Der Meteor / Dichterdämmerung - Friedrich Dürrenmatt - E-Book

Der Meteor / Dichterdämmerung E-Book

Friedrich Dürrenmatt

0,0
7,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Der Meteor: »Der mit dem Nobelpreisträger ausgezeichnete Dramatiker Wolfgang Schwitter ist in der Klinik gestorben, aber vom Tode auferstanden und in das Maler-Atelier geflüchtet, das er vor vierzig Jahren bewohnt hat, um hier zu sterben. Schwitter will sterben, stirbt aber nicht, und nicht sterben wollen die Menschen, die ihn im Atelier besuchen, aber sie sterben oder werden zumindest ruiniert.«

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 179

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Friedrich Dürrenmatt

Der Meteor | Dichterdämmerung

Nobelpreisträgerstücke Neufassungen 1978 und 1980

Diogenes

Allgemeine Anmerkung zu der Endfassung 1980 meiner Komödien

Es ging mir, im Gegensatz zu den verschiedenen Fassungen, die vorher einzeln im Arche-Verlag erschienen sind, bei den Fassungen für die Werkausgabe nicht darum, die theatergerechten, das heißt die gestrichenen Fassungen herauszugeben, sondern die literarisch gültigen. Literatur und Theater sind zwei verschiedene Welten: Außer den Komödien, die ich nur für die Theater schrieb, Play Strindberg und Porträt eines Planeten, die Übungsstücke für Schauspieler darstellen und die ich als Regisseur schrieb, gebe ich im Folgenden – die ersten Stücke tastete ich nicht an – die dichterische Fassung wieder, eine Zusammenfassung verschiedener Versionen.

F.D.

Der Meteor

Eine Komödie in zwei Akten Wiener Fassung 1978

Für Leonard Steckel

Personen

Wolfgang Schwitter Nobelpreisträger

Olga seine Frau

Jochen sein Sohn

Carl Conrad Koppe sein Verleger

Friedrich Georgen Starkritiker

Hugo Nyffenschwander Kunstmaler

Auguste dessen Frau

Emanuel Lutz Pfarrer

Der große Muheim Unternehmer

Professor Schlatter Chirurg

Frau Nomsen Geschäftsfrau

Glauser Hauswart

Major Friedli von der Heilsarmee

Schafroth Polizeiinspektor

Kritiker, Verleger, Polizisten, Heilsarmisten

Geschrieben 1964

Uraufführung im Schauspielhaus Zürich am 20. Januar 1966

Erster Akt

Möbliertes Atelier. Links und rechts im Hintergrund je eine große Nische mit abgeschrägtem Atelierfenster und eingebautem Klappfenster. Hinter dem linken Fenster eine Kirchturmspitze, hinter dem rechten Baukräne, Himmel. Es ist Sommer, der längste Tag, nachmittags, drückend, schwül. Vor der linken Nische eine Staffelei, in der Nische Gestelle mit Farben, Pinseln, Geschirr usw. In der Mitte, zwischen den Nischen, eine Tür; die einzige Auftrittsmöglichkeit also. Hinter der Tür ein kleiner Korridor, dann eine steile Treppe. Bei offener Tür sieht man die Leute heraufkommen. Rechts neben der Tür in der Nische eine Kommode. Links neben der Tür ein Spülbecken mit einem Wasserhahn, eine primitive Kochgelegenheit. Ganz links vorne an der linken Seitenwand ein Aktbild. An der rechten Seitenwand ein Bett, parallel zur Rampe gerichtet, links und rechts vom Kopfende zwei alte Stühle, hinter dem Bett eine spanische Wand, dahinter in einem Waschkorb die Zwillinge. Aktbilder hängen und stehen herum. Links und rechts zwei Eisenöfen, mit einem phantastischen Ofengeröhre, das nach einigen Umwegen in der Mitte des Ateliers, oberhalb der Tür, in der Decke verschwindet. Auch sind Schnüre gespannt mit Windeln. Vor dem linken Ofen ein alter wackliger Lehnstuhl, daneben ein alter runder, etwas schiefer Tisch. An der Staffelei arbeitet in der Badehose der Maler Nyffenschwander an einem Akt. Das Modell, Auguste Nyffen- schwander, seine Frau, liegt nackt, mit dem Rücken gegen das Publikum, auf dem Bett. Die Tür zum Treppenhaus weit geöffnet. Rechts neben der Tür auf einem Brett ein kleines Radio: klassische Musik.

NYFFENSCHWANDER

Stillhalten, Auguste!

Ende der Musik; Text des Sprechers: »Anläßlich des Todes des Literatur-Nobelpreisträgers Wolfgang Schwitter hörten Sie die Variation für Flöte und Cembalo über den Choral ›Morgenglanz der Ewigkeit‹ von Christoph Emanuel Bach.« Nun spricht Friedrich Georgen.

FRIEDRICH GEORGEN

Freunde. Wolfgang Schwitter ist tot. Mit uns trauert die Nation, ja die Welt; ist sie doch um einen Mann ärmer, der sie reicher machte. Man wird ihn übermorgen mit jenem –

Schwitter kommt die Treppe herauf, betritt das Atelier. Er ist unrasiert. In einem kostbaren Pelz trotz der mörderischen Hitze. Die Taschen voller Manuskripte. Trägt zwei prall gefüllte Koffer. Unter den linken Arm hat er zwei mächtige Kerzen geklemmt. Er schaut sich aufmerksam um. Nyffenschwander malt weiter. Auguste setzt sich auf, ergreift das Bettlaken.

SCHWITTER

Abstellen!

Auguste geht, das Bettlaken um sich gewickelt, zum Radio, schaltet es ab.

NYFFENSCHWANDER

Stillhalten, Auguste!

SCHWITTER

Vierzig Jahre verriß mich dieser ästhetische Oberplauderer. Sein Recht, aber seinen Nekrolog über mich höre ich mir nicht an.

NYFFENSCHWANDER erst jetzt Schwitter bemerkend

Aber –

AUGUSTE wieder am Bettrand sitzend

Sie – Sie sind doch – Läßt vor Überraschung das Bettlaken fallen.

SCHWITTER

Ich bin’s, Wolfgang Schwitter.

AUGUSTE

Aber eben im Radio –

SCHWITTER

Wurde gemeldet, ich sei abgekratzt – kann ich mir denken, ich kenne die Brüder.

AUGUSTE

Jawohl, Herr Schwitter –

SCHWITTER

Darf ich bitten, mir die Kerzen –

NYFFENSCHWANDER

Selbstverständlich, Herr Schwitter. Nimmt ihm die Kerzen ab. Die Koffer –

SCHWITTER

Unterstehen Sie sich!

NYFFENSCHWANDER

Entschuldigung, Herr Schwitter.

SCHWITTER

Das Fenster zu! Es ist ein schöner Sommer, ein Sommer wie selten einer, dabei der längste Tag, doch ich friere.

NYFFENSCHWANDER

Natürlich, Herr Schwitter. Schließt das Fenster, dann die Tür.

SCHWITTER

Die Zeitungen sind voll mit rührenden Szenen: Der Nobelpreisträger in der Klinik, der Nobelpreisträger unter dem Sauerstoffzelt, der Nobelpreisträger auf dem Operationstisch, der Nobelpreisträger im Koma. Meine Krankheit ist weltberühmt, mein Sterben eine öffentliche Angelegenheit, aber ich riß aus. Ich bestieg den städtischen Autobus und bin hier. Schwankt. Ich muß mich setzen. Die Anstrengung – Setzt sich auf einen Koffer.

NYFFENSCHWANDER

Darf ich –

SCHWITTER

Rühren Sie mich nicht an. Von einem Sterbenden soll man die Hände lassen. Starrt auf die Frau. Komisch. Da weiß man, daß es kaum noch Minuten geht, bis der Tod einen holt, und dann sitzt man plötzlich einer nackten Frau gegenüber, sieht goldene Schenkel, einen goldenen Bauch und goldene Brüste –

NYFFENSCHWANDER

Meine Frau.

SCHWITTER

Eine schöne Frau. Herrgott, noch einmal so einen Leib zu umarmen. Erhebt sich wieder.

NYFFENSCHWANDER

Auguste, zieh dich an!

Sie verschwindet hinter der spanischen Wand rechts hinten.

SCHWITTER

Ich bin in der Euphorie, mein lieber – Wie heißen Sie eigentlich?

NYFFENSCHWANDER

Nyffenschwander. Hugo Nyffenschwander.

SCHWITTER

Nie gehört. Schaut sich aufs neue um. Unverändert. Vor vierzig Jahren wohnte ich hier und malte auch. Dann verheizte ich meine Bilder und begann zu schreiben. Setzt sich in den Lehnstuhl. Noch immer der gleiche unmögliche wacklige Lehnstuhl. Röchelt.

NYFFENSCHWANDER erschrocken

Herr Schwitter –

SCHWITTER

Es ist soweit.

NYFFENSCHWANDER

Auguste! Wasser!

Auguste im Morgenrock eilt hinter der spanischen Wand hervor zum Wasserhahn.

SCHWITTER

Sterben ist nichts Tragisches.

NYFFENSCHWANDER

Mach schnell!

SCHWITTER

Es ist gleich vorüber.

NYFFENSCHWANDER

Sie sollten in die Klinik zurück, Herr Schwitter.

SCHWITTER

Unsinn. Atmet tief. Ich möchte das Atelier mieten.

NYFFENSCHWANDER

Das Atelier?

SCHWITTER

Für zehn Minuten. Ich möchte hier sterben.

NYFFENSCHWANDER

Hier?

SCHWITTER

Teufel, deshalb bin ich schließlich aufgekreuzt.

Auguste kommt mit einem Glas Wasser.

AUGUSTE

Wasser, Herr Schwitter.

SCHWITTER

Ich trinke nie Wasser. Starrt sie an. Auch angezogen sind Sie ein schönes Weib. Sind Sie mir böse, wenn ich Auguste zu Ihnen sage?

AUGUSTE

Aber nein, Herr Schwitter. Stellt das Glas Wasser auf den runden Tisch neben dem Lehnstuhl.

SCHWITTER

Läge ich nicht im Sterben, würde ich Sie zu meiner Geliebten machen. Verzeihen Sie mir meine Worte, doch angesichts der Ewigkeit –

AUGUSTE

Aber natürlich, Herr Schwitter.

SCHWITTER

Meine Beine sind schon gefühllos. Sie, Nyffenschwander, Sterben ist toll, das sollten Sie auch einmal durchmachen! Die Gedanken, die einem kommen, die Hemmungen, die fallen, die Einsichten, die einem aufgehen. Einfach großartig. Aber nun will ich nicht länger stören. Ihr laßt mich eine Viertelstunde allein, und wenn ihr zurückkommt, bin ich hin. Greift in den Pelzmantel, gibt Nyffenschwander einen Geldschein. Hundert.

NYFFENSCHWANDER

Vielen Dank, Herr Schwitter.

SCHWITTER

Mittellos?

NYFFENSCHWANDER

Na ja, als künstlerischer Revolutionär –

SCHWITTER

In diesem Atelier ging es mir auch dreckig. Einem talentlosen Maler, der die Pinsel in die Ecke feuert, um Schriftsteller zu werden, gibt kein Hund Kredit. Ich mußte mich durchgaunern, Nyffenschwander, durchgaunern! Öffnet den Pelzmantel. Atemnot.

NYFFENSCHWANDER

Soll ich vielleicht doch die Klinik –

SCHWITTER

Ich muß ins Bett.

AUGUSTE

Ich ziehe es frisch an, Herr Schwitter.

SCHWITTER

Wozu? Ich sterbe in Ihren Laken, Auguste, noch warm von Ihrem Leib. Erhebt sich, legt einen weiteren Geldschein auf den Tisch. Noch einmal hundert. So kurz vor dem Exitus wird man großzügig. Nimmt die Manuskripte aus den Taschen und reicht sie Nyffenschwander. Meine letzten Manuskripte.

NYFFENSCHWANDER

Soll ich sie Ihrem Verleger –

SCHWITTER

In den Ofen damit.

NYFFENSCHWANDER

Bitte, Herr Schwitter. Stopft sie in den linken Ofen.

SCHWITTER

Anzünden!

NYFFENSCHWANDER

Wie Sie wünschen, Herr Schwitter. Zündet sie an.

Schwitter zieht den Pelzmantel aus, legt ihn sorgfältig über den Lehnstuhl, schlüpft aus den Schuhen, stellt sie ebenfalls sorgfältig neben den Lehnstuhl, steht in einem Pyjama mit eingebundenen Beinen da.

NYFFENSCHWANDER

Angezündet.

SCHWITTER

Ich lege mich hin. Es kann sich nur noch um Minuten handeln.

Auguste will ihn führen.

SCHWITTER

Lassen Sie mich, Auguste. Ich möchte in meinen letzten Momenten an etwas Wesentlicheres denken als an ein schönes Weib. Wandelt auf das Bett zu. Ich möchte an nichts denken. Legt sich aufs Bett. Einfach verdämmern. Liegt unbeweglich. Mein altes Bett. Immer noch die gleiche unverwüstliche Matratze. Auch die Decke weist den selben Riß auf, und dieses gräßliche Geröhre hat seine Richtung beibehalten. Auguste!

AUGUSTE

Herr Schwitter?

SCHWITTER

Zudecken!

AUGUSTE

Jawohl, Herr Schwitter. Deckt ihn zu.

SCHWITTER

Die Kerzen aufstellen, Nyffenschwander! Ein wenig Feierlichkeit gehört nun einmal zum Sterben. Wenn das letzte Stündlein schlägt, sind wir alle romantisch.

NYFFENSCHWANDER

Gern, Herr Schwitter. Stellt die Kerzen auf die beiden Stühle neben dem Bett.

SCHWITTER

Anzünden!

NYFFENSCHWANDER

Sofort, Herr Schwitter. Zündet die Kerzen an.

SCHWITTER

Die Vorhänge ziehen, Auguste!

AUGUSTE

Jawohl, Herr Schwitter. Zieht schwarze Vorhänge. Das Atelier ist nun dunkel, nur noch die Kerzen geben Licht.

NYFFENSCHWANDER

Zufrieden?

SCHWTTTER

Zufrieden.

AUGUSTE

Fast wie Weihnachten.

Der Maler und seine Frau bilden eine andächtige Gruppe. Stille. Schwitter liegt unbeweglich. Auguste neigt sich über ihn.

AUGUSTE

Hugo –

NYFFENSCHWANDER

Auguste?

AUGUSTE

Er atmet nicht mehr.

NYFFENSCHWANDER

Hin.

AUGUSTE

Mein Gott.

NYFFENSCHWANDER

Endgültig.

AUGUSTE

Was tun wir jetzt?

NYFFENSCHWANDER

Ich weiß nicht.

AUGUSTE

Sollte man nicht den Hauswart –

NYFFENSCHWANDER

Verfluchte Situation.

Stille.

AUGUSTE

Hugo –

NYFFENSCHWANDER

Auguste?

AUGUSTE

Er schlägt die Augen auf.

NYFFENSCHWANDER

He?

SCHWITTER leise

Alles Aktbilder. Malen Sie denn nichts als Ihre nackte Frau?

NYFFENSCHWANDER

Ich male das Leben, Herr Schwitter.

SCHWITTER

Donnerwetter. Kann man denn das Leben überhaupt malen?

NYFFENSCHWANDER

Ich versuche es, Herr Schwitter.

SCHWITTER

Geht!

AUGUSTE

Gleich, Herr Schwitter. Ich schaffe noch die Zwillinge hinaus.

SCHWITTER

Zwillinge?

AUGUSTE

Irma und Rita. Sechsmonatig.

SCHWITTER

Lassen Sie die nur hier.

AUGUSTE

Aber die Windeln –

SCHWITTER

Stören nicht.

AUGUSTE

Sie tropfen noch.

SCHWITTER

Macht nichts.

NYFFENSCHWANDER

Komm, Auguste!

AUGUSTE

Herr Schwitter – Ich bin vor der Türe, wenn Sie mich brauchen.

SCHWITTER

Sie sind wunderbar, Auguste.

AUGUSTE

Jawohl, Herr Schwitter.

Er winkt ihr schwach zum Abschied. Auguste geht ab. Nyffenschwander nimmt den Geldschein vom Tisch und geht zur Tür.

SCHWITTER

Nyffenschwander.

NYFFENSCHWANDER

Herr Schwitter?

SCHWITTER

Sie gleichen einem belgischen Minister.

NYFFENSCHWANDER verwirrt

Jawohl, Herr Schwitter. Er verläßt das Atelier.

Schwitter ist allein. Er liegt unbeweglich mit gefalteten Händen, und wie man schon glaubt, er sei gestorben, steigt er plötzlich aus dem Bett und öffnet einen der Koffer, beginnt, im Pyjama und kniend den Inhalt in den Ofen rechts zu stopfen.

Pfarrer Emanuel Lutz tritt auf. Eine freundliche, beinahe kindliche Erscheinung, außer Atem. Er ist vierzig, schmächtig, blond, goldene Brille, dunkel gekleidet, trägt in der linken Hand einen schwarzen breitrandigen Hut.

PFARRER LUTZ

Herr Schwitter!

SCHWITTER

Raus!

PFARRER LUTZ

Gepriesen sei der Herr der Herrlichkeit. Er ist die Auferstehung und das Leben.

SCHWITTER

Ich brauche keine Sprüche. Verduften Sie wieder!

PFARRER LUTZ

Ich bin Pfarrer Emanuel Lutz von der Jakobusgemeinde und komme direkt aus der Klinik.

SCHWITTER

Ich benötige keinen Geistlichen. Macht im Ofen rechts wieder Feuer.

PFARRER LUTZ

Ihre Gattin rief mich an Ihr Krankenlager.

SCHWITTER

Sieht ihr ähnlich.

PFARRER LUTZ

Ich war ja auch verlegen. Sie sind ein weltberühmter Dichter, und ich bin ein einfacher Pfarrer ohne Beziehung zur modernen Literatur.

SCHWITTER

Der Ofen zieht. Stochert im Ofen.

PFARRER LUTZ

Kann ich behilflich sein?

SCHWITTER

Wenn Sie mir die Papiere reichen wollen –

PFARRER LUTZ

Aber gerne. Legt den Hut auf den Tisch und reicht ihm aus dem Koffer die Papiere. Sie lagen bewußtlos im Bett, und ich betete den neunzigsten Psalm: Herr, Gott, Du bist unsere Zuflucht für und für.

SCHWITTER

Es lodert.

PFARRER LUTZ

Der Du die Menschen lässest sterben und sprichst: Kommt wieder, Menschenkinder – Wird heiß! Trocknet sich den Schweiß ab.

SCHWITTER

Brennt gut.

Durch die Türe späht Auguste.

AUGUSTE

Herr Schwitter?

SCHWITTER

Lebe noch.

AUGUSTE

Jawohl, Herr Schwitter. Verschwindet.

SCHWITTER

Verfeuern wir weiter.

PFARRER LUTZ Geldscheine reichend

Bitte.

SCHWITTER

Nimmt mich nur wunder, wie Sie mich aufgestöbert haben.

PFARRER LUTZ

Durch die Oberschwester. Sie äußerten im Fieber, Ihr altes Atelier aufsuchen zu wollen. Stutzt. Herr Schwitter –

SCHWITTER

Nun?

PFARRER LUTZ

Das sind doch – das sind doch – das sind doch Banknoten, was wir hier –

SCHWITTER

Und?

PFARRER LUTZ

Eine Tausendernote.

SCHWITTER

Sicher.

PFARRER LUTZ

Ein Vermögen.

SCHWITTER

Anderthalb Millionen.

PFARRER LUTZ fassungslos

Anderthalb –

SCHWITTER

Durch Schreiben verdient.

PFARRER LUTZ

Anderthalb Millionen. Aber Ihre Erben, Herr Schwitter, Ihre Erben –

SCHWITTER

Mir egal.

PFARRER LUTZ

Eine Riesensumme. Damit könnte man Kinder ernähren, Krankenschwestern ausbilden – und nun verbrennen Sie alles.

SCHWITTER

Verglüht.

PFARRER LUTZ

Wenn ich wenigstens diese Tausendernote für den Freibettenfonds –

SCHWITTER

Ausgeschlossen.

PFARRER LUTZ

Oder für die Mohammedanermission –

SCHWITTER

Kommt nicht in Frage. Ich war arm, als ich in diesem Atelier lebte, und arm will ich in ihm sterben. Verfeuert weiter.

PFARRER LUTZ

Sterben? Sie?

SCHWITTER

Wenn mein Vermögen verfeuert ist, lege ich mich hin und verröchle.

PFARRER LUTZ

Aber Herr Schwitter, Sie können nicht mehr verröcheln. Sie – Sie sind doch schon gestorben, Herr Schwitter.

SCHWITTER

Gestorben? Starrt den Pfarrer an.

PFARRER LUTZ

Wie ich Psalm neunzig betete, bäumten Sie sich auf und entschliefen.

Schweigen.

PFARRER LUTZ

Es war ergreifend.

Schwitter stopft weitere Scheine in den Ofen und brüllt.

SCHWITTER

Auguste!

In der Türe erscheint Auguste.

AUGUSTE

Herr Schwitter?

SCHWITTER

Kognak! Hopp! Eine ganze Flasche!

AUGUSTE

Jawohl, Herr Schwitter. Verschwindet.

SCHWITTER

Helfen Sie mir in den Pelzmantel. Der Pfarrer ist ihm behilflich. Gestorben!

PFARRER LUTZ

Der Herr nahm Sie zu sich.

SCHWITTER

Lächerlich. Ich wurde ohnmächtig, und als ich wieder zu mir kam, lag ich allein im Krankenzimmer. Eine Binde hielt mein Kinn.

PFARRER LUTZ

Das ist bei frischen Leichen üblich.

SCHWITTER

Auf der Bettdecke lag ein Blumenmeer, und Kerzen brannten.

PFARRER LUTZ

Sehen Sie.

SCHWITTER

Ich kroch unter den Kränzen der Regierung und des Nobelpreiskomitees hervor und ging in mein Atelier, das ist alles.

PFARRER LUTZ

Das ist nicht alles.

SCHWITTER

Eine Tatsache.

PFARRER LUTZ

Eine Tatsache ist, daß Professor Schlatter persönlich Ihren Tod feststellte. Um elf Uhr fünfzig.

SCHWITTER

Eine Fehldiagnose.

PFARRER LUTZ

Professor Schlatter ist eine Kapazität –

SCHWITTER

Jede Kapazität kann sich irren.

PFARRER LUTZ

Nicht Professor Schlatter.

SCHWITTER

Ich lebe schließlich noch. Betastet sich unwillkürlich.

PFARRER LUTZ

Wieder. Sie sind von den Toten auferstanden. Daran gibt es wissenschaftlich nichts zu rütteln. In der Klinik brach das Chaos aus. Der Hort des Unglaubens erzitterte. Ich bin wirblig vor Freude. Wenn ich mich vielleicht setzen dürfte. Für ein Minütchen.

SCHWITTER

Bitte.

Pfarrer Lutz setzt sich an den runden Tisch.

PFARRER LUTZ

Sie müssen mich entschuldigen. Das Wunder, die Aufregung, die unmittelbare Nähe des Allmächtigen. Ich bin förmlich außer mir. Es ist, als wäre der Himmel offen, als wäre seine Herrlichkeit um uns. Wenn ich mir den Kragen etwas lockern dürfte –

SCHWITTER

Tun Sie sich keinen Zwang an. Öffnet den anderen Koffer, stopft Geldscheine in den Ofen links. Auferstanden! Ich! Von den Toten! So ein Witz!

PFARRER LUTZ

Heilig, heilig ist der Herr Zebaoth!

SCHWITTER

Lassen Sie endlich Ihre Sprüche weg.

PFARRER LUTZ

Gott erwählte Sie, Herr Schwitter, damit die Blinden sehen und die Gottlosen an ihn glauben.

SCHWITTER

Werden Sie nicht geschmacklos. Verfeuert weiter.

PFARRER LUTZ

Aber Ihre Seele –

SCHWITTER

Ich habe keine Seele, dafür reichte die Zeit nicht. Schreiben Sie einmal jedes Jahr ein Stück, und Sie melden Ihr Innenleben auch schleunigst ab. Und da kommen Sie, Pfarrer Lutz. Zugegeben, es ist Ihr Beruf. Trotzdem. Da löst man sich in seine Bestandteile auf, in Wasser, Fett und Mineralien, und Sie schlagen mit Gott und Wundern um sich. Wozu? Damit ich mich als Werkzeug Gottes betrachte? Damit ich Ihren Glauben bestätige? Ich will ehrlich sterben ohne Fiktion und ohne Literatur. Ich will nichts als noch einmal die reine Zeit spüren, dieses sanfte Verfließen, ich will nichts als noch einmal eine Minute als Wirklichkeit erleben, nichts als noch einmal eine Sekunde voller Gegenwart. Mein Vermögen ist verheizt.

In der Tür erscheint schwer atmend Auguste.

AUGUSTE

Der Kognak, Herr Schwitter.

SCHWITTER

Her damit.

AUGUSTE

Jawohl, Herr Schwitter. Bringt die Flasche.

SCHWITTER

Verschwinden! Hopp!

AUGUSTE

Jawohl, Herr Schwitter. Verschwindet.

Er sieht ihr nach.

SCHWITTER

Ein süßes Trampeltier. Setzt sich in den Lehnstuhl, öffnet die Flasche, trinkt. Tut gut. Nimmt den Hut vom Tisch und reicht ihn dem Pfarrer. Ihr Hut.

PFARRER LUTZ

Danke schön. Nimmt ihn und bleibt.

SCHWITTER

Nett, daß Sie mir geholfen haben, meine anderthalb Millionen –

PFARRER LUTZ

Das war doch selbstverständlich.

SCHWITTER

Nun traben Sie aber hinaus.

Pfarrer Lutz geht zur Tür, bleibt stehen.

PFARRER LUTZ

Herr Schwitter. Ich bin erst vierzig, doch meine Gesundheit ist angegriffen. Ich stehe in Gottes Hand. Auch sollte ich mich schon längst im Pfarrhaus befinden, und die Abendandacht ist auch noch nicht vorbereitet. Aber ich fühle mich auf einmal so kraftlos, so morsch, so unsäglich müde – wenn ich mich vielleicht etwas hinlegen dürfte – nur ein Sekündchen – Wankt zum Bett, setzt sich.

SCHWITTER

Bitte. Trinkt. Ich vermag mich ohnehin nicht mehr zu erheben.

PFARRER LUTZ

Die Aufregung war zu groß. Ich ziehe vielleicht besser auch noch die Schuhe aus. Beginnt, sich die Schuhe auszuziehen. Nur für ein Momentchen. Nur bis der Kreislauf wieder etwas in Ordnung kommt –

SCHWITTER

Fühlen Sie sich wie zu Hause. Preßt die Hände gegen die Brust. Mein Herz setzt aus.

PFARRER LUTZ

Nur getrost. Legt sich auf das Bett.

SCHWITTER

Atemnot ist nichts Lustiges.

PFARRER LUTZ

Vater unser, der Du bist –

SCHWITTER zischend

Nicht beten!

PFARRER LUTZ erschrocken

Verzeihung.

SCHWITTER

Ich sterbe. Trinkt aus der Flasche. Nicht so feierlich wie geplant, sondern in diesem scheußlichen Lehnstuhl. Trinkt aus der Flasche. Sie tun mir leid, Pfarrer, mit meiner Auferstehung ist es nichts. Lacht auf. Einmal kam ein Pfarrer zu mir, und der tat mir auch leid. Als sich meine zweite Frau das Leben genommen hatte, die Tochter eines Großindustriellen. Sie schluckte ein Pfund Schlafmittel, schätze ich, unsere Ehe war eine Tortur gewesen – nun, ich brauchte Geld, das hatte sie, ich will nachträglich nicht klagen – sie machte einen rasend – und wie sie so dalag, weiß und stumm – der Pfarrer war ergriffen. Er kam, wie der Arzt noch an der Leiche herumhantierte und bevor der Staatsanwalt aufkreuzte. Er war dunkel gekleidet wie Sie, Pfarrer Lutz, und in Ihrem Alter. Er stand neben dem Bett und glotzte auf meine Selige, und später saß er in der Halle. Mit gefalteten Händen. Er schien etwas sagen zu wollen, vielleicht Bibelsprüche, aber dann sagte er doch nichts, und ich ging nach dem achten Kognak auf mein Zimmer und schrieb, wie eine Dorfschulklasse ihren idealistischen jungen Lehrer zu Tode prügelt und wie ein Bauer mit dem Traktor über den Lehrer rollt und den Fall vertuscht. Mitten im Dorf. Vor dem Schulhaus. Und alle schauen zu. Auch der Polizist. Ich glaube, es ist mein bestes Stück Prosa geworden. Trinkt aus der Flasche. Und als ich gegen Morgen in die Halle schwankte, hundemüde, saß der Pfarrer nicht mehr da. Schade. Er war ein hilfloser Pfarrer gewesen. Trinkt.

PFARRER LUTZ

Auch ich bin zu nichts nütze. Wenn ich predige, schläft die Gemeinde ein. Zittert.

SCHWITTER

Kann sein, daß er gar kein Pfarrer war. Kann sein, daß er ein Liebhaber meiner zweiten Frau war. Vielleicht hatte sie überhaupt viele Liebhaber. Merkwürdig, daß ich bis heute nie an diese Möglichkeit gedacht habe. Trinkt.

PFARRER LUTZ

Es ist auf einmal bitterkalt.

SCHWITTER

Ich friere auch etwas.

PFARRER LUTZ

Gott war nah, und nun ist er wieder fern.

SCHWITTER

Ich beabsichtigte, mit einer gewissen menschlichen Größe abzudanken, und habe mich nichts als besoffen. Trinkt.

PFARRER LUTZ

Sie glauben nicht an Ihre Auferstehung.

SCHWITTER

Ich war scheintot.

PFARRER LUTZ

Sie wollen sterben.

SCHWITTER

Muß. Trinkt.

Er stellt die Flasche hart auf den Tisch, sinkt in den Lehnstuhl zurück.

PFARRER LUTZ

Gott sei Ihnen gnädig.

Schweigen. Pfarrer Lutz faltet die Hände.

PFARRER LUTZ

Ich glaube an Ihre Auferstehung. Ich glaube, daß Gott ein Wunder tat. Ich glaube, daß Sie leben werden. Der Herr der Herrlichkeit kennt mein Herz. Es fällt schwer, das Evangelium von Christi Opfertod und Auferstehung zu verkünden und keinen anderen Beweis zu haben als nur den Glauben. Da hatten es die Jünger leichter, mit allem Respekt sei es gesagt. Der Herr wohnte unter ihnen. Er tat vor ihren Augen Wunder um Wunder. Er heilte Blinde, Lahme und Aussätzige. Er wandelte über die Wasser und erweckte die Toten. Und als der Menschensohn auferstanden war, durfte Thomas, der immer noch zweifelte, seine Hand auf dessen Wunde legen. Da fiel es nicht schwer zu glauben. Doch das ist lange her. Das Himmelreich, das uns versprochen worden ist, kam nie. Wir lebten in der Finsternis und hatten nichts als unsere Hoffnung. Sie allein speiste noch unseren Glauben. Das war wenig, Herr. Doch nun hast Du Dich meiner erbarmt. Ich erblicke Dein Licht. Erbarme Dich nun auch derer, die Deine Herrlichkeit nicht zu sehen vermögen, weil Deine Verborgenheit sie erblinden ließ.

Stille. Die Türe öffnet sich langsam. Auguste späht herein.

AUGUSTE leise

Herr Schwitter.

Stille.

AUGUSTE etwas lauter

Herr Schwitter.

Stille. Auguste betritt das Atelier. Durch die Tür späht Nyffenschwander.

AUGUSTE laut

Herr Schwitter.

NYFFENSCHWANDER

Nun?

AUGUSTE

Er antwortet nicht.

NYFFENSCHWANDER

Schau mal nach.

Auguste geht zum Lehnstuhl, neigt sich über Schwitter. In der Tür erscheint der Hauswart Glauser, ein dicker, gemütlicher, schwitzender Mann.

GLAUSER

Nun?

NYFFENSCHWANDER

Meine Frau schaut nach.

GLAUSER

Ich sah den Mann hinaufsteigen, Nyffenschwander. Er kam mir gleich verdächtig vor. Ich bitte, im Pelzmantel trotz der Hitze und zwei Kerzen unter dem Arm. Sie hätten die Polizei verständigen sollen.

Auguste richtet sich auf.

AUGUSTE

Hugo.

NYFFENSCHWANDER

Tot?

Auguste berührt Schwitter schnell.

AUGUSTE

Ich glaube.

NYFFENSCHWANDER

Endlich.

Nyffenschwander und Glauser öffnen die Vorhänge. Glauser bläst die beiden Kerzen aus und entdeckt Pfarrer Lutz.

GLAUSER

Da liegt noch einer.

Nyffenschwander und Auguste gehen zum Bett.

NYFFENSCHWANDER

Noch einer?

GLAUSER

Nyffenschwander, ich wundere mich.

AUGUSTE

Pfarrer Lutz!

NYFFENSCHWANDER

Auch hin.

GLAUSER