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Der Meteor: »Der mit dem Nobelpreisträger ausgezeichnete Dramatiker Wolfgang Schwitter ist in der Klinik gestorben, aber vom Tode auferstanden und in das Maler-Atelier geflüchtet, das er vor vierzig Jahren bewohnt hat, um hier zu sterben. Schwitter will sterben, stirbt aber nicht, und nicht sterben wollen die Menschen, die ihn im Atelier besuchen, aber sie sterben oder werden zumindest ruiniert.«
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Seitenzahl: 179
Friedrich Dürrenmatt
Der Meteor | Dichterdämmerung
Nobelpreisträgerstücke Neufassungen 1978 und 1980
Diogenes
Es ging mir, im Gegensatz zu den verschiedenen Fassungen, die vorher einzeln im Arche-Verlag erschienen sind, bei den Fassungen für die Werkausgabe nicht darum, die theatergerechten, das heißt die gestrichenen Fassungen herauszugeben, sondern die literarisch gültigen. Literatur und Theater sind zwei verschiedene Welten: Außer den Komödien, die ich nur für die Theater schrieb, Play Strindberg und Porträt eines Planeten, die Übungsstücke für Schauspieler darstellen und die ich als Regisseur schrieb, gebe ich im Folgenden – die ersten Stücke tastete ich nicht an – die dichterische Fassung wieder, eine Zusammenfassung verschiedener Versionen.
F.D.
Eine Komödie in zwei Akten Wiener Fassung 1978
Für Leonard Steckel
Wolfgang Schwitter Nobelpreisträger
Olga seine Frau
Jochen sein Sohn
Carl Conrad Koppe sein Verleger
Friedrich Georgen Starkritiker
Hugo Nyffenschwander Kunstmaler
Auguste dessen Frau
Emanuel Lutz Pfarrer
Der große Muheim Unternehmer
Professor Schlatter Chirurg
Frau Nomsen Geschäftsfrau
Glauser Hauswart
Major Friedli von der Heilsarmee
Schafroth Polizeiinspektor
Kritiker, Verleger, Polizisten, Heilsarmisten
Geschrieben 1964
Uraufführung im Schauspielhaus Zürich am 20. Januar 1966
Möbliertes Atelier. Links und rechts im Hintergrund je eine große Nische mit abgeschrägtem Atelierfenster und eingebautem Klappfenster. Hinter dem linken Fenster eine Kirchturmspitze, hinter dem rechten Baukräne, Himmel. Es ist Sommer, der längste Tag, nachmittags, drückend, schwül. Vor der linken Nische eine Staffelei, in der Nische Gestelle mit Farben, Pinseln, Geschirr usw. In der Mitte, zwischen den Nischen, eine Tür; die einzige Auftrittsmöglichkeit also. Hinter der Tür ein kleiner Korridor, dann eine steile Treppe. Bei offener Tür sieht man die Leute heraufkommen. Rechts neben der Tür in der Nische eine Kommode. Links neben der Tür ein Spülbecken mit einem Wasserhahn, eine primitive Kochgelegenheit. Ganz links vorne an der linken Seitenwand ein Aktbild. An der rechten Seitenwand ein Bett, parallel zur Rampe gerichtet, links und rechts vom Kopfende zwei alte Stühle, hinter dem Bett eine spanische Wand, dahinter in einem Waschkorb die Zwillinge. Aktbilder hängen und stehen herum. Links und rechts zwei Eisenöfen, mit einem phantastischen Ofengeröhre, das nach einigen Umwegen in der Mitte des Ateliers, oberhalb der Tür, in der Decke verschwindet. Auch sind Schnüre gespannt mit Windeln. Vor dem linken Ofen ein alter wackliger Lehnstuhl, daneben ein alter runder, etwas schiefer Tisch. An der Staffelei arbeitet in der Badehose der Maler Nyffenschwander an einem Akt. Das Modell, Auguste Nyffen- schwander, seine Frau, liegt nackt, mit dem Rücken gegen das Publikum, auf dem Bett. Die Tür zum Treppenhaus weit geöffnet. Rechts neben der Tür auf einem Brett ein kleines Radio: klassische Musik.
NYFFENSCHWANDER
Stillhalten, Auguste!
Ende der Musik; Text des Sprechers: »Anläßlich des Todes des Literatur-Nobelpreisträgers Wolfgang Schwitter hörten Sie die Variation für Flöte und Cembalo über den Choral ›Morgenglanz der Ewigkeit‹ von Christoph Emanuel Bach.« Nun spricht Friedrich Georgen.
FRIEDRICH GEORGEN
Freunde. Wolfgang Schwitter ist tot. Mit uns trauert die Nation, ja die Welt; ist sie doch um einen Mann ärmer, der sie reicher machte. Man wird ihn übermorgen mit jenem –
Schwitter kommt die Treppe herauf, betritt das Atelier. Er ist unrasiert. In einem kostbaren Pelz trotz der mörderischen Hitze. Die Taschen voller Manuskripte. Trägt zwei prall gefüllte Koffer. Unter den linken Arm hat er zwei mächtige Kerzen geklemmt. Er schaut sich aufmerksam um. Nyffenschwander malt weiter. Auguste setzt sich auf, ergreift das Bettlaken.
SCHWITTER
Abstellen!
Auguste geht, das Bettlaken um sich gewickelt, zum Radio, schaltet es ab.
NYFFENSCHWANDER
Stillhalten, Auguste!
SCHWITTER
Vierzig Jahre verriß mich dieser ästhetische Oberplauderer. Sein Recht, aber seinen Nekrolog über mich höre ich mir nicht an.
NYFFENSCHWANDER erst jetzt Schwitter bemerkend
Aber –
AUGUSTE wieder am Bettrand sitzend
Sie – Sie sind doch – Läßt vor Überraschung das Bettlaken fallen.
SCHWITTER
Ich bin’s, Wolfgang Schwitter.
AUGUSTE
Aber eben im Radio –
SCHWITTER
Wurde gemeldet, ich sei abgekratzt – kann ich mir denken, ich kenne die Brüder.
AUGUSTE
Jawohl, Herr Schwitter –
SCHWITTER
Darf ich bitten, mir die Kerzen –
NYFFENSCHWANDER
Selbstverständlich, Herr Schwitter. Nimmt ihm die Kerzen ab. Die Koffer –
SCHWITTER
Unterstehen Sie sich!
NYFFENSCHWANDER
Entschuldigung, Herr Schwitter.
SCHWITTER
Das Fenster zu! Es ist ein schöner Sommer, ein Sommer wie selten einer, dabei der längste Tag, doch ich friere.
NYFFENSCHWANDER
Natürlich, Herr Schwitter. Schließt das Fenster, dann die Tür.
SCHWITTER
Die Zeitungen sind voll mit rührenden Szenen: Der Nobelpreisträger in der Klinik, der Nobelpreisträger unter dem Sauerstoffzelt, der Nobelpreisträger auf dem Operationstisch, der Nobelpreisträger im Koma. Meine Krankheit ist weltberühmt, mein Sterben eine öffentliche Angelegenheit, aber ich riß aus. Ich bestieg den städtischen Autobus und bin hier. Schwankt. Ich muß mich setzen. Die Anstrengung – Setzt sich auf einen Koffer.
NYFFENSCHWANDER
Darf ich –
SCHWITTER
Rühren Sie mich nicht an. Von einem Sterbenden soll man die Hände lassen. Starrt auf die Frau. Komisch. Da weiß man, daß es kaum noch Minuten geht, bis der Tod einen holt, und dann sitzt man plötzlich einer nackten Frau gegenüber, sieht goldene Schenkel, einen goldenen Bauch und goldene Brüste –
NYFFENSCHWANDER
Meine Frau.
SCHWITTER
Eine schöne Frau. Herrgott, noch einmal so einen Leib zu umarmen. Erhebt sich wieder.
NYFFENSCHWANDER
Auguste, zieh dich an!
Sie verschwindet hinter der spanischen Wand rechts hinten.
SCHWITTER
Ich bin in der Euphorie, mein lieber – Wie heißen Sie eigentlich?
NYFFENSCHWANDER
Nyffenschwander. Hugo Nyffenschwander.
SCHWITTER
Nie gehört. Schaut sich aufs neue um. Unverändert. Vor vierzig Jahren wohnte ich hier und malte auch. Dann verheizte ich meine Bilder und begann zu schreiben. Setzt sich in den Lehnstuhl. Noch immer der gleiche unmögliche wacklige Lehnstuhl. Röchelt.
NYFFENSCHWANDER erschrocken
Herr Schwitter –
SCHWITTER
Es ist soweit.
NYFFENSCHWANDER
Auguste! Wasser!
Auguste im Morgenrock eilt hinter der spanischen Wand hervor zum Wasserhahn.
SCHWITTER
Sterben ist nichts Tragisches.
NYFFENSCHWANDER
Mach schnell!
SCHWITTER
Es ist gleich vorüber.
NYFFENSCHWANDER
Sie sollten in die Klinik zurück, Herr Schwitter.
SCHWITTER
Unsinn. Atmet tief. Ich möchte das Atelier mieten.
NYFFENSCHWANDER
Das Atelier?
SCHWITTER
Für zehn Minuten. Ich möchte hier sterben.
NYFFENSCHWANDER
Hier?
SCHWITTER
Teufel, deshalb bin ich schließlich aufgekreuzt.
Auguste kommt mit einem Glas Wasser.
AUGUSTE
Wasser, Herr Schwitter.
SCHWITTER
Ich trinke nie Wasser. Starrt sie an. Auch angezogen sind Sie ein schönes Weib. Sind Sie mir böse, wenn ich Auguste zu Ihnen sage?
AUGUSTE
Aber nein, Herr Schwitter. Stellt das Glas Wasser auf den runden Tisch neben dem Lehnstuhl.
SCHWITTER
Läge ich nicht im Sterben, würde ich Sie zu meiner Geliebten machen. Verzeihen Sie mir meine Worte, doch angesichts der Ewigkeit –
AUGUSTE
Aber natürlich, Herr Schwitter.
SCHWITTER
Meine Beine sind schon gefühllos. Sie, Nyffenschwander, Sterben ist toll, das sollten Sie auch einmal durchmachen! Die Gedanken, die einem kommen, die Hemmungen, die fallen, die Einsichten, die einem aufgehen. Einfach großartig. Aber nun will ich nicht länger stören. Ihr laßt mich eine Viertelstunde allein, und wenn ihr zurückkommt, bin ich hin. Greift in den Pelzmantel, gibt Nyffenschwander einen Geldschein. Hundert.
NYFFENSCHWANDER
Vielen Dank, Herr Schwitter.
SCHWITTER
Mittellos?
NYFFENSCHWANDER
Na ja, als künstlerischer Revolutionär –
SCHWITTER
In diesem Atelier ging es mir auch dreckig. Einem talentlosen Maler, der die Pinsel in die Ecke feuert, um Schriftsteller zu werden, gibt kein Hund Kredit. Ich mußte mich durchgaunern, Nyffenschwander, durchgaunern! Öffnet den Pelzmantel. Atemnot.
NYFFENSCHWANDER
Soll ich vielleicht doch die Klinik –
SCHWITTER
Ich muß ins Bett.
AUGUSTE
Ich ziehe es frisch an, Herr Schwitter.
SCHWITTER
Wozu? Ich sterbe in Ihren Laken, Auguste, noch warm von Ihrem Leib. Erhebt sich, legt einen weiteren Geldschein auf den Tisch. Noch einmal hundert. So kurz vor dem Exitus wird man großzügig. Nimmt die Manuskripte aus den Taschen und reicht sie Nyffenschwander. Meine letzten Manuskripte.
NYFFENSCHWANDER
Soll ich sie Ihrem Verleger –
SCHWITTER
In den Ofen damit.
NYFFENSCHWANDER
Bitte, Herr Schwitter. Stopft sie in den linken Ofen.
SCHWITTER
Anzünden!
NYFFENSCHWANDER
Wie Sie wünschen, Herr Schwitter. Zündet sie an.
Schwitter zieht den Pelzmantel aus, legt ihn sorgfältig über den Lehnstuhl, schlüpft aus den Schuhen, stellt sie ebenfalls sorgfältig neben den Lehnstuhl, steht in einem Pyjama mit eingebundenen Beinen da.
NYFFENSCHWANDER
Angezündet.
SCHWITTER
Ich lege mich hin. Es kann sich nur noch um Minuten handeln.
Auguste will ihn führen.
SCHWITTER
Lassen Sie mich, Auguste. Ich möchte in meinen letzten Momenten an etwas Wesentlicheres denken als an ein schönes Weib. Wandelt auf das Bett zu. Ich möchte an nichts denken. Legt sich aufs Bett. Einfach verdämmern. Liegt unbeweglich. Mein altes Bett. Immer noch die gleiche unverwüstliche Matratze. Auch die Decke weist den selben Riß auf, und dieses gräßliche Geröhre hat seine Richtung beibehalten. Auguste!
AUGUSTE
Herr Schwitter?
SCHWITTER
Zudecken!
AUGUSTE
Jawohl, Herr Schwitter. Deckt ihn zu.
SCHWITTER
Die Kerzen aufstellen, Nyffenschwander! Ein wenig Feierlichkeit gehört nun einmal zum Sterben. Wenn das letzte Stündlein schlägt, sind wir alle romantisch.
NYFFENSCHWANDER
Gern, Herr Schwitter. Stellt die Kerzen auf die beiden Stühle neben dem Bett.
SCHWITTER
Anzünden!
NYFFENSCHWANDER
Sofort, Herr Schwitter. Zündet die Kerzen an.
SCHWITTER
Die Vorhänge ziehen, Auguste!
AUGUSTE
Jawohl, Herr Schwitter. Zieht schwarze Vorhänge. Das Atelier ist nun dunkel, nur noch die Kerzen geben Licht.
NYFFENSCHWANDER
Zufrieden?
SCHWTTTER
Zufrieden.
AUGUSTE
Fast wie Weihnachten.
Der Maler und seine Frau bilden eine andächtige Gruppe. Stille. Schwitter liegt unbeweglich. Auguste neigt sich über ihn.
AUGUSTE
Hugo –
NYFFENSCHWANDER
Auguste?
AUGUSTE
Er atmet nicht mehr.
NYFFENSCHWANDER
Hin.
AUGUSTE
Mein Gott.
NYFFENSCHWANDER
Endgültig.
AUGUSTE
Was tun wir jetzt?
NYFFENSCHWANDER
Ich weiß nicht.
AUGUSTE
Sollte man nicht den Hauswart –
NYFFENSCHWANDER
Verfluchte Situation.
Stille.
AUGUSTE
Hugo –
NYFFENSCHWANDER
Auguste?
AUGUSTE
Er schlägt die Augen auf.
NYFFENSCHWANDER
He?
SCHWITTER leise
Alles Aktbilder. Malen Sie denn nichts als Ihre nackte Frau?
NYFFENSCHWANDER
Ich male das Leben, Herr Schwitter.
SCHWITTER
Donnerwetter. Kann man denn das Leben überhaupt malen?
NYFFENSCHWANDER
Ich versuche es, Herr Schwitter.
SCHWITTER
Geht!
AUGUSTE
Gleich, Herr Schwitter. Ich schaffe noch die Zwillinge hinaus.
SCHWITTER
Zwillinge?
AUGUSTE
Irma und Rita. Sechsmonatig.
SCHWITTER
Lassen Sie die nur hier.
AUGUSTE
Aber die Windeln –
SCHWITTER
Stören nicht.
AUGUSTE
Sie tropfen noch.
SCHWITTER
Macht nichts.
NYFFENSCHWANDER
Komm, Auguste!
AUGUSTE
Herr Schwitter – Ich bin vor der Türe, wenn Sie mich brauchen.
SCHWITTER
Sie sind wunderbar, Auguste.
AUGUSTE
Jawohl, Herr Schwitter.
Er winkt ihr schwach zum Abschied. Auguste geht ab. Nyffenschwander nimmt den Geldschein vom Tisch und geht zur Tür.
SCHWITTER
Nyffenschwander.
NYFFENSCHWANDER
Herr Schwitter?
SCHWITTER
Sie gleichen einem belgischen Minister.
NYFFENSCHWANDER verwirrt
Jawohl, Herr Schwitter. Er verläßt das Atelier.
Schwitter ist allein. Er liegt unbeweglich mit gefalteten Händen, und wie man schon glaubt, er sei gestorben, steigt er plötzlich aus dem Bett und öffnet einen der Koffer, beginnt, im Pyjama und kniend den Inhalt in den Ofen rechts zu stopfen.
Pfarrer Emanuel Lutz tritt auf. Eine freundliche, beinahe kindliche Erscheinung, außer Atem. Er ist vierzig, schmächtig, blond, goldene Brille, dunkel gekleidet, trägt in der linken Hand einen schwarzen breitrandigen Hut.
PFARRER LUTZ
Herr Schwitter!
SCHWITTER
Raus!
PFARRER LUTZ
Gepriesen sei der Herr der Herrlichkeit. Er ist die Auferstehung und das Leben.
SCHWITTER
Ich brauche keine Sprüche. Verduften Sie wieder!
PFARRER LUTZ
Ich bin Pfarrer Emanuel Lutz von der Jakobusgemeinde und komme direkt aus der Klinik.
SCHWITTER
Ich benötige keinen Geistlichen. Macht im Ofen rechts wieder Feuer.
PFARRER LUTZ
Ihre Gattin rief mich an Ihr Krankenlager.
SCHWITTER
Sieht ihr ähnlich.
PFARRER LUTZ
Ich war ja auch verlegen. Sie sind ein weltberühmter Dichter, und ich bin ein einfacher Pfarrer ohne Beziehung zur modernen Literatur.
SCHWITTER
Der Ofen zieht. Stochert im Ofen.
PFARRER LUTZ
Kann ich behilflich sein?
SCHWITTER
Wenn Sie mir die Papiere reichen wollen –
PFARRER LUTZ
Aber gerne. Legt den Hut auf den Tisch und reicht ihm aus dem Koffer die Papiere. Sie lagen bewußtlos im Bett, und ich betete den neunzigsten Psalm: Herr, Gott, Du bist unsere Zuflucht für und für.
SCHWITTER
Es lodert.
PFARRER LUTZ
Der Du die Menschen lässest sterben und sprichst: Kommt wieder, Menschenkinder – Wird heiß! Trocknet sich den Schweiß ab.
SCHWITTER
Brennt gut.
Durch die Türe späht Auguste.
AUGUSTE
Herr Schwitter?
SCHWITTER
Lebe noch.
AUGUSTE
Jawohl, Herr Schwitter. Verschwindet.
SCHWITTER
Verfeuern wir weiter.
PFARRER LUTZ Geldscheine reichend
Bitte.
SCHWITTER
Nimmt mich nur wunder, wie Sie mich aufgestöbert haben.
PFARRER LUTZ
Durch die Oberschwester. Sie äußerten im Fieber, Ihr altes Atelier aufsuchen zu wollen. Stutzt. Herr Schwitter –
SCHWITTER
Nun?
PFARRER LUTZ
Das sind doch – das sind doch – das sind doch Banknoten, was wir hier –
SCHWITTER
Und?
PFARRER LUTZ
Eine Tausendernote.
SCHWITTER
Sicher.
PFARRER LUTZ
Ein Vermögen.
SCHWITTER
Anderthalb Millionen.
PFARRER LUTZ fassungslos
Anderthalb –
SCHWITTER
Durch Schreiben verdient.
PFARRER LUTZ
Anderthalb Millionen. Aber Ihre Erben, Herr Schwitter, Ihre Erben –
SCHWITTER
Mir egal.
PFARRER LUTZ
Eine Riesensumme. Damit könnte man Kinder ernähren, Krankenschwestern ausbilden – und nun verbrennen Sie alles.
SCHWITTER
Verglüht.
PFARRER LUTZ
Wenn ich wenigstens diese Tausendernote für den Freibettenfonds –
SCHWITTER
Ausgeschlossen.
PFARRER LUTZ
Oder für die Mohammedanermission –
SCHWITTER
Kommt nicht in Frage. Ich war arm, als ich in diesem Atelier lebte, und arm will ich in ihm sterben. Verfeuert weiter.
PFARRER LUTZ
Sterben? Sie?
SCHWITTER
Wenn mein Vermögen verfeuert ist, lege ich mich hin und verröchle.
PFARRER LUTZ
Aber Herr Schwitter, Sie können nicht mehr verröcheln. Sie – Sie sind doch schon gestorben, Herr Schwitter.
SCHWITTER
Gestorben? Starrt den Pfarrer an.
PFARRER LUTZ
Wie ich Psalm neunzig betete, bäumten Sie sich auf und entschliefen.
Schweigen.
PFARRER LUTZ
Es war ergreifend.
Schwitter stopft weitere Scheine in den Ofen und brüllt.
SCHWITTER
Auguste!
In der Türe erscheint Auguste.
AUGUSTE
Herr Schwitter?
SCHWITTER
Kognak! Hopp! Eine ganze Flasche!
AUGUSTE
Jawohl, Herr Schwitter. Verschwindet.
SCHWITTER
Helfen Sie mir in den Pelzmantel. Der Pfarrer ist ihm behilflich. Gestorben!
PFARRER LUTZ
Der Herr nahm Sie zu sich.
SCHWITTER
Lächerlich. Ich wurde ohnmächtig, und als ich wieder zu mir kam, lag ich allein im Krankenzimmer. Eine Binde hielt mein Kinn.
PFARRER LUTZ
Das ist bei frischen Leichen üblich.
SCHWITTER
Auf der Bettdecke lag ein Blumenmeer, und Kerzen brannten.
PFARRER LUTZ
Sehen Sie.
SCHWITTER
Ich kroch unter den Kränzen der Regierung und des Nobelpreiskomitees hervor und ging in mein Atelier, das ist alles.
PFARRER LUTZ
Das ist nicht alles.
SCHWITTER
Eine Tatsache.
PFARRER LUTZ
Eine Tatsache ist, daß Professor Schlatter persönlich Ihren Tod feststellte. Um elf Uhr fünfzig.
SCHWITTER
Eine Fehldiagnose.
PFARRER LUTZ
Professor Schlatter ist eine Kapazität –
SCHWITTER
Jede Kapazität kann sich irren.
PFARRER LUTZ
Nicht Professor Schlatter.
SCHWITTER
Ich lebe schließlich noch. Betastet sich unwillkürlich.
PFARRER LUTZ
Wieder. Sie sind von den Toten auferstanden. Daran gibt es wissenschaftlich nichts zu rütteln. In der Klinik brach das Chaos aus. Der Hort des Unglaubens erzitterte. Ich bin wirblig vor Freude. Wenn ich mich vielleicht setzen dürfte. Für ein Minütchen.
SCHWITTER
Bitte.
Pfarrer Lutz setzt sich an den runden Tisch.
PFARRER LUTZ
Sie müssen mich entschuldigen. Das Wunder, die Aufregung, die unmittelbare Nähe des Allmächtigen. Ich bin förmlich außer mir. Es ist, als wäre der Himmel offen, als wäre seine Herrlichkeit um uns. Wenn ich mir den Kragen etwas lockern dürfte –
SCHWITTER
Tun Sie sich keinen Zwang an. Öffnet den anderen Koffer, stopft Geldscheine in den Ofen links. Auferstanden! Ich! Von den Toten! So ein Witz!
PFARRER LUTZ
Heilig, heilig ist der Herr Zebaoth!
SCHWITTER
Lassen Sie endlich Ihre Sprüche weg.
PFARRER LUTZ
Gott erwählte Sie, Herr Schwitter, damit die Blinden sehen und die Gottlosen an ihn glauben.
SCHWITTER
Werden Sie nicht geschmacklos. Verfeuert weiter.
PFARRER LUTZ
Aber Ihre Seele –
SCHWITTER
Ich habe keine Seele, dafür reichte die Zeit nicht. Schreiben Sie einmal jedes Jahr ein Stück, und Sie melden Ihr Innenleben auch schleunigst ab. Und da kommen Sie, Pfarrer Lutz. Zugegeben, es ist Ihr Beruf. Trotzdem. Da löst man sich in seine Bestandteile auf, in Wasser, Fett und Mineralien, und Sie schlagen mit Gott und Wundern um sich. Wozu? Damit ich mich als Werkzeug Gottes betrachte? Damit ich Ihren Glauben bestätige? Ich will ehrlich sterben ohne Fiktion und ohne Literatur. Ich will nichts als noch einmal die reine Zeit spüren, dieses sanfte Verfließen, ich will nichts als noch einmal eine Minute als Wirklichkeit erleben, nichts als noch einmal eine Sekunde voller Gegenwart. Mein Vermögen ist verheizt.
In der Tür erscheint schwer atmend Auguste.
AUGUSTE
Der Kognak, Herr Schwitter.
SCHWITTER
Her damit.
AUGUSTE
Jawohl, Herr Schwitter. Bringt die Flasche.
SCHWITTER
Verschwinden! Hopp!
AUGUSTE
Jawohl, Herr Schwitter. Verschwindet.
Er sieht ihr nach.
SCHWITTER
Ein süßes Trampeltier. Setzt sich in den Lehnstuhl, öffnet die Flasche, trinkt. Tut gut. Nimmt den Hut vom Tisch und reicht ihn dem Pfarrer. Ihr Hut.
PFARRER LUTZ
Danke schön. Nimmt ihn und bleibt.
SCHWITTER
Nett, daß Sie mir geholfen haben, meine anderthalb Millionen –
PFARRER LUTZ
Das war doch selbstverständlich.
SCHWITTER
Nun traben Sie aber hinaus.
Pfarrer Lutz geht zur Tür, bleibt stehen.
PFARRER LUTZ
Herr Schwitter. Ich bin erst vierzig, doch meine Gesundheit ist angegriffen. Ich stehe in Gottes Hand. Auch sollte ich mich schon längst im Pfarrhaus befinden, und die Abendandacht ist auch noch nicht vorbereitet. Aber ich fühle mich auf einmal so kraftlos, so morsch, so unsäglich müde – wenn ich mich vielleicht etwas hinlegen dürfte – nur ein Sekündchen – Wankt zum Bett, setzt sich.
SCHWITTER
Bitte. Trinkt. Ich vermag mich ohnehin nicht mehr zu erheben.
PFARRER LUTZ
Die Aufregung war zu groß. Ich ziehe vielleicht besser auch noch die Schuhe aus. Beginnt, sich die Schuhe auszuziehen. Nur für ein Momentchen. Nur bis der Kreislauf wieder etwas in Ordnung kommt –
SCHWITTER
Fühlen Sie sich wie zu Hause. Preßt die Hände gegen die Brust. Mein Herz setzt aus.
PFARRER LUTZ
Nur getrost. Legt sich auf das Bett.
SCHWITTER
Atemnot ist nichts Lustiges.
PFARRER LUTZ
Vater unser, der Du bist –
SCHWITTER zischend
Nicht beten!
PFARRER LUTZ erschrocken
Verzeihung.
SCHWITTER
Ich sterbe. Trinkt aus der Flasche. Nicht so feierlich wie geplant, sondern in diesem scheußlichen Lehnstuhl. Trinkt aus der Flasche. Sie tun mir leid, Pfarrer, mit meiner Auferstehung ist es nichts. Lacht auf. Einmal kam ein Pfarrer zu mir, und der tat mir auch leid. Als sich meine zweite Frau das Leben genommen hatte, die Tochter eines Großindustriellen. Sie schluckte ein Pfund Schlafmittel, schätze ich, unsere Ehe war eine Tortur gewesen – nun, ich brauchte Geld, das hatte sie, ich will nachträglich nicht klagen – sie machte einen rasend – und wie sie so dalag, weiß und stumm – der Pfarrer war ergriffen. Er kam, wie der Arzt noch an der Leiche herumhantierte und bevor der Staatsanwalt aufkreuzte. Er war dunkel gekleidet wie Sie, Pfarrer Lutz, und in Ihrem Alter. Er stand neben dem Bett und glotzte auf meine Selige, und später saß er in der Halle. Mit gefalteten Händen. Er schien etwas sagen zu wollen, vielleicht Bibelsprüche, aber dann sagte er doch nichts, und ich ging nach dem achten Kognak auf mein Zimmer und schrieb, wie eine Dorfschulklasse ihren idealistischen jungen Lehrer zu Tode prügelt und wie ein Bauer mit dem Traktor über den Lehrer rollt und den Fall vertuscht. Mitten im Dorf. Vor dem Schulhaus. Und alle schauen zu. Auch der Polizist. Ich glaube, es ist mein bestes Stück Prosa geworden. Trinkt aus der Flasche. Und als ich gegen Morgen in die Halle schwankte, hundemüde, saß der Pfarrer nicht mehr da. Schade. Er war ein hilfloser Pfarrer gewesen. Trinkt.
PFARRER LUTZ
Auch ich bin zu nichts nütze. Wenn ich predige, schläft die Gemeinde ein. Zittert.
SCHWITTER
Kann sein, daß er gar kein Pfarrer war. Kann sein, daß er ein Liebhaber meiner zweiten Frau war. Vielleicht hatte sie überhaupt viele Liebhaber. Merkwürdig, daß ich bis heute nie an diese Möglichkeit gedacht habe. Trinkt.
PFARRER LUTZ
Es ist auf einmal bitterkalt.
SCHWITTER
Ich friere auch etwas.
PFARRER LUTZ
Gott war nah, und nun ist er wieder fern.
SCHWITTER
Ich beabsichtigte, mit einer gewissen menschlichen Größe abzudanken, und habe mich nichts als besoffen. Trinkt.
PFARRER LUTZ
Sie glauben nicht an Ihre Auferstehung.
SCHWITTER
Ich war scheintot.
PFARRER LUTZ
Sie wollen sterben.
SCHWITTER
Muß. Trinkt.
Er stellt die Flasche hart auf den Tisch, sinkt in den Lehnstuhl zurück.
PFARRER LUTZ
Gott sei Ihnen gnädig.
Schweigen. Pfarrer Lutz faltet die Hände.
PFARRER LUTZ
Ich glaube an Ihre Auferstehung. Ich glaube, daß Gott ein Wunder tat. Ich glaube, daß Sie leben werden. Der Herr der Herrlichkeit kennt mein Herz. Es fällt schwer, das Evangelium von Christi Opfertod und Auferstehung zu verkünden und keinen anderen Beweis zu haben als nur den Glauben. Da hatten es die Jünger leichter, mit allem Respekt sei es gesagt. Der Herr wohnte unter ihnen. Er tat vor ihren Augen Wunder um Wunder. Er heilte Blinde, Lahme und Aussätzige. Er wandelte über die Wasser und erweckte die Toten. Und als der Menschensohn auferstanden war, durfte Thomas, der immer noch zweifelte, seine Hand auf dessen Wunde legen. Da fiel es nicht schwer zu glauben. Doch das ist lange her. Das Himmelreich, das uns versprochen worden ist, kam nie. Wir lebten in der Finsternis und hatten nichts als unsere Hoffnung. Sie allein speiste noch unseren Glauben. Das war wenig, Herr. Doch nun hast Du Dich meiner erbarmt. Ich erblicke Dein Licht. Erbarme Dich nun auch derer, die Deine Herrlichkeit nicht zu sehen vermögen, weil Deine Verborgenheit sie erblinden ließ.
Stille. Die Türe öffnet sich langsam. Auguste späht herein.
AUGUSTE leise
Herr Schwitter.
Stille.
AUGUSTE etwas lauter
Herr Schwitter.
Stille. Auguste betritt das Atelier. Durch die Tür späht Nyffenschwander.
AUGUSTE laut
Herr Schwitter.
NYFFENSCHWANDER
Nun?
AUGUSTE
Er antwortet nicht.
NYFFENSCHWANDER
Schau mal nach.
Auguste geht zum Lehnstuhl, neigt sich über Schwitter. In der Tür erscheint der Hauswart Glauser, ein dicker, gemütlicher, schwitzender Mann.
GLAUSER
Nun?
NYFFENSCHWANDER
Meine Frau schaut nach.
GLAUSER
Ich sah den Mann hinaufsteigen, Nyffenschwander. Er kam mir gleich verdächtig vor. Ich bitte, im Pelzmantel trotz der Hitze und zwei Kerzen unter dem Arm. Sie hätten die Polizei verständigen sollen.
Auguste richtet sich auf.
AUGUSTE
Hugo.
NYFFENSCHWANDER
Tot?
Auguste berührt Schwitter schnell.
AUGUSTE
Ich glaube.
NYFFENSCHWANDER
Endlich.
Nyffenschwander und Glauser öffnen die Vorhänge. Glauser bläst die beiden Kerzen aus und entdeckt Pfarrer Lutz.
GLAUSER
Da liegt noch einer.
Nyffenschwander und Auguste gehen zum Bett.
NYFFENSCHWANDER
Noch einer?
GLAUSER
Nyffenschwander, ich wundere mich.
AUGUSTE
Pfarrer Lutz!
NYFFENSCHWANDER
Auch hin.
GLAUSER