Der Mann, der sein Glück in einer Urne fand - Sara Schütze - E-Book

Der Mann, der sein Glück in einer Urne fand E-Book

Sara Schütze

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Beschreibung

»Langsam aber sicher wurde aus meiner wilden Abenteuerlust ein Gefühl der Fassungslosigkeit. Während ich die blechernen Farben vor mir betrachtete, sickerte tröpfchenweise die bittere Erkenntnis der Realität zu mir durch. Ich hatte ein Fahrzeug gestohlen. Ich. Der, der immer alles richtig machen wollte.« Wer hätte schon ahnen können, dass ein Milchshake vor dem Joggen zu so etwas führen würde? Bloß eine kleine Runde durch den Park. Und schon sitzt man mit einer französisch-belgischen Anhalterin und Komplizin, einem verletzten weißen Hasen und den eingeäscherten Überresten des ehemaligen Besitzers am Steuer eines geklauten Wohnmobils auf der falschen Seite der deutsch-holländischen Grenze fest … verfolgt von zwei Gangstern in Lederjacken, auf der Suche nach der Urne, die ihr eigenes Geheimnis hütet.

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EPUB
MOBI

Seitenzahl: 373

Veröffentlichungsjahr: 2023

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Eifeler Literaturverlag 2024

Impressum

1. Auflage 2023

© Eifeler Literaturverlag

In der Verlagsgruppe Mainz

Alle Rechte vorbehalten

Printed in Germany

Eifeler Literaturverlag

Verlagsgruppe Mainz

Süsterfeldstraße 83

52072 Aachen

www.eifeler-literaturverlag.de

Gestaltung, Druck und Vertrieb:

Druck & Verlagshaus Mainz

Süsterfeldstraße 83

52072 Aachen

www.verlag-mainz.de

Umschlaggestaltung:

Dietrich Betcher

Lektorat:

René Völlmecke

Abbildungsnachweis:

© PikePicture – stock.adobe.com

Druckbuch:

ISBN-10: 3-96123-079-X

ISBN-13: 978-3-96123-079-2

E-Book:

ISBN-10: 3-96123-114-1

ISBN-13: 978-3-96123-114-0

Prolog

Ein seltsames Geräusch schreckte ihn auf. Nur mühsam löste er seinen Blick vom Bildschirm, erhob sich schwerfällig und ging zur Tür des Arbeitszimmers, das im ersten Stockwerk des herrschaftlichen Anwesens lag. Seine Schritte hallten hohl auf dem kalten Fliesenboden des noch kälteren Raumes wider, der nur durch das sanfte Flimmern des blauweißen Bildschirms erhellt wurde. Er lockerte seine Krawatte und strich sich über die müden Augen. Es war ein Fehler gewesen, in die Eifel zu ziehen. Er wollte mehr Zeit für seine Familie finden, die Ruhe der Natur spüren. Doch die meiste Zeit verbrachte er seither im Auto auf viel zu engen Straßen zwischen Kundenterminen und Kurvenmanövern. Seine Frau langweilte sich und es war nur noch eine Frage der Zeit, bis sie Tupperpartys und Kaffeekränzchen ausrichtete. »Wo sich Fuchs und Hase gute Nacht sagten«, hatte in der kurzen Ausschreibung gestanden, die in grünlilablauen Farben nach verschlafener Waldromantik und Familienidylle klang. Dass es sich bei »Fuchs und Hase« und manchmal dem einen oder anderen Reh um die einzigen Begegnungen handeln würde, verschwieg sie geflissentlich. Nach kurzer Besichtigung hatten sie den Vertrag unterschrieben. Der Umzug aus Frankfurt in den kleinen Ort Schalkenmehren war ein Kinderspiel gewesen, das Kennenlernen der Nachbarn ein herzlich bündiges Vergnügen. So sehr sie sich auf das einfache Leben gefreut hatten, so kritisch wurden sie auch noch nach Monaten von den Ortsbewohner beäugt. Schnell hatten sie gemerkt, dass es leicht war sein Herz in die Eifel zu verlieren. Das Herz der Alteingesessenen zu gewinnen, gestaltete sich dafür jedoch umso schwieriger.

Müde schüttelte er den Kopf und stellte sich an die Zimmertür. Was tat er überhaupt hier? Er sollte seine Arbeit zu Ende bringen und seiner Frau auf die Party folgen. So wütend wie an diesem Abend hatte er sie noch nie erlebt. Seit langer Zeit war der Termin im Kalender eingetragen: Eine Cocktailparty im großen Stil mit ihren alten Stadt-Freunden und neuen Bekannten. »Auf die Pauke hauen, das Leben tanzen« war das Motto des Abends gewesen. Aber er hatte es wieder einmal nicht geschafft. Sein vollgepackter Terminkalender ließ keine Pause zu. Ein plötzlich erneutes Poltern riss ihn aus seinen Gedanken.

Vorsichtig horchte er an der Tür. Leise gedämpft drang der dumpfe Hall schwerer Schritte an sein Ohr. Aber wer sollte das sein? Ob seine Frau etwas vergessen hatte? Resignierend massierte er sich die Schläfen. Nein, sie trug eines ihrer schicken Cocktailkleider mit den feinen Abendsandaletten, die sie elfengleich daherschweben ließen. Mit einem leisen Quietschen öffnete er die Tür. Nur einen Spalt weit, um besser hören zu können. Ein schmaler Lichtschein fiel in das dunkle Zimmer und verlieh der Situation etwas Surreales. Vermutlich war er einfach überarbeitet. Doch da hörte er sie erneut:

Schritte. Leises Stimmengemurmel.

Er horchte auf und verfluchte innerlich die Videoanlage, auf die er dank der schlechten Internetverbindung nur im Hausanschlussraum Zugriff hatte. Leise schlich er auf die Empore und blickte sich um. Mit einem Mal ging alles ganz schnell. Ein Mann kam in die große Eingangshalle gestürmt, ein zweiter direkt hinterher. Sie beachteten ihn im ersten Moment nicht. Doch er sah sie. Die pure Verzweiflung kochte in ihm hoch. Und er trat auf die Treppe, auf der er aus voller Inbrunst herunterschrie.

»Verlassen Sie umgehend mein Haus. Ich habe die Polizei bereits verständigt.«

Die Männer taxierten ihn. Ein leises Lächeln bildete sich um die kantigen Mundwinkel, die von Bartstoppeln gesäumt waren. Stille.

Sekunden zogen ins Land. Von weit her hörte er das leise Ticken einer Wanduhr. Er setzte erneut an.

»Hier sind überall Kameras montiert. Sie werden sowieso geschnappt. Geben Sie auf!«

Fast schon übermütig deutete er auf die Videoanlage, die die Eingangshalle überwachte. Die beiden Einbrecher wechselten einen kurzen Blick. Gemurmel.

Ein Klicken hallte durch die leere Halle, als einer der Einbrecher eine Waffe zog und sie auf ihn richtete. Er schluckte. Kalter Schweiß lief an seinen Beinen herunter. Er dachte an seinen Sohn und daran, dass die Eifel ein Fehler gewesen war, als er reglos zu Boden sank.

Kapitel 1

Es gibt diese Dinge im Leben, über die niemand spricht. Oder schreibt. Weil sie uns unangenehm sind oder genau da angreifen, wo man selbst am verletzlichsten ist. In meiner Geschichte geht es um die verheerende Wirkung, die ein einziger Milchshake haben kann. Nicht etwa, weil ich über einen meiner zwei linken Füße gestolpert wäre und ihn einer bedeutsamen Persönlichkeit übergeschüttet hätte, was vermutlich weit weniger drastische Auswirkungen gehabt hätte. Sondern weil ich eben jenen trank, bevor ich laufen ging.

Wer sich selber gelegentlich sportlich betätigt, weiß, dass sich manche Nahrungsmittel nicht mit dem Sport vertragen. Hier wäre beispielsweise Pfannkuchen vor dem Yoga zu erwähnen, der nicht nur kugelrund den Bauch aufbläht, sondern auch jede Hundeposition durch ein hundeelendes Gefühl begleitet. Während manche Nahrungsmittel also Purzelbäume in der Magengegend schlagen und man sich wie der Hauptcharakter des Märchens »Der Wolf und die sieben Geißlein« nach seiner Steinfüllung fühlt, treiben einen andere Lebensmittel erst so richtig an. So wie es in meinem Fall der Milchshake tat.

Es war ein klassischer Bürotag. Zwischen Laptop und Aktenordner eingekeilt saß ich in meiner geliebten Sardinenbüchse, die man auch als Düsseldorfer Stadtwohnung bezeichnet, und wartete auf das nächste Meeting. Zwischen den halb heruntergelassenen Jalousien glitzerte das sanfte Sonnenlicht der hellen Frühjahrssonne, während mir das kaltblaue Licht von Monitoren entgegenflimmerte. Die Vögel zwitscherten und ich blickte ungeduldig auf die Uhrzeiten-Angabe, die monoton herunterlief. »Das könnte reichen ...«, dachte ich noch und war bereits hochmotiviert in meine Laufschuhe gesprungen, die mir jedes Mal ein Gefühl von Freiheit und Abenteuerdrang vermittelten. Schon nach wenigen Minuten lief ich aus der Einfahrt des Mehrfamilienhauses hinaus. Hinter mir türmten sich massive Häuserzeilen, während mir ein sanfter Frühjahrswind ins Gesicht wehte. Ich atmete tief ein. Der harte Asphalt glitzerte unter meinen Füßen, die sich federleicht vom Boden abstießen. Ich lief durch die enge Häusergasse und an parkenden Blechkolonnen vorbei. Das Zwitschern war verstummt und dafür durch das Surren von Motoren und das Klingeln von Fahrrädern ersetzt worden. Das Stadtleben konnte vieles, Natur dafür eher weniger. Ich balancierte an Hundehinterlassenschaften vorbei und kämpfte auf den engen Bürgersteigen gegen querstehende Fahrräder an, die mir das Vorankommen erschwerten. Nach ein oder zwei weiteren Ecken ging ein stilles Aufatmen durch meinen Körper. Da endlich! Ich bog in einen kleinen Park ein und ließ meinen Blick über das beruhigende Grün der Wiesen wandern. Zumindest über das, was ich davon sah. Denn um mich herum herrschte reges Treiben. Kinder spielten auf den Rasenflächen, während die Mütter mit Sack und Pack und Picknickdecken danebensaßen und ihre Schützlinge liebevoll beäugten. Ich ließ den Blick schweifen und fühlte mich glücklich. Viel zu selten nahm ich mir Zeit für mich und kehrte dem stetig rotierenden Hamsterrad den Rücken zu. Nur noch ein paar Jahre wollte ich so weitermachen. Weitermachen, bis ich genug Geld zusammengespart hätte, um davon den Rest meines Lebens zehren zu können. Sozusagen nur noch einen Wimpernschlag. Meine inneren Kopfkarten waren prall gefüllt mit Entdeckungen, die das Leben noch für mich bereithalten sollte. Doch darüber wollte ich jetzt nicht nachdenken. Ich wollte frei sein. Im hier und jetzt leben. Der Weg führte mich über eine kleine Brücke weiter in Richtung Stadt. Die kleinen Sträßchen wurden mit jedem Meter belebter. Radfahrer und Inlineskater kreuzten meine Einflugschneise und bremsten mich immer wieder aus. Mit einem verachtenden Schnaufen lief ich weiter. Ich gehörte nie zu der Sorte Spitzensportler, die immer vorne mitmischen müssen. Vielmehr bezeichnete ich mich selber als Genussmensch, der einen Sport nur so lange ausübt, bis dieser keinen Spaß mehr macht und der dann besonders sein Bierchen danach genießt.

Doch heute lief es anders. Ich flog förmlich wie Usain Bolt über die Pfade dieser Welt und hörte in meinem Geiste schon die Menge toben, bis sich ein merkwürdiges Grummeln in meinem Bauch bemerkbar machte. Anfangs versuchte ich das Geräusch zu ignorieren, doch mit jedem Schritt gluckste mein Magen lauter. Das Laufen wurde beschwerlicher und ich überlegte, ob ich möglicherweise heute eine Horde Boxer gefrühstückt hatte, die nun auch mal ihren Spaß haben wollten. Doch tatsächlich hatte ich nicht viel mehr als einen Milchshake zum Mittag getrunken, da mir zwischen Videocalls und Präsentationen kaum die Zeit geblieben war, mir viele Gedanken über meine Ernährung zu machen. Das innere Arbeitstier lässt grüßen. Und obwohl in der Werbeindustrie vor allem Sportler Milchgetränke als eine Art Wundermittel vermarkten, schien in dem Moment mein Innenleben ein ganz anderes Wunder hervorbringen zu wollen. Mit krampfenden Eingeweiden kämpfte ich mich weiter voran. In weiser Voraussicht begann ich die Landschaft langsam abzuscannen: Die Strecke führte mich weiter, durch ein schönes Wohngebiet mit unzähligen Vorgärten, in die Stadt hinein. Ich hatte jegliches Grün hinter mir gelassen und die Menschenmassen nahmen zu. In meinem Darm schien mittlerweile eine riesige Party stattzufinden und mein Bauch wurde gefühlt immer fester. Ich musste irgendwie noch bis nach Hause kommen, ehe ich mich auf meinen wunderbar weißen Toilettensitz retten konnte, der mir in diesem Moment die Welt bedeutete.

In meinen Eingeweiden rumorte es immer lauter und in meinem Kopf tobte die Frage, wie um Herrgotts Willen ich jemals die knapp drei Kilometer zurück schaffen sollte, ohne zu explodieren. Ich kniff die Arschbacken zusammen und wollte gerade umkehren, als mir der Wohnmobilhafen am Ende der Wohnsiedlung einfiel. Aus unzähligen Spaziergängen war ich mir ziemlich sicher, dass es dort eine öffentliche Toilette gab. Mit wehenden Fahnen sprintete ich fast die gesamte Straße entlang und musste zu allem Überfluss den halben Wohnmobilpark durchqueren, um das stille Örtchen zu besuchen, das bald bestimmt nicht mehr so still sein würde. Zumindest nicht in meinen Gedanken. Denn als ich triefend nass geschwitzt und von einem Fuß auf den anderen tippelnd an der Tür mit dem kleinen schwarzen Männchen zog, stellte ich fest, dass diese fest verschlossen war. Münzeinwurf – fünfzig Cent. Wer ab und zu mal mit einem Portemonnaie in der Tasche die Treppen heruntergelaufen ist, wird verstehen, dass ich mich ungern wie ein halber Pfandautomat beim Laufen anhöre. Folglich hatte ich kein Kleingeld dabei und hätte mit Sicherheit auch einige Flüche ausgestoßen, wenn ich nicht so konzentriert darauf gewesen wäre, alles in mir zu behalten, was nicht niet- und nagelfest war. In einem Gangstil, der einem Robotertanz alle Ehre gemacht hätte, schleppte ich mich zur Tür mit der kleinen Dame, die leider ebenso fest zugezogen war. Der Schweiß perlte mittlerweile auf meiner Stirn. Ich schaute nach links und nach rechts. Es musste doch noch eine Möglichkeit geben, außer jene, die nun mal so ekelhaft war, dass sie als Möglichkeit eigentlich nicht in Betracht käme. Mit der Gewissheit, dass es jeden Moment passieren würde, erblickte ich gleich neben dem Häuschen ein Wohnmobil, dessen Wohnraumtür offenstand. Vom puren Überlebenswillen angetrieben, hievte ich meinen krampfenden Körper zum Wohnmobil, krächzte mit letzter Kraft ein »Hallo, ist da wer?« in die Wohnraumstube und schleppte mich durch das weiße Schiff.

Kaum, dass die Badtür geöffnet war, ließ ich mich auf den kleinen Toilettensitz fallen und sagte dem Milchshake Lebewohl. Und bekam vor lauter Scheppern und Poltern kaum mit, dass der Motor des Wohnmobils angelassen wurde.

Kapitel 2

Während mich eine Krampfattacke nach der anderen schüttelte und ich mich fragte, wie viel von mir wohl in den kleinen weißen Behälter passte, hatte ich das merkwürdige Gefühl, die Wände um mich herum würden vibrieren. Doch da mich im Moment andere Sorgen plagten als ein paar Halluzinationen, machte ich mir deswegen keine weiteren Gedanken. Stattdessen grübelte ich darüber, was ich dem Besitzer im Gegenzug für seine Toilettennutzung wohl anbieten könnte, da ich beim Laufen nicht viel bei mir trug. So saß ich eine Weile da und wollte gerade aufstehen, bis ein so starker Ruck durch das Wohnmobil ging, dass ich fast von der Plastikbox fiel. Dies hatte nichts mit dem sanften Wiegen zutun, dass man auf einer Zug- oder Flugzeugtoilette wahrnimmt und bei dem man sich ein bisschen wie ein im Wind tanzender Baum fühlt. Hier war vielmehr ein ganzer Orkan, der selbst die stärkste Eiche ins Wanken gebracht hätte. Wie ein Rodeo-Reiter versuchte ich mich mit allen Körperteilen an Wand und Tür abzustützen, um nicht von dem tanzenden weißen Klosett geworfen zu werden, dass ich soeben noch als königlichen Thron bezeichnet hatte. Für diese Situation hätte man mit Sicherheit viele Worte finden können, doch um beim Thema zu bleiben, dachte ich kurzerhand nichts weiter als: »Ach du schöne Scheiße«.

Die Zeit zog ins Land. Gefühlt verbrachte ich Stunden in meinem stinkenden Gefängnis. Tatsächlich handelte es sich nur um ein paarhundert Minuten. Die Gedanken kamen und gingen und am meisten beschäftigte mich die Frage, wo das Wohnmobil wohl hinfuhr und wie zum Teufel ich wieder nach Hause kommen sollte ohne nennenswertes Bargeld, Ausweis oder Mobiltelefon. Zwar versuchte ich, mich immer wieder bemerkbar zu machen, doch scheinbar ist so ein Wohnmobil besser isoliert, als man den Berichten älterer Herrschaft glauben darf. Zumindest denen, die sich darüber beschweren, dass Heinz zu laut schnarcht oder Brigitte mit ihrem Telefon den halben Campingplatz unterhält. Immer wenn ich dachte, dass ich es vielleicht wagen könnte, die Tür zu öffnen, warf mich die nächste Kurve nur umso fester gegen die Wand. Die Minuten vergingen. Ich fragte mich, ob meine derzeitige Situation wohl als Entführung durchging, verwarf den Gedanken jedoch schnell wieder, als ich merkte, dass ich vielmehr ein blinder Passagier war, der ich doch eigentlich nie sein wollte. Schließlich wussten die Entführer nichts von ihrer Beute, um die sie vermutlich auch kein Entführer beneidet hätte. Nach einer schier endlosen Weile, in der ich mich in einer Art Trance-Zustand befand, wurde das Wohnmobil langsamer und blieb schließlich stehen.

Ich schloss für einen Moment die Augen, atmete tief ein und aus. Fühlte ein Gefühl der Dankbarkeit in mir aufsteigen: Ich war noch am Leben, hatte den Höllenritt unbeschadet überstanden und scheinbar hatte das Wohnmobil auch noch rechtzeitig gestoppt, ehe es am Ende der Welt angekommen war. Ich straffte die Schultern und war bereit, meine Entschuldigungsrede mit Inbrunst herunterzubeten, die ich mir stundenlang im Kopf zusammengebastelt hatte. Ich würde nach dem nächsten Münzautomat Ausschau halten und die einzige Nummer anrufen, die ich immer im Kopf hatte: Die Nummer meines Elternhauses.

Langsam und leise betrat ich den kleinen altbackenen Wohnraum, der wie ausgestorben vor mir lag. Weder war die kleine Essnische besetzt, noch die beiden Sitze der Fahrerkabine belegt. Auf Samtpfötchen schlich ich zur Tür, zog daran und hatte gleich wieder ein Déjà-vu-Erlebnis, denn die Tür war fest verschlossen. Mit einem unterdrückten Fluchen kletterte ich nach vorne in den Fahrerraum, in der zwar der Schlüssel im Zündschloss steckte, die beiden Türen jedoch zugeworfen waren. Nicht weit vom Wohnmobil entfernt standen zwei bullige Typen in Jeans, Lederjacken und Sonnenbrillen und rauchten. Zwar war ich mit meinen ein Meter achtzig und meiner sportlich-athletischen Figur, wie ich sie gerne betitelte, nicht nur ein Hemdchen aber die beiden Kerle waren schon echte Brocken. Meine Mutter hätte sie als »schlimme Jungs« bezeichnet. Eine böse Vorahnung sagte mir, dass das Wohnmobil und die beiden Herrschaften eventuell zusammengehören könnten. Und damit auch die Gewissheit, dass meine Entschuldigungsrede möglicherweise und auch nur vielleicht auf taube Ohren stoßen würde. Was folgte, war eine Szene, die man so eigentlich nur aus Filmen kennt. Und dort auch nur aus den wirklich billigen Szenen, in der der Drehbuchautor scheinbar keine bessere Idee hatte.

Es war einer dieser Momente, in denen der Kopf auf Autopilot geschaltet ist und man schneller handelt als Lucky Luke seinen Revolver ziehen kann. Vielleicht tat ich es nur aus der Angst heraus mein sicheres Versteck verlassen zu müssen, vielleicht verleitete mich aber auch der pure Abenteuerwille dazu, auf den Fahrersitz zu klettern, den Motor zu starten und mit durchdrehenden Reifen loszufahren. Mein Herz schlug bis zum Hals, während ich im roten Drehzahlbereich mein weißes Ross zu Höchstleistungen peitschte. Im Außenspiegel sah ich, wie die beiden Typen augenblicklich ihre Kippen fallen ließen und unter wildem Geschrei zu einem Spurt ansetzten. Einer der beiden nestelte verräterisch unter seiner schweren Lederjacke am Gürtelbund herum. Doch es war zu spät. Das fahrende Schiff bahnte sich mit mir als Kapitän seinen Weg in die Freiheit und zog dabei die gesamte Aufmerksamkeit auf sich. Ich bog mit blockierenden Reifen um die nächste Kurve, driftete dabei mehr, als ich fuhr. Mit Vollgas folgte ich der Landstraße ins Nirgendwo – auf in ein Abenteuer, von dem man nicht besser hätte träumen können.

Kapitel 3

Wie ein wild gewordener Stier fuhr ich die schnurgerade Straße entlang und missachtete jedes Tempolimit, dass sich mir und meiner neu gewonnenen Freiheit in den Weg stellte. Das Blut rauschte in den Ohren und mein Körper bebte förmlich unter dem Adrenalin, das durch meine Adern schoss. Ich wollte bloß weg – weg von diesem Parkplatz, dieser verrückten Situation. Ich fuhr durch einen oder zwei Kreisverkehre, bog ziellos ab und stand mit einem Mal im Wochenendverkehr einer riesigen Kreuzung. Ich wollte nicht anhalten, wollte weiter und immer weiter fahren. Doch so schwer es mir auch fiel, musste auch ich mich in die Reihe der langsam tuckernden Autos einreihen und auf die nächste Grünphase warten, bis ich meine Reise fortsetzen konnte. Nervös schaute ich auf die Uhr des Autoradios, um zu kontrollieren, wie viel Zeit ich zwischen mich und meine Verfolger gebracht hatte. Dabei wurde mir bewusst, dass ich nicht genau wusste, wann ich losgefahren war. Überhaupt wusste ich weder wo ich war, noch ob meine Verfolger mir überhaupt folgen würden. Schließlich hatte ich mir ihr Fahrzeug unter den Nagel gerissen und sie ziemlich verdutzt am Fahrbahnrand im Wald zurückgelassen. Der Verkehr floss so zäh daher wie dünnflüssiger Honig von einem Löffel, den man minutenlang über seinem Brot kreisen lassen muss, ehe das richtige Brot-Honig-Verhältnis geschaffen wurde. Und so kreiste nun auch mein Fuß beharrlich über dem Gaspedal und wartete darauf, mit Vollgas weiter zu rasen. Innerlich brodelte es und ich merkte, dass ich mich beruhigen musste, um einen klaren Gedanken fassen zu können. Ich betrachtete die Umgebung. Obwohl ich die ganze Zeit aus dem Fenster geblickt hatte, war es, als hätte man mir Scheuklappen übergezogen und die Welt in eine einzige Fahrbahn gepresst. Nun öffneten sich mit einem Mal Farben und Formen, gefärbte Formationen und formierte Farben. Die Straßen waren breiter und durch Radwege gesäumt. Auch die Straßenschilder sahen anders aus – irgendwie niederländisch. Allerdings konnte ich mit keiner der Ortsbezeichnungen etwas anfangen, geschweige denn aussprechen, ohne einen Knoten von der Größe eines Golfballs in meinem Mund zu fabrizieren. Ich hangelte mich von Ampelphase zu Ampelphase. Langsam aber sicher wurde aus meiner wilden Abenteuerlust ein Gefühl der Fassungslosigkeit. Während ich die blechernen Farben vor mir betrachtete, sickerte tröpfchenweise die bittere Erkenntnis der Realität zu mir durch.

Ich hatte ein Fahrzeug gestohlen.

Ich.

Der, der immer alles richtig machen wollte.

Panik ergriff mich. Natürlich könnte ich einfach nach Hause fahren und das Wohnmobil irgendwo abstellen. Allerdings fragte ich mich, ob ich überhaupt so weit kommen würde. Ich hatte ein Wohnmobil geklaut. Folglich war ich ein Dieb, ein Verbrecher. Spätestens an der Grenze würde man mich stoppen und ohne Pass und Papiere in Gewahrsam nehmen. Ich hatte eine Straftat begangen und beging sie nun auch weiterhin. In mir stieg ein merkwürdiges Gefühl auf. Als würde mir jemand die Kehle zudrücken. Ich begann zu frieren, während kalter Schweiß an meinen Schläfen hinablief. In meinem Kopf spielte sich ein halber Horrorfilm ab, gegen den »Scream« ein unterhaltsames Kinderprogramm war. Sie würden mich einsperren und das Leben, auf dass ich all die Jahre hingearbeitet und das ich doch noch nicht erreicht hatte, würde einfach vorbei sein. Geplatzt, wie eine Seifenblase. Mein Mund fühlte sich staubtrocken an und ich hatte zu wenig Spucke im Mund, um schlucken zu können. Ich wiegte mich auf meinem Sitz und versuchte, ruhig zu atmen. Saß dort wie ein Kleinkind mit einer Puppe, die ihm nicht gehörte, und flehte nach Vergebung.

Es wurde grün und die Kolonne setzte sich in Bewegung. Langsam zuckelte ich über die Kreuzung und nahm noch im Augenwinkel wahr, dass eine Abbiegespur auf eine stark befahrene Autobahn Schuld an dem Verkehrschaos gewesen sein musste. Doch anstatt mich in die Kolonne der Abbieger einzureihen, entschied ich mich, der Autobahn mit ihren Mautstellen und Blitzanlagen fernzubleiben und weiterhin der Landstraße zu folgen. Um kein Aufsehen zu erregen, versuchte ich mich möglichst an die Temporegelung zu halten und ein ruhiger Verkehrsteilnehmer zu sein. Was sich wiederum in starkem Kontrast zu meinem Innenleben verhielt, das vielmehr die Dimension eines surrenden Bienenkorbs angenommen hatte, der nur noch einen Stockhieb davon entfernt war, aufzuplatzen und zu explodieren. Von wilden Verfolgungsjagd-Phantasien und immer wiederkehrenden Panikattacken gequält, schaffte ich es nur mit Mühe, ruhig auf meinem Platz sitzen zu bleiben und unauffällig zu wirken.

Ich fuhr in die Nacht hinein und orientierte mich an dem einzigen Ort, der mir halbwegs etwas sagte: Niwegen. Nicht nur, weil Jahre zuvor mein Navigationsgerät ihn so falsch ausgesprochen hatte, dass mir der Name »Neimeige« auf ewig im Gedächtnis bleiben würde, sondern vor allem auch deshalb, weil die Stadt nahe der deutschen Grenze liegt. Mit der Zeit begann mein Magen zu knurren aber ich wollte nicht stehen bleiben, um mir Abhilfe zu verschaffen. Ich wollte nur fort – fort von dem Ort des Verbrechens. Und während ich in tiefster Finsternis weiter dem Straßenverlauf folgte, sah ich am Fahrbahnrand einen kleinen Lichtkegel auf und ab tanzen.

Kapitel 1

An einem anderen Ort zu dieser Zeit.

Misstrauisch hob sie eine Augenbraue, während sie die feinen, braungelborangefarbenen Karamelltupfer betrachtete, die sich über der zarten Schicht grüner Äpfel bildete. Gleich war es so weit. Mit einem kribbelnden Gefühl sog sie den Duft von Butter und Zimt ein und ein leichtes Beben fuhr durch ihren Körper. Mit einem Seitenblick schaute sie auf die vergilbte Eieruhr, die sie mehr aus Gewohnheit angemacht hatte, und beobachtete den kleinen Zeiger, der sich wie ein Metronom immer im selben Rhythmus fortbewegte. Schließlich kannte sie den perfekten Garzeitpunkt und würde sich kaum einen Meter von ihrem Ofen wegbewegen. Es war Zeit. Unter großer Kraftanstrengung stützte sie sich auf ihrer Arbeitsplatte auf und erhob sich in Zeitlupengeschwindigkeit. Ihre Gelenke knackten und leise Schmerzwellen flammten durch die Glieder. Sie hätte definitiv mehr Sport machen sollen, damals, als sie noch jünger war. Doch jetzt war nicht die Zeit über alte Gewohnheiten nach zu sinnieren. Mit einem Griff hatte sie die Ofenhandschuhe übergestreift und umfasste den glatten Griff der Ofentür. Sie öffnete die Tür nur einen winzigen Spalt. Heiße Luft umwaberte sie und der Geruch von warmem Apfelkuchen hüllte sie vollends ein. Ein breites Strahlen zog sich durch das Gesicht, als sie die heiße Form so vorsichtig herausholte wie ein Neugeborenes.

Er liebte Kuchen. Schon damals als sie sich kennengelernt hatten, war er jeden Sonntag zum Kuchenessen vorbeigekommen. Und hatte sich vielleicht auch deshalb in sie verliebt, weil sie den besten Kuchen der ganzen Eifel machte. So sagte man zumindest. Er würde dieses Prachtexemplar von Appeltaart noch im Stehen verschlingen, sobald er es sähe. Mit einem stillen Grinsen stellte sie den Kuchen zum Abkühlen auf das Brett des halb geöffneten Fensters. Wie oft hatte ihn der Duft von Hefeteig und Obst zu ihr gelockt. Sie schaute mit leicht verklärtem Blick nach draußen auf die Straße. Sie sah die Nachbarn in ihren Vorgärten werkeln und den Jungen, der einmal in der Woche die Wurfsendungen brachte, vorbei spazieren. Der Stellplatz vor ihrem Haus war leer. Während sie nach draußen schaute, beschlug das Fenster leise vor ihren Augen. Sie lehnte ihre Stirn an das kalte Glas und spürte, dass der Moment vorbei war.

Er liebte Kuchen.

Damals, als er noch da war.

Kapitel 4

Vor Jahren hatte ich in einer Zeitschrift einen Artikel gelesen, der mich tief bewegt hatte und seit diesem Zeitpunkt zu einer Art Mantra für mich geworden war. Darin hieß es, dass man sich bei der Geburt in einem dunklen Raum befindet. Mit jeder guten Tat und jedem richtigen Schritt im Leben wird eine Kerze in der Dunkelheit entzündet, sodass sich der Raum Mal für Mal erhellt. Für jede schlechte Tat und jedes egoistische Handeln erlischt hingegen ein Licht. Und während viele Menschen ihr Leben lang zwar strahlend vor Anerkennung durch das Leben schreiten, sieht ihr Inneres doch finster und einsam aus. Obwohl sie sich vielleicht manches Mal sogar im Scheinwerferlicht betten, tasten sie doch im finsteren Nichts umher. Der glückliche, bescheidene Mensch hingegen strahlt mit seinem ganzen Wesen von innen heraus und wird den richtigen Weg des Lebens schließlich im hell erleuchteten Raum finden.

Obwohl ich, wie vermutlich jeder Mensch auf diesem Planeten, es sehr genoss, wenn mir jemand Aufmerksamkeit schenkte oder mich mit Lob überschüttete, versuchte ich doch stets bescheiden zu sein und meine inneren Kerzen zu hüten. Denn schließlich wusste ich genau, wie Egoismus oder Eigenlob mir vielleicht kurzfristig den Tag verschönern könnten, ich damit langfristig jedoch nur an Licht einbüßen würde. Dass ich durch eine einzige Tat meine gesammelten Kerzen wie eine Flutwelle auslöschen könnte, war mir dabei nie in den Sinn gekommen. Doch da ich nun die Grenze überschritten hatte, war ich mir mittlerweile sicher, in tiefste Finsternis zu fallen. In eine Finsternis, die jedes Plumpsklo an Dunkelheit und Gestank übertraf und mein Wesen einhüllen würde, wie ein Fliegenschwarm einen Misthaufen. Und so deutete ich diesen ominösen Lichtkegel, der immer heller und deutlicher wurde, im ersten Moment mehr als ein Zeichen, dass nun die letzte Kerze zu flackern begann.

Tatsächlich, wie ich erst im Näherkommen bemerkte, handelte es sich hier nicht etwa um eine Kerze oder gar eine tiefere Botschaft, sondern vielmehr um eine Person mit einer orangefarbenen Warnweste am Fahrbahnrand, die in wilden Auf-und-Ab-Bewegungen mit einer Taschenlampe wedelte. Mein Herz rutsche in die Hose. Ich wusste nicht, wer des nachts einsam auf Straßen herumstand, aber ich vermutete, dass es sich dabei selten um eine nette Dame der heimischen Klatsch- und Tratschrunde handelte. Ich drosselte mein Tempo, denn schließlich wollte ich meine Tarnung als einfacher Urlauber nicht so schnell verlieren.

Wenn man in dieser Situation ist, malt man sich die schlimmsten Szenarien aus. Man sieht sich schwitzend und stammelnd in einer allgemeinen Verkehrskontrolle stehen, während der Drogenhund knurrend in den Seilen hängt und bereit ist, zuzuschnappen. Möglicherweise denkt man auch daran, die Verfolger hätten die Fährte aufgenommen, um die rasante Flucht mit einer Finte zu stoppen. Oder vielleicht auch, ein gemeiner Autodieb würde nur darauf warten, dass jemand anhält, dem man die Pistole an die Stirn halten und ausrauben kann.

Doch obwohl in Sekundenbruchteilen ein Film all dieser Szenarien ablief, betätigte ich langsam die Bremse. Ich kam mit einem Ruck zum Stehen, beugte mich mit klopfendem Herzen zur Beifahrerseite hinüber und kurbelte unter Quietschen und Ächzen die Scheibe herunter. Stille. Zuerst konnte ich nichts erkennen, doch dann erschien ein hübsches, zartes Gesicht mit kurzen, schwarzen Haaren und dunklen Augen an der Tür.

»Speak English? French?«, tönte ein zartes Stimmchen und begann kurz darauf auf Englisch zu fragen, ob sie ein Stück mitfahren dürfe. Vielleicht bis an die nächste Ländergrenze?

Mehr verstand ich nicht, denn das Rumpeln der vielen tausenden Steine, die mir vom Herzen fielen, machte in meinen Ohren zu großen Rabatz, als dass ich dem schnellen Wortgeflecht aus englischen und französischen Wörtern weiter folgen konnte. Erleichtert und ohne genau hinzuhören, nickte ich einfach nur, woraufhin die junge Dame die Tür öffnete, sich mit einem Rucksack vorsichtig auf den Beifahrersitz setzte und anschnallte. Ich betrachtete sie einen Moment und ließ meinen Blick über die kleine Nase zu den zusammengefalteten Händen streifen. Sie wirkte ziemlich in sich gekehrt. Doch ihr Blick zeugte von einem Selbstbewusstsein, dass mich in meine Schranken wies. So räusperte ich mich kurz, legte den ersten Gang ein und fuhr los. Und fand damit eine Komplizin, ohne zu wissen, wie kompliziert diese sein können.

Schweigend saßen wir nebeneinander, während wir nichts als das Rattern der rumorenden Räder hörten. Vor uns lag die in der Finsternis verschwindende Straße, deren Tristesse nur durch die vom fahlen Lichtkegel spärlich beschienenen Obstbäume am Fahrbahnrand aufgelockert wurde. Jeder von uns war in seine eigene kleine Gedankenwelt versunken. Immer, wenn ich versuchte meinen Mund zu öffnen und etwas zu sagen, klappte er direkt darauf und in der Geschwindigkeit eines Schweizer Taschenmessers wieder tonlos zu. Ich hatte das Gefühl, meine Sprache verloren zu haben. Als wären alle Worte gesagt und meine ganze Existenz verloren gegangen. Wer war ich denn überhaupt noch, außer ein mieser, kleiner Autodieb?

Als ich wenige Jahre zuvor die Dreißiger-Marke überschritten hatte, kam sie bei mir das erste Mal auf: Die Frage nach dem Sinn des Lebens. Obwohl ich bis dahin ein sorgloses Leben geführt und alles bekommen hatte, wonach ich mich je gesehnt hatte, tauchte ganz plötzlich und ohne Vorwarnung ein Gefühl von zwischen den Fingern verflossener Zeit auf. Ab diesem Augenblick quälten mich aus dem Nichts heraus ständig Fragen, was ich im Leben noch erreichen wollte. Wohin mich die Reise führen soll. All die Jahre zuvor hatte ich auf ein festes Ziel hingearbeitet: Erst machte ich mein Abitur, um direkt darauf (oder um es genauer zu sagen, drei Tage später) mein BWL-Studium an der Hochschule zu beginnen. Als ich nach der Regelstudienzeit als Betriebswirt betitelt wurde, fing ich in einer großen Firma als Unternehmensberater an und war seitdem die Karriereleiter Stück für Stück emporgestiegen. Während meine alten Freunde Familienvans kauften und Hochzeitsbilder auf Internetplattformen zeigten, recherchierte ich Zahlen und bereitete Präsentationen vor. Was mich wiederum nicht weiter störte, denn während meine Bekannten sich um Kredite bemühten und jeden Cent zweimal umdrehten, wuchs mein Kontostand stetig an. Mein Leben verlief genau nach Plan und deshalb fühlte es sich fremd an, als mir plötzlich der Gedanke kam, alles im Leben erreicht zu haben, was meine Kopfkarten hergaben. Die Zeit raste unerbitterlich weiter. Mir war bewusst, dass ich meinen physischen Entwicklungshöhepunkt bereits überschritten hatte und selbst mein kognitives Niveau bald an seinem Zenit angelangt war. Ab diesem Zeitpunkt würde es nur noch bergab gehen. Und die Uhr würde beständig weiter ticken. Um es auf den Punkt zu bringen: Ich hatte schlicht und ergreifend Schiss davor, alt zu werden und meine Zeit zu vertrödeln. In einigen schlaflosen Nächten überlegte ich fieberhaft, was andere Leute im Leben antrieb – außer Milchshakes und diversen anderen Milchprodukten. Ich las Texte über den Mensch als soziales Wesen, der dazu bestimmt sei, sich fortzupflanzen. Doch während mir die Sache mit dem Fortpflanzungsakt ziemlich gut gefiel, konnte ich mir nicht vorstellen, selber einmal Kinder in die Welt zu setzen. Zwar ging mir jedes Mal, wenn ich ein Kind lachen und spielen sah, mein Herz über vor lauter Freude; allerdings kam ich mir selber nicht nur zu Ich-orientiert, sondern um ehrlich zu sein, vor allem zu fehlerhaft vor. Ich hatte keine guten Augen, musste regelmäßig mit Migräne-Attacken zurechtkommen und die Liste der Krankheiten in meinem familiären Umfeld war lang und schwerwiegend. Selbst eine Beziehung hatte nur selten Platz in meinem durchgetakteten Leben. Ich ließ mich zwar immer wieder auf eine Partnerin ein, allerdings scheiterte es oft schon nach kurzer Zeit daran, dass ich »zu kompromisslos« sei oder »Die Arbeit immer an erster Stelle« stünde. So blieb es meist bei losen Bekanntschaften oder eben Gelegenheitsangelegenheiten.

Weiterhin las ich, dass der Lebenssinn darin bestünde, glücklich zu werden und Dinge zu tun, die dem Menschen am Herzen liegen. Mit dieser Antwort konnte ich schon mehr anfangen. Doch wenn ich gewusst hätte, was mich glücklich machen würde, hätte ich mir womöglich gar nicht erst die Sinnfrage gestellt. So überlegte ich weiter, wann ich in meinem Leben glücklich gewesen war. Zuerst fielen mir die großen Feste ein, wie etwa Weihnachten, meine Kinderkommunion oder Geburtstage. Aber da ich weder Partyplaner werden, noch als lebendiger Weihnachtsmann auftreten wollte – wenngleich mir das endlich den Freifahrtschein geliefert hätte, den vielen süßen Weihnachtssünden endlich mit offenen Armen und vor allem einem offenen Mund gegenüberzutreten – grübelte ich weiter. Ich dachte an das Kuchenbacken mit Oma und die Radtouren mit meinen Eltern. Und vor allem an die Urlaube und die wunderschönen, unberührten Gebiete dieser Welt, in denen ich mich wie ein Forscher in geheimer Mission gefühlt hatte. So setzte ich mir in den Kopf, irgendwann einmal die Erde zu bereisen. Allerdings wollte ich mir nicht nur ein Jahr Auszeit nehmen und mal in die große, weite Welt hineinschnuppern, sondern aufs Ganze gehen und jeden Winkel unberührter Natur entdecken. Ich nahm mir vor, meine besten Jahre der Karriere zu widmen und dabei so viel herauszuschlagen, wie es nur möglich war. Damit ich mich, wenn ich vierzig oder einundvierzig Jahre alt sein würde, für immer absetzen könnte. In meinen Recherchen fand ich heraus, dass es dafür eine Bezeichnung gab: Frugalismus. Diese Frugalisten führen ihr Leben so sparsam wie möglich, um später frei und selbstbestimmt für sich sorgen zu können. Und letztendlich war das genau das, was ich wollte. So traf ich kurzerhand die Entscheidung, den Lebensstil eines Frugalisten zu übernehmen und auf ein Leben nach der Arbeitswelt zu sparen. Und da Sinngebung maßgeblich zum Glücklichwerden beiträgt, hatte ich in diesem glücklichen Moment das Gefühl, wieder voller Glückseligkeit auf etwas hinarbeiten zu können. Und meinem Leben einen neuen Sinn zu verleihen.

So kasteite ich mich tagein und tagaus, um den Plan minutiös einhalten zu können. Schließlich war Planung das halbe Leben und die Hälfte ein großer Teil vom großen Ganzen. Doch nun saß ich hier, ziemlich ungeplant, einige Jahre später in einem geklauten Wohnmobil mit einer schweigsamen Dame und musste mir darüber klar werden, dass wegen eines Milchshakes mein gesamtes Planquadrat auf der Kippe stand. Und während ich weiter darüber nachsinnierte, hörte ich zu meiner Rechten ein leises Stimmchen, das auch von einem Engel hätte stammen können, welches sagte »My name is Julie, by the way. And who are you?« Und da es das Einzige war, was ich momentan mit Sicherheit wusste, antwortete ich: »Hi, my name is Günter«.

Kapitel 5

Nach diesen ersten Sätzen verstummte das Gespräch wieder und das Wohnmobil steuerte ziellos durch die Nacht. Hätte man uns aus der Vogelperspektive beobachtet, hätte man das Fahrzeug vermutlich für ein Pinball-Spiel gehalten, bei dem der Ball in weitem Bogen vom Rand abprallt, sobald er in Berührung mit diesem gerät. Was nicht etwa an meinem eigenwilligen Fahrstil gelegen hätte, sondern viel mehr in der nahenden deutschen Grenze begründet lag. Denn immer, wenn die Kilometerangaben auf den Straßenschildern in Richtung Deutschland zusammenschrumpften, bog ich gezielt an der nächsten Kreuzung ab, um etwas Distanz zwischen das Wohnmobil und den Grenzübergang zu bringen. Mittlerweile war ich mir ziemlich sicher, dass man es als gestohlen gemeldet hatte und die Handschellen nur auf mich warteten. So hinterließ ich lieber meine Reifenspuren auf holländischem Boden, als mich ins Bodenlose zu stürzen.

Die Dunkelheit verschluckte uns regelrecht und die Monotonie der flirrenden Straßenmarkierungen versetzte mich in eine Art Trance. Die Augenlider wurden schwer und ich versuchte mich stärker zu konzentrieren. Ich musste weiterfahren, musste fliehen. Die Müdigkeit drohte mich zu übermannen und so tat ich das einzig Sinnvolle, das jeder Autofahrer in diesem Moment tun würde: Ich schaltete das Radio ein. Doch außer Krächzen und Gedudel gab es nicht viel Aufheiterndes von sich. Zarte Nebelwölkchen tanzten in dem matten Licht der Scheinwerfer und bedeckten den Sternenhimmel über uns. Die Straße hatte sich von den ersten Regenschauern der letzten Tage, nach den ungewöhnlich regenarmen Monaten zuvor, dunkel vollgesogen wie ein Schwamm. Die Luft war in dieser unheilvollen Nacht zum Schneiden dick. Ich versuchte der Müdigkeit zu trotzen und mit den Augen der Straßenbegrenzung zu folgen: Weiß – schwarz – weiß – schwarz. Wie eine Figur eines Schachspiels übersprang ich Feld um Feld, bis aus dem Nichts ein jäher Schrei durch die Nacht gellte.

Bevor ich ihn Julie zuordnen konnte, trat ich mit voller Wucht auf das Bremspedal. Hörte Reifen quietschen, Bremsen blockieren. Kam mit einem Rumpeln zum Stehen. Alles ging so schnell, dass ich nicht sofort verstand, was vor sich ging. Irgendwie hatte sie sich vom Sitz gelöst und war in die Dunkelheit der Nacht gestürmt. Ich eilte ihr nach. Sie hatte sich unter das Fahrzeug geworfen. Von ihrer Existenz zeugten nur noch ihre Füße, die wild unter der Motorhaube hin und her strampelten. Sie schaute nach was auch immer wir überfahren hatten – oder wen auch immer ich überfahren hatte…!

Gänsehaut überzog meine Arme und ich tippelte von einem Fuß auf den anderen. Und malte mir bereits die Schlagzeilen aus: Wohnmobildieb und Mörder auf freier Flucht. Mir wurde übel und ich schleppte mich zum Fahrbahnrand.

Nun konnte ich sie mit gedämpfter Stimme etwas Nuscheln hören, allerdings war ich zu sehr damit beschäftigt, Herr über mein eigenes Wesen zu sein, als dass ich viel davon verstanden hätte. Erst nach einer gefühlten Ewigkeit des Schreckens wurden aus Julies Füßen wieder Beine und aus dem zarten Körper ein vollständiger Mensch. Als sie in ihrer ganzen Gestalt vor mir stand, hielt sie etwas Weißes in den Armen. Glücklicherweise keinen Menschenkadaver, sondern mehr eine Art Fellball, der die Größe einer Salatschüssel hatte.

Während Julie auf Französisch vor sich hin flüsterte, ließ ich meinen Blick über die Straße wandern. Kein Laut war zu hören, kein Auto in Sicht. Die perfekte Gelegenheit, um den Rückwärtsgang einzulegen und von vorne zu beginnen. Doch statt in drei Zügen zu wenden, wendete ich mich wieder Julie zu, die das Wesen auf dem Arm beruhigend streichelte. Ich versuchte zu erkennen, um welche Art Tier es sich handelte und sah, dass sich sein Brustkorb hob und senkte. Es lebte. Tausende Steine fielen von meinem Herzen und in meinem Gesicht breitete sich ein dümmliches Grinsen aus. Julie sah mich durchdringend an und flüsterte »Un lièvre. Rabbit, ‚Ase«. Und als ich in ihre sorgenvollen und bekümmerten Augen sah, machte mein Herz noch einen kleinen Hüpfer. Denn das Tier lebte. Und ich war nicht allein.

Das gute Gefühl währte nur kurz. Zwischen mir und Julie, die neben Französisch und Englisch scheinbar auch Deutsch sprach, entbrannte eine heiße Diskussion. Sie wollte augenblicklich in die Tiernotfallklinik fahren und den Hasen untersuchen lassen. Doch was im normalen Leben mit Sicherheit die weiseste Entscheidung gewesen wäre, erschien in einem Moment, in dem man seine Identität um jeden Preis verbergen möchte, als das Abstruseste, was man tun könnte. Schließlich muss man dort einen Namen, eine Telefonnummer und einen Tathergang hinterlassen, der doch genau in diesem Augenblick so geheim war, dass er eigentlich in einem Tresor eingeschlossen werden müsste. So folgte ein lautstarker Streit auf Leben und Tod – Sein oder Nicht-Sein, das war hier die Frage. Vermutlich hätten wir noch bis in die frühen Morgenstunden diskutiert, hätte das Häschen nicht erbärmlich zu Zittern begonnen. Mit einem einvernehmlichen Nicken kletterten wir gemeinsam in die Wohnkabine und holten vom Sofa einen weichen Überwurf, auf dem es sich ein wenig aufwärmen konnte. Offenbar hatte es eine kleine Wunde am Hinterlauf, schien sonst jedoch gesund zu sein. Mit Hilfe der Verbandstasche, die glücklicherweise gut sichtbar in der Beifahrertür gehangen hatte, desinfizierte Julie die betroffene Stelle und verband das Bein behelfsmäßig. Während sie dem Tier gut zuredete, fragte sie mich nach etwas Wasser. Ich stammelte herum, begab mich nach einigem Murren aber dann doch auf die Suche. Vorsichtig rüttelte ich am ersten Schrank, der fest verschlossen war. Ich versuchte mein Glück an einer Schublade, die sich jedoch auch nicht kompromissbereiter zeigte. Ich biss mir auf die Unterlippe. Hier musste es doch einen Trick geben. Verstohlen sah ich zu Julie hinüber, die glücklicherweise so in die Pflege ihres Schützlings vertieft war, dass sie von alledem nichts mitbekam. Im schalen Licht der Pendelleuchte versuchte ich auszumachen, ob es möglicherweise einen kleinen Riegel gab, der die Türen bei der Fahrt blockierte. Doch vergeblich. Es blieb nicht mehr viel Zeit übrig, bis Julie bemerken würde, dass hier Etwas nicht stimmte. Ich umfasste erneut den Schranktürgriff und ertastete einen kleinen Knopf auf der Innenseite, der mir, als ich ihn drückte und gleichzeitig an der Tür zog, den magischen Sesam öffnete. Zumindest eine sehr geblümte Version davon. Denn nachdem sich die Tür mit einem kurzen Ruck öffnete, war der Boden mit einer ganzen Heerschar von geblümten Handtüchern und Küchenlappen bedeckt. Julies Kopf schnellte in die Höhe. Sie musterte mich kritisch. Mit einem Schulterzucken sammelte ich eifrig das Durcheinander zusammen und fand glücklicherweise im nächsten Schrank einige Flaschen von dem stillen Wasser, das angeblich sogar tote Goldfische zum Leben erweckte. Nach einigem Klappern und Wühlen hatte ich schließlich auch eine Müslischale im Achtzigerjahre-Design gefunden und konnte Julie das geforderte Wasser reichen. Lange würde ich diesen Affentanz nicht mehr durchhalten können.

Obwohl Julie weiter darauf drängte, augenblicklich eine Tierklinik aufzusuchen, konnte ich sie davon überzeugen, bis zum Morgen abzuwarten. Wir einigten uns darauf, dass es für diese Nacht wohl das Beste wäre, eine ruhige Ecke zu suchen und eine Pause einzulegen. Der Tag war ereignisreich für zwei gewesen und ich hatte kein Interesse daran, noch weitere freiwillige oder unfreiwillige Passagiere aufzulesen. Mit einem bedachten Blick auf die Tankanzeige, die gefährlich Richtung Null zeigte, bog ich bei der nächsten Gelegenheit auf einen kleinen Parkplatz ein, bot Julie das Bett an und rollte mich auf der durchgesessenen Rückbank ein. Ich ließ mich von der Müdigkeit und wilden Träumen hinfort reißen. Hinein in eine Welt voller rauchender, Lederjacken tragender Kaninchen in fliegenden Wohnmobilen.

Von der Morgensonne geweckt, schlug ich langsam die Augen auf und versuchte mich zu orientieren. Mein Blick wanderte über die gerüschten Gardinen mit Blumenensemble, die muffig schwer neben meinem Kopf baumelten, der hart an die beschlagene Fensterscheibe gelehnt war. Vor mir befand sich eine dünne Tischplatte in Eichenholzfolierung, deren dunkle Optik sich im gesamten Innenraum wiederfand. Gegenüber der Sitzecke war eine schmale Küchenzeile zu finden, ein Waschbecken und zwei Herdplatten, Hängeschränke und ein surrender Kühlschrank, dessen eintöniges Brummen meinem Schädel Ausdruck verlieh. Daneben war die Nasszelle untergebracht, mit der Tür zu meinem selbstgeschaffenen, stinkenden Gefängnis. Im hinteren Teil lag durch eine Art Schiebetür getrennt eine Schlafkabine mit Hängeschränken.

Ich brauchte eine Weile, um zu verstehen, dass dies nicht meine kleine, aufgeräumte Zwei-Zimmer-Wohnung war, sondern ein ziemlich altbackenes Wohnmobil, in dem ich mich zu meiner Verwirrung wiederfand. Während ich langsam meine schmerzenden und versteiften Glieder streckte, sickerte Stück für Stück die Erinnerung an den vergangenen Tag durch. Der Lauf, der Wohnmobil-Diebstahl, die beiden Kerle mit den Lederjacken, Julie. Ich richtete mich etwas auf und versuchte einen Blick in die Schlafkabine zu werfen. Ich konnte zerwühlte Kissen und Decken sehen und davor auf dem Boden das Kaninchen, das mich mit seinen roten Augen anfunkelte. Julie konnte ich jedoch nicht entdecken. Ob sie abgehauen war? Ich stand auf und schleppte meinen müden Körper zur Tür, die in dem Moment aufgeschleudert wurde. Vor mir stand eine Julie mit zerwühlten Haaren und roten Wangen und blickte mich fragend an.

»Ich weiß nicht, was du auf der Toilette angestellt hast, aber das ist einfach nur ekelhaft.«, warf sie mir mit ihrem französischen Akzent entgegen.

So hatte sie lieber den Wald aufgesucht, als einen Schritt in die Waschmöglichkeiten zu setzen. Und nach einem Blick durch die Tür konnte ich dem nur zustimmen. Die noch immer geöffnete Toilette war scheinbar bei der wilden Fahrt das eine oder andere Mal übergeschwappt, sodass sich die braune, stinkende Flüssigkeit nicht nur als schickes Stillleben an den Wänden wiederfand, sondern sich in langen Bahnen über den Boden verteilt hatte. Mit hochrotem Kopf verschloss ich den Klodeckel und zudem auch die Tür so fest ich konnte. Sperrgebiet.

Nachdem ich ebenfalls dem Ruf der Natur in natürlicher Umgebung gefolgt war, schaute ich mich auf dem leeren Parkplatz um. Es handelte sich um einen Rastplatz mit überquellenden Müllbehältern, einer Vielzahl an zerknüllten Taschentüchern, die wie Lametta die Büsche dekorierten, und entdeckte dabei eine bereits sehr mitgenommene Wanderkarte auf einem morschen Holzpfahl, der wiederum als Knooppunt beschriftet war. Ich versuchte zu erkennen, wo wir waren, aber die wilde Anordnung von Zahlen in einem Wegenetz erschwerte mir die Ansicht. Immerhin konnte ich irgendwann einordnen, dass wir uns bei Limburg in den Niederlanden befanden. Es gab eine Vielzahl von Grenzübergängen zwischen Holland und Deutschland und mir wurde bei dem Gedanken, dass man vermutlich nicht jede einzelne Straße überwachen konnte, eine Spur leichter ums Herz. Als ich zurückkam, war Julie bereits damit beschäftigt Schränke und Schubladen nach Essensvorräten zu durchsuchen, wobei sie lautstark mit Alu-Töpfen und Tellern schepperte, die sich ihr in den Weg stellten. Mein Magen rebellierte und ich hoffte inständig, dass sie fündig werden würde. Sie legte ihre Fundstücke auf den Tisch – eine verschweißte Packung Schwarzbrot, Marmeladenpäckchen, wie man sie früher auf Flugreisen bekam, Müsliriegel mit Schokoladenüberzug und eine Flasche Wasser – und sah mich mit eben jenem prüfenden Blick an, den ich bereits am vergangenen Abend zu spüren bekommen hatte.