar nicht öffnen?«
Er legte seine rote Taschenlampe so auf den Küchentisch, dass ihr Strahl genau den Kalender traf. Dann versuchte er, mit seinem Daumen das Holz nach innen zu drücken. Erst vorsichtig und dann, als es nicht nachgab, immer stärker, bis sein Daumen ganz rot war. Ungläubig schaute er auf das Türchen und lutschte an seinem Finger.
»Gab es da irgendeinen Trick oder eine Kindersicherung? Ein Adventskalender mit Kindersicherung? Das ist Quatsch, so etwas gibt es nicht!«
Nachdem er den Kalender ausgiebig untersucht hatte und keine Kindersicherung entdecken konnte, unternahm er einen weiteren Versuch, das verflixte Türchen aufzubekommen. Mit der linken Hand drückte er gegen den Adventskalender und mit der rechten zog er daran.
Und tatsächlich, einen kleinen Spalt weit konnte er das Türchen öffnen.
»Endlich«, sagte er erleichtert. Er fasste es an seinem offenen Ende und wollte es aufziehen. Aber es rührte sich keinen Millimeter.
»Was ist das? Warum geht das Ding denn nicht auf?«
Paolo verstand die Welt nicht mehr. Eigentlich war das Türchen doch schon offen. Er nahm die Taschenlampe und leuchtete in den winzigen Spalt. Er hatte mit allem Möglichen gerechnet.
Damit, dass die Schokolade verklemmt war oder dass ein Adventskaugummi das Ganze verklebt hatte. Aber das, was Paolo jetzt sah, war so überraschend, so unglaublich, so ganz und gar unmöglich…
»Das kann nicht sein! Das kann nur eine optische Täuschung sein«, sagte er und hielt die Taschenlampe ganz nah an den Spalt, um alle Schatten auszuleuchten.
Hinter dem Türchen schauten ihn zwei kleine schwarze Kulleraugen an. Paolo sah aber noch mehr. Winzigkleine pelzige Arme, die sich von innen an der Tür festkrallten.
»Hey lass sofort los! Nimm deine Hände da weg! Ich möchte jetzt meine Schokolade haben!«, schnauzte Paolo.
»Nö!«, grinste das kleine Wesen frech, zog die Tür zu und ließ Paolo mit offenem Mund staunend in der Küche stehen.
Nach einem Augenblick kniff er sich in die Wange, nur um zu überprüfen, ob er noch schlief und dies nur ein übler Traum war.
»Au! Das tut weh!«
Das war der Beweis. Er war hellwach!
Plötzlich ging das Licht in der Küche an. Paolo hatte die Zeit ganz vergessen. Solange hatte er für das Öffnen des ersten Türchens nicht eingeplant. Als seine Mutter das Licht anknipste, erschrak er so heftig, dass er die Taschenlampe quer durch die Küche schleuderte, bis sie zu den Füßen seiner Mutter liegen blieb.
»Paolo?! Willst Du mich mit dem Ding erschlagen?«
Mit ihren blonden, langen verstrubbelten Haaren und dem rosaroten, zerknitterten Schlafanzug sah sie noch ziemlich verschlafen aus.
»Was machst du schon so früh in der Küche?«
»Ich äh ...«, fing Paolo an zu stottern, entschloss sich dann jedoch, einfach nichts zu sagen.
»Na ist schon gut mein Kleiner. Du brauchst nicht zu antworten. Ich kann es mir denken. Du wolltest bestimmt das erste Türchen deines außergewöhnlichen Adventskalenders aufmachen«, sagte sie und lächelte ihn lieb an. Jetzt stolperte auch Paolos Vater benommen in die Küche.
»Oh, seid ihr alle schon wach? Habe ich verschlafen?«, fragte er und gähnte, bevor er hoch zur Küchenuhr sah. Der große und kleine Zeiger standen dicht beisammen.
»Leute, es ist ja gerade mal halb sechs. Wer hat euch aus den Betten geworfen?«
Paolos Mutter gab seinem Vater einen Kuss und flüsterte ihm ins Ohr.
»Oh, der Adventskalender. Verstehe. Da hätte ich auch selbst drauf kommen können. Und Paolo? Sag schon, was war drin?«, fragte er und musterte seinen Sohn.
Paolo hatte immer noch einen so dicken Kloß im Hals, dass er keinen Ton herausbrachte. Er schaute den Adventskalender an, dann seinen Vater und zuckte mit den Schultern.
»Na das Ding hat dir wohl die Sprache verschlagen, was? So einen tollen Kalender hatten wir noch nie. Ich habe dir ja schon erzählt, wo ich ihn gekauft habe.«
»Ja Papa, das hast du.«
»Habe ich ja? Na ja, egal ich erzähle die Geschichte so gern, da kommt es auf ein weiteres Mal nicht an.«
»Papa bitte nicht, ich kenne sie schon auswendig.«
Doch Paolos Vater schien seinen Sohn nicht zu hören.
»Letzte Woche war ich in Hamburg und unten am Hafen war so ein uriger, alter Weihnachtsmarkt. Die Stände sahen aus wie im Mittelalter. Echt jetzt, ich hätte mich nicht gewundert, wenn ich einen rostigen Ritter gesehen hätte. Auf jeden Fall bin ich so durch die Reihen der Weihnachtsstände geschlendert, als mir eine seltsame Bude, vollgestopft mit uraltem Zeugs, ins Auge viel. Der runzlige Opa mit den weißen Haaren, dem der Stand gehörte, fragte mich, ob ich etwas suchen würde. Ich sagte prompt, dass ich einen aufgeweckten Jungen habe und etwas Besonderes für ihn suche. Der Alte legte seine Stirn in tiefe Falten und fragte mich nach deinem Namen. Als er ihn wusste, blitzten seine Augen auf und er sagte: Oh, ihr Sohn heißt Paolo. Ich habe schon auf Sie gewartet. Für Sie habe ich genau das Richtige. Dann durchstöberte der Alte eine große Kiste und kramte diesen Adventskalender heraus. Er sagte, es sei ein ganz seltenes Exemplar. Vermutlich gibt es ihn nur einmal auf der Welt. Extra für Paolo. Na, das habe ich ihm natürlich nicht geglaubt. Irgendwie gehörte diese Show des Alten zu dem ganzen Auftritt seines Weihnachtstands dazu. Aber toll war es schon, wie er mich nach deinem Namen gefragt hat und so. Und der Kalender sieht doch wirklich hübsch aus, findet ihr nicht auch?«
Paolo sagte nichts und sah die Geschichte seines Vaters heute Morgen aus ganz anderen Augen. Er war sich jetzt nicht mehr so sicher, ob der alte Mann nicht doch die Wahrheit gesagt hatte.
Paolo überlegte kurz, dann kam ihm eine Idee.
»Paps kannst du bitte das erste Türchen aufmachen?«
»Meinst du wirklich? Aber du bist doch extra deswegen so früh aufgestanden.«
»Ja schon, aber ich habe es mir anders überlegt. Ich finde, du hast es verdient, das erste Türchen aufzumachen.«
Inzwischen tröpfelte und zischte der Kaffee durch die Kaffeemaschine und Paolos Mutter begann den Frühstückstisch zu decken.
»Also dann mach schon das Türchen auf, danach kannst du mir helfen den Tisch zu richten, während Paolo sich für die Schule fertig macht«, sagte sie.
Paolos Vater gehorchte und ging zum Adventskalender. Er suchte kurz, bis er das erste Türchen gefunden hatte, und Paolo war sprachlos, dass es sofort aufging. Ganz einfach, ohne jede Anstrengung.
»Oh!«, sagte sein Vater erstaunt. »Was? Was ist denn das? So etwas habe ich ja noch nie gesehen. Kommt schnell her, das müsst ihr euch ansehen.«
»Was Papa, was ist denn drin? Was ist es? Sag schon!«, hüpfte Paolo aufgeregt um seinen Vater herum. »Was hast du noch nie gesehen?«
»Ein sooooooo schönes Schokoladenherz«, sagte sein Vater.
Zwei Stunden später saß Paolo neben seiner besten Freundin Eva im Matheunterricht und konnte sich nur mit größter Mühe auf die Algebraaufgaben konzentrieren. Seine Gedanken kreisten um die Kulleraugen und das Wesen, das aus dem Adventskalender zu ihm gesprochen hatte.
»Paolo, bist du okay? Du stierst ja Löcher in die Tafel.«
»Was? Ja! Alles gut.«
»Bist du sicher? Du bist ja ganz weiß im Gesicht!«
»Ist schon okay. Ich habe heute Nacht nicht so viel geschlafen«, sagte Paolo und musste dazu nicht einmal schwindeln.
»Wieso? Was war denn los? Heute Nacht?«, fragte Eva interessiert.
»Heute Nacht? Äh, na ja eigentlich nichts, ich konnte einfach nur nicht besonders gut einschlafen.«
»Das kenne ich, das geht mir manchmal auch so. Ist ziemlich ätzend.«
»Eva, sag mal, hast du schon mal etwas von einem Adventskalender gehört, in dem jemand wohnt?«, flüsterte Paolo.
»In dem jemand wohnt?«
»Ja, Tiere oder so was.«
»Tiere? Meinst du vielleicht Mäuse?«, Eva musste kichern, was sofort die Aufmerksamkeit ihrer Mathelehrerin auf sie zog.
»Was ist denn da los mit euch beiden? Ich möchte um Ruhe bitten! Nächste Woche Mittwoch schreiben wir die letzte Mathearbeit vor den Weihnachtsferien. Ihr solltet besser üben und aufpassen, anstatt zu quatschen. Wenn ich euch noch einmal erwische, dann gibt es eine Strafarbeit!«, ermahnte sie Frau Kuhstall.
In der großen Pause startete Paolo noch einmal einen Versuch, mit Eva über den Adventskalender zu sprechen.
»Also ich habe ja schon viel gehört, aber lebende Tiere in einem Adventskalender, das ist mir so was von neu. Stell dir nur mal die armen Dinger vor. Die müssen 24 Tage im Dunkeln ausharren. Also ehrlich, das gibt´s nicht«, sagte Eva. »Wo hast du die Story denn her?«
»Na aus dem Fernsehen«, log Paolo schnell.
»Okay dann ist alles klar. Den Leuten aus dem Fernsehen kann man nichts glauben. Hast du das denn nicht gewusst? Am besten ist es, wenn du das Ganze schnell wieder vergisst. Tiere in einem Adventskalender? Also ehrlich. Totaler Blödsinn.«
»Ich denke, du hast recht«, meinte Paolo nachdenklich.
»Hey ihr beiden! Spielt ihr mit? Ihr verquatscht ja noch die ganze große Pause«, riefen Jonas und Alex, die mit Tischtennisschlägern bewaffnet an ihnen vorbei sausten.
»Gute Idee! Komm Paolo! Das tut dir gut, da bekommst du wieder Farbe ins Gesicht«, lachte Eva und zog Paolo hinter sich her.
Kalte Füße tapsten über den eisigen Küchenfußboden. Paolo war sehr gespannt darauf herauszufinden, ob er das zweite Türchen seines Adventskalenders heute Morgen öffnen können würde. Seine Eltern schliefen noch fest, als er ganz leise seine rote Taschenlampe anknipste.
Er stand in der Küche und sie warf einen Strahl hellen Lichts auf das dunkle Holz. Das erste Türchen war offen und machte ihn zuversichtlich. Paolo suchte das Nächste und fand die goldene Ziffer Zwei rechts unten, direkt neben einer kleinen, strahlenden Sonne.
Er hatte sich vor dem Einschlafen eine Strategie überlegt, wie er sich verhalten würde, falls er das Türchen wieder nicht aufbekommen sollte.
Konzentriert machte er sich ans Werk. Mit dem Fingernagel kratzte er an dem 2. Türchen herum. Seine Zungenspitze bewegte sich dabei von einem Mundwinkel zum anderen. Die Öffnung war jetzt schon so breit, dass er seinen Finger wie einen Türstopper hinein schieben konnte.
»Ich hab’s geschafft! Bin ich gut!«, jubelte Paolo leise. »Das Ding geht jetzt nicht mehr zu!« Kaum waren die Worte über seine Lippen gehüpft, durchfuhr seine Fingerkuppe ein fürchterlicher Schmerz.
»Aaaahh, verflucht tut das weh«, japste Paolo und zog seinen pochenden Finger heraus. Im Licht der Taschenlampe schaute er ihn an. Aus zwei winzigen Löchern quoll etwas Blut hervor.
»Blut! Das ist ja echtes Blut. Es hat mich gebissen! Es hat nur darauf gewartet, meinen Finger abzubeißen«, dachte Paolo.
Er kochte vor Wut. Er wollte auf seine Mutter warten und dann würde er ihr alles sagen und sie würden zusammen das Türchen aufreißen und dem kleinen Mistkäfer mal zeigen, wo der Hammer hing. Aber was, wenn dann wieder nur ein Schokoherz hinter dem Türchen wäre? Was, wenn das kleine Monster sich versteckt? Was dann? Seine Mutter würde wohl sicher glauben, dass er spinnen oder das seine Fantasie mit ihm durchgehen würde und dann würde sie schimpfen, dass er zu wenig Schlaf hätte. Sie würde sagen, er müsse abends früher ins Bett gehen und das wollte er auf gar keinen Fall. Also beschloss Paolo, seinen Eltern nichts zu erzählen und alles erst einmal für sich zu behalten.
Irgendwie musste er es schaffen, dieses verflixte Türchen aufzubekommen! Doch zuerst lutschte er das Blut von seinem Finger. Es schmeckte nach Eisen.
Danach legte Paolo die Taschenlampe, wie am Tag zuvor, auf den Küchentisch. Sie ließ die Planeten goldgelb erstrahlen. Paolo sah Richtung Küchentür. Niemand außer ihm war wach.
Jetzt kam seine Strategie zum Einsatz.
»Na gut, dann wollen wir mal sehen, was du drauf hast«, sagte Paolo und klopfte sachte an das Türchen. Nichts geschah.
Er versuchte es noch einmal, jetzt stärker.
Als Echo auf sein Klopfen hörte er etwas rumpeln.
Paolo beugte sich gefährlich nahe an den Kalender heran. Sein rechtes Ohr war jetzt ganz nah am 2. Türchen. Dahinter machte sich das Wesen eindeutig zu schaffen und gerade, als er ein drittes Mal anklopfen wollte, hörte er die Stimme des kleinen Monsters.
»Was gibt’s denn?«
Paolo war stolz und überrascht. Sein Plan hatte Erfolg. Er war einen Schritt weiter gekommen. Aber was ihn am meisten freute war, dass er es nicht mit Gewalt, sondern mit Freundlichkeit geschafft hatte. Das erinnerte ihn an die Worte seiner Oma:
»Denk immer daran mein Kind, man erntet, was man sät. Also sei allzeit freundlich, herzlich und nett zu Anderen und sie werden es auch zu dir sein.«
Paolo hatte jetzt aber ein ganz anderes Problem. Er hatte sich leider nicht überlegt, was er machen wollte, falls seine Höflichkeitsstrategie tatsächlich erfolgreich wäre.
»Äh, nun … ich, ich wollte eigentlich das zweite Türchen an meinem Adventskalender aufmachen, aber, aber du lässt mich nicht«, stolperte Paolo über seine eigenen Worte. Er dachte, es wäre jetzt das Beste, einfach die Wahrheit zu sagen.
»An deinem Adventskalender?«, fragte das Wesen. »Dieser Kalender gehört tatsächlich dir? Bist du dir sicher, was du da sagst?«
»Ja bin ich. Mein Vater hat ihn mir gekauft und wer oder was bist du eigentlich? Und was gibt dir das Recht, mich einfach daran zu hindern, die Türchen aufzumachen?«, fragte Paolo streng und vergaß dabei ganz, freundlich zu bleiben. Natürlich wartete er vergebens auf eine Antwort. Stattdessen ging das Türchen des Adventskalenders auf. Das kleine Wesen schaute heraus und Paolo konnte es für einen Augenblick sehen.
Sein ganzer Körper war mit einem braunen, weichen Fell bedeckt und es hatte dunkle, fast schwarze, sehr große, runde Augen. »Sieht eigentlich echt süß aus«, dachte Paolo. Er holte Luft, um sich für das Öffnen zu bedanken, da streckte der kleine pelzige Kerl seine rosa Zunge heraus und schwupps, klappte die Tür wieder zu.
Das Ganze ging so schnell, dass Paolo nur doof den Kalender anglotzen konnte.
Eine Sekunde später ging das Licht in der Küche an.
»Paolo was…? Du bist ja schon wieder wach!«, stellte seine Mutter fest. Paolo starrte immer noch ganz baff auf den Adventskalender. »Was machst du da? Hast du vor, das Ding zu hypnotisieren? Na ja, ist ja auch egal, wenn du schon mal wach bist, kannst du mir helfen. Wir decken zusammen den Frühstückstisch. Was hältst du davon? Und, hast du schon das zweite Türchen aufgemacht?«
»Nö, hatte noch keine Lust«, sagte Paolo launisch. Dann ging er zum Kühlschrank, holte die Butter heraus und klatschte sie samt Verpackung laut auf den Tisch.
»Na du hast aber eine gute Laune. Trotz alledem glaube ich kaum, dass die Butter etwas dafür kann«, lächelte seine Mutter freundlich. »Bitte stell das auch auf den Tisch, aber pass auf, es könnte beim Hinklatschen kaputt gehen. Und schau nach, ob Jojo schon da ist. Er hat bestimmt Hunger«, sagte sie und reichte Paolo die Erdbeermarmelade.
Als Paolo die Haustür öffnete, saß Jojo auf dem Treppenabsatz und leckte sich sein getigertes Fell.
»Miau, miauuu«, begrüßte ihn der gut genährte Kater und schmuste energisch an seinem Bein herum.
»Ist ja gut. Komm schon her Dicker, jetzt gibt es Fresschen«, sagte Paolo und hievte den übergewichtigen Kater in die Höhe.
Als er Jojo in die Küche schleppte, stieß er beinahe mit seinem Vater zusammen, der gerade aus dem Bad stolperte. Sein Gesicht war voller Rasierschaum und er machte noch einen ziemlich verschlafenen Eindruck.
»Guten Morgen Paps. Du hast da was Weißes im Gesicht.«
»Hallo Paolo, sag mal, hast du meinen Rasierer gesehen?«
»Nö, sorry, habe ich nicht. Ich glaube, gestern lag er noch neben den Zahnbürsten. Hast du dort schon nachgesehen?«
»Mhm, ja, aber da war er nicht«, sagte sein Vater und marschierte mürrisch zurück ins Bad.
Paolo setzte seinen Weg samt Kater in die Küche fort. Das Teewasser blubberte auf dem Herd und der Tisch war mit Brot, Butter, Käse und Marmelade reich gedeckt. Paolo kippte Katzenfutter mit Lamm-Hühnchengeschmack in Jojos Napf und kraulte den Kater zwischen den Ohren, der sich dabei schnurrend auf seine Hinterbeine stellte.
Ein paar Minuten später nahmen alle am Küchentisch Platz und seine Mutter goss dampfenden Tee ein. Der Duft von süßen Früchten kitzelte in Paolos Nase.
»Eigentlich trinke ich lieber Kaffee, aber dieser Tee riecht köstlich. Habe ich schon erwähnt, dass ich deine selbst gemachte Erdbeermarmelade liebe«, schmeichelte sein Vater seiner Mutter und biss ein viel zu großes Stück von dem üppig beschmiertem Brot ab. Dann sah er hinüber zum Adventskalender.
»Pamolo gefällt dir dein Amventskalemder eigentlisch nischt? Du hascht ja das zweite Türschen noch gar nischt aufgemacht?«, schmatze er mit vollem Mund und nahm dazu noch einen großen Schluck Tee.
»Ich mache es lieber auf, wenn ihr dabei seid. Das macht mehr Spaß«, meinte Paolo. Diese Antwort hatte er sich zurechtgelegt, als er Jojo beim Fressen zugeschaut hatte. Er hatte nämlich schon mit so einer Frage von seinem Vater gerechnet.
Dann drehte sich Paolo zum Adventskalender um. Das zweite Türchen schaute ihn herausfordernd an. Erst schob Paolo ganz langsam seinen Finger in den Spalt und dann riss er es ruckartig auf. Der Kalender wurde von der Wand weggerissen und flog wie ein Geschoss quer über die Köpfe seiner Eltern hinweg.
Jojo, der es sich gerade auf dem Lammfellteppich bequem gemacht hatte, sprang in die Höhe und galoppierte aus der Küche. Seine Mutter stierte mit herunterhängender Kinnlade auf ihren Sohn. Sein Vater spuckte Tee zusammen mit einer ordentlichen Menge Erdbeermarmeladenbrot auf den Frühstückstisch, direkt auf den Teller seiner Mutter. Igitt.
Paolo verhielt sich so, als ob nichts Außergewöhnliches geschehen wäre. Er schlenderte durch die Küche, hob den völlig unversehrten Kalender vom Boden auf und prüfte den Inhalt des zweiten Türchens. Dieses Mal war es kein Herz, sondern eine Schokoladenglocke. Er steckte sie in den Mund, lief schweigend an seinen, zur Salzsäule erstarrten, Eltern vorbei, drückte erst den Nagel zurück in die Wand und hing dann den Kalender wieder daran auf. Schließlich setzte er sich, ohne ein Wort zu sagen, zurück an den Tisch und roch genüsslich an seinem Früchtetee.
Am nächsten Morgen war Paolo sehr gespannt auf das 3. Türchen. Die ersten beiden Türchen standen offen. Paolo und Kater Jojo, der auf der Küchenbank geschlafen hatte, schauten auf das Dritte. »Heute ist der 1. Advent«, dachte Paolo. Die Sonntage in der Adventszeit waren für ihn immer ganz besonders schöne Tage. Es wurden Kerzen angezündet, Adventslieder gesungen und meistens gab es auch sein Lieblingsessen: Semmelknödel mit Sauerkraut und brauner Soße.
»Ich habe Verstärkung mitgebracht«, sagte er und hob den Stoffhasen seiner Schwester, den sie Lanzelot nannte und sein Schnuffelkissen, dem Paolo den Namen Thomas gegeben hatte, in die Höhe.
So konnte der Adventskalender die mitgebrachte Verstärkung gut sehen. Jojo, der etwas dicke Kater, miaute protestierend.
»Ja und du bist natürlich auch mit von der Partie«, sagte Paolo anerkennend und strich ihm sanft über das Fell.
Dann legte er die Taschenlampe auf den Küchentisch, atmete tief ein und klopfte am dritten Türchen an.
»Hallo? Ist jemand da?«, fragte Paolo so freundlich, wie er nur konnte.
»Ja, ich bin da«, sagte die Stimme hinter dem Türchen.
»Gut, gut«, dachte Paolo. »Jetzt nur keinen Fehler machen.«
»Würdest du mir heute Morgen bitte erlauben, das 3. Türchen aufzumachen?«
»Ja, wieso nicht«, sagte die Stimme prompt.
Paolo traute seinen Ohren nicht. Hatte das Wesen ja gesagt? »Warum ist es denn heute Morgen so einfach? Liegt es womöglich daran, dass ich höflich gefragt habe oder ist es vielleicht, weil ich Jojo, Thomas und Lanzelot als Verstärkung mitgebracht habe?«, überlegte er. »Vermutlich wegen beidem!«
Etwas zögerlich öffnete er das Türchen. Möglicherweise handelte es sich ja auch um einen Trick und wenn er darauf hereinfiel, dann würde das Ding ihm am Ende doch noch seinen Finger abbeißen. Gestern war es ja ganz schön knapp gewesen. Aber Paolos Bedenken waren unbegründet. Das Türchen ging ohne Zwischenfälle auf. Ein silberweißes Licht strahlte heraus und Paolo verengte seine Augen zu kleinen Schlitzen. Als er sich an die Helligkeit gewöhnt hatte und er den Inhalt des 3. Türchens sah, war er baff und konnte nur mit offenem Mund staunen. Die Öffnung war höchstens fünf Mal fünf Zentimeter groß und trotzdem konnte er jedes Detail wie durch ein Vergrößerungsglas erkennen.
»Hallo Paolo«, sagte das fremdartige Wesen freundlich. Seine Augen waren im Verhältnis zum Kopf extrem groß. Sie erinnerten Paolo an rabenschwarze Murmeln. Er konnte sein eigenes Spiegelbild in ihnen sehen. Das Wesen hatte Hände und Füße wie ein Mensch, bis auf zwei Unterschiede: Sie waren mit Fell überzogen und es waren jeweils sechs Finger und genausoviele Zehen vorhanden.
Paolo kannte kein Tier, das Ähnlichkeit mit diesem hier hatte - einmal davon abgesehen, dass das Wollknäuel sprechen konnte. Er musste zugeben, dass es immer noch sehr süß aussah, bis er sich wieder daran erinnerte, dass ihm das kleine Monster gestern fast einen Finger abgebissen hatte.
Das helle Licht kam von einer winzigen Laterne, in der ein silberweißes Feuer flackerte. Sie stand mitten in der kleinen Felsenhöhle hinter dem Türchen. Das Fellbündel saß gemütlich auf einem Stein, auf dem überall farbige, große Kissen übereinander lagen. Direkt gegenüber ragten zwei Regale bis unter die Höhlendecke. Sie waren randvoll mit hunderten, kleinen Glasfläschchen in den verschiedensten Farben.
Manche Flüssigkeiten leuchteten von alleine und beleuchteten das Regal in warmen Rot- und Gelbtönen. Andere reflektierten das Licht des Feuers in wunderschönen Orange-, Türkis- und Blautönen. Irgendwo dazwischen stand eine große, bauchige Flasche. In ihr pulsierte eine Flüssigkeit, die wie ein kleines Lebewesen in seinem Gefängnis waberte und dabei ständig die Farbe wechselte.
Über den Fläschchen drängten sich auf weiteren Regalböden ordentlich aufgereihte Holzkisten, aus denen schwarze, silberne und goldene Metallgegenstände ragten. Sie glichen den Hämmern, Sägen und Zangen in der Werkstatt von Paolos Vater, sahen aber für gewöhnliche Werkzeuge viel zu speziell und kostbar aus.
An der hinteren Höhlenwand stand ein riesiger Schrank. Er war augenscheinlich uralt und in ihm mussten mindestens tausend weitere der kleinen Fläschchen Platz haben. Die beiden schweren Schranktüren waren verschlossen und so blieb sein tatsächlicher Inhalt ein Geheimnis, das erst später gelüftet werden sollte.
Die Wände waren aus unebenem Fels gehauen und die gesamte Höhle hatte etwa die doppelte Größe eines Schuhkartons. Es gab keine Fenster und der einzige Ausgang aus der Höhle war das Türchen zur Küche. Paolo musterte das Wesen, das nicht größer war, als ein Daumen.
»Mein Name ist Kasimir«, sagte es. »Und das hier ist meine Höhle.«
Das Wesen saß bequem auf den Kissen und grinste Paolo an.
»Warum bist du auf einmal so nett?«, fragte Paolo.
»Ist doch ganz klar. Ich bin freundlich, weil du freundlich bist«, sagte Kasimir. »Du hast heute angeklopft und auch höflich gefragt, ob ich dir öffnen würde. Wenn jemand so freundlich ist, dann erlaube ich ihm, meine Höhle zu bestaunen.« Eine kleine Pause trat ein, in der Paolo über den Wahrheitsgehalt von Kasimirs Antwort nachdachte. Kasimir stand auf und machte eine einladende Geste mit seinen Armen, während er sich vor Paolo verbeugte.
»Wenn du willst, darfst du auch gerne in meine Höhle kommen«, sagte Kasimir noch immer lächelnd.
»Wie? In die Höhle? Zu dir hineinkommen? Da pass ich doch nie im Leben rein!«, sagte Paolo.
»Die Dinge, die du siehst, scheinen nicht immer das zu sein, was sie sind. Du denkst, meine Höhle ist zu klein für dich. Ich bin davon überzeugt, dass wir beide mehr als genügend Platz haben, um eine Party zu feiern. Wer von uns hat nun recht?«
Paolo überlegte.
»Versuche es doch einfach, wenn du dich traust«, sagte Kasimir.
»Wie denn, mit dem Fuß zuerst vielleicht?«, fragte Paolo und stellte sich dabei vor, wie er einen Fuß in den Adventskalender hinein steckte.
»Ihr Menschen und eure Beweise. Könnt ihr niemals einfach nur an etwas glauben? Muss man euch denn immer mit Beweismaterialien von der Wahrheit überzeugen? Na schön, was rege ich mich eigentlich auf. Du willst einen Beweis, dann sollst du einen bekommen«, sagte Kasimir griesgrämig und ging bis an den Rand des Türchens. Einen Schritt weiter und er wäre auf den Küchenboden gestürzt. »Wirf mir dein Kissen zu, dann wirst du es sehen«, fuhr Kasimir fort und streckte Paolo seine pelzigen Hände mit den sechs Fingern entgegen.
Paolo überlegte.
»Na schön, wieso nicht«, sagte er und nahm Thomas, sein geliebtes Schnuffelkissen, in die Hände. Dann schwang er seine Arme und warf es in Richtung Kasimir, direkt auf den Adventskalender zu.
Paolo hatte damit gerechnet, dass Thomas auf den Kalender prallen, und dann zu Boden fallen würde. Aber es kam ganz anders und es ging alles so schnell, dass Paolo Mühe hatte, das Gesehene zu verstehen.
Thomas schrumpfte während seines kurzen Fluges rasend schnell und schoss geradlinig auf das Türchen zu. Als er die Schwelle zum Höhleneingang überflog, war er so klein wie eine Erdnuss und Kasimir konnte ihn ohne Probleme auffangen. Er hob Thomas als Beweisstück hoch und lächelte, ehe er ihn zu den anderen Kissen hinter sich auf den Felsen warf.
»Hey, das ist mein Schnuffelkissen!«, rief Paolo. War das nur ein Trick gewesen? Kasimir hatte Thomas zu den anderen Kissen geworfen. Vielleicht war er ja ein mieser Kissendieb. Er hatte Thomas verloren, so ein Mist! Wie konnte er nur so blöd sein?? Dann hörte Paolo Schritte. Sie kamen vom Flur.
»Meine Eltern! Mist!« Er schaute auf die Uhr. »Was, schon so spät? Wo ist denn die Zeit geblieben?«, murmelte Paolo. »Mein Kissen! Mist! Mist! Ich muss mir Thomas zurückholen«, dachte Paolo.
Dann betrat Paolos Vater in einem giftgrünen Pyjama die Küche und machte das Licht an. Als er Paolo sah, zuckte er zusammen und griff sich an die Brust.
»Paolo? Junge, hast du mich erschreckt. Willst du, dass ich an einem Herzinfarkt sterbe. Was machst du denn hier? So ganz allein im Dunkeln?«
»Ich ähm…«
»Was ähm?«
»Ähm nichts…«
An diesem Morgen war ein Schokoladenschneemann hinter dem dritten Türchen. Paolo zündete die erste Kerze am Adventskranz an und zusammen sangen sie verschiedene Adventslieder. Hinter dem dritten Türchen kam an diesem Tag keine Höhle mehr zum Vorschein, egal wie oft Paolo das Türchen auf und wieder zugemacht hatte. Und das hatte er wirklich oft getan.
Nackte Füße und Pfoten tapsten über kalte Fliesen im Flur. Paolo und Kater Jojo waren auf dem Weg zur Küche. Heute Morgen würde er sich Thomas zurückholen, dazu war er fest entschlossen.
Lanzelot, den kleinen Stoffhasen seiner Schwester, hielt er an seinen langen Ohren in der linken Hand fest und seine rote Taschenlampe in der rechten. Er schlich bis an die Schlafzimmertür seiner Eltern, hielt an und lauschte. Erst als sich Paolo ganz sicher war, dass sie noch fest schliefen, schlich er weiter. Kein Geräusch war zu hören, auf so leisen Sohlen war er unterwegs. In der Küche angekommen, knipste er die rote Taschenlampe an. Ihr Licht war nicht mehr so hell wie an den Tagen zuvor. Es wurde langsam Zeit, die Batterien zu wechseln. Jojo drückte seinen Bauch fest an Paolos linkes Bein und rieb sich daran.
»Ja schon gut, du bekommst etwas zum Fressen«, flüsterte Paolo.
Der Kater schlabberte wie ein kleines Ferkel eine Portion Schmatzkatz leer, während sich Paolo mit Lanzelot dem Adventskalender zuwandte.
Vier Türchen standen offen. Paolo rieb sich mit den Fingern den Schlaf aus den Augen und machte sich daran, das Fünfte zu öffnen. Es lag genau in der rechten oberen Ecke des Kalenders. Aber irgendetwas stimmte nicht. Sah er gestern genauso aus? Er kratzte sich am Kopf und zerzauste seine ohnehin schon verstrubbelten Haare und dann fiel es ihm auf.
»Vier? Aber natürlich das ist es! Drei Türchen! Es dürften nur drei geöffnet sein!«
Paolo riss die Taschenlampe vom Tisch und leuchtete direkt in das vierte Türchen. Das Licht hätte den Raum dahinter ganz ausleuchten müssen. Zu seinem Erstaunen wurde der Strahl auf dem Weg zum Kalender aber geschrumpft, bis er fast vollständig von der Dunkelheit verzehrt wurde.
»Wie gestern bei Thomas«, dachte Paolo. Auch das Licht muss sich der Größe des Kalenders anpassen, wenn es seine Schwellen übertrat. Dadurch hatte Paolo größte Mühe etwas zu erkennen. Es wurde nur ein sehr kleiner Teil erhellt und das ständige hin- und herbewegen der Taschenlampe brachte auch nichts.
Im Gegenteil, der kleine Lichtkegel tanzte wild herum und Paolo konnte noch weniger erkennen.
»Was machst du da eigentlich für einen Unsinn mit der Lampe?«, hörte er Kasimir flüstern. Die Stimme kam aus dem dunklen Nichts.
»Kasimir? Kasimir, bist du das? Hast du mit mir gesprochen?«, fragte Paolo und lenkte den Lichtkegel dorthin, wo er Kasimir vermutete. Für einen flüchtigen Augenblick wurde das Licht von schwarzen Augen reflektiert. Paolo hielt die Taschenlampe mit beiden Händen fest und zielte. Der Lichtkegel war gerade groß genug. Kasimir kniete auf allen vieren auf dem Höhlenboden. Seine dunklen Augen reflektierten das Licht wie bei einer Katze.
»Kasimir, du bist es! Was machst du da?«, fragte Paolo.
»Ich bin auf Pauwdiesuche.«
»Auf was bist du?«
»Psssst! Sei doch leiser! Ich bin auf Pauwdiesuche! Sie haben dein Kopfkissen entführt!«
»Was? Thomas wurde verschleppt?«, rief Paolo erschrocken.
»Sei doch endlich leiser! Wenn sie dich hören, dann kommen sie nicht aus ihrem Versteck heraus.«
»Ich kann nichts erkennen. Kannst du nicht deine Laterne anmachen?«, fragte Paolo mit eng zusammengekniffenen Augen.
»Nein, auf gar keinen Fall, sonst wirst du Thomas nie wieder sehen. Wenn sie etwas überhaupt nicht ausstehen können, dann ist es helles Licht. Was stehst du da draußen eigentlich so rum? Du kannst mir bei der Suche ruhig helfen. Komm rein!«
»Ich soll reinkommen?«, dachte Paolo.
War es jetzt soweit? Würde er nun den Adventskalender betreten? Genauso wie Thomas? Paolo überlegte, ob er Kasimir trauen konnte. Pauwdies? Wieder irgendetwas von dem er noch nie etwas gehört, geschweige denn je einen gesehen hatte. Vielleicht war das nur ein Trick, damit er auch in den Kalender kam und wenn er Pech hatte, dann würde er dort drinnen als Gefangener enden. Was sollte er nur tun? Thomas wollte er auf jeden Fall wieder haben und wenn Kasimir Recht hatte und er tatsächlich entführt wurde, dann musste er doch dabei helfen, sein Schnuffelkissen zu befreien. Aber dafür müsste er in den Adventskalender steigen. Konnte er Kasimir trauen? Die Gedanken wirbelten in Paolos Kopf umher.
»Ich soll zu dir in den Kalender steigen?«, flüsterte Paolo.
»Spreche ich chinesisch? Also nochmal. Ja bitte, komm zu mir herein. Ich tu dir schon nichts.«
Paolo überprüfte sein Bauchgefühl. Alles gut. Okay, etwas Hunger hatte er, aber das war auch das Einzige. Paolo fasste einen Entschluss: Er würde es tun. Er würde den Kalender heute betreten. Aber nun schwirrte in seinem Kopf erstmal ein anderer Gedanke herum.
Wie sollte er das anstellen?
Paolo beugte sich nach vorne und kam mit seinem Kopf ganz nahe an das Türchen heran. Es geschah nichts. Paolo überlegte, ob er vielleicht zuerst den Kopf hineinstecken sollte? Würde der Rest von ganz alleine nachkommen? Er drückte seine Nase hinein. Es rührte sich nichts.
»Na gut«, dachte er, so funktioniert es nicht.
»Was treibst du da draußen eigentlich?«
»Ich weiß nicht, was ich machen soll. Ich habe keine Ahnung.«
»Dann mach es doch einfach so wie Thomas.«
Paolo erinnerte sich, wie er sein Kissen hinein geschleudert hatte. Konnte dies tatsächlich die Lösung sein? Das war doch wohl ein übler Scherz. Davon würde man sich aller höchstens blaue Flecken im Gesicht zuziehen. Aber hatte er denn eine andere Wahl, als es hier und jetzt einfach auszuprobieren?
Er ging tief in die Hocke, spannte seine Oberschenkelmuskeln an, sein Herz schlug ihm bis zum Hals und dann?
Dann traute er sich doch nicht.
Er hatte wirklich keine Lust, sich die Nase zu brechen.
»Komm schon, du schaffst das. Es kann nichts passieren. Du hast doch gestern gesehen, dass es geht. Brauchst du noch weitere Beweise?«, fragte Kasimir.
Paolo versuchte es noch einmal, aber mehr als einen kleinen schüchternen Hüpfer bekam er nicht zustande. Er stand immer noch in der Küche und glotzte doof den Kalender an.
»Alles oder nichts, wobei Letzteres in diesem Fall Schmerzen im Gesicht bedeuten würde«, dachte Paolo. Er ging vor dem Kalender in Position und stellte sich vor, er würde auf einem drei Meter hohen Sprungturm stehen. Gleich würde er mit einem Kopfsprung ins Wasser springen und dann sprang er tatsächlich, und zwar direkt hinein in das vierte Türchen.
Für den Bruchteil einer Sekunde befürchtete Paolo, mit dem Kopf gegen die Wand zu klatschen, doch er begriff im selben Augenblick, dass dies nicht geschehen würde. Die Dauer seines Sprungs dehnte sich aus, genauso wie die Küche und alles andere um ihn herum.
Er hatte das Gefühl, dass die Zeit stehen blieb und er in Zeitlupe auf den Adventskalender zuflog, der sich vor seinen Augen zur Größe eines Fußballfeldes entfaltete. Während Paolo flog, schrumpfte er auf wenige Zentimeter Körpergröße zusammen. Das Zeitlupengefühl war vorbei und er stürzte senkrecht fallend auf den Kalender zu.
»Das werde ich nicht überleben«, waren seine Gedanken. Doch kurz darauf erfasste ihn ein warmer Luftstrom und Paolos Sturz wurde abgebremst. Der Wind saugte ihn durch das vierte Türchen. Er strudelte unkontrolliert herum und die Angst vor dem Aufschlag schnürte seine Kehle zu. Paolo versuchte, sich zu drehen, und ruderte wild mit den Armen. Dann brach der Luftsog plötzlich ab und Paolo landete unerwartet sicher auf seinen Füßen.
»Na also. Geschafft. Das hast du gut gemacht!«, sagte Kasimir, der neben ihm kniete.
Paolo war noch ganz schwindlig und er konnte in der Dunkelheit der Höhle nichts erkennen. Seine Taschenlampe hatte er beim Flug fallen gelassen. Sie lag draußen in der Küche. Paolo drehte sich um und sah hinaus. Der Raum schien so riesig und ungewohnt fremd. Jojo hatte seinen Napf geleert und saß neben der Taschenlampe auf dem Boden, direkt unter dem Kalender. Von dort schaute er interessiert zu ihm hoch.
»Nein, nein Jojo, nicht springen!«, rief Paolo ihm zu, aber Jojo wäre dies ohnehin zu anstrengend gewesen. Der Kater sprang stattdessen auf die Küchenbank, um es sich neben Lanzelot bequem zu machen. Langsam gewöhnten sich Paolos Augen an die Dunkelheit und er konnte Kasimir neben sich sehen. Er war genauso groß wie Paolo. Seine schwarzen Kulleraugen musterten ihn aufmerksam.
Das einzige Licht kam von der Taschenlampe draußen in der Küche. Kasimir streckte Paolo eine pelzige Hand mit sechs Fingern entgegen.
»Freut mich, dir endlich auf Augenhöhe die Hand zu schütteln.«
Kasimirs Hand war ganz weich, wie die eines Teddybären.
»Freut mich auch.«
Plötzlich hielt sich Kasimir einen seiner Finger vor den Mund. Paolo war sofort still und sah in die Richtung, in welche sein pelziger Kumpel zeigte. Auf dem Höhlenboden bewegte sich etwas.
»Thomas! Das ist mein Kissen«, freute sich Paolo erleichtert.
Sein Schnuffelkissen rannte über den felsigen Höhlenboden. So sah es zumindest aus. Thomas düste, was das Zeug hielt, genau zum alten Eichenschrank.
»Sie versuchen, mit deinem Kissen abzuhauen!«, sagte Kasimir. »Aber das wird ganz schön in die Hose gehen. Die Schranktür ist abgeschlossen.«
»Ich kann so gut wie nichts sehen«, sagte Paolo.
»Zu dunkel für die Augen eines Menschen? Mhm? Ich habe etwas, das dich sehen lässt. Probiere es aus.«
Kasimir kramte in seinem Beutel am Bauch herum und zog eine Fliegerbrille heraus. Zumindest sah sie mit den Lederriemen und den dicken Gläsern aus wie eine Fliegerbrille.
»Bist du so was wie ein Känguru?«, fragte Paolo, der den Beutel an Kasimirs Bauch neugierig betrachtete.
»Ein Känguru? Wegen meiner Tasche? Nein das bin ich nicht. Oder vielleicht doch? Wer weiß das schon so genau?«, lachte Kasimir leise.
Unsicher nahm Paolo die Brille entgegen und starrte sie an.
»Das ist eine Luminova-Aufspürbrille, ziemlich selten das Ding und ganz schön praktisch, wenn man keine so guten Augen hat wie ich«, sagte Kasimir, als ob dies alles erklären würde. »Du musst sie aber schon aufsetzen. Nur weil du sie in der Hand hältst, wird sie nicht funktionieren«, ergänzte er.
Paolo setzte die Brille auf. Zuerst mit den Riemen am Hinterkopf und dann zog er die Gläser wie eine Taucherbrille über die Augen.
Zuerst passierte gar nichts. Dann liefen die Brillengläser orange an und die ganze Höhle leuchtete.
»Wow, das ist ja mal ein cooles Teil. Die funktioniert wie ein Nachtsichtgerät. Oh, da ist ja Thomas!«
Paolo konnte sehen, dass es nicht das Kissen war, der über den Höhlenboden rannte, sondern dass dutzende kleine Füße unter seinem Schnuffelkissen davon wirbelten. Die Pauwdies rannten mit Thomas auf dem Rücken quer durch die Höhle. Ihre kleinen Füße trommelten über den Höhlenboden und dann endete ihre Reise mit einem Rumms, als sie mit vollem Tempo gegen den Schrank krachten. Thomas begrub die, zu Boden gehenden Pauwdies unter sich.
»Die sind ja ganz schön bescheuert!«, kicherte Paolo.
»Ja, da hast du recht. Sie können sich zwar gut verstecken, aber dafür sind die meisten von denen superdoof, sobald sie sich in Bewegung setzen. Wir hatten Glück, dass ihnen ihr erstes Versteck nicht gefallen hat, sonst hätte es wirklich sein können, dass du dein Kissen nicht mehr wieder gesehen hättest.«
Kasimir kratze sich belustigt an seinem pelzigen Kopf, grinste und zwinkerte mit einem Auge.
Doch dann geschah etwas Unerwartetes. Draußen in der Küche ging das Licht an.
»Verdammt!«, sagte Paolo. »Meine Eltern!«
Leise tapste Paolo über die Fliesen im Flur. Er konnte es kaum erwarten, Kasimir an diesem Morgen wiederzusehen. Auf dem Weg zur Küche dachte er über die Schrecksekunde vom gestrigen Morgen nach. Es war sein erstes Treffen mit Kasimir im Adventskalender gewesen und dabei wäre er fast von seiner Mutter erwischt worden.
Er erinnerte sich noch genau an alle Einzelheiten.
Wie er seine Mutter aus dem Dunkeln beobachtete. Sie schien sich zu wundern, dass die Taschenlampe auf dem Boden lag und leuchtete. Sie schaute zum Glück nicht auf den geöffneten Höhleneingang im Kalender, denn Paolo und Kasimir standen dort nebeneinander und starrten regungslos vor Schreck und mucksmäuschenstill in die Küche. Paolos Mutter hob die Taschenlampe auf und knipste sie mit einem gut vernehmbaren Klicken aus. Dann musste sie noch etwas anderes entdeckt haben, denn nun kam sie näher an den Adventskalender heran. Paolos Herz blieb stehen.
Was konnte ihre Aufmerksamkeit angezogen haben? Hatte er außer der Taschenlampe sonst noch Spuren hinterlassen? Natürlich! Es musste Lanzelot sein. Der Kuschelhase lag auf der Küchenbank direkt neben Jojo. Und Paolo befand sich keinen halben Meter von seiner Mutter entfernt in einer Höhle, in einem Adventskalender, in einer anderen Welt.
Genauso kam es Paolo nämlich vor. Die Höhle, Kasimir, die Pauwdies und nicht zuletzt die Luminova-Aufspürbrille. Er fühlte sich wie in einer fremden Welt, die nicht das Geringste mit der da draußen in der Küche zu tun hatte.
»Miau, miau«, maunzte Kater Jojo, der noch immer neben Lanzelot lag, jetzt aber aufstand und von der Bank heruntersprang.
»Guter Kater!«, dachte Paolo.
Dies schien seine Mutter nämlich abzulenken. Mit schlurfenden Schritten ging sie hinüber zur Anrichte, schaltete die Kaffeemaschine an und füllte dem ungeduldig um ihre Beine schleichenden Kater das zweite Mal an diesem Morgen eine Portion Futter in seinen Fressnapf.
Und dann hatte Paolo noch ein zweites Mal Glück. Seine Mutter schaltete das Licht aus und verließ die Küche wieder. Er musste nicht lange überlegen. Ohne mit Kasimir ein weiteres Wort zu wechseln, rannte er zu dem riesigen Eichenschrank. Vorbei an den hohen Regalen, deren Böden mit hunderten verschiedenen Fläschchen und Gegenständen vollgestopft waren. Er dachte an die Brille, die ihm Kasimir gegeben hatte. Ohne sie hätte er nichts mehr sehen können, jetzt wo auch die Taschenlampe in der Küche aus war, war sie für Paolo tatsächlich wie ein Nachtsichtgerät.
Er würde sich später bei Kasimir bedanken, jetzt war keine Zeit dafür. Paolo stand direkt über Thomas und dicht vor dem alten Schrank. Aus der Nähe wirkte er noch größer. Auf seinem Holz konnte Paolo viele Schriftzeichen in einer fremden unbekannten Sprache und auch Linien entdecken. Er sah dem Adventskalender sehr ähnlich. Darüber würde er sich später Gedanken machen müssen. Im Augenblick zählte nur eins und das war unbemerkt aus dem Kalender herauszukommen. Paolo schnappte sich Thomas, der immer noch auf dem Boden lag und sich nicht rührte. Als er das Kissen hochhob, sah er mindestens 20 oder sogar 30 Pauwdies, die sich zu Paolos Füßen allesamt tot stellten.
Das heißt, sie blieben entweder regungslos auf dem Höhlenboden liegen oder ließen sich mit einem bühnenreifen Stöhnen fallen. Paolo riskierte einen kurzen Blick und konnte sehen, wie sie jede seiner Bewegungen ängstlich, aber sehr genau, aus ihren klitzekleinen Augen beobachteten. Sie sahen aus wie Kartoffeln mit Sonnenbrand aus denen lange Ärmchen und Füßchen, wie dünne Wurzeln, hervor sprossen. Er hätte sie gerne noch etwas genauer betrachtet, aber dazu blieb keine Zeit mehr. Er rannte zurück zum Höhleneingang, vorbei an Kasimir und keuchte: »Sorry, ich muss mich beeilen. Bis morgen!«
Dann rannte er weiter und sprang zusammen mit Thomas, seinem Schnuffelkissen, wagemutig hinaus in die Küche. Wieder packte ihn der warme Luftsog, der ihn aus der Höhle schleuderte. Es ging so schnell, dass Paolo keine Zeit hatte, Angst zu verspüren. Innerhalb eines Wimpernschlags nahm er seine gewohnte, normale Körpergröße an und landete wie ein 100 Meterläufer in perfekter Sprinterstellung auf dem Küchenfußboden. Er fühlte sich, als hätte ihn ein Wal ausgespuckt.
Seine Mutter wunderte sich, als sie kurz darauf zurück in die Küche kam und Paolo dort auf der Küchenbank saß. Er sagte zu ihr, dass er schon die ganze Zeit hier war und sie ihn nur nicht gesehen hätte. Was ja auch stimmte, wenn man es genau nahm. Natürlich erwähnte er nicht, dass er aus dem Adventskalender beobachtet hatte, wie seine Mutter zuerst die Taschenlampe fragend ansah, die Kaffeemaschine anstellte, Jojo zu fressen gab, dann die Küche wieder verließ und ihn in seinem Kinderzimmer suchte, um ihn für die Schule zu wecken.
»Das war gestern wirklich sehr knapp«, überlegte Paolo. Er blieb vor dem Schlafzimmer seiner Eltern stehen und überzeugte sich lauschend davon, dass sie noch schliefen. Erst als er sich dessen sicher war, ging er auf leisen Sohlen weiter. Jojo gesellte sich wieder zu ihm. Der Kater hatte sehr schnell begriffen, was da lief und hoffte, erneut ein zusätzliches Frühstück zu erhaschen.
Paolo hatte für ihn heute Morgen jedoch keine Zeit. Seine ganze Aufmerksamkeit galt dem Adventskalender, vor dem er nun stand. Es war der 5. Dezember also müsste Kasimir hinter dem 5. Türchen auf ihn warten. Er brauchte an diesem Morgen seine rote Taschenlampe nicht anzuknipsen, denn er hatte gleich nach dem Aufstehen die Luminova-Aufspürbrille aufgezogen. In der ganzen Aufregung hatte er sie Kasimir gestern nicht zurückgegeben. Paolo hoffte sehr, dass dies Kasimir nichts ausmachen würde, denn die Brille war mit Sicherheit etwas ganz Besonderes. Er schaute auf den Adventskalender, der durch die dicken Brillengläser orange leuchtete. Die ersten vier Türchen waren offen und Paolo blickte auf das fünfte. Es war noch verschlossen.
Leise klopfte Paolo an.
»Kasimir? Bist du da?«, fragte er. Es kam keine Antwort. »Kasimir? Kasimir, bist du da drin?« Paolo ließ ein paar Sekunden verstreichen. Aber es kam wieder keine Antwort.
»Kasimir, darf ich das Türchen aufmachen?« Das pelzige Wesen antwortete nicht. »Ich bin es Paolo!«, sagte er und lauschte mit seinem Ohr am verschlossenen Türchen.
»Hallo? Ist jemand da?«
»Miau«, meldete sich der hungrige Kater Jojo, der neben ihm auf dem Boden saß und bettelnd zu ihm aufblickte, aber sonst geschah nichts.
Paolo überlegte, ob er das Türchen aufmachen sollte. Es wäre doch eigentlich unhöflich. »Vielleicht schläft Kasimir ja noch und kann mich deshalb nicht hören.« Er klopfte ein weiteres Mal an, wartete, aber wieder bekam er keine Antwort. Paolo dachte nach, dann entschloss er sich doch dazu, das Türchen Nummer fünf zu öffnen.
Was er dahinter sah, erstaunte ihn sehr. Damit hatte er nicht gerechnet. Es verbarg sich dort keine Höhle, kein Kasimir, keine Pauwdies, keine andere Welt. Nein, Paolo sah nur einen einfachen Schokoladentannenbaum. Nur einen ganz normalen Schokoladentannenbaum, wie es ihn in jedem anderen gewöhnlichen Adventskalender auch gab. Paolo hatte sich darauf gefreut, Kasimir wieder zu sehen. Jetzt war er traurig. Konnte es sein, dass der Adventskalender seinen Zauber, mit dem 5. Türchen verloren hatte? Plötzlich hatte Paolo einen Gedanken, der ihn noch trauriger machte. Was, wenn er Kasimir nie mehr wieder sehen würde? Was, wenn Kasimir nur hinter den ersten vier Türchen lebte und jetzt alles vorbei war? Sie hatten ja gar keine Gelegenheit gehabt, um sich richtig kennen zu lernen. Paolo war auch enttäuscht von sich selbst. Hätte er doch nur schon am ersten Türchen freundlich angeklopft, dann hätte er mit Kasimir zumindest von Anfang an Bekanntschaft machen können. Hätte er sich gestern richtig von Kasimir verabschiedet und ihm seine Luminova-Aufspürbrille wieder zurückgegeben, wäre er dann heute vielleicht noch da?
Paolo entschloss, nicht aufzugeben. Kasimir musste da sein. Er schloss das Türchen. Öffnete es wieder, und machte es wieder zu und auf und zu und auf und zu und auf…
Das ging eine ganze Weile so, bis er irgendwann begriff, dass sich keine Höhle hinter dem 5. Türchen verbarg, sondern nur dieser doofe Schokoladentannenbaum.
Paolo ließ das Türchen offen stehen und ging enttäuscht zurück in sein Kinderzimmer. Er legte sich in sein Bett und hatte immer noch die Luminova-Aufspürbrille auf. Sein ganzes Zimmer war in das orangefarbene Licht getaucht. Er stierte an die Decke und überlegte. Hatte Kasimir vielleicht Angst, dass ihn seine Eltern sehen könnten? Das wäre schon möglich, schließlich war es gestern wirklich sehr knapp gewesen. Fast hätte seine Mutter sie beide im Adventskalender erwischt. Wie sie da wohl reagiert hätte? Es konnte gut sein, dass Kasimir dieses Risiko nicht noch einmal eingehen wollte und sich deshalb lieber nicht mehr blicken lassen würde. Paolo hoffte, dass Kasimir nicht sauer auf ihn war, weil er noch immer seine Brille hatte und er hoffte, dass es eine Gelegenheit geben würde, ihm die Fliegerbrille wieder zurückzugeben.
Paolos Stimmung besserte sich an diesem Morgen erst nach dem Frühstück. Sein Vater lief aufgeregt mit nur einem Schuh durch die Wohnung und beschuldigte alle anderen Familienmitglieder das Gegenstück versteckt zu haben. Offensichtlich stand er gerade unter ziemlichem Stress, denn nun beschimpfte sein Vater den unschuldig dreinblickenden Kater Jojo, seinen Schuh einfach aufgefressen zu haben.
Paolo musste herzhaft lachen bei der Vorstellung, wie Jojo einen Lederschuh mampfte. Zum Glück steckte er auch seine Mutter an, die gerade verzweifelt nach dem vermissten Schuh suchte und zunehmend gestresst wirkte. Und als auch sein Vater sich wieder entspannte und schließlich selbst über seine Anschuldigung lachen musste, war der Morgen gerettet. Alle hatten gute Laune und Paolos Vater begnügte sich letztlich mit einem anderen, zwar etwas älterem, aber dafür vollständigem, Paar Schuhe und machte sich dann mit reichlich Verspätung auf zur Arbeit.
An der Türschwelle machte er noch einmal kehrt und erwähnte, dass er am Abend später als sonst nach Hause kommen würde, da er noch Lara vom Bahnhof abholen musste. Paolo hatte in den letzten Tagen nur an den Kalender und Kasimir gedacht und darüber ganz seine neun Jahre alte Schwester vergessen.
Sie war seit fünf Tagen mit ihrer Klasse auf einer Hüttenübernachtung und konnte von Paolos Erlebnissen mit dem Kalender natürlich noch nichts wissen. Er freute sich jetzt darauf, Lara heute Abend davon zu erzählen, denn er verstand sich prima mit seiner Schwester. Sie hatten so gut wie nie Streit und fanden viele gemeinsame Spiele, die beiden Spaß machten. Lara besuchte zwar erst die vierte Klasse, aber dafür, dass sie ein Jahr jünger war als Paolo, war sie schon ziemlich schlau. Bei dem Gedanken an Lara stieg Paolos Stimmungsbarometer noch einmal an und er grinste bis über beide Ohren und freute sich sehr darauf, dass sie heute Abend wieder zuhause sein würde.
»Du spinnst! Du hast Alkohol aus Papas Minibar getrunken, gib es zu!«, sagte Lara, als Paolo ihr nach dem Abendessen die ganze Geschichte von Kasimir erzählte. Paolo konnte einfach nicht anders. Er dachte, Lara würde mit ihren schlauen Ideen eine Möglichkeit finden, damit er Kasimir bald wieder sehen würde. Zum anderen waren die Erlebnisse der letzten fünf Tage so aufregend und unglaublich gewesen, dass er froh war, jemanden zu haben, der nicht erwachsen war und mit dem er bedenkenlos die Geschichte teilen konnte. Zu Lara hatte Paolo vollstes uneingeschränktes Vertrauen. Für Geheimsachen war sie immer zu haben und sie hatte noch nie etwas verraten.
Sie waren ein eingeschworenes perfektes Team, was man wirklich nicht von allen Geschwistern in ihrem Alter sagen konnte. Aber dieses Mal nahm ihm Lara die Geschichte nicht ab. Paolo merkte dies vor allem an ihrem Gesichtsausdruck. Sie hatte ihr langes, wuscheliges, blondes Haar nach hinten gelegt, erdspaltentiefe Falten auf der Stirn, zusammengekniffene Augen und dies alles war ein eindeutiges Zeichen dafür, dass seine Schwester große Zweifel hegte.
»Du bist betrunken.«
»Lara, hör auf, so etwas zu sagen!«
»Ach komm, du erzählst mir das doch nur, weil ich auf der Hütte eine schöne Zeit hatte und ich glauben soll, dass es bei dir auch so toll war«, sagte Lara und klopfte Paolo auf die Schulter.
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