Der Migräne-Kompass - Bettina Rubow - E-Book
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Der Migräne-Kompass E-Book

Bettina Rubow

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Beschreibung

Dieses umfassende Lesebuch widmet jedem Aspekt der so facettenreichen Erkrankung Migräne Aufmerksamkeit. Hintergründe, Zusammenhänge, wissenschaftliche Erkenntnisse, Tipps und Anekdoten zu diesem so oft unterschätzten Leiden sind hier erstmals unvoreingenommen zusammengetragen und werden leicht verständlich sowie unterhaltsam präsentiert. Die Autorin, selbst Migränikerin, kann sich auf eigene Erfahrungen berufen, lässt aber auch andere Betroffene und Experten zu Wort kommen, um Migräne mit all ihren Gesichtern begreifbar zu machen. Der Leser findet sich als Teil einer Leidensgemeinschaft wieder und lernt alles Wissenswerte, um letztlich ein besseres Leben mit Migräne zu führen.

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Dieses umfassende Lesebuch widmet jedem Aspekt der so facettenreichen Erkrankung Migräne Aufmerksamkeit. Hintergründe, Zusammenhänge, wissenschaftliche Erkenntnisse, Tipps und Anekdoten zu diesem so oft unterschätzten Leiden sind hier erstmals unvoreingenommen zusammengetragen und werden leicht verständlich sowie unterhaltsam präsentiert. Die Autorin, selbst Migränikerin, kann sich auf eigene Erfahrungen berufen, lässt aber auch andere Betroffene und Experten zu Wort kommen, um Migräne mit all ihren Gesichtern begreifbar zu machen. Der Leser findet sich als Teil einer Leidensgemeinschaft wieder und lernt alles Wissenswerte, um letztlich ein besseres Leben mit Migräne zu führen.

Warum habe ich Migräne?

Welche Schmerzmittel helfen am besten?

Wie wirkt die Migränespritze?

Macht das Wetter Migräne?

Wie kann ich Trigger im Alltag identifizieren und vermeiden?

Können auch Kinder Migräne bekommen?

Warum haben so viele Dichter und Denker Migräne?

Sind Migräniker besonders sensibel?

Gibt es Hilfe aus der Komplementärmedizin?

Endlich alle Fragen und Antworten in einem Buch.

Bettina Rubow

Der Migränekompass

Migräne endlich verstehen und besser mit ihr leben

unter der Mitarbeit des Neurologen Dr. Charly Gaul

Illustriert von Inka Hagen

Wilhelm Heyne Verlag

München

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Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Die in diesem Buch vorgestellten Informationen und Empfehlungen sind nach bestem Wissen und Gewissen geprüft. Dennoch übernehmen der Autor und der Verlag keinerlei Haftung für Schäden irgendwelcher Art, die sich direkt oder indirekt aus dem Gebrauch der hier beschriebenen Anwendungen ergeben. Bitte nehmen Sie im Zweifelsfall bzw. bei ernsthaften Beschwerden immer professionelle Diagnose und Therapie durch ärztliche oder naturheilkundliche Hilfe in Anspruch.

Copyright © 2021 by Wilhelm Heyne Verlag, München,

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Straße 28, 81673 München

Redaktion: Angelika Lieke

Umschlaggestaltung: Eisele Grafik Design

unter Verwendung eines Motives von: Bigstock / JustDOne

Satz und E-Book Produktion: Satzwerk Huber, Germering

ISBN: 978-3-641-26524-3V001

www.heyne.de

Inhalt

Vorwort

Kapitel 1: Was ist Migräne?

Kopfschmerzen, Diagnose und Formen

Die Attacke

Die Phasen

Die Symptome

Aura und Antaura

Menstruelle Migräne

Migräne in der Kindheit

Kapitel 2: Die verkleidete Migräne oder: Migräne und ihre Nachbarn

Psychische Begleiter

Vorurteile gegenüber Migräne & Migränikern

Eigenartige Migränesymptome

Was Migräniker zum Thema Neurologie wissen sollten

Kapitel 3: Wer oder was ist schuld?

Migräne – Durchblutungsproblem oder Nervensache?

Ist Migräne ein Entzündungsschmerz?

Der »Migränegenerator«

Familiärer Ursprung der Migräne

Entstehung der Aura

Hormone, Menstruation & Menopause

Migräne als psychogene Erkrankung

Auslöser (Trigger)

Wie entstehen Schmerzen im Gehirn?

Kapitel 4: Therapie. Welche Behandlungsmöglichkeiten gibt es?

Migränebehandlung in heutiger Zeit

Schmerzmittel

Behandlung der menstruellen Migräne

Behandlung der Aura

MOH und chronische Migräne

Verhalten in der Attacke

Neurostimulation

Komplementärbehandlung

Welche Bedeutung hat Placebo?

Der Schmerz und sein Gedächtnis

Kapitel 5: Prophylaxe. Kann man Migräne vorbeugen, und wenn ja, wie?

Lifestyle & Verhalten

Medizinische Prophylaxe

Phytotherapeutika – die Kraft aus Pflanzen

Migräneprophylaxe ohne Medikamente

Prophylaxe der Aura

Vorbeugung und Behandlung der chronischen Migräne und des MOH

Ernährung

Psychotherapie

Kapitel 6: Migränefeuilleton

Macht Migräne künstlerisch begabt?

Wie entstand der Begriff der Migräne?

Literarische Vorurteile gegenüber Migränikern

Persönlichkeiten mit Migräne oder: Heldinnen und Helden des Schmerzes

Metamorphose durch Schmerzen oder: Machen Schmerzen Sinn?

Im Gespräch mit Dr. Charly Gaul

Danksagung

Literatur

Register

Liebe Leserin und lieber Leser des Migräne-Kompasses,

während des ersten Corona-Lockdowns im Frühjahr 2020 hatte ich die Worte meiner Lektorin im Ohr: Schreiben Sie, Frau Rubow, schreiben Sie. Ich schrieb also, blieb ja auch sonst nicht so viel zu tun. Ihre anderen Worte, nach denen der Migräne-Kompass etwa 270 Seiten umfassen sollte, hatte ich wohlweislich »vergessen«. In der Folge schrieb ich 100 Seiten zu viel. Mein Argument, dass Oliver Sacks Buch über Migräne 500 Seiten umfasst, ließ man nicht gelten, ich bin ja auch nicht Oliver Sacks. Es musste also drastisch gekürzt werden – was aber gar nicht so schlimm war, denn die beiden gestrichenen Kapitel waren in dieser Länge nicht unbedingt notwendig fürs Thema. Es handelte sich um das Kapitel über Diagnose und ein sehr persönliches Kapitel. Natürlich habe ich die zentralen Anliegen der beiden ausgesparten Kapitel ins Buch hinübergerettet, so dass nichts Wichtiges fehlt. Darüber hinaus hat der Verlag angeboten, die genannten Kapitel als Bonustrack zum Download zur Verfügung zu stellen. Wenn Sie möchten, können Sie also hier Infos über Anamnese, EEG und MRT lesen oder auch erfahren, wie ich selbst über die Jahre mit der Migräne klargekommen bin. Viel Vergnügen bei der Lektüre wünscht

Ihre Bettina Rubow

www.heyne.de/Migraenekompass_Bonustrack

Vorwort

Ich habe Migräne, seit ich zwölf Jahre alt bin. Allerdings ist sie zwischendurch immer mal wieder abgetaucht. Migräne ist nämlich nicht gleich Migräne. Obwohl sie eine eindeutige Diagnose darstellt, verändert sie sich im Verlauf eines Lebens. Sie kommt und geht, lässt sich mit Haus- und Schmerzmitteln behandeln, dräut am Horizont, wenn man im Stress ist, nutzt aber auch entspannende Momente, um aufzutrumpfen. Sie ist natürlich eine Plage. Eine Plage, über die man nur ungern spricht.

Ja nicht zu viel Aufmerksamkeit für die Migräne. Das ist immer meine Devise im Umgang mit der Krankheit gewesen. Ich wollte mir von ihr nicht das Leben vermiesen lassen. Besser man vergaß sie, sobald sie sich verzogen hatte. Don’t mention it, flüsterte ich daher, wenn mich jemand nach dem M-Wort fragte. Ich vermied ihren Begriff wie Hogwarts-Schüler den Namen für »Du-weißt-schon-wen«.

Im Unterschied zu Voldemort ist Migräne aber keine Fiktion. Es gibt sie wirklich – und das schon ziemlich lang. Bereits der altgriechische Arzt Aretaios hat die einseitigen Schädelschmerzen gut beschrieben. Im Mittelalter hielt Hildegard von Bingen ihre Migräneauren für göttliche Erscheinungen. Oder anders gesagt: Wir glauben heute, dass Hildegards göttliche Erscheinungen Migräneauren waren. Bis in die späte Neuzeit rückte man der Migräne mit Giften auf den Leib, die jeden bösen Geist in die Flucht geschlagen hätten. Und heute? Bringt man sie mit Jugendtraumata in Verbindung. Man versucht sie mit Massage und Achtsamkeit zu besänftigen. Man meidet Rotwein und findet immer neue Auslöser, was die Sache auch nicht besser macht.

Fakt ist: Die Migräne ist bis heute unheilbar. Das liegt daran, dass Migräne eine Nervenkrankheit ist, die sich (sehr wahrscheinlich) vor dem Hintergrund eines hyperaktiven Gehirns abspielt. Sie ist viel mehr als Kopfweh. Sie versteift den Nacken, verursacht Übelkeit und schlechte Laune, schärft die Sinne auf manchmal unerträgliche Weise – und ist auch in ihren Entstehungsmechanismen hochkomplex. Da wundert es einen nicht, dass Dichter und Denkerinnen unter ihr litten. Männer (wie Richard Wagner, Sigmund Freud und Clemens Setz) ebenso wie Frauen (wie Emily Dickinson, Virginia Woolf und Siri Hustvedt). Sie und andere Kreative beweisen, dass man sich für Migräne nicht schämen muss.

Wie viele Migräneleidende habe ich (fast) alles probiert, um sie zu vertreiben: Akupunktur, Mittagsschlaf, Kaffee mit Zitrone, Betablocker, Yoga. Von diesen und weiteren Methoden und ihrer Wirksamkeit möchte ich berichten, aber auch von der bei mir sehr erfolgreichen Migränespritze, die 2018 auf den Markt kam. Die Prophylaxe mit dem Antikörper hat dazu geführt, dass ich dieses Buch weitgehend ohne Kopfschmerzen schreiben konnte. Das war für mich wie ein medizinisches Wunder.

Niemand muss Kopfschmerzen aushalten. Mit Medikamenten und einem angemessenen Verhalten lässt sich fast jede Migräneattacke gut behandeln. Dass der Schwerpunkt dieses Buchs auf der Medizin liegt, hängt eng mit meiner persönlichen Erfahrung zusammen. Oder anders formuliert: In Sachen Migräne hat die wissenschaftlich fundierte Medizin mir (und vielen anderen Migränikern) bislang am besten geholfen. In diesem Buch versuche ich zu erklären, warum das so ist.

Und die Vorurteile? Welche Vorurteile? Scherz! Ich bin schließlich die Frau, die mitten im Essen aufsteht und den Kerzenleuchter auf der Fensterbank gerade rückt. Ich weiß also, von welchen Vorurteilen wir sprechen. Ich mag aber auch Sex während einer Migräneattacke, was mit einem der größten Vorurteile gegenüber Migränikerinnen gleich einmal aufräumt.

Mein Leben hat mich gelehrt, allen Störungen, auch denen, die sich im Kopf abspielen, vorurteilsfrei zu begegnen – und ich hoffe sehr, Sie ins faszinierende Reich der Migräne und ihres Stammorgans, des Gehirns, mitnehmen zu können. Wenn wir das Gehirn und seine Störungen besser verstehen, haben wir auch mehr Verständnis für die Person hinter der Störung, im Zweifelsfall uns selbst. Viele Migräniker hoffen sehr auf ihr Alter, das naturgemäß einen Rückgang der Kopfschmerzen mit sich bringen würde. Bei vielen löst das Alter dieses Versprechen auch ein, insbesondere Frauen verlieren die Kopfschmerzerkrankung gern nach dem Wechsel. Bei mir ist sie aber nach der Menopause schlimmer geworden. Viel schlimmer. Diese Tatsache habe ich mir lange nicht eingestanden … bis ich mitbekam, dass ich nicht allein damit war. Anderen erging es ebenso.

Unser gemeinsames Leiden ist die Basis für dieses Buch, das Einblicke in die Biologie und Wissenschaft vom Gehirn bietet, aber auch Ausblicke in Kunst und Literatur. Es klärt über schmerzstillende Substanzen auf und bietet das nötige medizinische Wissen … reicht aber bei Weitem nicht an die Neurologie heran, die man nach einem abgeschlossenen Medizinstudium noch einmal weitere fünf Jahre als Arzt oder Ärztin in der Assistenzzeit studiert. Für den neurologischen Teil dieses Buches habe ich viel Unterstützung von Dr. Charly Gaul erhalten, der die Migräne- und Kopfschmerzklinik Königstein leitet.

Dieses Buch ist ein Plädoyer für einen befreiten Umgang mit Migräne und Kopfschmerzen. Dank meiner Arbeit daran habe ich angefangen, offen über meine Migräne zu sprechen. Ja, ich habe sie, und nein, sie ist kein Symptom für ein anderes Problem, sondern selbst das Problem. Dennoch weiß ich, dass ich auf eigene Weise mit ihr umgehen muss. Ich möchte auch Ihnen Mut machen, zur Migräne zu stehen und sie aktiv anzugehen. Auch, um Ihre eigene Geschichte, die im Fall der Migräne ja auch immer die Geschichte Ihrer Vorfahren ist, besser zu verstehen. Migräne wird vererbt, aber auch unser Mitgefühl füreinander setzt sich durch die Generationen hindurch fort.

Bettina Rubow, im September 2020

Zur gendergerechten Sprache: Die männliche Form des Migränikers meint immer die Migränikerin mit, es sei denn, es ist explizit von der Migränikerin die Rede. Als Ausgleich habe ich öfter die Ärztin oder Neurologin geschrieben, hier meint die weibliche Form den Arzt immer mit.

1

Was ist Migräne?

Was macht man sich aus der Liebe der ganzen Menschheit, wenn man Zahnweh oder Migräne hat?

(Theodor Fontane)

Migräne ist eine primäre Kopfschmerzerkrankung. Das heißt, die Kopfschmerzen und die Begleitsymptome sind die eigentliche Erkrankung, außer einer genetischen Vorbelastung gibt es keine weiteren erkennbaren Ursachen. Keine Infektion, keine Verletzung und auch kein Trauma führen zu den meist einseitigen Kopfschmerzen, die ganze Tage ihrer Opfer überschatten. Obwohl sie in allen Zeitaltern vorkam und bereits im Altertum beschrieben wurde, herrschte bis ins 20. Jahrhundert hinein Unklarheit über die neurologische Natur der Migräne. Heute ist sie als eigenständige Erkrankung klar definiert und hat ihren festen Platz im ICD (International Statistical Classification of Diseases and Related Health Problems), dem weltweit anerkannten Klassifizierungssystem medizinischer Diagnosen. Die Migräne und ihre Unterformen sind auch im ICHD (International Classification of Headache Disorders) der Internationalen Kopfschmerzgesellschaft (IHS) zu finden.

ICD-10, ICHD-3 … als Migräniker möchte man sich lieber nicht auf allzu komplizierte Definitionen der eigenen Störung einlassen. Denn man empfindet die Kopfschmerzen und alle Beschwerden um sie herum ja sowieso als starke, zuweilen überwältigende Einheit. Nur ein Charakteristikum kann wohl jeder nachvollziehen, der Migräne aus eigener Erfahrung kennt, und das ist ihr anfallsartiges Auftreten, das Körper und Seele in Mitleidenschaft zieht. Migräne ist mehr als Kopfschmerz. Sie tritt immer im Rahmen einer Attacke auf. Zu den Attacken zählen diverse Vorboten und Begleitsymptome, physische und psychische Beschwerden, aber am lästigsten sind natürlich die starken Kopfschmerzen, die in der Regel den Höhepunkt einer Migräneattacke darstellen.

Fast das ganze Jahr ohne Migräne überstanden und jetzt kommt sie plötzlich mit einer Arschbombe angesprungen. Hat auch Koffer dabei. Es bohrt und hämmert. Scheint ein längerer Aufenthalt zu werden.

(Nutzer auf der Kopfschmerz- und Migräne-App M-Sense)

In den meisten Fällen tritt die Migräne episodisch auf, also etwa einmal im Monat oder in noch größeren Abständen. Manchmal setzt sie auch Jahre aus und kommt irgendwann im späteren Leben wieder. Oder sie bleibt ganz weg (was im Alter ab fünfzig tatsächlich öfter passiert). Die Migräneepisoden sind den meisten Betroffenen recht vertraut; Vorspann, Höhepunkt, Abspann verlaufen zwar individuell unterschiedlich, aber nach dem gleichen quälenden Muster. Bei manchen Migränikern dauern sie nur einen halben Tag, bei anderen drei Tage. Manchmal verfangen sich die Migränen aber auch in einer Art Dauerschleife. Dann ist die Erkrankung chronisch. Bei einem chronischen Verlauf können manche Migräneleidende gar nicht mehr genau unterscheiden, wann es sich um eine Attacke gehandelt hat und wann es »nur« Kopfweh war.

Ist Migräne eine chronische Erkrankung?

Manchmal liest man im Zusammenhang mit Migräne von einer chronischen Erkrankung. Sie ist tatsächlich insofern chronisch, als ihre Anlage im Körper dauerhaft vorhanden ist, und episodisch, insofern sie in Anfällen auftritt, die wiederum von anfallsfreien Intervallen unterbrochen werden (Gott sei Dank). Der Begriff »chronisch« ist in Bezug auf Migräne etwas verwirrend, da er auch eine besondere Form der Migräne kennzeichnet, bei der sich die Attacken die Klinke in die Hand geben. In diesem Fall kommt es an 15 und mehr Tagen im Monat zu Kopfschmerzen, wovon mindestens acht Tage Migränekopfschmerzen sein sollten. Für die Diagnose einer chronischen Migräne muss das Beschwerdebild seit mindestens drei Monaten bestehen. In drei Vierteln aller Fälle steckt wohl ein MOH dahinter (s. Kap. 4), ein Kopfschmerz durch Medikamentenübergebrauch, über die anderen Gründe zerbrechen sich die Forscher noch den Kopf. Auf alle Fälle berechtigt die chronische Migräne zu einer medikamentösen Migräneprophylaxe.

Migräne ist die häufigste neurologische Erkrankung. Zwölf bis 14 Prozent aller Frauen und sechs bis acht Prozent aller Männer in Deutschland leiden an Migräne. Die Zahlen schwanken je nach Lebensalter und Geschlecht, außerdem geht nicht jeder mit Kopfschmerzen zum Arzt und viele wissen gar nicht, dass sie Migräne haben. Auf jeden Fall setzt Migräne Millionen Menschen regelmäßig (episodisch) schachmatt. Viele davon überstehen ihre Attacken leise jammernd in ihren abgedunkelten Zimmern; dabei gibt es inzwischen gute spezifische Schmerzmedikamente, und auch in der Migräneprophylaxe hat sich einiges getan (s. Schmerzmittel, Kap. 4, s. Prophylaxe, Kap. 5). Heilbar ist Migräne aber nach wie vor nicht, daher ist der Umgang mit ihr – auch Coping genannt – ebenso wichtig wie die richtigen Tabletten zur richtigen Zeit.

Kopfschmerzen, Diagnose und Formen

Durchs Hirn schritt mir ein Leichenzug.

(Emily Dickinson, 1861)

Kopfschmerzen gehören zu den scheußlichsten Schmerzen, die es gibt. Die WHO rechnet Migräneattacken sogar zu den zehn am stärksten behindernden Erkrankungen weltweit. Tatsächlich ist während einer Migräneattacke an Arbeit nicht zu denken, aber auch jegliches Vergnügen und sogar ein gemütliches Herumflacken im Bett fallen aus. Die Tage mit Migräne kannst du komplett aus deinem Leben streichen – das war immer mein Standardsatz in Sachen Migräne.

Obwohl nicht jede Migräneattacke mit Kopfschmerzen verbunden ist, ist der Kopfschmerz das Leitsymptom der Migräne – und ihre schlimmste Beschwerde. Das kann ich jetzt, wo ich kaum noch Kopfschmerzen habe, noch bestimmter sagen als früher.

Weißt Du, was Hemicrania ist? Ein halbes Kopfweh […]. Eine Hälfte meines Kopfes pocht und hämmert, knistert, klopft und flucht, während die andere Hälfte – getrennt in einer exakten Geraden vom Schädeldach bis zum Unterkiefer – ruhig und gesammelt die nachbarschaftlichen Kämpfe verfolgt.

(Rudyard Kipling, 1865-1936)

Migränekopfschmerzen beschränken sich bei der Mehrzahl der Betroffenen auf eine Schädelhälfte, auch das ist charakteristisch für sie. Es gibt jedoch auch beidseitige Migräneattacken – sie sind typisch für Kinder und vor allem für ältere Menschen – oder Attacken, bei denen der Schmerz von einer zur anderen Seite wandert. Allerdings macht das Kuriosum der Einseitigkeit keinen großen Unterschied für den, der unter Migräne leidet, auch wenn der Autor Rudyard Kipling (»Das Dschungelbuch«) freilich recht hatte mit seiner Bemerkung, dass die gesunde Hälfte ruhig beobachten kann, was sich auf der kranken Hälfte an Irrsinn abspielt. Schläfe, Stirn und Auge sind vom Schmerz besonders betroffen. Auch dass die Kopfschmerzen Entzündungsschmerzen sind, kann ich selbst spüren, wenn ich mir an Stirn und Nacken lange. Dort pocht heiß das Blut. Meine Schmerzerfahrung bestätigt also die medizinische Erkenntnis (s. neurogene Entzündung, Kap. 3).

Das Mysterium der Einseitigkeit

Dass wir zweigeteilte Geschöpfe sind, mit zwei Lungenflügeln, rechter und linker Herzhälfte, zwei Nieren, mit Armen und Beinen und schließlich auch mit zwei sich spiegelnden Gehirnhälften, ist eine Besonderheit, die wir mit vielen höheren Tierarten teilen, was auf einen evolutionären Vorteil dieser Symmetrie hinweist. Dabei bearbeitet eine Hirnhälfte jeweils die Signale der gegenüberliegenden Körperhälfte. Es gibt gewisse Spezialisierungen der beiden Hemisphären, wie unsere Hirnhälften wissenschaftlich heißen, das Sprachzentrum etwa befindet sich auf der linken Seite. Die Spezialisierungen gehen aber nicht so weit, dass kein Kontakt zwischen den Hälften bestünde, im Gegenteil: Das Gehirn ist extrem vernetzt und kann sich bei Bedarf unterschiedlichen Erfordernissen anpassen.

Die Schmerzen spielen sich im Kopf ab … manchmal treten sie aber auch an weniger vertrauten Stellen auf. Vergleichbar dem Herzinfarkt, der sich am Arm bemerkbar macht, befällt der Kopfschmerz den Nacken, das Gesicht, die Augen und manchmal auch die Zähne. Glücklicherweise ohne Lebensgefahr. Wie Eingeweideschmerzen scheinen sich Kopfschmerzen auch außerhalb ihres Stammorgans zu manifestieren, dazu passen auch die vegetativen Symptome von Blässe, Kreislaufstörung, Muskelanspannung, Übelkeit und Erbrechen. Mir erschien Migräne manchmal als ein im Wortsinn verrückter Schmerz.

Mit meinen Migränekopfschmerzen bin ich nicht allein, viele Leute haben sie, ja, gemeinsam mit den Spannungskopfschmerzen, die freilich noch häufiger vorkommen als sie, stellt die Migräne mit ihren unterschiedlichen Formen 90 Prozent aller Kopfschmerzen. Diese primären Kopfschmerzen verlaufen nicht tödlich, im Unterschied zu mancher Hirnblutung oder einem Tumor im Kopf, die beide für sekundäre oder auch symptomatische Kopfschmerzen sorgen.

Was unterscheidet primäre von sekundären Kopfschmerzen?

Migräne und Spannungskopfweh zählen zu den primären Kopfschmerzen. Sie werden deshalb primär genannt, weil sie nicht von einer anderen Erkrankung hervorgerufen werden, sondern selbst die Erkrankung sind. Zu ihnen gehören auch so skurrile Kopfschmerzformen wie der primäre Anstrengungskopfschmerz oder die Aura ohne Kopfschmerz. Als sekundär bezeichnet man Kopfschmerzen, die aufgrund eines Unfalls, eines Tumors oder einer Infektion wie der Grippe auftreten, auch eine Hirnblutung gehört zu den gefährlichen Verursachern sekundärer Kopfschmerzen. Sie sind also ein Symptom für eine andere Erkrankung und in diesem Buch kein Thema, gehören aber in ärztliche Behandlung.

Wie wird Migräne diagnostiziert?

Weder ein EEG noch ein Bluttest geben über Migräne Auskunft, und bildgebende Verfahren (MRT, CT) sind bei ihr in der Regel nicht notwendig. Also muss man der Ärztin oder dem Arzt von seinen Kopfschmerzen erzählen und sie oder er stellt dann die Diagnose anhand dieses Berichts. Wer sich nicht an seine früheren Attacken erinnert (das kommt häufiger vor, als man meint), sollte einen Kopfschmerzkalender führen. Er zeigt unsere persönlichen Migränemuster an. Da Migräne trotz ihrer vielfältigen Symptome ein klar umrissenes Krankheitsbild darstellt, reicht ein solches klärendes Gespräch mit dem Arzt in der Regel aus. Die typische Attackendauer von vier bis 72 Stunden, die beschwerdefreie Zeit zwischen den Attacken, die Art der Kopfschmerzen und die übrigen Symptome – das alles charakterisiert die Migräne.

Das Gute an einer Migräne ist, dass sie in der Regel keinerlei Schäden im Gehirn anrichtet. Darin gleicht sie einem Phantomschmerz oder dem Phantomgeräusch eines Tinnitus. Ihre »Harmlosigkeit« ist auch der Grund dafür, dass bildgebende Verfahren keine veränderten Strukturen im zentralen Nervensystem anzeigen.

Die drei großen primären Kopfschmerzformen Spannungskopfschmerz, Migräne und Clusterkopfschmerz – er ist unter den dreien die seltenste Form – treten getrennt voneinander, aber auch miteinander verbandelt auf. Viele Migräniker haben neben ihren Attacken auch noch Spannungskopfweh … als ob der Kopf sich gar nicht mehr beruhigen wollte. Unter primären Kopfschmerzen leiden unglaublich viele Menschen weltweit. Spannungskopfschmerzen gehören gefolgt von Migräne zu den internationalen Spitzenreitern in Sachen Krankheiten, getoppt nur noch von Zahnkaries.

Was sind Spannungskopfschmerzen und wie unterscheiden sie sich von Migräne?

Spannungskopfschmerzen sind ganz normale Kopfschmerzen, wie fast jeder sie ab und an hat. Sie treten nach einem langen Arbeitstag auf oder auch, wenn man vergessen hat, ausreichend zu trinken oder den ganzen Tag nicht an der Luft war. Spannungskopfschmerzen sind wie ein Helm, der schmerzhaft den Kopf umspannt. Den Ovum(Helm)-Schmerz kannte man schon im Mittelalter – er steht in Verbindung mit der Tonsur der Mönche, die nicht nur an die Dornenkrone Christi, sondern auch an seine Kopfschmerzen am Kreuz erinnern soll. Der Schmerz beim Spannungskopfschmerz wird als dumpf und drückend beschrieben, während der Migräneschmerz pulsierend oder auch stechend erscheint. Auch befällt der Spannungskopfschmerz nicht nur eine Schädelhälfte, wie die Migräne es tut, sondern tritt grundsätzlich beidseitig auf. Spannungskopfschmerzen dauern unbehandelt zwischen einer halben Stunde und sieben Tagen, während eine unbehandelte Migräne nach längstens drei Tagen wieder vorbei ist. Dafür ist sie die größere Störerin, Arbeiten und Entspannen sind mit ihr kaum möglich. Der größte Unterschied zwischen Spannungskopfschmerzen und Migräne aber ist: Spannungskopfschmerzen haben keinen eigenen Hofstaat, das heißt, es gibt keine Vorboten, Nachzügler und Begleitsymptome bei ihnen.

Clusterkopfschmerz

In jener Nacht kam das Kopfweh wieder. Pro Nacht eins. Dann zwei. Drei. Vier. Ich ging die Wände hoch. Eine Stunde quälender Folter. Dann kurzer unruhiger Schlaf. Nur, um schreiend vor Schmerz zu erwachen.

(Frank Capra)

Als dritte Möglichkeit der primären Kopfschmerzen tritt der Clusterkopfschmerz auf, ein besonders heftiger, ja unerträglich starker Kopfschmerz, der sich stets auf derselben Kopfseite meist im Bereich des Auges abspielt. Franz Kafka hat unter ihm gelitten und der Regisseur des klassischen Hollywood Frank Capra, dessen »Ich ging die Wände hoch« alles sagt. Ebenso wie die Migräne geht auch der Clusterkopfschmerz mit Symptomen des autonomen Nervensystems einher, zu denen gerötete und tränende Augen sowie eine Pupillenverengung zählen. Beim Clusterkopfschmerz ist der Name Programm: lokal konzentrierte (clusterhafte) Attacken wechseln sich mit beschwerdefreien Phasen ab.

Ebenfalls verwandt ist die paroxysmale Hemikranie, die im Bereich der Augenhöhle bohrende Schmerzen verursacht. Die Attacken sind kurz, aber häufig (bis zu 30 Stück am Tag).

Wichtiges Kennzeichen der beiden Erkrankungen, des Clusterkopfschmerzes und der paroxysmalen Hemikranie, die zur Gruppe der trigeminoautonomen Kopfschmerzerkrankungen gehören, sind Augentränen, Rötung des Auges und ein Herabhängen des Augenlides (Ptose). Solche Begleitsymptome treten auch bei einigen Patienten mit starken Migräneanfällen auf. Eine Migräne kann auch wie ein Clusterkopfschmerz periodisch in Clustern (konzentrierten Ballungen) auftreten, dazwischen kommt es wieder zu langen Phasen der Beschwerdefreiheit. Die Mischbilder werden als Clustermigräne bezeichnet und häufig ist die Abgrenzung für die folgende Therapie notwendig, aber nicht ganz einfach.

(Charly Gaul)

Sekundäre Kopfschmerzen und Migräneformen

Während die Formenvielfalt bei Migräne und Spannungskopfschmerzen relativ überschaubar ist, gibt es sehr viele verschiedene Formen von Kopfschmerzen auf der Seite der sekundären oder symptomatischen Kopfschmerzen. Das internationale Kopfschmerzverzeichnis ICHD listet insgesamt mehr als 300 primäre und sekundäre Kopfschmerzformen auf. Die Zahl ist allerdings nicht sehr zuverlässig, weil die Kopfschmerzgesellschaften ihre Definitionen ständig überarbeiten und aktualisieren. Da fällt dann schon einmal ein Kopfschmerz unter den Tisch oder es taucht eine neue Art Kopfschmerz auf, die sich vorher noch nicht genau zuordnen ließ. Erst seit einigen Jahren dabei ist zum Beispiel ein Kopfschmerz, der nur nachts auftritt, der primäre schlafgebundene Kopfschmerz (Hypnic Headache).

Migräne wiederum hat zwei große Erscheinungsformen. Das ist die Migräne ohne Aura, früher einfache oder gewöhnliche Migräne genannt, und die Migräne mit Aura, die klassische Migräne oder auch migraine accompagnée stellt etwa 20 Prozent der Migränediagnosen. Weitere primäre Kopfschmerzformen sind auf der Seite der Migräne die chronische Migräne, die Aura ohne Kopfschmerz sowie als Komplikationen der Status migraenosus (wenn die Attacke nicht aufhören will) und der Migräneinfarkt, bei dem es während einer Migräne zum Schlaganfall kommt. Es gibt auch noch die Migräne bei Kindern, die Migräne in der Schwangerschaft, die menstruelle Migräne, die Migräne als Notfall … und dann noch die Kopfschmerzen bei sexueller Aktivität. Himmel hilf, dass wir sie nicht bekommen. Zudem treten einige kleinere Migräneformen auf, die sich gern mit einem Organ (retinale oder Augenmigräne) oder auch einer Schmerzart verknüpfen (Eispickelkopfschmerz oder primär stechender Kopfschmerz).

Was ist ein Status migraenosus?

Auf die Migräne ist insofern Verlass, als dass sie in der Regel nach spätestens drei Tagen wieder verschwindet. Dauert eine Attacke länger als 72 Stunden, sprechen die Ärzte von einem Status migraenosus. Er ist oft mit einem Medikamentenübergebrauch (s. MOH, Kap. 4) verbunden und behandlungsbedürftig. Es gibt ihn aber auch als einmaliges Phänomen, weshalb man nicht in Panik verfallen sollte, wenn eine Migräne einmal länger als gewohnt andauert.

Die Formenvielfalt von Kopfschmerzen muss einen nicht erschrecken, das Gehirn ist schließlich das komplexeste aller Organe. Auch wenn Sie eben »hier« gerufen haben (beim Stichwort Eispickelkopfschmerz habe ich selbst »hier« gerufen), haben Sie wahrscheinlich doch »nur« eine einfache Migräne, die manchmal im Kopf herumsticht wie ein Eispickel. Wegen der Behandlungsoptionen ist es dennoch wichtig zu wissen, welche Art Kopfweh man selbst hat.

Seltene Migräneformen

Spektakuläre und seltene Krankheitsbilder haben Ärzte und Publikum schon immer fasziniert. Bei der Migräne sind es aber keine gruseligen Abbildungen extremer Krankheitsverläufe, sondern vielmehr höchst unterschiedliche Fallberichte von Migränepatientinnen und Migränepatienten. Sie offenbaren die enorme Wandlungsfähigkeit der Migräne, aber auch ihre Grenzen innerhalb der Kopfschmerzerkrankungen. Das führte in der Vergangenheit zur Diagnose so skurriler Migräneformen wie der Hemicrania horologica, einer Migräneform zu bestimmten Uhrzeiten, oder der Rückenmigräne, unter der einige von Sigmund Freuds Patientinnen litten.

Die hier genannten seltenen Migräneformen sind überwiegend Unterformen der Migräne mit Aura – sie ist zwar seltener als Migräne, aber neurologisch gesehen die weitaus interessantere Störung. Sie alle sind im ICD der WHO verzeichnet.

Aura ohne Kopfschmerzen (migraine sans migraine) – sie tritt vor allem im fortgeschrittenen Alter auf.Familiäre hemiplegische Migräne (FHM) – sie ist eine echte Erbkrankheit (s. Kap. 3).Basilarismigräne (Migräne mit Hirnstammaura) – sie geht mit neurologischen Symptomen wie Sprach- und Hörstörungen einher. Abdominale Migräne (s. Migräne in der Kindheit, s. Bauchmigräne, Kap. 2).Retinale oder Augenmigräne – sie äußert sich mit visuellen Symptomen.Vestibuläre Migräne – das ist eine Migräne, bei der das Symptom Schwindel im Vordergrund stehtsowie last but not least verschiedene wahrscheinliche Migränen, das sind Migränen, die sich diagnostisch nicht festnageln lassen, aber dennoch wahrscheinlich Migränen sind. Einfach, weil sie nichts anderes sein können.

Vor allem junge Migräneleidende mit Aura haben ein erhöhtes Schlaganfallrisiko, insbesondere wenn sie rauchen und/oder die Pille nehmen. Auch weil die Symptome eines Schlaganfalls den Aurasymptomen ähneln können, sollte man sich als Migräniker in die Notaufnahme begeben, wenn die Aura einmal anders verläuft oder ungewöhnlich lange andauert. Achtung: Wenn neurologische und sensorische Symptome wie Sprachausfälle oder Kribbeln erstmalig auftreten, sollte man immer einen Arzt konsultieren, um andere Erkrankungen auszuschließen.

(Charly Gaul)

Die Attacke

Migräne ist, wenn man eigentlich gar keine Kopfschmerzen hat.

(Erich Kästner, »Pünktchen und Anton«)

Was Erich Kästner in »Pünktchen und Anton« etwas abfällig beschreibt, um Pünktchens notorisch abwesende Mutter zu charakterisieren, gibt es tatsächlich: Migräneanfälle ohne Kopfschmerzen (s. Migräneprophylaxe mit Medikamenten, Kap. 5). Im Kästner-Zitat wird aber noch etwas anderes angesprochen, nämlich die Tatsache, dass man Migräne auch hat, wenn man sie nicht hat. Migräne ist ein Zustand, der sich in Attacken oder Anfällen Bahn bricht. Außerhalb der Attacken aber ist man so gut wie unberührt von ihr.

Eine Migräneattacke dauert wenige Stunden bis zu drei Tage. Die begrenzte Dauer ist eines der Charaktermerkmale der Migräne. In ihrem Verlauf zieht die Attacke den gesamten Körper in Mitleidenschaft, man fühlt sich elend, so als würde alle Lebensenergie von einem abgezogen. Bloß das Denken ist ungetrübt, während die Schmerzen meist auf einer Seite des Kopfes herumhämmern. Aber wer denkt in diesem Zustand schon gern?

Migräne ist ein bisschen wie ein ausgewachsener Kater nach exzessivem Alkoholkonsum während einer 48 Stunden andauernden Party. Nur ohne die Party. Und ohne den Alkohol.

(Anna Frost, Bloggerin)

Eine Attacke kündigt sich meist durch Prodromalsymptome (Vorboten) an, gipfelt in starken, meist einseitigen Kopfschmerzen und klingt mit Postdromalsymptomen (Nachläufern) ab. Zur Migräneattacke gehören fast immer auch vegetative Begleitsymptome, das sind Symptome des unwillkürlichen Nervensystems (also nicht steuerbar) wie Übelkeit und Erbrechen, Appetitlosigkeit, Lärm- und Lichtempfindlichkeit. Hinzu kommen psychische Symptome wie schlechte Laune und Niedergeschlagenheit. Viele Migräniker kennen den Ablauf ihrer Attacke ziemlich genau: erst schlechte Laune, Nackenschmerzen und/oder Übelkeit und Erbrechen, dann Kopfschmerzen und danach Erleichterung, dass sie vorbei ist.

Ich fühle mich, wenn die Kopfschmerzen meine eigenartig aufgeregte Stimmung abgelöst haben, wie abgeschnitten vom Körper. Man atmet, verdaut und steckt in seiner Haut wie immer, bloß dass darüber die Kopfschmerzen toben, bei mir immer nur auf einer Seite, aber nicht immer auf derselben. Nach zwei Tagen befallen sie bei mir auch gern einmal die andere Seite, for a change.

(Thomas, Migräniker)

Manche Migräniker haben ihre Migräne grundsätzlich immer nur auf derselben Seite, was die Sache aber keineswegs besser macht. Denn im Unterschied zu Vögeln können wir ja nicht eine Gehirnhälfte einfach ausschalten. Vielen wird furchtbar schlecht, andere sehen Blitze oder sind niedergeschlagen, bevor die Schmerzen kommen, Kinder haben rätselhafte Bauchschmerzen, die vom Kopf losgetreten werden, und es gibt wie gesagt Migräneattacken, die ganz ohne Kopfschmerzen auskommen.

Die Phasen

»Wie schön, dass ich meine Migräne so lang nicht gehabt habe!« Das ist aber die erste Ankündigung des Anfalls, dessen Herannahen man bereits verspürt, aber nicht wahrhaben will.

(Sigmund Freud)

Wie es sich für einen richtigen Angriff gehört, verläuft eine Migräneattacke in Phasen. Diese sind abhängig von der jeweiligen Person und den Umständen, haben aber meist drei große Abschnitte gemein: erstens die Vorboten (Prodromi), die den Angriff ankündigen, zweitens die Begleitsymptome und die Kopfschmerzen, der Attackengipfel sozusagen, sowie drittens die Nachläufer (Postdromi), eine Art klärende Katharsis, wenn sich das Geschehen beruhigt. Kommt eine Aura hinzu, sind es vier Phasen. Manche Migräniker haben vor ihrer Migräne einen Energieschub, andere sind niedergeschlagen und kraftlos. Gern wechseln die Pro- und Postdromi die Rollen, sodass man in den Genuss starker positiver und negativer Gefühle vor und nach der Migräneattacke kommt.

Sigmund Freud, der ebenfalls unter Migräne litt, rechnet auch sprachliche Fehlleistungen unter die Migräneprodromi. In einer seiner Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse sagte er: »Das Versprechen tritt wirklich besonders häufig auf, wenn man ermüdet ist, Kopfschmerzen hat oder vor einer Migräne steht. Unter denselben Umständen ereignet sich leicht das Vergessen von Eigennamen. Manche Personen sind daran gewöhnt, an diesem Entfallen der Eigennamen die herannahende Migräne zu erkennen.« Zu diesen Personen zählte er sich selbst (s. Kap. 6).

Prodromi (Vorboten)

[Meine vorauseilenden Symptome] sind mehr als die bloße Mahnung, etwas gegen die bevorstehende Attacke einzunehmen. Sie sind eine Art übersinnlicher Schmuck, eine Geste, eine Kunstform, ein geheimes Talent, das ich nie zu Geld habe machen können.

(Hilary Mantel)

Viele Migräniker bemerken Stunden, manche auch Tage vor einer Attacke Veränderungen des Befindens oder Verhaltens. Manchmal bemerken auch nur die Partner diese Vorboten, während der Migräniker selbst die ersten Anzeichen leugnet. Wer gibt schon gern zu, dass die schlechte Laune vor der Attacke gar keinen echten Grund im Leben hat? Gegen solche Gemütsschwankungen erscheinen Prodromi wie Gähnen oder Heißhunger auf Schokolode sowie eine gewisse Fahrigkeit in Sprache und Gesten harmlos. – Viele Prodromi sind auch Begleitsymptome einer Migräne.

Postdromi (Nachzügler)

Zur Rückbildungsphase (Postdrom) der Migräne zählen ein Gefühl der Erschöpfung, nachklingende Kopf- und Nackenschmerzen sowie manchmal Magen-Darm-Probleme. Ziemlich häufig beschreiben Migräniker aber auch ein Hochgefühl, das sie nach einer Migräneattacke ereilt. Körper und Seele jubeln, der Geist denkt: »Das war bestimmt zum letzten Mal so schlimm.« Nachdem man vor und in der Attacke (ver)zweifelte, erscheint das Leben jetzt wieder in Ordnung. Die Dankbarkeit nach dem Abflauen der Migräne ist etwas, was wir ruhig in unseren Alltag übertragen dürfen. Denn gesund zu sein und keine Schmerzen zu haben gehört zum Besten, was wir haben, auch wenn wir es manchmal zu selbstverständlich nehmen.

Die Symptome

Die Kopfschmerzen würden immer schlimmer werden, bis es war, als hämmerte ihm ein schweres Gewicht auf Kopf und Nacken, das ihm bei jedem Pulsschlag rot glühende Qual verursachte. Helle Blitze würden ihm die Augen tränen lassen, und wie mit brennenden Pfeilen würde der Schmerz das Gewebe ringsum durchdringen. Seine Nasenhöhlen würden verstopfen, sodass er nur noch durch den Mund atmen konnte. Die Schläfen wie durchbohrt. Leise Geräusche enorm verstärkt, normale Geräusche wie die von Presslufthämmern, laute Geräusche unerträglich. Die Kopfschmerzen würden so arg werden, dass es sich anfühlte, als werde ihm in einer Folterkammer der Inquisition der Kopf zerquetscht.

(Stephen King, Feuerkind)

Die Schmerzen sind längst nicht alles bei einer Migräne. Zu den Kopfschmerzen gesellt sich ein Bündel weiterer Symptome und bildet mit ihnen gemeinsam das Gesamtpaket Migräne, Ärzte sprechen hier von einem Syndrom. Der britische Neurologe Oliver Sacks schreibt in seinem Migränebuch, dass es keine zweite neurologische Störung gibt, die derart viele Symptome um sich versammelt wie die Migräne. Da wären zum Beispiel die Vorboten wie Gähnen, Lust auf Süßes, Müdigkeit oder schlechte Laune und die Begleitsymptome wie brennende Augen, Nackenschmerzen, Übelkeit und Überempfindlichkeit der Sinne … um nur einige zu nennen. Trotz dieser Symptomfülle und vielleicht auch wegen ihr (und natürlich auch aufgrund der Tatsache, dass der Patient ansonsten munter ist) lässt sich eine Migräne eindeutig diagnostizieren.

Dass unser Gehirn – wie jedes andere Organ auch – Probleme haben darf, sieht jeder ein (s. Gehirn, Kap. 3). Dennoch ist es vor Infektionen in besonderer Weise geschützt und es ist auch nicht sehr schmerzempfindlich. Im Gegenteil, seine grauen Zellen, die Neuronen, kennen keinen Schmerz. Sie kennen nur Botschaft und Verbindung … und genau daran, an der Kommunikation zwischen Nervenzellen im Gehirn, hapert es manchmal. Dann kommt es etwa zu einer Panikattacke, obwohl wir ganz friedlich daheim auf dem Sofa sitzen, oder wir putzen unsere blitzblanke Küche, nur weil sich unser Gehirn für den nächsten Tag eine Migräneattacke einbildet.

Besonders lästig ist die Übelkeit, die mich vor einer Attacke befällt, ich bin dann fast froh, wenn die Kopfschmerzen kommen.

(Volker)

Doch zurück zu den körperlichen Migränesymptomen. Vegetative Symptome der Migräne – also Störungen von Körperfunktionen – lassen sich gut am Beispiel der Reiseübelkeit erklären. Wenn einem während einer Schiffsfahrt schlecht ist, ist man leichenblass, die Augen liegen tief in ihren Höhlen, Hände und Füße sind eiskalt, und man könnte gleich über die Reling speien, wenn nicht sogar springen. Tatsächlich ist die Übelkeit bei Migräne die gleiche wie die Übelkeit auf hoher See; man kann sich kaum mehr bewegen, wenn sie einen gepackt hat.

Die körperlichen Symptome hängen mit der Ungleichzeitigkeit unserer Wahrnehmungen zusammen … könnte man meinen, wenn man sich nicht zugleich so derart elend fühlen würde. Die Übelkeit ist also ein physischer und ein psychischer Zustand, wie Oliver Sacks treffend bemerkt. Auch während einer Migräneattacke nimmt man nicht am Leben teil, es ist aber kein schönes inneres Einkehren, sondern eine erzwungene Abkehr von der Welt. Mit Nausea und Migräne möchte man nirgendwo dabei sein. Der Schwindel, der eine Migräneattacke auch häufig begleitet bzw. ihr im Zuge einer Aura vorausgeht, gehört ebenfalls zu den vegetativen Symptomen – wie auch das Gähnen, die Schläfrigkeit, die beschleunigte Verdauung, aber auch ihr Gegenteil, die Verstopfung. Typisch sind auch Symptome, die mit dem Durchlässigwerden von Blutgefäßen, wie sie typisch für eine Migräneattacke sind, einhergehen: Die Nase läuft, die Augen tränen, es fließt, wo es fließen kann, blood, sweat and tears.

Ablenkung ist für mich das Beste, wenn eine Migräne heraufzieht. Ja nicht hinlegen! Lieber eine körperliche Aktivität suchen und sich da richtig reintun, danach kann ich meist gut schlafen, und die Attacke ist am nächsten Morgen weg.

(Christine)

Es gibt aber auch Symptome, die nur unsere Psyche betreffen. Zu den häufigsten psychischen Begleitsymptomen einer Migräne zählen eine unerklärliche Gereiztheit und innere Aufregung, aber auch ein tiefes Gefühl von Vergeblichkeit. Man ackert ohne Sinn und Verstand. Niemand kann einem in dieser Lage helfen. Sämtliche Handreichungen, aber auch Reize von außen wie Licht, Geräusche, Gerüche und sogar Berührungen … alles erscheint unerträglich. Hier überschneiden sich die sensorischen Begleiterscheinungen (Geräusch- und Lichtempfindlichkeit, seltener Geruchsempfindlichkeit) mit den psychosozialen Problemen, die jede Migräne mit sich bringt.

Wie die psychischen Begleitsymptome mit den Kopfschmerzen zusammenhängen, ob sie parallel im Gehirn entstehen oder ob sie nicht auch Folge der starken Kopfschmerzen sind – unter Schmerzen dreht man schon einmal durch –, das sind offene Fragen. Sicher ist allein, dass es guttut, die lästigen Symptome der Erkrankung (und nicht sich selbst) zuzuordnen und dann entsprechend mit ihnen umzugehen. Denn manchmal lässt sich eine Migräneattacke verhindern, wenn man ihre Vorboten rechtzeitig ausbremst (s. Verhalten, Kap. 4).

Die folgenden weitverbreiteten Begleitsymptome der Migräne verdienen eine eigene Erwähnung, weil sie so charakteristisch für die Kopfschmerzerkrankung sind:

Übelkeit und Erbrechen: Besonders scheußlich sind Attacken, bei denen zu den Kopfschmerzen noch Übelkeit und Erbrechen hinzukommen. Der Magen stülpt sich um, bis nur noch Galle kommt. Das Gewitter im Kopf erscheint auch in diesem Fall als Erlösung, bei vielen sind die Schmerzen mit dem Erbrechen vorbei – oder man erträgt sie immerhin nicht über der Kloschüssel, sondern mit erleichtertem Magen auf dem Sofa ausgestreckt.

Geht Übelkeit der Migräne voraus, sollte man vor dem Schmerzmittel ein Antiemeticum (Mittel gegen Übelkeit und Erbrechen) einnehmen, damit die Wirkstoffe überhaupt aufgenommen werden können. Letztlich gehören Übelkeit und Erbrechen zu den vegetativen Symptomen, die eine Migräne immer auch ausmachen. Sie sind von den Schmerzen nicht zu trennen.

Müdigkeit: Episodisch auftretende und erst recht chronische Schmerzen erschöpfen uns, das sei vorweggeschickt. Man sollte daher Verständnis für die eigene Müdigkeit nach oder auch vor einer Migräneattacke haben. Vorher konzentriert der Körper seine Kräfte, nachher gehen sie ihm schlicht aus. Unser Gehirn, das Fliegengewicht, verbraucht 20 Prozent unserer gesamten Energie. Es verbraucht sie zwar überwiegend für die Steuerung vegetativer und organischer Funktionen und weniger fürs Nachdenken, aber gerade diese körperlichen Funktionen spielen ja eine große Rolle während einer Migräneattacke. Man denke nur an die Agitiertheit oder auch die Niedergeschlagenheit vor einer Attacke, an die Übelkeit, den Schwindel, die Kreislaufprobleme, die sie begleiten … das alles verlangt dem Gehirn enorme Energie ab.

Müdigkeit ist ein bekannter Vorbote der Migräne. Man kann die Augen kaum offen halten, so schwer wiegen die Lider und brennen die Augen. Wer diesen Zustand großer Schläfrigkeit nicht bekämpft, sondern ihm nachgibt, kann eine heraufziehende Attacke ausbremsen. Die Bettschwere überfällt mich manchmal am Sonntagvormittag (ja tatsächlich nur dann, wenn ich sie mir erlauben kann). Dann lege ich mich augenblicklich wieder hin. Und bekomme an diesem Sonntag keine Migräne.

Ausgiebiges Gähnen kündigt oftmals eine Migräne an. Im Yoga lernt man, dass die Gähnerei nichts Schlechtes ist. Wahrscheinlich brauchen wir einfach mehr Luft und Raum in unserer Lunge und dem Denkorgan. Geben Sie dem Gähnreiz also ruhig nach.

Es gibt aber auch Gegenbeispiele. Einer großen Müdigkeit nachzugeben scheint Migräneattacken bei manchen Menschen auch zu triggern. Viele Migräniker meiden daher das Ausschlafen am Wochenende und grenzen auch die nächtlichen Ruhestunden ein.

Nackenschmerzen: Nackenschmerzen gehören wie Kopfschmerzen zur Migräne, sie sind aber nicht ihre Ursache. Viele Betroffene haben sie im Rahmen einer Migräne, Nackenschmerzen kommen sogar noch häufiger vor als Übelkeit und Erbrechen. Ich war lang der festen Überzeugung, dass die Kopfschmerzen mit meiner Halswirbelsäule zusammenhingen. Und tatsächlich kam beim Röntgen der Partie auch ein kleiner Vorfall zum Vorschein, der mir als Argument für meine Beschwerden diente. Das machte aber keinen Unterschied für die Therapie, das heißt: Ich quälte mich weiter mit ihnen herum, bis eines Tages meine Freundin Melanie wie nebenbei bemerkte: Ja, die Migräne macht Nackenschmerzen. Das war für mich ein Heureka. So hatte ich die Lage noch nicht betrachtet. Ich hatte die Nackenschmerzen verantwortlich für die Migräne gemacht, als Auslöser, aber nicht als ihr Symptom gesehen.

Aber egal ob sie nun Vorboten oder Auslöser einer Attacke sind, Nackenschmerzen schreien nach Berührung. Jahrelang musste jeder, der in meine Nähe kam, mir die Stahlseile in Hals und Nacken massieren, mal rechts, mal links, je nachdem, wo der Schmerz gerade saß. Denn die Nackenschmerzen waren ebenso einseitig wie die Kopfschmerzen, die ihnen mit gnadenloser Konsequenz folgen würden.

Immerhin haben mir die Nackenschmerzen zu einer besseren Haltung verholfen. Schultern runter ist mein Programm. Und vielleicht bewahren mich die vertrauten Übungen vor Rückenschmerzen und schlimmeren Beschwerden, wer weiß?

Überempfindlichkeit für Sinnesreize: Die meisten Migräniker scheuen während einer Attacke Licht und Lärm. Schwärze und Stille der Nacht passen zum Leiden ja auch viel besser als die Helligkeit des Tages. Neulich im Theater wurden mehrere Scheinwerfer direkt ins Publikum gerichtet. Vier Leute (soweit ich sehen konnte) hielten sich während der ganzen Zeit die Hand vor ihre Augen. Ich eingeschlossen. Ob sie wohl alle Migräniker waren? Manche reagieren auch überempfindlich auf bestimmte Gerüche, während ihrer Attacken, aber auch unabhängig davon. In der Wissenschaft wird diskutiert, ob die Überempfindlichkeit von Migränikern für Sinnesreize immer vorhanden ist oder nur während der Attacken. Es gibt eine berühmte Studie aus den 1980er-Jahren, die Ampel-Studie, die darauf hinweist, dass Migräniker auch außerhalb ihrer Attacken über eine erhöhte Empfindlichkeit und Aufmerksamkeit verfügen. Sie sind immer in Habtachtstellung. Die Migräneattacke wäre dann eine Art Entlastung für das überbeanspruchte Gehirn.

Das Migränegesicht

Für viele Migräniker ist das Migränegesicht das erste Anzeichen einer drohenden Attacke. Manchmal schaut es mich schon morgens im Spiegel an und ich versuche, es irgendwie wegzulächeln. Wäre doch gelacht, wenn es sich hielte! Und tatsächlich schaut dann manchmal einige Stunden später wieder mein vertrautes Gesicht aus dem Spiegel und die Migräne ist verflogen.

Die Wissenschaft kennt ebenfalls die Existenz des Migränegesichts, das die Migräne ankündigt und sie während der Attacke nach außen hin sichtbar macht (zumindest für die Menschen, die einen gut kennen oder selbst Migräne haben). Es geistert auch durch die schöne Literatur. Doch zunächst zur Wissenschaft: Das Migränegesicht, ob erbleicht oder ungut gerötet, steht nicht nur für die Kopfschmerzen, sondern auch für die Gefäßtheorien früherer Jahrhunderte. Für Wissenschaftler des 19. Jahrhunderts war klar, dass das Erbleichen nur an der Verengung der Blutgefäße liegen könnte, während das Erröten vom Gegenteil zeugen musste. Deshalb erfand man die weiße (blutleere) und die rote (blutreiche) Migräne. Der Berliner Physiologe Emil du Bois-Reymond (1818–1896) schilderte seine eigenen Migräneanfälle samt Blutleere des Gesichts und Einsinken des ipsilateralen Auges (das ist das Auge auf der migräneleidenden Seite) und schrieb sie einer Überfunktion des Sympathikus zu, was die Gefäße im Kopf verengen würde. Gleichzeitig war auch die gegenteilige Theorie überzeugend, die zwar auch eine Beteiligung des Sympathikus sah, aber eine Gefäßerweiterung für die Kopfschmerzen verantwortlich machte. (Der Sympathikus gehört zum vegetativen oder autonomen Nervensystem, das sich nicht bewusst steuern lässt.) Der Anatom Wilhelm von Möllendorff wollte die erweiterten Blutgefäße im Augenhintergrund eines Patienten mit dem Augenspiegel festgestellt haben. Das führte zu der Theorie, dass sich bei Migräne die Blutgefäße zunächst verengen und dann erweitern würden. Sie ist inzwischen überholt. Auch Oliver Sacks, der Hunderte von Migränikern in seiner Praxis gesehen hat, bemerkte die eingefallenen Wangen und tief sitzenden Augen seiner Patienten. Das aschfahle und abgespannte Migränegesicht diente ihm als Symptom für Migräne.