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Wie Willensstärke unsere Persönlichkeit prägt
Es ist das wohl berühmteste Experiment in der Geschichte der Psychologie: Ein Kind bekommt einen Marshmallow vorgesetzt und hat die Wahl – sofort aufessen oder warten, um später zwei zu bekommen? Wird es zögern oder zugreifen? Und was bedeutet diese Entscheidung für sein späteres Leben? Walter Mischel, weltbekannter Psychologe und Erfinder des Marshmallow-Tests, zeigt in seinem Buch, wie Selbstdisziplin unsere Persönlichkeit prägt – und wie sie uns, in gesundem Maße, hilft, unser Leben zu meistern.
Als Mischel vor mehr als vierzig Jahren vier- bis sechsjährige Kinder zum Marshmallow-Test bat, wollte er herausfinden, wie Menschen auf Verlockungen reagieren. Eher durch Zufall entdeckte er, dass die Fähigkeit der Kinder zum Belohnungsaufschub beeinflusste, wie sie später ihr Leben meistern würden. Je besser es ihnen gelang, sich zu beherrschen, desto eher entwickelten sie Selbstvertrauen, Stressresistenz und soziale Kompetenz.
Wie aber kommt es, dass manche Menschen offenbar über stärkere Willenskraft verfügen als andere? Und, noch wichtiger: Ist diese Fähigkeit genetisch veranlagt oder kann man sie lernen? Walter Mischel beschäftigt sich seit mehr als vierzig Jahren mit diesen Fragen – im vorliegenden Buch präsentiert er seine faszinierenden Erkenntnisse zum ersten Mal der breiten Öffentlichkeit.
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Seitenzahl: 490
WALTER MISCHEL
DER Marshmallow-Effekt
Wie Willensstärke unsere Persönlichkeit prägt
Aus dem Englischen von Thorsten Schmidt
PANTHEON
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Erste Auflage
März 2015
Copyright © 2014 by Walter Mischel
Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2015 by Siedler Verlag, München,
in der Verlagsgruppe Random House GmbH
Umschlaggestaltung: Büro Jorge Schmidtunter Verwendung des Designs von Rothfos und Gabler auf der Grundlage eines Motivs von Simon Lee und des Designs von Chin-Yee Lai
Lektorat: Nico Schröder, Hamburg, und
Fritz Jensch, München
Satz: Ditta Ahmadi, Berlin
Grafik: Peter Palm, Berlin
ISBN 978-3-641-11927-0V002
www.siedler-verlag.de
Für Judy, Rebecca und Linda
Inhalt
Vorwort zur deutschen Ausgabe
Einleitung
TEIL IBelohnungsaufschub und Selbstkontrolle
1 – Im »Überraschungszimmer« der Stanford University
2 – Wie sie es schaffen
3 – Heißes Denken, kühles Denken
4 – Wie die Fähigkeit zur Selbstkontrolle entsteht
5 – Die besten Pläne
6 – Träge Heuschrecken und fleißige Ameisen
7 – Ist es »vorprogrammiert«? Die neue Genetik
TEIL IIVon Marshmallows im Kindergarten zur Altersvorsorge
8 – Der Erfolgsmotor: »Ich denk’, ich kann’s!«
9 – Ihr zukünftiges Selbst
10 – Jenseits des Hier und Jetzt
11 – Das verletzte Selbst schützen: Selbstdistanzierung
12 – Schmerzliche Emotionen abkühlen
13 – psychische Immunsystem
14 – Wenn sich kluge Leute dumm verhalten
15 – Wenn-dann-Verhaltenssignaturen der Persönlichkeit
16 – Der gelähmte Wille
17 – Der erschöpfte Wille
TEIL IIIVom Labor ins Leben
18 – Marshmallows und Politik
19 – Strategien der Selbstkontrolle
20 – Die Natur des Menschen
ANHANG
Dank
Personenregister
Sachregister
Vorwort zur deutschen Ausgabe
DIE DEUTSCHSPRACHIGE AUSGABE meines Buches hat für mich eine besondere Bedeutung. Ich wurde in Wien geboren, und bis heute ist es immer wieder ein spezielles Erlebnis, mich in meiner Muttersprache zu verständigen. Doch ich lese und schreibe Deutsch wie ein Achtjähriger.
So alt war ich, als meine Familie 1938 vor den Nazis nach Amerika fliehen musste. Als Neuankömmling in Brooklyn schickte man mich in den Kindergarten, damit ich Englisch lernte. Manchmal kroch ich auf meinen Knien, um unter den Fünfjährigen nicht aufzufallen. Bald darauf musste ich einen Intelligenztest absolvieren – auf Englisch. Meine Lehrerin erklärte mir, wie enttäuscht sie war über das schlechte Ergebnis.
Irgendwie habe ich es trotzdem geschafft, mich in der neuen Welt zu behaupten. Aber eine gesunde Skepsis über die Aussagekraft von psychologischen Tests habe ich mir ein Leben lang bewahrt. Diese Zweifel schwangen auch mit, als ich als junger Wissenschaftler zum ersten Mal jene Methode entwickelte, die später Marshmallow-Test genannt wurde. Zunächst wollte ich nur herausfinden, wie Kinder mit Versuchungen umgehen und wie sie ihnen widerstehen. Bald aber wurde mir klar: Die Fähigkeit zum selbsterlegten Aufschub einer Belohnung ist ein wichtiger Teil der Reifung unserer Persönlichkeit.
Es gibt keinen Automatismus, das Ergebnis beim Marshmallow-Test lässt nicht zwangsläufig darauf schließen, ob ein Kind später ein gutes Leben, Glück oder Erfolg haben wird. Oder ob es gute Schulleistungen zeigt, viele Freunde hat, keine Drogen nimmt, eine harmonische Partnerschaft führt. Aber die Chance, überhaupt eine stabile, zufriedene Persönlichkeit zu entwickeln, haben wir nur dann, wenn wir die Fähigkeit zur Selbstkontrolle lernen.
Selbstdisziplin ist kein Selbstzweck, sie ist zunächst einmal wertneutral. Sie kann für negative Ziele eingesetzt werden, auch der Mafiaboss profitiert davon. Und Selbstdisziplin führt im Extremfall zur Selbstkasteiung, zu einem freudlosen Dasein von Zwang und Entbehrung.
Aber nur wenn wir lernen, mit Versuchungen und unseren negativen Gefühlen umzugehen, werden wir die Freiheit haben, ein erfülltes Leben zu führen. Und dies wiederum hängt davon ab, wie wir unsere Umwelt wahrnehmen, ob wir unsere Erfolge oder Misserfolge eher den Umständen oder unserem eigenen Handeln zuschreiben, und wie wir die Zukunft betrachten. Darum geht es in diesem Buch.
Wir alle kennen diese Marshmallow-Momente. Ich möchte zeigen, wie wir mit ihnen umgehen und wie wir unseren Kindern helfen können, sie zu meistern. Es geht um die Entscheidungen, die wir treffen, um das Beste aus unserem Leben zu machen.
Walter Mischel, Januar 2015
Einleitung
WIE MEINE STUDENTEN, aber auch meine Kinder nur allzu gut wissen, fällt mir Selbstkontrolle nicht gerade leicht. Ich bin bekannt dafür, dass ich meine Studenten schon mal mitten in der Nacht anrief, um mich über den letzten Stand der neuesten Datenauswertung zu informieren – obwohl diese erst am Vorabend begonnen hatte. Beim Abendessen mit Freunden ist mein Teller – zu meiner Verlegenheit – oft als erster leer gegessen, während die anderen noch längst nicht fertig sind. Eben diese Ungeduld, aber auch die Erkenntnis, dass wir Strategien der Selbstkontrolle tatsächlich lernen können, führten dazu, dass mich diese Strategien ein Leben lang beschäftigt haben.
Die Fähigkeit, sofortige Belohnungen zugunsten künftiger Resultate aufzuschieben, ist eine kognitive Kompetenz, die man erwerben kann – das ist die Grundidee, die meine Forschungen antrieb und mich dazu brachte, dieses Buch zu schreiben. Unsere Studien, die vor fünfzig Jahren begannen und bis heute fortgeführt werden, haben gezeigt, dass diese Fähigkeit bereits in früher Kindheit sicht- und messbar ist und dass sie große Auswirkungen auf unser späteres Leben hat, auf unser Wohlergehen und unsere psychische, aber auch körperliche Gesundheit. Und was wegen der weitreichenden Folgen für die Erziehung von Kindern besonders wichtig ist: Wir können diese Fähigkeit beeinflussen; vor allem können wir sie durch bestimmte kognitive Strategien, die wir inzwischen identifiziert haben, verbessern.
Der Marshmallow-Test und die sich daran anschließenden Experimente haben in den letzten knapp fünfzig Jahren eine erstaunliche Welle an Forschungsarbeiten über Selbstkontrolle angestoßen – allein innerhalb der ersten Dekade dieses Jahrhunderts hat sich die Zahl der einschlägigen wissenschaftlichen Publikationen verfünffacht.1 In diesem Buch möchte ich von den Ergebnissen dieser Forschung berichten; sie hat die Mechanismen zutage gefördert, die Selbstkontrolle möglich machen, und sie hat uns gelehrt, wie wir sie im Alltag anwenden können.
ES BEGANN in den Sechzigerjahren mit einem einfachen Experiment, bei dem Kinder im Vorschulalter an der Bing Nursery School, einer Kindertagesstätte der Stanford University, in einem echten Dilemma steckten. Meine Studenten und ich stellten die Kinder vor die Wahl zwischen einer Belohnung (etwa einem Marshmallow), die sie sofort bekommen konnten, und einer größeren Belohnung (zwei Marshmallows), für die sie jedoch – bis zu zwanzig Minuten – warten mussten. Den Kindern standen viele Belohnungen zur Wahl, sie konnten sich aussuchen, was sie sich am meisten wünschten – Marshmallows, Kekse, Brezeln, Pfefferminzbonbons und manches mehr.
Amy2 zum Beispiel entschied sich für Marshmallows. Sie saß allein an einem Tisch und betrachtete sowohl den einen Marshmallow vor sich, den sie sofort haben konnte, als auch die beiden Marshmallows, die sie bekäme, wenn sie wartete. Neben den Süßigkeiten stand eine Tischglocke, die sie jederzeit läuten konnte, um den Versuchsleiter zu rufen und den einen Marshmallow zu essen. Oder sie konnte auf die Rückkehr des Versuchsleiters warten – und wenn Amy dann immer noch auf ihrem Stuhl saß und nicht schon begonnen hatte, den einen Marshmallow zu essen, konnte sie beide haben. Es trieb uns fast die Tränen in die Augen zu beobachten, wie sich diese Kinder regelrecht selbst quälten, um die Glocke nicht zu läuten; zugleich aber mussten wir ihre Kreativität bewundern und hätten sie am liebsten angefeuert. Es war aber auch ermutigend zu sehen, dass selbst kleine Kinder offenbar in der Lage sind, Verlockungen beharrlich zu trotzen, um sich später zu belohnen.
Eines jedoch überraschte uns völlig: Es stellte sich heraus, dass das, was die Vorschulkinder alles taten, um sich nicht verlocken zu lassen, und die Tatsache, ob es ihnen gelang, die Belohnung aufzuschieben, viel über ihr zukünftiges Leben verrieten. Je länger sie als Vier- oder Fünfjährige warteten, umso besser schnitten sie später bei Studierfähigkeitstests ab und umso höher wurden ihre soziale Kompetenz und ihr kognitives Leistungsvermögen im Jugendalter eingestuft.3 Als sie zwischen 27 und 32 Jahren alt waren, verfolgten diejenigen, die im Vorschulalter beim Marshmallow-Test länger gewartet hatten, ihre Ziele konsequenter und kamen besser mit Frustration und Stress zurecht, sie hatten ein höheres Selbstwertgefühl und überdies einen niedrigeren Body-Mass-Index. Im mittleren Alter konnte man in den Hirnarealen, die mit Suchtverhalten und Fettleibigkeit verknüpft sind, deutliche Aktivitätsunterschiede feststellen zwischen denjenigen, die konsequent warten konnten (»hoher Belohnungsaufschub«), und denjenigen, die dazu nicht in der Lage waren.
Aber was beweist der Marshmallow-Test wirklich? Ist die Fähigkeit, Belohnungen aufzuschieben, tatsächlich angeboren? Wie kann man Menschen diese Fähigkeit beibringen? Was ist ihre Kehrseite? In diesem Buch spreche ich all diese Fragen an, und die Antworten sind oft überraschend. Ich beschreibe, was »Willenskraft« ist und was sie nicht ist; ich zeige, welche Umstände die Willenskraft schwächen, auf welchen kognitiven Fähigkeiten und Motivationen sie basiert und welche Folgen es hat, wenn man Willenskraft ausübt. Außerdem gehe ich der Frage nach, was diese Erkenntnisse bedeuten: Müssen wir unsere bisherigen Annahmen über die menschliche Natur und unsere psychischen Funktionsmechanismen überdenken? Was sagt das alles darüber aus, wie sehr wir unsere Impulse, unsere Gefühle und Veranlagungen im Griff haben, wie und in welchem Ausmaß wir uns verändern können und schließlich: wie wir unsere Kinder erziehen sollten?
Jeder möchte wissen, wie Willenskraft funktioniert, wir alle hätten gern mehr davon – vor allem mit weniger Anstrengung –, für uns selbst, für unsere Kinder oder auch für unsere Verwandten, die sich eine Zigarette nach der anderen anstecken. Belohnungen aufschieben und Verlockungen widerstehen zu können, das war für uns Menschen schon immer eine große Herausforderung. Bei Adam und Eva, die im Garten Eden in Versuchung geführt werden, spielt Willenskraft eine zentrale Rolle. Oder für die Philosophen im alten Griechenland: Sie nannten Willensschwäche akrasia.
Über Jahrtausende hinweg galt Willensstärke als ein unveränderlicher Teil der Persönlichkeit – man besaß sie oder eben nicht; die vermeintlich Willensschwachen wurden dadurch zu Opfern ihres biologischen Erbes, ihres sozialen Milieus und all der Kräfte, die in einer bestimmten Situation auf sie einwirken. Selbstkontrolle ist von entscheidender Bedeutung, wenn wir langfristige Ziele erreichen wollen. Genauso wichtig ist sie, um Selbstbeherrschung zu lernen und enge Bindungen zu unseren Mitmenschen aufbauen zu können. Sie kann uns dabei helfen, dass wir nicht schon früh im Leben in eine Sackgasse geraten: dass wir nicht die Schule abbrechen, nicht gegenüber den Konsequenzen des eigenen Verhaltens abstumpfen oder nicht in verhassten Jobs stecken bleiben. Sie ist die »Leitkompetenz«, die der emotionalen Intelligenz zugrunde liegt – und ohne die wiederum ist ein erfülltes Leben schwer möglich.4
Doch trotz ihrer offensichtlichen Bedeutung wurde sie nie ernsthaft wissenschaftlich erforscht, bis meine Studenten und ich das Konzept gleichsam entmystifizierten. Wir entwickelten eine Methode zur empirischen Untersuchung, indem wir die zentrale Bedeutung der Selbstkontrolle für sozial angepasstes Verhalten nachwiesen und die psychischen Prozesse analysierten, die sie möglich machen.
Zu Beginn dieses Jahrhunderts nahm die öffentliche Aufmerksamkeit für den Marshmallow-Test zu – und sie wächst weiter. David Brooks widmete dem Thema 2006 einen Leitartikel in einer Sonntagsausgabe der New York Times;5 Jahre später führte er mit Barack Obama ein Interview, und der Präsident fragte ihn, ob er über Marshmallows reden wolle.6 Das Magazin New Yorker brachte 2009 einen großen Artikel über den Test, und im Fernsehen sowie in Magazinen und Zeitungen weltweit wird ausführlich über die einschlägigen Forschungen berichtet.7 Sogar das Krümelmonster aus der Sesamstraße versucht mithilfe des Tests seinen Keksdrang zu zügeln – um endlich in den »Klub der Kekskenner« aufgenommen zu werden. Die Marshmallow-Forschung beeinflusst die Lehrpläne vieler Schulen, in denen Kinder aus unterschiedlichsten sozialen Milieus unterrichtet werden – solche, die in Armut leben, und solche, die Eliteinternate besuchen. Internationale Investmentfonds nutzen die Forschungsergebnisse, um für Altersvorsorge zu werben.8 Und die Abbildung eines Marshmallows hilft bei jedem Einstieg in Diskussionen über das Thema Belohnungsaufschub, egal vor welchem Publikum. In New York sehe ich Kinder mit T-Shirts, auf denen Iss keine Marshmallows steht, und Kinder, die große Buttons mit dem stolzen Hinweis tragen: Ich hab den Marshmallow-Test bestanden. Zum Glück wächst mit dem öffentlichen Interesse am Thema Willenskraft auch die Menge und Qualität wissenschaftlicher Erkenntnisse über die psychischen und biologischen Voraussetzungen von Belohnungsaufschub und Selbstkontrolle. Wenn wir begreifen wollen, was genau mehr Selbstkontrolle und damit die Fähigkeit zum Belohnungsaufschub möglich macht, müssen wir nicht nur herausfinden, wie beides zustande kommt, sondern auch, wodurch es verhindert wird. Wie in der Geschichte von Adam und Eva verraten uns fast täglich neue Schlagzeilen, dass wieder mal eine prominente Persönlichkeit – ein Präsident; der ein oder andere Gouverneur; ein ehrenwerter Richter (eine vermeintlich moralische Stütze der Gesellschaft); ein Finanzgenie; ein hoffnungsvoller Jungpolitiker; ein Sportass oder ein Filmstar – ihre Zukunft vergeigt, weil sie einer jungen Praktikantin, einer Haushälterin oder einer illegalen Droge allzu nahe gekommen ist. Diese Personen sind schlau – nicht nur im Sinne jener Intelligenz, die der IQ abbildet, sie besitzen auch eine hohe emotionale und soziale Intelligenz –, andernfalls wären sie nie so weit gekommen. Warum verhalten sie sich dann so dumm? Und warum befinden sie sich in Gesellschaft so vieler anderer, die es allerdings nie in die Schlagzeilen schaffen?
Um diese Fragen zu beantworten, nutze ich die neuesten wissenschaftlichen Erkenntnisse. Im Zentrum stehen zwei eng miteinander verwobene Systeme im menschlichen Gehirn, das eine »heiß« – emotional, reflexgesteuert, unbewusst – und das andere »kühl« – kognitiv, reflektierend, langsamer und mehr Anstrengung erfordernd.9 Die spezifischen Wechselwirkungen zwischen diesen beiden Systemen, die sich in Anbetracht starker Verlockungen ergeben, bestimmen, wie Vorschulkinder mit Marshmallows umgehen und ob ihre Willenskraft der Verlockung gewachsen ist oder nicht. Was ich bei meinen Studien herausgefunden habe, hat meine lang gehegte Vorstellung vom Wesen und den Ausdrucksformen der Persönlichkeit komplett infrage gestellt – aber auch vom Spielraum für Veränderungen des Charakters aus eigenem Antrieb.
Der erste Teil, »Belohnungsaufschub und Selbstkontrolle«, erzählt die Geschichte des Marshmallow-Tests und der Experimente, in denen Vorschulkinder das taten, was Adam und Eva im Garten Eden nicht tun konnten. Dank dieser Forschungsarbeiten konnten wir herausfinden, wie die mentalen Prozesse und Strategien beschaffen sind, mit denen wir heiße Verlockungen abkühlen, Belohnungen aufschieben und Selbstkontrolle entwickeln. Sie deuteten auch auf potenzielle neuronale Mechanismen im Gehirn hin, die diesen Fähigkeiten zugrunde liegen. Jahrzehnte später wenden Hirnforscher bei ihren Studien modernste bildgebende Verfahren an, um die Verknüpfungen zwischen Geist und Gehirn zu entschlüsseln und uns dabei zu helfen, die Leistungen dieser Vorschulkinder zu verstehen.
Die Ergebnisse der Marshmallow-Studien führen zwangsläufig zu der Frage, ob die Selbstkontrolle fest angelegt, also genetisch vorgegeben ist. Jüngste Erkenntnisse auf dem Gebiet der Genetik haben diese Frage neu beantwortet. Sie offenbaren die erstaunliche Formbarkeit unseres Gehirns und revolutionieren unsere Ansichten über die Rolle von Erziehung und DNA, Umwelt und Anlage und über die Formbarkeit der menschlichen Natur. Diese Erkenntnisse wirken weit über das Forschungslabor hinaus und widersprechen gängigen Vorstellungen über das Wesen des Menschen.
Der erste Teil lässt eine offene Frage im Raum stehen: Wenn Vorschulkinder auf mehr Süßigkeiten warten, statt die Glocke zu läuten und sich mit weniger zu begnügen, lassen sich daraus Prognosen über ihren Erfolg und ihr Wohlergehen im späteren Leben ableiten – aber warum ist das so? Diese Frage beantworte ich im zweiten Teil: »Von Marshmallows im Kindergarten zur Altersvorsorge«. Ich untersuche, wie die Fähigkeit zur Selbstkontrolle den Lebensweg vom Kindergarten bis zur Altersvorsorge beeinflusst, wie sie den Weg zu Erfolgserlebnissen und positiven Erwartungen ebnet – eine innere Einstellung nach dem Motto »Ich weiß, ich kann es (schaffen)!« – und ein starkes Selbstwertgefühl erzeugt. Auch wenn die Fähigkeit zur Selbstkontrolle ein erfolgreiches und erfülltes Leben natürlich nicht garantiert, so steigert sie doch die Chancen dazu enorm; sie hilft uns, schwierige Entscheidungen zu treffen und uns genügend anzustrengen, um unsere Ziele zu verwirklichen. Wie gut dies funktioniert, hängt nicht nur von unseren Fähigkeiten ab, sondern auch davon, wie wir Ziele und Werte verinnerlicht haben, die die zukünftige Lebensgestaltung maßgeblich anleiten – und von der Motivation, die groß genug sein muss, um unvermeidliche Rückschläge wegzustecken.
Wie lässt sich die Fähigkeit zur Selbstkontrolle für ein erfülltes Leben nutzen? Wie können wir unsere Willenskraft mit immer weniger Aufwand immer besser automatisch mobilisieren, und dies sogar als befriedigend empfinden? Dies sind Fragen, denen ich im zweiten Teil nachgehe, und wie das Leben selbst nimmt er zuweilen einen überraschenden Verlauf. Es geht dabei nicht nur darum, Verlockungen zu widerstehen, sondern auch um diverse andere Herausforderungen für unsere Selbstkontrolle, etwa schmerzliche Gefühle abzukühlen, Liebeskummer zu überwinden, Depressionen zu vermeiden oder auch wichtige Entscheidungen zu fällen, die zukünftige Konsequenzen mit berücksichtigen.
Aber der zweite Teil zeigt nicht nur die Vorteile, sondern auch die Grenzen der Selbstkontrolle klar auf: Zu viel Selbstkontrolle lässt unser Leben ebenso unerfüllt erscheinen wie zu wenig.
Im dritten Teil, »Vom Labor ins Leben«, zeige ich, welche Konsequenzen die Forschungsergebnisse für die Politik haben. Ich konzentriere mich dabei auf gezielte pädagogische Maßnahmen, die bereits im Kindergarten ansetzen und wissenschaftliche Erkenntnisse über Selbstkontrolle berücksichtigen, um den Kindern, deren Lebensumstände von »toxischem« – unkontrollierbarem – Stress geprägt sind, eine Chance auf ein besseres Leben zu geben. Anschließend fasse ich die in diesem Buch vorgestellten Konzepte und Strategien, die uns in unserem alltäglichen Ringen um Selbstkontrolle helfen können, noch einmal zusammen. Im Schlusskapitel zeige ich, wie die Forschungsergebnisse über Selbstkontrolle, Genetik und Plastizität des Gehirns unsere Vorstellung von der menschlichen Natur und unsere Sicht auf die Möglichkeiten und Grenzen der Persönlichkeitsentwicklung verändert haben.
Während ich dieses Buch schrieb, habe ich mir vorgestellt, ich würde mit Ihnen ein lockeres Gespräch führen – so wie ich es mit Freunden und Kollegen tat, als wir uns die Frage stellten: Was sind eigentlich die neuesten Erkenntnisse der Marshmallow-Forschung? Schon bald schweifen wir ab und fragen uns, ob sich diese Erkenntnisse vielleicht auch auf gewisse Aspekte unseres eigenen Lebens anwenden lassen: Wie wir unsere Kinder erziehen oder neue Mitarbeiter einstellen; wie wir unkluge persönliche und berufliche Entscheidungen vermeiden; wie wir großen Kummer überwinden; aber auch, wie wir mit dem Rauchen aufhören, unser Gewicht halten, unser Bildungswesen reformieren – oder schlicht unsere eigenen Schwächen und Stärken erkennen. Ich habe dieses Buch für all diejenigen geschrieben, die sich – genau wie ich – mit Selbstkontrolle immer schon schwergetan haben. Aber auch für alle, die genauer wissen möchten, wie unsere Psyche funktioniert. Ich hoffe, Der Marshmallow-Test wird auch Sie zu vielen anregenden Gesprächen inspirieren.
1S. M. Carlson, P. D. Zelazo und S. Faja: »Executive Function«, in: Oxford Handbook of Developmental Psychology, hg. v. P. D. Zelazo, New York 2013: S. 706–743.
2 Um die Anonymität und Privatsphäre der Personen zu schützen, habe ich ihre Vornamen geändert.
3 W. Mischel, Y. Shoda und M. L. Rodriguez: »Delay of Gratification in Children«, Science 244, Nr. 4907, 1989: S. 933–938.
4D. Goleman: Emotionale Intelligenz (Emotional Intelligence: Why It Can Matter More Than IQ), München 2001: S. 106–126.
5D. Brooks: »Marshmallows and Public Policy«, New York Times, 7. Mai 2006.
6W. Mischel und D. Brooks: »The News from Psychological Science: A Conversation between David Brooks and Walter Mischel«, Perspectives on Psychological Science 6, Nr. 6, 2011: S. 515–520.
7J. Lehrer: »Don’t: The Secret of Self-Control«, The New Yorker, 18. Mai 2009.
8S. Benartzi und R. Lewin: Save More Tomorrow: Practical Behavioral Finance Solutions to Improve 401(k) Plans, New York 2012.
9J. Metcalfe und W. Mischel: »A Hot/Cool System Analysis of Delay of Gratification: Dynamics of Willpower«, Psychological Review 106, Nr. 1, 1999: S. 3–19.
TEIL IBelohnungsaufschub und Selbstkontrolle
DER ERSTE TEIL BEGINNT in den Sechzigerjahren, wir befinden uns in der Bing Nursery School, einer Kindertagesstätte der Stanford University, genauer: im »Überraschungszimmer«, wie meine Studenten und ich es nannten. Dort entwickelten wir die Methode, die zum Marshmallow-Test wurde. Wir begannen mit Experimenten, die zeigen sollten, wann und wie Vorschulkinder dazu in der Lage sind, sich selbst zu beherrschen: auf zwei heiß begehrte Marshmallows zu warten, statt sich mit nur einem sofort zu begnügen. Je länger wir unbemerkt durch unser Beobachtungsfenster spähten, desto mehr staunten wir darüber, wie die Kinder versuchten, sich selbst zu disziplinieren und zu warten. Einfache Anregungen, sich die Leckereien ganz unterschiedlich vorzustellen, machten es ihnen entweder unmöglich oder aber besonders leicht, der Verlockung zu widerstehen. Unter manchen Bedingungen konnten sie mühelos warten, unter anderen läuteten sie die Glocke nur wenige Sekunden, nachdem der Versuchsleiter den Raum verlassen hatte. Wir forschten weiter, um mehr darüber herauszufinden, um zu verstehen, was die Kinder dachten und taten, damit sie sich beherrschen konnten, wie sie es sich einfacher machten, um ihre Selbstkontrolle nicht zu verlieren – oder es sich so viel schwerer machten, dass sie scheitern mussten.
Nach einigen Jahren entstand allmählich ein Modell der neuralen und psychischen Prozesse, die ablaufen, wenn sich Vorschulkinder und Erwachsene erfolgreich bemühen, Verlockungen zu widerstehen. Wie wir uns selbst beherrschen können – nicht dadurch, dass wir einfach nur durchhalten oder Nein sagen, sondern durch eine andere Art zu denken –, das ist Gegenstand des ersten Teils. Einige Menschen können sich schon in jungen Jahren besser beherrschen als andere, aber fast alle können sich mit gewissen Strategien die Selbstkontrolle erleichtern. Hier wird gezeigt, wie das möglich ist.
Wie wir herausfanden, sind die ersten Anflüge von Selbstkontrolle bereits im Verhalten von Kleinkindern unter drei Jahren sichtbar. Ist Selbstkontrolle also von vornherein festgelegt? Der erste Teil geht dieser Frage nach und nutzt dafür die jüngsten Erkenntnisse der Genetik, die ältere Sichtweisen des Anlage-Umwelt-Problems gründlich hinterfragen. Diese neue Sicht betrifft auch das Verhältnis zu unseren Kindern und zeigt ganz neue Ansätze und Anregungen, wie wir sie erziehen können.
1Im »Überraschungszimmer« der Stanford University
EINDRUCKSVOLLE SÄULEN zieren den Eingang der berühmten Medizinischen Fakultät der Universität von Paris, die den Namen von René Descartes trägt. In der Straße davor drängen sich Studenten und rauchen eine Zigarette nach der anderen, als warnten die Packungen nicht in großen Lettern vor den Gefahren des Rauchens. Jeder kennt die möglichen Folgen nur allzu gut, wenn wir nicht auf eine längerfristige Belohnung warten, sondern stattdessen lieber einer kurzfristigen Befriedigung nachgehen. Wir können das bei unseren Kindern beobachten, aber auch bei uns selbst. Jedes Mal wenn von den guten Vorsätzen zum Jahresbeginn – mit dem Rauchen aufhören, regelmäßig ins Fitnessstudio gehen, nicht länger mit unseren Liebsten streiten – noch vor Ende Januar nichts mehr übrig ist, erkennen wir, wie unsere Willenskraft versagt. Ich hatte einmal das Vergnügen, zusammen mit Thomas Schelling, Nobelpreisträger für Ökonomie, an einem Seminar über Selbstkontrolle teilzunehmen. Er fasste das große Dilemma der Willensschwäche so zusammen:
Was sollen wir von diesem rationalen Konsumenten, den wir alle nur zu gut kennen, bloß halten, der vor lauter Selbstekel seine Kippen wegwirft und dabei hoch und heilig schwört, nie wieder zu riskieren, seine Kinder durch Lungenkrebs zu Waisen zu machen – und drei Stunden später auf der Straße wieder nach Zigaretten giert? Der ein kalorienreiches Mittagessen zu sich nimmt, obwohl er ganz genau weiß, dass er es bereuen wird? Und tatsächlich bereut er es, er kann gar nicht verstehen, wieso er die Beherrschung verloren hat. Er beschließt, alles mit einem gesunden Abendessen wiedergutzumachen, ertappt sich dann aber wieder bei einem üppigen Mahl, obwohl er weiß, dass er es bereuen wird – und natürlich bereut er es. Der wie gebannt vor dem Fernseher sitzt, obwohl er ahnt, was am nächsten Morgen passieren wird: dass er noch vor dem Klingeln des Weckers in kalten Schweiß gebadet aufwachen wird, weil er sich nicht auf die Besprechung vorbereitet hat, von der seine weitere Karriere abhängt. Der den Ausflug nach Disneyland ruiniert, weil er außer sich gerät, als seine Kinder genau das tun, von dem er wusste, dass sie es tun würden. Dabei hatte er sich doch geschworen, beim nächsten Mal nicht mehr auszurasten.10
Ungeachtet der theoretischen Debatten darüber, ob es so etwas wie Willensstärke überhaupt gibt und wie sie beschaffen ist, wird sie von manchen Menschen kurzerhand praktiziert und eifrig geübt: Manche plagen sich ab, weil sie unbedingt den Mount Everest besteigen wollen, andere erdulden langjährige Entbehrungen und hartes Training, um an den Olympischen Spielen teilzunehmen oder als Tänzer Karriere zu machen, und wieder andere schaffen es, keine Drogen mehr zu nehmen, auch wenn sie jahrelang abhängig gewesen sind. Manche halten strenge Diätpläne ein oder gewöhnen sich das Rauchen ab, obwohl sie über Jahre hinweg Kettenraucher waren; andere scheitern, obwohl sie die gleichen guten Vorsätze haben. Und wenn wir uns selbst betrachten: Wie erklären wir, dass es uns gelingt, unsere Willenskraft und unsere Selbstkontrolle zu aktivieren – oder eben nicht?
Bevor ich 1962 als Professor für Psychologie an die Stanford University kam, habe ich in Trinidad und in Harvard Studien zum Thema Entscheidungsfindung durchgeführt; dabei stellten wir Kinder vor die Wahl: Sofort wenige Süßigkeiten bekommen oder später viele beziehungsweise sofort wenig Geld bekommen oder später mehr. (Um diese Studien geht es in Kapitel 6.) Aber unsere anfängliche Entscheidung, eine Belohnung aufzuschieben, und unsere Fähigkeit, sich trotz großer Verlockungen daran zu halten, gehen oft ihre eigenen Wege. Wenn ich ein Restaurant betrete, kann ich mich entscheiden, ja sogar den festen, eisernen Entschluss fassen: »Heute Abend keinen Nachtisch! Ich werde darauf verzichten, weil ich Cholesterin vermeiden sollte, das zunehmende Bauchfett, die schlechten Blutwerte …« Aber dann rollt der Ober den Dessertwagen heran und präsentiert mir eine Mousse au Chocolat – und ehe ich auch nur die Zeit habe, darüber nachzudenken, landet sie schon in meinem Mund. Da mir das sehr oft passierte, wollte ich wissen, wie es gelingt, an jenen tugendhaften Vorsätzen festzuhalten, die ich in schöner Regelmäßigkeit fallen ließ. Wenn Menschen beschlossen haben, eine Belohnung aufzuschieben, wie bringen sie es dann tatsächlich fertig, zu warten und der Verlockung zu widerstehen? Der Marshmallow-Test wurde zum Werkzeug, mit dem wir diese wichtige Frage erforschten.
Die Entwicklung des Marshmallow-Tests
VON DER ANTIKE über die Aufklärung bis hin zu Freud und in die Gegenwart hinein galten kleine Kinder als impulsive, hilflose Wesen, unfähig zum Belohnungsaufschub und immer nach sofortiger Bedürfnisbefriedigung strebend.11 Vor dem Hintergrund dieser naiven Vorstellungen staunte ich nicht schlecht, als ich sah, wie sich meine innerhalb weniger Jahre geborenen Töchter – Judith, Rebecca und Linda – in ihren ersten Lebensjahren veränderten. Die überwiegend glucksenden und schreienden kleinen Wesen lernten schon bald, sich mit allen Finessen gegenseitig zu ärgern und zugleich ihre Eltern zu entzücken. Und genauso schnell wurden aus ihnen Menschen, mit denen man faszinierende, gedankenreiche Gespräche führen konnte. Innerhalb weniger Jahre konnten sie sogar mehr oder weniger still sitzen und auf Dinge warten, die sie wollten, und ich versuchte mir einen Reim auf das zu machen, was sich vor mir am Küchentisch abspielte. Mir wurde klar, dass ich keinen blassen Schimmer davon hatte, welche inneren, psychischen Prozesse sie dazu befähigten, sich – jedenfalls die meiste Zeit – im Griff zu haben und angesichts von Verlockungen die Befriedigung aufzuschieben, selbst wenn sich niemand in ihrer Nähe aufhielt.
Ich wollte das Phänomen der Willensstärke besser verstehen lernen und vor allem die Fähigkeit, sofortige Belohnung zugunsten zukünftiger Vorteile aufzuschieben. Wie erleben Menschen das in ihrem Alltag und wie setzen sie es ein oder auch nicht? Um nicht bei bloßen Spekulationen zu bleiben, brauchten wir eine Methode, mit der wir erforschen konnten, wie sich diese Fähigkeit bei Kindern entwickelt. Bei meinen drei Töchtern konnte ich diese Entwicklung mit eigenen Augen beobachten, als sie die Kindertagesstätte der Stanford University besuchten. Diese gerade fertiggestellte, integrierte Erziehungs- und Forschungseinrichtung auf dem Campus war das ideale Versuchslabor. Es verfügte über Spiegelglasfenster, durch die man auf schöne Spielflächen blickte, und angeschlossene kleine Forschungsräume, in denen das Verhalten der Kinder unauffällig von einer Beobachtungskabine aus verfolgt werden konnte.
Wir benutzten einen dieser Räume für unsere Forschungen und erzählten den Kindern, dies sei das »Überraschungszimmer«. Wir führten sie in dieses Zimmer, in dem sie sich mit den »Spielen« beschäftigen sollten, die in Wahrheit unsere Experimente waren.
Im »Überraschungszimmer« verbrachten meine Doktoranden Ebbe Ebbesen, Bert Moore und Antonette Zeiss und ich – und noch viele andere Studenten – Monate voller Freude und Frust damit, die Methode zu erarbeiten, zu erproben und weiter zu verfeinern. Wenn man den Vorschulkindern zum Beispiel sagte, wie lange die Belohnung aufgeschoben würde – etwa fünf Minuten gegenüber fünfzehn Minuten –, hätte dies einen Einfluss darauf, wie lange sie warteten? Wie wir feststellten, spielte dies keine Rolle, da sie noch zu jung waren, um solche Zeitunterschiede zu verstehen. Hatte die relative Menge der Belohnungen einen Einfluss? Ja. Aber welche Arten von Belohnungen sollten wir verwenden? Wir mussten einen heftigen inneren Konflikt zwischen einem sehr verlockenden – heißen – Objekt, welches das Kind unbedingt sofort haben wollte, und einer doppelt so starken Verlockung erzeugen. Letztere erforderte von dem Kind jedoch, die Belohnung wenigstens ein paar Minuten aufzuschieben. Die Verlockung musste für kleine Mädchen und Jungen verständlich und ausreichend stark sein; sie musste altersgerecht sein und zugleich einfach und präzise messbar.
Vor fünfzig Jahren mochten die meisten Kinder Marshmallows vermutlich genauso sehr wie heute, aber manchmal – zumindest in der Bing Nursery School der Stanford University – sahen die Eltern es nicht sehr gern, es sei denn, eine Zahnbürste war zur Hand. Da es keine allgemeine »Lieblingsleckerei« gab, boten wir den Kindern eine breite Palette von Süßigkeiten an. Wofür sie sich auch entschieden, wir stellten sie vor die Wahl, entweder eine Süßigkeit sofort zu bekommen, oder zwei, wenn sie warteten, bis die Versuchsleiterin zurückkam. Während wir den Test nach und nach weiterentwickelten, waren wir völlig frustriert, als eine Bundesbehörde unseren ersten Antrag auf Förderung des Forschungsvorhabens ablehnte und uns riet, wir sollten uns doch an einen Süßwarenhersteller wenden. Wir befürchteten, dass uns vielleicht tatsächlich nichts anderes übrigblieb.
Meine früheren Forschungen in der Karibik hatten gezeigt, dass die Bereitschaft zum Belohnungsaufschub wesentlich von dem Faktor Vertrauen beeinflusst wird.12 Damit es zwischen dem Kind und dem Versuchsleiter zu einem Vertrauensverhältnis kam, spielten sie erst einmal so lange miteinander, bis sich das Kind wohlfühlte. Dann wurde es an einen kleinen Tisch gesetzt, auf dem eine Glocke stand. Um das Vertrauen weiter zu stärken, verließ der Versuchsleiter immer wieder den Raum, das Kind läutete die Glocke, und der Forscher kam sofort zurück, wobei er sagte: »Siehst du? Du hast mich zurückgeholt!« Sobald das Kind darauf vertraute, dass der Versuchsleiter nach dem Läuten immer sofort zurückkommen würde, begann der Test zur Selbstkontrolle, der dem Kind als ein Spiel beschrieben wurde.
Obwohl unsere Methode simpel war, gaben wir ihr den unglaublich sperrigen wissenschaftlichen Namen »Das Paradigma des selbst auferlegten Aufschubs sofortiger Befriedigung zugunsten verzögerter, aber höher geschätzter Belohnungen bei Kindern im Vorschulalter«. Nachdem der Kolumnist David Brooks auf unsere Forschungsarbeiten aufmerksam wurde und sie in einem Beitrag in der New York Times unter der Überschrift »Marshmallows und Politik« vorstellte, sprachen die Medien glücklicherweise nur noch vom »Marshmallow-Test«. Der Name blieb hängen, auch wenn wir oft andere Süßigkeiten verwendet haben.
Als wir das Experiment in den Sechzigerjahren entwickelten, haben wir die Kinder nicht gefilmt. Um den Ablauf des Marshmallow-Testverfahrens festzuhalten und die unterschiedlichen Aufschubstrategien der Kinder beim Warten zu verdeutlichen, hat Monica L. Rodriguez, die zuvor für mich im Rahmen einer Postdoc-Stelle tätig war, zwanzig Jahre später Fünf- bis Sechsjährige mit einer versteckten Kamera in einer staatlichen Schule in Chile gefilmt. Monica hielt sich an die gleiche Vorgehensweise wie wir bei den ursprünglichen Experimenten. Als Erstes war Inez an der Reihe, eine bezaubernde kleine Erstklässlerin mit ernstem Gesichtsausdruck, aber verschmitztem Augenzwinkern. Monica setzte Inez an einen kleinen Tisch in dem kargen Versuchsraum der Schule. Inez hatte Kekse der Marke Oreo als Belohnung ausgewählt. Auf dem Tisch gab es eine Glocke und ein Plastiktablett mit zwei Keksen in einer Ecke und einem Keks in der anderen. Sowohl die sofortige als auch die aufgeschobene Belohnung blieben also in unmittelbarer Nähe der Kinder. Damit sollte einerseits ihr Vertrauen darauf gestärkt werden, dass sie die Leckereien tatsächlich bekommen würden, wenn sie darauf warteten, andererseits aber auch ihr innerer Konflikt verschärft werden. Sonst war nichts auf dem Tisch, und im Raum gab es weder Spielzeug noch andere interessante Dinge, die die Kinder während des Wartens hätten ablenken können.
Als sie vor der Wahl stand, wollte Inez unbedingt zwei Kekse statt nur einen bekommen. Sie wusste, dass Monica etwas erledigen und darum den Raum verlassen musste, und sie wusste auch, dass sie Monica jederzeit zurückrufen konnte, indem sie die Glocke betätigte. Monica ließ Inez mehrere Male läuten und zeigte ihr so, dass sie sofort wieder in den Raum kommen würde. Dann erklärte ihr Monica die Alternative. Wenn Inez auf Monica wartete, könne sie beide Kekse bekommen. Wenn sie nicht warten wolle, könne sie jederzeit die Glocke läuten. Sollte sie das allerdings tun oder die Süßigkeit aufessen oder auch nur den Stuhl verlassen, würde sie nur einen Keks bekommen. Inez sollte die Anweisungen wiederholen, um zu zeigen, dass sie diese auch wirklich verstanden hatte.
Als Monica hinausging, litt Inez ein paar qualvolle Momente lang. An ihrem immer trauriger werdenden Gesicht konnte man ein deutliches Unbehagen ablesen. Das ging so weit, dass sie kurz davorstand, in Tränen auszubrechen. Dann sah sie auf die Kekse und starrte sie über zehn Sekunden lang gedankenverloren an. Plötzlich schoss ihr Arm Richtung Glocke, aber gerade als ihre Hand diese erreichte, hielt Inez inne. Zögernd schwebte ihr Zeigefinger in Haaresbreite über der Glocke und berührte sie immer wieder beinahe – als wollte sie sich selbst necken. Aber dann wandte sie ihren Kopf ruckartig von dem Tablett und der Glocke ab und brach in Gelächter aus, als hätte sie etwas unglaublich Witziges getan. Sie steckte sich die Faust in den Mund, damit sie nicht laut losbrüllte, während über ihr Gesicht ein selbstgefälliges Lächeln huschte. Jeder, der dieses Video sah, ließ sich vom Glucksen und Lachen von Inez anstecken. Sobald sie aufhörte zu kichern, wiederholte sie ihr neckisches Spiel mit der Glocke, aber jetzt benutzte sie abwechselnd ihren Zeigefinger, um sich selbst zum Stillsein zu ermahnen, und ihre Hand, die sie vor ihren fest geschlossenen Mund hielt. Dabei flüsterte sie »Nein, nein«, als wollte sie sich selbst davon abhalten, das zu tun, was sie gerade tun wollte. Nachdem zwanzig Minuten vergangen waren, kam Monica »von sich aus« zurück, aber statt die Süßigkeiten sofort aufzuessen, marschierte Inez triumphierend mit ihren beiden Keksen in einer Tüte davon – sie wollte sie mit nach Hause nehmen, um ihrer Mutter zu zeigen, was sie vollbracht hatte.
Enrico war für sein Alter recht groß und trug ein farbenfrohes T-Shirt; er hatte ein hübsches Gesicht, fein säuberlich geschnittene blonde Stirnfransen und wartete geduldig. Er kippte seinen Stuhl nach hinten an die Wand und schlug unablässig mit der Rückenlehne dagegen, während er mit einem gelangweilten, resignierten Blick an die Decke starrte, schwer atmend. Dabei schien er die lauten, krachenden Geräusche, die er produzierte, zu genießen. Er machte damit so lange weiter, bis Monica zurückkehrte und er seine beiden Kekse bekam.
Blanca wiederum beschäftigte sich mit einem stillen Selbstgespräch, zu dem sie die Lippen bewegte – ähnlich einem Monolog von Charlie Chaplin. Sie ermahnte sich selbst gewissenhaft über das, was sie tun sollte und was nicht, während sie auf die Süßigkeiten wartete. Sie tat sogar so, als würde sie an den Keksen riechen, indem sie ihre hohle Hand an die Nase drückte.
Javier, der einen konzentrierten, durchdringenden Blick und ein intelligentes Gesicht hatte, verbrachte die Wartezeit scheinbar völlig versunken in das, was nach einem minuziösen wissenschaftlichen Experiment aussah. Mit höchst konzentriertem Gesichtsausdruck schien er zu testen, wie langsam er die Glocke heben und bewegen konnte, ohne sie zu läuten. Er hob die Glocke hoch über seinen Kopf und senkte sie dann langsam wieder ab. Während er sie scharf im Auge behielt, schob er sie auf der Tischplatte so weit und so langsam wie möglich von sich weg. Das war eine wahre Meisterleistung der psychomotorischen Kontrolle und Fantasie eines angehenden Wissenschaftlers.
Die gleichen Anweisungen gab Monica auch Roberto, einem adrett gekleideten Sechsjährigen mit einer beigen Schuljacke, dunkler Krawatte über seinem weißen Hemd und perfekt gekämmtem Haar. Sobald sie den Raum verlassen hatte, warf er einen schnellen Blick zur Tür, um sich davon zu überzeugen, dass sie fest geschlossen war. Dann schaute er schnell auf das Kekstablett, leckte sich die Lippen und schnappte sich einen Keks. Vorsichtig öffnete er ihn, um die weiße Cremefüllung in der Mitte freizulegen. Dann begann er mit gebeugtem Kopf und geschäftiger Zunge, die Creme fein säuberlich aufzulecken, wobei er hin und wieder für eine Sekunde innehielt, um sein Werk lächelnd zu betrachten. Nachdem er den Keks blitzblank geleckt hatte, setzte er die beiden runden Keksteile geschickt wieder zusammen – was ihm offensichtlich noch mehr Spaß machte – und legte den seiner Füllung beraubten Keks auf das Tablett zurück. Dann verpasste er in einem Wahnsinnstempo den anderen beiden Keksen die gleiche Behandlung. Nachdem er ihre Füllung verschlungen hatte, legte Roberto die Keksstücke genau an ihre ursprüngliche Position auf dem Tablett zurück. Dabei sah er sich aufmerksam um, vor allem schielte er in Richtung der Tür, um sich davon zu überzeugen, dass alles in Ordnung war. Wie ein versierter Schauspieler ließ er dann langsam den Kopf sinken, zog ein schiefes Kinn und legte eine Wange in die rechte Hand, während er den Ellbogen auf den Schreibtisch aufstützte. Auf seinem Gesicht lag ein Ausdruck äußerster Unschuld, seine weiten, vertrauensseligen Augen fixierten erwartungsvoll und in kindlich unschuldigem Staunen die Tür.
Robertos Vorstellung wurde von allen Zuschauern mit den meisten Jubelrufen und dem lautesten Lachen und Beifall quittiert. Der hoch angesehene Rektor einer der führenden Privatuniversitäten der USA war so beeindruckt, dass er versprach, dem Jungen »ein Stipendium zu verschaffen, sobald er so weit ist, hierherzukommen«. Ich glaube nicht, dass er einen Scherz gemacht hat.
Die Zukunft voraussagen?
DER MARSHMALLOW-TEST war nicht als Test konzipiert. Tatsächlich hatte ich immer erhebliche Zweifel an den meisten psychologischen Tests, die versuchen, Verhalten unter realen Lebensbedingungen vorherzusagen. Ich habe immer wieder auf die begrenzte Aussagekraft vieler der gebräuchlichsten Persönlichkeitstests hingewiesen und beschlossen, niemals selbst einen solchen Test zu entwickeln. Meine Studenten und ich haben dieses Verfahren nicht erarbeitet, um auszuloten, wie gut Kinder dabei abschneiden. Wir wollten vielmehr herausfinden, was sie befähigte, Belohnungen aufzuschieben, sofern sie dies wollten. Ich hatte keinen Grund zu der Annahme, dass sich daraus, wie lange ein Vorschulkind auf Marshmallows oder Kekse wartete, etwas Wissenswertes über seine späteren Lebensjahre vorhersagen ließe. Denn die Versuche, aus psychologischen Tests während der frühen Kindheit langfristige Prognosen über Lebensverläufe und Entwicklungsprozesse abzuleiten, waren spektakulär gescheitert.13
Doch einige Jahre nach dem Beginn der Marshmallow-Experimente kam mir erstmals der Gedanke, dass ein Zusammenhang zwischen dem Verhalten der Kinder in unseren Experimenten und ihrem späteren Leistungsvermögen und Erfolg im Leben bestehen könnte. Alle meine Töchter hatten die Bing Nursery School besucht, und im Lauf der Jahre fragte ich sie gelegentlich, wie es denn ihren Freunden von damals so gehe. Dies hatte nichts mit einer systematischen Anschlussstudie zu tun, es waren nur beiläufige Fragen beim Abendessen: »Wie geht’s Debbie?«, »Was macht Sam?«. Als sie dann junge Teenager waren, bat ich sie, auf einer Skala von null bis fünf die sozialen Kontakte und die schulische Leistungsfähigkeit ihrer Freunde einzustufen. Dabei fiel mir eine mögliche Verbindung zwischen dem Abschneiden der Vorschulkinder beim Marshmallow-Test und den subjektiven Einschätzungen ihrer Fortschritte durch meine Töchter auf. Als ich diese Einschätzungen mit den ursprünglichen Daten verglich, erkannte ich einen deutlichen Zusammenhang, und mir wurde klar, dass ich mir dies gemeinsam mit meinen Studenten genauer anschauen musste.
Es war das Jahr 1978, und Philip K. Peake, heute Professor am Smith College, war damals mein neuer Doktorand in Stanford. Phil, der eng und oftmals rund um die Uhr mit anderen Studenten zusammenarbeitete, insbesondere mit Antonette Zeiss und Bob Zeiss, war maßgeblich an der Konzipierung, Einführung und Begleitung der späteren Stanford-Längsschnittstudie über Belohnungsaufschub beteiligt. Ab 1982 verschickte unser Team Fragebogen an alle noch erreichbaren Eltern, Lehrer und wissenschaftlichen Betreuer der Vorschulkinder, die an unseren Studien über Belohnungsaufschub teilgenommen hatten. Wir fragten nach unterschiedlichsten Verhaltensweisen und Persönlichkeitsmerkmalen, die möglicherweise für die Impulskontrolle relevant waren: angefangen von der Fähigkeit der Kinder, vorauszuplanen und -zudenken, über ihre Fähigkeit, persönliche und soziale Probleme effektiv zu bewältigen (wie gut kamen sie zum Beispiel mit Gleichaltrigen zurecht?), bis hin zu ihren Studienleistungen.
ENDE DER LESEPROBE