Der Nacht den Schrecken nehmen - Renate Daniel - E-Book

Der Nacht den Schrecken nehmen E-Book

Renate Daniel

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Beschreibung

Albträume können erheblich belasten. Wer durch sie geweckt wird, kann nicht mehr einschlafen und liegt häufig lange wach. Doch Albträume beeinträchtigen nicht nur den Schlaf, sondern mitunter auch den folgenden Tag und rufen Ängste, Gereiztheit oder depressive Stimmungen hervor. Was hilft, vom nächtlichen Spuk weniger gequält zu werden? Die Botschaft der Albträume zu verstehen, ist ein erster Schritt zur Entlastung. Denn die nächtlichen Bilder können als drängende Anfragen aus der Tiefe der Seele verstanden werden. Die erfahrene Psychotherapeutin Renate Daniel zeigt: Wenn es gelingt, passende Antworten zu finden, kann der Schrecken der Nacht bewältigt werden. Oftmals eröffnen sich dann auch neue Perspektiven für den Alltag.

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Cover

Haupttitel

Inhalt

Über die Autorin

Über das Buch

Impressum

Hinweise des Verlags

Renate Daniel

Der Nacht den Schrecken nehmen

Albträume verstehen und bewältigen

Patmos Verlag

INHALT

Einleitung: Albträume wollen eine Antwort – drei unterschiedliche Beispiele

1. Was sind Träume? Von Wachwelten, Schlaf- und Traumwelten

Wachwelt und Schlafwelt

Bewusstsein, Unbewusstes und Unbewusstsein

Traumwelten

Über die mögliche Bedeutung der Träume

Wann träumen wir und wie?

2. Warum und wozu träumen wir? Traum und seelische Gesundheit

Neurowissenschaftliche Erkenntnisse

Strategisches Lernen durch Träume

Träume dienen der seelischen Gesundheit

Träume greifen unsere wunden Punkte auf

3. Was sind Albträume? Von alten Mythen und neurobiologischen Erkenntnissen

Ein griechischer Mythos erklärt die Herkunft der Albträume

Neurobiologische Erkenntnisse zu Furcht und Panik

Albträume am Tag und Albträume der Nacht

Von Narkosen, Operationen und Organtransplantationen

4. Mit Albträumen umgehen – sich selbst entdecken, erkunden und verstehen

Was ist Traumdeutung?

Die subjektstufige Deutung

Die objektstufige Deutung

Die Kraft der Imagination

Die Einschlafsituation bewusst gestalten

Sich hineinversetzen versus sich distanzieren

5. Albtraummotiv Natur: Naturgewalten, gefährliche Tiere und Pflanzenwelt

Stürzen und Fallen

Abgründe, Kargheit und Wüsten

Wetter, Stürme und Vulkane

Das Tier in uns

Die Schlange

Pferd und Esel

Der Mensch als Feind des Natürlichen

Hund und Katze

Pflanzen in Albträumen

6. Albtraummotiv Mensch: der aggressive und gefährdete Mensch

Täter und Opfer

Das Traum-Ich

Das Kind im Traum

Väterliche Autorität

Männliche Identität

Weibliche Identität

Mütterlichkeit

7. Albtraummotiv Kultur und Technik: wenn Dinge zerbrechen oder bedrohlich werden

Flugzeugträume

Das Schiff

Unterwegssein und Reisen

Räume und Gebäude

Maschinen, Geräte und Apparate

Technische Übermacht

Schluss

Anhang 1: Stichwortverzeichnis der besprochenen Albtraummotive

Anhang 2: Das eigene Albtraummotiv verstehen

1. Lenken Sie den Blick auf sich selbst – also auf das sogenannte Traum-Ich

2. Lenken Sie den Blick auf die Beziehungserfahrungen im Traum

3. Betrachten Sie genauer die Art der Bedrohung oder Gefahr

4. Greifen Sie das eindrücklichste Traummotiv/Traumsymbol heraus

5. Beschäftigen Sie sich mit der eindrücklichsten Emotion oder seelischen Verfassung im Traum oder nach dem Aufwachen

6. Suchen Sie die Ressourcen und hilfreichen Kräfte im Traum

Dank

Literatur

Quellenverzeichnis

Anmerkungen

Einleitung: Albträume wollen eine Antwort – drei unterschiedliche Beispiele

Albträume sind keine seltene Erfahrung; fast jeder zwanzigste Deutsche quält sich nachts regelmäßig mit ihnen herum. Doch nicht nur Erwachsene, sondern auch Kinder und Jugendliche sind betroffen.

Falls Sie zu den Betroffenen gehören: Was geht in Ihnen vor, wenn Sie schweißgebadet, mit Herzrasen, in Panik oder einem bleiernen Gefühl auf der Brust aus einem Albtraum aufwachen? Versuchen Sie, die schrecklichen Traumbilder so schnell wie möglich zu vergessen? Oder kommen Sie von den Albtraumbildern gar nicht los und bemühen sich, deren Botschaft zu entschlüsseln? Und wie beeinflusst ein Albtraum Ihr Handeln und Ihren Alltag?

Albträume können uns verstören, nicht nur während der Nacht, sondern auch am folgenden Tag, sei es durch eine depressive, eine gereizte oder auch eine gestresste Stimmung. Verständlicherweise wollen wir Albträume erst gar nicht erleben und, falls sie auftauchen, sie so schnell wie möglich wieder loswerden.

Doch wie kann es uns gelingen, von Albträumen weniger geplagt zu werden? Wie sollen wir mit ihnen umgehen?

Wenn wir einen Albtraum als eine aufrüttelnde, beängstigende oder beunruhigende Frage betrachten, ginge es darum, eine passende Antwort zu finden. Die große Variationsbreite der Albträume entspräche unter diesem Blickwinkel den unterschiedlichsten Fragestellungen und würde zu vielfältigen Antworten führen.

Kleine Kinder fragen häufig noch ganz unverblümt: »Mama, ist der Mann dort drüben der Teufel?«, »Wieso bist du so dick?« oder: »Warum fällt der Mond nicht herunter?« Staunende Kinder stellen den Erwachsenen erstaunliche Fragen. Sie sind neugierig, unvoreingenommen und nehmen kaum Rücksicht auf Konventionen – wie unsere Träume. Mit dem Schuleintritt werden dann umgekehrt vermehrt Fragen an die Kinder gerichtet, um deren Wissen und Können zu überprüfen. Während die guten Schülerinnen und Schüler eher gelassen bleiben können, hoffen andere inständig, von den Fragen der Lehrerinnen und Lehrer verschont zu bleiben. Und bereits Schüler spüren, dass Fragen nicht nur berühren, sondern unangenehm eindringlich sein können. Solche Fragen fliegen wie Geschosse auf sie zu. Sie schmerzen, verletzen oder beschämen.

Auf ähnliche Weise können Albträume rücksichtslos in unser Bewusstsein eindringen und uns erzittern, verstummen oder versteinern lassen. Doch wenn sich der erste Schock gelegt hat, ist es häufig möglich, sich oder den Albtraum zu fragen: »Wieso träume ich derart Furchtbares? Was hat das mit meinem Leben und meinen Beziehungen zu tun?« Wenn wir mit Interesse und so unvoreingenommen wie möglich das Destruktive hinterfragen, bleiben wir selten ohnmächtig zurück, sondern entdecken Antworten. Dabei zeigt die Erfahrung: Wer eine stimmige Antwort auf seinen Albtraum findet, wird wieder besser schlafen können.

Beiläufig hat der ungarische Regisseur Bence Fliegauf – Gewinner des Silbernen Bären auf der Berlinale 2012 – anlässlich der Preisverleihung von seinem Umgang mit Albträumen erzählt: »Immer, wenn ich aus einem Albtraum aufwache, weiß ich, dass ich einen Film machen muss.« Bence Fliegauf hat die persönliche Antwort auf seine Albträume gefunden: Für ihn geht es darum, sich künstlerisch mit einem Thema – vielleicht dem Schwerpunktthema des Traumes – auseinanderzusetzen und dadurch einen Film zu schaffen. Seine Albträume scheinen ihm einen Arbeitsauftrag zu geben und sind quasi seine ganz persönliche Arbeitsbeschaffungsmaßnahme, der er sich mit Eifer und Ernsthaftigkeit stellt.

Ganz anders war Ende der Neunzigerjahre die Antwort des Reck-Olympiasiegers Andreas Wecker auf seine Albträume. Wiederholt wachte er schweißgebadet auf und erinnerte Albtraumbilder, die ihn gelähmt im Rollstuhl zeigten. Nachdem er sich zudem bei einer Übung am Reck schwere Prellungen und Blutergüsse zugezogen hatte, fällte er ohne langes Zögern den Entschluss, seine Karriere als Athlet zu beenden. Damit löste er einiges Unverständnis bei Trainern und Kollegen aus. Andreas Wecker antwortete auf seine Albträume mit einer existentiellen Entscheidung, die seine Zukunft radikal veränderte.1 Hatte Andreas Wecker richtig entschieden und reagiert? Zumal niemand je wissen wird, ob sich ein folgenschwerer Unfall ereignet hätte, wenn er weiter Profisportler geblieben wäre.

Sobald eine Albtraumserie stoppt, sich die Seele also beruhigt, dann hat der Träumer oder die Träumerin in der Regel die persönlich »richtige Antwort« gefunden. Für uns Außenstehende ist das jedoch nicht immer nachvollziehbar, denn die Eindrücklichkeit und Intensität bedrohlicher Albtraumbilder können wir nicht miterleben. Wir alle träumen für uns alleine und können anderen Menschen lediglich von unseren Traumerfahrungen erzählen, aber wir können sie nicht in unsere Traumwelt mit hineinnehmen, um sie hautnah von der dramatischen Relevanz unserer Bilder zu überzeugen. Jeder, der auf der Grundlage seiner Albträume weitreichende Entscheidungen trifft, ist in letzter Konsequenz auf seine subjektive Einschätzung der Albtraumbilder zurückgeworfen. Wer dabei sein intuitives, instinktives Gespür zu Rate zieht oder auf das seit vielen Jahrtausenden von Menschen gesammelte Wissen über Träume und ihre Deutung vertraut, hat gute Werkzeuge für einen konstruktiven Umgang mit den eigenen Albtraumbildern.

Von einer weiteren Antwortmöglichkeit auf Albträume berichtet die Psychiaterin Wanda Póltawska. Ihre Albträume meldeten sich immer dann, wenn sie überarbeitet und sehr erschöpft war. Sobald sie sich mehr Ruhe gönnte, verschwanden die Albträume wieder. Doch viele Jahre zuvor machte sie eine ganz andere Erfahrung mit ihren Albträumen, die erstmals in der Nacht des 8. Mai 1945 aufgetreten waren. An jenem Tag war sie aus dem Konzentrationslager Ravensbrück nach Hause zurückgekehrt und begann sofort, von ihren schrecklichen Erlebnissen im Lager zu träumen. Aufgrund dieser unerträglichen Albträume fürchtete sie sich zunehmend vor dem Schlafengehen. In ihrer Verzweiflung griff sie zu Bleistift und Papier. Nachdem sie im Sommer 1945 alle schlimmen Erinnerungen aus dem Lagerleben niedergeschrieben hatte, blieben die Albträume sofort aus. Wanda Póltawska konnte wieder ungestört schlafen, und in späteren Jahren kehrten die Albträume nur dann zurück, wenn sie sich zu viel zugemutet hatte. 2

Drei Menschen haben ihre persönlich passende Antwort auf ihre Albträume gefunden. Sie haben erlebt, wie nächtliche Schreckensbilder sich ungerufen aufdrängen, aber auch wieder gehen, sobald ihre Botschaft entschlüsselt ist.

1. Was sind Träume? Von Wachwelten, Schlaf- und Traumwelten

»Einen Traum kann man nicht bauen, ein Traum baut sich.«3 Mit dieser Aussage weist Friedrich Weinreb auf ein zentrales Merkmal von Träumen hin. Träume sind nämlich unserem Willen entzogen. Unabhängig davon, ob wir Träume schätzen oder es bevorzugen, von ihnen verschont zu bleiben – wir haben es nicht in der Hand, ob sie kommen. Sie tauchen auf, wann sie wollen, und erzählen, was sie wollen.

Wachwelt und Schlafwelt

Wachen und Schlafen sind qualitativ völlig verschiedenartige Welten in unserem Ich-Erleben. Im Wachzustand hat unser Ich Zugang zu einem reflexiven Bewusstsein und verfügt über gewisse Entscheidungs- und Handlungsräume. Diese erlauben uns, das Leben willentlich und mehr oder weniger aktiv zu gestalten. Doch unser Wille versagt bereits an der Schwelle zum Schlaf. Wer unbedingt schnell einschlafen will, um am nächsten Tag besonders gut ausgeruht zu sein, liegt häufig lange wach. Wer krampfhaft zu schlafen versucht, wälzt sich nicht selten angespannt und unruhig von der einen auf die andere Seite.

Schlafen können wir erst, wenn wir loslassen, wenn wir zulassen, dass unser Ich ins Unbewusste eintaucht. Das setzt voraus, dass unser Ich auf Kontrolle verzichtet. Menschen, die aus welchen Gründen auch immer Angst haben, die Kontrolle über ihr Leben zu verlieren, haben oft Mühe mit dem Einschlafen. Im Grunde ist eine solche Angst vor Kontrollverlust plausibel, denn im Schlaf sind wir schutzlos und ausgeliefert. Gefahr droht zunächst einmal von der Außenwelt. Deutlich wird das an der Situation von Tieren, die in der freien Wildnis schlafen. Ihr Schlafverhalten muss sich am Feind orientieren. Ohne Feinde lässt es sich prinzipiell zu jeder Zeit und überall sorglos schlafen. Doch das ist in der Natur nur wenigen Tieren vergönnt. Die meisten Tiere haben Feinde und benötigen entweder einen sicheren Schlafplatz oder müssen in der Lage sein, rasch zu erwachen, um sich verteidigen oder flüchten zu können. Solange das gewährleistet ist, kann eine Art überleben.

In der frühen Menschheitsgeschichte waren die Menschen wohl in einer vergleichbaren Situation. Die Natur war bedrohlich und dies ganz besonders während des Schlafs. Sobald wir schlafen, können wir unsere Umwelt nicht mehr sinnlich wahrnehmen. Wir hören oder sehen nicht, wenn sich uns ein Mensch oder ein Tier in feindlicher Absicht nähert. Wir riechen nicht, wenn gefährliche Dämpfe unsere Atemluft vergiften. Auch eine bedrohliche Kälte spüren wir nicht unbedingt. Deshalb erfrieren noch heute obdachlose Menschen in eiskalten Nächten. Im Schlaf sind sie vor den tiefen Temperaturen nicht ausreichend geschützt. Die Menschheit wäre wahrscheinlich schon längst ausgestorben, wenn es ihr nicht gelungen wäre, für den Zustand des Schlafes spezifische Schutzvorkehrungen zu treffen. Manche Historiker gehen davon aus, dass für größere Menschengruppen ein langer tiefer Schlaf erst möglich wurde, als die Städte durch Stadtmauern und Nachtwächter genügend abgesichert waren.

Bis heute benötigen wir einen solchen sicheren Ort, um ohne Angst vor Übergriffen schlafen zu können. Selten machen wir uns bewusst, dass unser Schlafzimmer ein sicherer Ort ist, den in der Regel eine fremde Person nicht ungefragt betreten wird. Wer einmal von einem Einbrecher im Schlaf überrascht worden ist, weiß, wie lange es dauern kann, bis sich wieder das notwendige Geborgenheitsgefühl einstellt, ohne das an Schlaf nicht zu denken ist. Manche Menschen brauchen nach einem nächtlichen Überfall einen Wohnungswechsel, weil der Eindringling die Empfindung von Sicherheit in den eigenen vier Wänden völlig zerstört hat. Solche Erlebnisse lassen erahnen, wie schwer es ist, sich in Kriegsgebieten oder an Orten, die Naturkatastrophen ausgesetzt waren, schlafen zu legen. Das Vertrauen auf eine ungestörte Nachtruhe geht verloren, und es fällt schwer zu glauben, dass man wieder heil aufwachen wird.

Doch der schlafende Mensch ist nicht nur von außen bedroht. Das im 19. Jahrhundert von Johannes Brahms komponierte Wiegenlied »Guten Abend, gute Nacht« erinnert mit seinem Refrain »Morgen früh, wenn Gott will, wirst du wieder geweckt« die Menschen daran, dass es nicht in ihrer Hand liegt, ob sie wieder aufwachen werden. Gläubige Menschen, aber auch Atheisten wissen, dass die Kernbotschaft des Refrains stimmt: Es ist möglich, im Schlaf zu sterben, sei es, weil man einen Herzinfarkt erleidet oder weil die Organe aus anderen Gründen versagen. Im Schlaf kann man in den Tod hinübergleiten. In der Antike galten der Schlaf »Hypnos« und der sanfte Tod »Thanatos« als Brüder. Und diese prinzipielle Nähe zwischen Schlaf und Tod, ihre schicksalhafte Verbindung, greift das alte Wiegenlied auf. Doch es vergisst nicht, dem Kind einen seligen Schlaf mit süßen Träumen zu wünschen.

Schöne Träume sind eine gute Ausgangsbasis für einen friedlichen und erholsamen Schlaf. Hingegen können Albträume den Schlaf empfindlich stören. Ihre Bilder bedrohen uns von innen her. Nicht nur lebendige Einbrecher, die nachts in unsere Wohnung einsteigen, können uns in Panik versetzen, sondern auch die Räubergestalten in unseren Träumen. Die unmittelbaren körperlichen und seelischen Reaktionen bei einer solchen Gefahr in der Realität oder im Traum sind sehr ähnlich. Wer an Einbrecherbildern aufwacht, wird sich häufig ausgeliefert und schutzlos fühlen. Diese Gefühle sind ganz real, obwohl wir beim Aufwachen rasch erkennen, dass uns lediglich Traumräuber bedroht haben. Manchmal verleiten uns solche Traumräuber sogar zum Handeln: Wir kontrollieren, ob Fenster oder Türen wirklich gut verschlossen sind, damit wir die Gewissheit haben, dass tatsächlich niemand ungebeten bei uns eindringen kann. Allein die Gewissheit, dass es sich um einen Einbrechertraum handelt und die Einbrecher sich lediglich in unserem Kopf breitgemacht haben, reicht nicht immer aus, um uns wieder zu beruhigen.

Bewusstsein, Unbewusstes und Unbewusstsein

Unsere Erlebnisse im Schlaf nennen wir Traum. Doch diese Definition greift zu kurz und ist wenig präzise, denn im Wachzustand kennen wir etwas Ähnliches: den Tagtraum. Träumen ist also nicht auf den Schlaf beschränkt. Und wir bezeichnen jene Menschen als Träumer, die sich tagsüber gerne in ihre Phantasien versenken und von inneren Bildern forttragen lassen, anstatt sich der äußeren Realität zuzuwenden. Tagträumerei wird nicht immer gern gesehen. Speziell Eltern und Lehrer reagieren besorgt, wenn ein Schüler, eine Schülerin sich zu wenig auf die Anforderungen im Unterricht konzentriert, weil die Phantasiewelt ihn oder sie von den Aufgaben ablenkt und zum Trödeln verleitet. Was ist das Gemeinsame dieser Tagträume und der Träume der Nacht und was unterscheidet sie?

Der Antwort kommen wir ein Stück näher, wenn wir den Unterschied zwischen Bewusstsein und Unbewusstsein näher betrachten. Wenn Sie sich auf diese Zeilen konzentrieren, gelingt das nur, weil Sie wach und bewusst sind. Wachsein und Bewusstsein gehören also zusammen. Da Wachsein eine unabdingbare Voraussetzung für die hier gemeinte Bewusstheit ist, spricht man auch von Wachbewusstsein. Das Bewusstsein könnte man bildlich gesprochen mit einem Lampenlicht vergleichen. Im Wachen hat unser Ich sozusagen eine Lampe in der Hand und kann ihr Licht gezielt auf etwas richten. Das kann die Welt um uns herum sein, aber auch unser Körper oder unser Seelenleben. Bewusst ist all das, was im Lampenlicht sichtbar wird. Bewusstsein hat also mit Klarsicht und Erkenntnismöglichkeit zu tun. Dank dem Bewusstsein wissen wir, dass wir existieren. Wir wissen zudem, wer wir sind, wo wir sind, und können uns Datum und Uhrzeit vergegenwärtigen. Bewusstsein befähigt uns zu Orientierung in Zeit und Raum. Das Bewusstsein erlaubt uns weitere komplexe Fähigkeiten: Wir sind in der Lage, uns zu konzentrieren oder aufmerksam zu sein, logisch zu denken, Situationen zu beurteilen und überlegt zu handeln, um nur einiges zu nennen.

Doch die Bewusstseinslampe hat nur eine begrenzte Reichweite, sie kann nie alles ausleuchten, und deshalb bleiben grundsätzlich gewisse Areale im Dunkeln. Und diesen gesamten dunklen Bereich nennen wir in der Tiefenpsychologie das Unbewusste. Einige dieser dunklen Bereiche können wir relativ mühelos mit unserer Lampe erhellen. Wenn wir beispielsweise versuchen, uns zu erinnern, richten wir das Licht unserer Lampe aktiv auf unseren Gedächtnisspeicher, der im Unbewussten liegt. Sobald es uns beispielsweise gelingt, einen Namen zu erinnern, haben wir ihn ins Bewusstseinslicht geholt. Unsere Fähigkeit zur Erinnerung beweist, dass Erlebnisse oder Fakten, die uns in der Vergangenheit bewusst waren, ins Unbewusste hinabsinken und dort aufbewahrt werden. Vieles davon können wir wieder aktiv hochholen und uns vergegenwärtigen, anderes bleibt, selbst wenn wir uns anstrengen, im Dunkeln und kann nicht mehr explizit angeschaut werden.

Explizites Erinnern bezeichnet den bewussten Erinnerungsvorgang. Doch auch wenn wir eine Erfahrung nicht mehr explizit erinnern, also nicht mehr bewusst machen können, ist sie nicht gelöscht oder verschwunden. Sie bleibt aufbewahrt und ist wirksam über das sogenannte implizite Gedächtnis. Der Unterschied zwischen explizitem und implizitem Gedächtnis wird besonders deutlich an Menschen, die ihre Fähigkeit des expliziten Erinnerns verloren haben und nur noch implizit erinnern können. So hat der französische Neurologe Édouard Claparède 1911 von einer hirngeschädigten Patientin berichtet, die das jeweils aktuell Erlebte sofort vergaß. Jedes Mal, wenn er sie traf, musste er sich ihr erneut vorstellen, weil sie nicht mehr wusste, wer er ist. Explizites Erinnern war ihr nicht mehr möglich. Eines Tages verbarg er bei der Begrüßung in seiner Hand einen Reißnagel, worauf die Patientin verständlicherweise ihre Hand erschrocken zurückzog. Bei der darauffolgenden Visite weigerte sie sich, ihm die Hand zu geben. Sie war jedoch nicht in der Lage, zu begründen, warum sie so handelte.4

Auch der Neurowissenschaftler und Nobelpreisträger Roger Sperry hat bei sogenannten Split-Brain-Patienten den Unterschied zwischen expliziter und impliziter Erinnerung nachweisen können.5 Bei diesen Patienten ist die Verbindungsbahn6 zwischen der linken und rechten Gehirnhälfte durchschnitten, weshalb die linkshemisphärischen, kognitiv-sprachlichen Fähigkeiten nicht mehr mit den emotional-bildhaften Eindrücken der rechten Hirnhemisphäre verknüpft werden können.

Roger Sperry zeigte nun einer Frau, deren Verbindung zwischen der linken und rechten Hirnhälfte infolge einer Operation unterbrochen war, pornographische Bilder. Sie errötete und begann zu kichern, war jedoch nicht in der Lage zu erklären, warum sie so reagierte. Dieses Beispiel verdeutlicht, dass Bewusstwerden und Erinnern ein mehrstufiger Prozess ist: Auf der ersten Stufe brauchen wir gesunde Augen und intakte Gehirnbereiche und Nervenbahnen,7 damit wir überhaupt ein Bild sehen können. Wenn in diesen Körpergebieten ein Defekt vorliegt, sind wir blind. Auf der zweiten Stufe können wir die Bedeutung des Bildes unbewusst erfassen und reagieren stimmig. Roger Sperrys Patientin muss das Bild als Pornobild »erkannt« haben, denn sie hat sinnvoll reagiert. Auch Édouard Claparèdes hirngeschädigte Patientin muss den Zusammenhang zwischen Hand und Schmerz »erkannt« haben, denn sonst hätte sie nicht den Handschlag verweigert. Beide Frauen »wussten« etwas, aber weil sie nicht auf die dritte Stufe gelangen konnten, wussten sie es nicht explizit. Erst hier wären sie fähig gewesen, ihre Wahrnehmungen, Erlebnisse und Erinnerungen in Worte zu fassen und über die Zusammenhänge nachzudenken.

Dieses reflexive oder explizite Bewusstsein im Wachzustand ist gemeint, wenn ich das Bild vom Lampenlicht benutze. Und nach neurowissenschaftlichen Erkenntnissen scheint das reflexive Bewusstsein lediglich etwa fünf Prozent unserer geistigen Aktivitäten und unseres Verhaltens auszumachen. Selbst völlig gesunde Menschen leben überwiegend unbewusst, und die meisten Informationen, die auf uns einstürmen, werden im unbewussten Teil unserer Psyche verarbeitet und im Gedächtnis gespeichert.8 Von dort aus können Informationen den Weg in unsere Träume finden, auch wenn sie uns nur implizit bewusst waren. Aber Traumerlebnisse wandern auch wieder ins Gedächtnis zurück. Es scheint sogar, dass wir beim Träumen unser Gedächtnis konsolidieren, also Fähigkeiten und Geübtes besser verankern. Träumen unterstützt Lernprozesse.9

Doch das Unbewusste, das sich im Traum zeigen kann, besteht nicht nur aus vergessenen oder verdrängten persönlichen Erfahrungen. Es gibt dort dunkle Bereiche, in die unsere Bewusstseinslampe noch nie vorgedrungen ist. Dieser Bereich umfasst alles, was wir bislang nicht wissen oder für möglich halten. Sobald wir einen Einfall oder einen Geistesblitz haben, gerät etwas Unbewusstes irgendwie ins Lichtfeld unserer Bewusstseinslampe.

Kreative Menschen kennen dieses Phänomen gut und warten in einer schwebenden Aufmerksamkeit, bis im entscheidenden Moment etwas Interessantes an der Peripherie des Lichtkegels erscheint. Sobald ein Mensch etwas allgemein Bedeutendes aus dem Unbewussten auftauchen sieht, hat er das Zeug zum Genie. Erzählt wird das in Daniel Kehlmanns Roman Die Vermessung der Welt. Als einer der beiden Romanhelden, der Mathematiker Carl Friedrich Gauß, in seiner Hochzeitsnacht urplötzlich zu einer mathematischen Erkenntnis gelangt, widerfährt seiner Frau etwas Unglaubliches: Sie muss erleben, wie Gauß das Bett verlässt, um die neue Formel aufzuschreiben. Er schämt sich zwar für sein Verhalten, will die Formel aber unbedingt vor dem Vergessen schützen.10 Diese Szene ist absurd und realistisch zugleich. Realistisch insofern, als alles, was aus dem Unbewussten ins Bewusstseinslicht tritt, sich nicht an Konventionen hält. Einfälle kommen, wann sie wollen, und nehmen keine Rücksicht darauf, ob es uns gerade passt oder nicht. Gleichzeitig sind wichtige Einfälle häufig flüchtiger Natur. Wie Carl Friedrich Gauß müssen auch wir bedeutsame Einfälle schnell festhalten und dem Unbewussten gewissermaßen entreißen, damit sie nicht wieder in der Dunkelheit des Unbewussten verschwinden. Derartige Geistesblitze und Einfälle beweisen, dass das Unbewusste ständig vorhanden ist und als verdunkelter Hintergrund auf unser Bewusstsein einwirkt.

Die Metapher des Lampenlichts für unser reflexives Bewusstsein hilft zu verstehen, wie unterschiedlich Menschen bewusst und wach sind und ihr Bewusstsein auf das hintergründige Unbewusste richten: Manche Menschen sind fähig, ein helles Lampenlicht eng gebündelt und ausdauernd auf einen Punkt zu richten, wodurch sie zu hoher Konzentration fähig sind. Andere neigen dazu, ein diffuses, breit gestreutes Dämmerlicht zu benutzen. Dieses Dämmerlicht entspricht dem, was wir frei schwebende Aufmerksamkeit nennen, und es lässt Menschen offen werden für Bilder und Eindrücke aus dem Unbewussten. Anders als beim Träumen im Schlaf können wir uns aus solchen Tagträumen aktiv und bewusst ausklinken. Auch wenn manche Menschen wenig Lust haben, sich von den Bildern ihres Unbewussten zu lösen, um sich äußeren Aufgaben zuzuwenden: Wenn sie sich anstrengen, wird es ihnen gelingen. Solange wir wach sind, können wir grundsätzlich unsere Blickrichtung und Blickschärfe verändern.

Im Schlaf gelingt das nicht mehr. Sobald wir erschöpft sind oder müde werden, beginnt sich bildlich gesprochen unsere Bewusstseinslampe von selbst zu dimmen. Aufmerksamkeits- und Konzentrationsfähigkeit lassen langsam nach, ebenso die Fähigkeit zu denken oder wahrzunehmen. Eine Weile können wir dagegen ankämpfen, aber letztlich löscht sich das Bewusstseinslicht jede Nacht von selbst aus. Wir können also unsere Bewusstseinslampe nicht wie eine reale Lampe beliebig ein- und ausschalten, sondern müssen ihre Eigendynamik ertragen.11 Doch der Schlaf ist weder ein stockfinsterer noch ein ereignisloser Zustand. Wir können viel erleben, und was wir erleben, nennen wir Traum. Im Schlaf sind wir also nicht völlig bewusstlos, sondern verfügen über ein Traumbewusstsein, das sich allerdings von unserem expliziten Bewusstsein unterscheidet.

Traumwelten

Im Gegensatz zu unseren Tagträumen wissen wir beim nächtlichen Träumen nur in Ausnahmen, dass die Wachwelt überhaupt existiert. Erkennbar und wirklich ist im Traum in der Regel ausschließlich die Traumwelt. Erst beim Aufwachen werden wir fähig, zwei Welten zu unterscheiden: die Wachwelt und die Traumwelt. Und die Traumwelt gilt einigen als Trugwelt.12 An dieser Einschätzung beginnen sich die Geister zu scheiden. Können Träume wichtig und manchmal sogar hilfreich sein, oder fügen sie uns ähnlich einem Betrüger nur Schaden zu, weil sie uns etwas vorgaukeln und vortäuschen?

Auf den ersten Blick wirken die Handlungen und Szenen vieler nächtlicher Träume nicht trügerisch, sondern eher realistisch. Traumereignisse können in sich geordnet eine völlig logische Geschichte ergeben, die sich durchaus in der Realität abspielen könnte. Erst beim genauen Vergleich zwischen Traum und Realität finden wir häufig doch noch einige Diskrepanzen. Beispielsweise kann es sein, dass wir im Traum mit Menschen ganz vertraut zusammen sind, die wir in der Realität seit vielen Jahren aus den Augen verloren haben. Auch wenn unser Traumverhalten deutlich von unserem üblichen Verhalten in der Realität abweicht, können wir das als unrealistisch empfinden. Der Traum bestätigt dann nicht das Bild, das wir von uns haben, sondern präsentiert unbekannte oder unvorstellbare Persönlichkeitsfacetten von uns. Das wäre etwa der Fall, wenn wir im Traum handgreiflich werden, obwohl wir uns in der Realität nie auf solche Weise auseinandersetzen würden. Realitätsfern kann es auch erscheinen, wenn unsere Wohnung im Traum viel großzügiger als in der Realität geschnitten ist oder eine fremde Person bei uns wohnt.

Diese wenigen Beispiele zeigen, dass selbst realitätsnahe Traumgeschichten aus Sicht der Träumerin oder des Träumers bereits sehr phantasievoll sein können. Und die Übergänge von eher realistischen zu ausgeprägt phantastischen Träumen sind fließend. Doch trotz einiger Ähnlichkeiten zwischen Traum und Realität existieren auch gewichtige Unterschiede. Wir können im Traum auf dem Mond spazieren gehen oder etwa wie ein Vogel über einen Wald fliegen, weil sich eine Traumgeschichte nicht an die physikalischen Gesetze unserer Wachrealität halten muss. Einer goldenen Schlange am Himmel, einem Märchenriesen oder sprechenden Drachen können wir im Traum, aber nicht in der Realität begegnen. Diese Wesen treffen wir nur im Traum, und das gilt auch für Verstorbene. Im Traum können sie noch lebendig sein. Die Gesetze der Zeit mit der strikten Reihenfolge Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft sind für die Traumwelt nicht bindend. Diese Gestaltungsfreiheit der Träume wirkt auf manche Menschen faszinierend und anregend, während andere darin den Beweis dafür sehen, dass Träume uns nur in eine unnütze Scheinwelt führen. Welche der beiden Sichtweisen ist nun richtig? Oder wann kann sich die Beschäftigung mit Träumen lohnen?

Über die mögliche Bedeutung der Träume

Im antiken Griechenland galt der Traum fast tausend Jahre lang als Medizin. Kranke Menschen reisten zu den Tempeln des Heilgottes Asklepios, legten sich dort schlafen und hofften, durch einen Traum geheilt zu werden.13 Was für uns heute unvorstellbar, vielleicht sogar unglaubwürdig klingt, war damals gängige Praxis, und an den antiken Tempelstätten sind bis heute zahlreiche steinerne Tafeln erhalten, auf denen Asklepios für eine Heilung gedankt wird. Auch der griechische Arzt Hippokrates – Begründer des bis heute gültigen ärztlichen Eids – war von der Bedeutung der Träume überzeugt. Nach ihm können wir durch Träume von wichtigen Dingen erfahren, die auf keine andere Weise zu erkennen sind. Hippokrates war zudem der Auffassung, dass die Seele mittels Bildersprache im Traum die Ursache einer Erkrankung mitteilen kann.

Diese lange Zeit in Vergessenheit geratene Erkenntnis holte Sigmund Freud im Jahr 1900 mit seinem Buch Die Traumdeutung wieder ans Licht und bereitete damit den Boden für die moderne tiefenpsychologische Traumdeutung. Freud hatte beobachtet, dass Träume wichtige Informationen zu den Hintergründen der Symptome seiner Patientinnen und Patienten enthalten. Allerdings musste er zugeben, dass die Bedeutung der Traumbilder nicht ganz einfach zu entschlüsseln ist. Diese Unverständlichkeit beruhte seines Erachtens auf einer innerseelischen Zensur, die unsere peinlichen Wünsche und Regungen vor uns versteckt. In jüngster Zeit konnte jedoch anhand moderner bildgebender Untersuchungsverfahren des Gehirns gezeigt werden, dass eher das Gegenteil zutrifft: Traumbilder tauchen dann auf, wenn unsere normale Wachzensur ausgeschaltet ist. Im wachen Zustand sorgen gewisse Gehirnareale im Stirnbereich (Frontallappen) dafür, dass wir uns kontrollieren, steuern und disziplinieren können, anstatt völlig enthemmt und triebgesteuert zu reagieren. Genau diese Areale sind jedoch beim Träumen inaktiv.14 Im Traum leben wir sozusagen viel freier und unkontrollierter als im Wachen, weil logisch stringentes und zielgerichtetes Handeln in den Hintergrund tritt. Das zeigt sich auch darin, dass Tätigkeiten wie Lesen, Schreiben und Rechnen, die Reflexion und Denken erfordern, im Traum nur selten vorkommen, selbst bei Menschen, die tagsüber viele Stunden damit beschäftigt sind.15

Was bewirkt dieser weitgehende Verlust unserer Kontroll- und Steuerungsfähigkeit im Traum? Der Weg wird frei für Ungewöhnliches, Überraschendes und Bizarres. Träume entwerfen und erproben Neuartiges. In gewisser Weise spielen die Träume mit uns und setzen uns dabei neuen Erfahrungen, Erlebnissen oder Emotionen aus.16 Unter diesem Blickwinkel sind Menschen, die mit Unordnung, Ungewohntem oder Chaos gut zurechtkommen, wahrscheinlich aufgeschlossener für ihre Traumwelt als Menschen, die auf Kontrolle und Struktur nicht gerne verzichten wollen. Angesichts der Komplexität des Lebens können wir es uns jedoch kaum von Chaos oder Ordnung fernhalten, sondern müssen mit beiden Qualitäten umgehen lernen.

Träume spielen manchmal schlimme Möglichkeiten durch, die wir im wachen Leben nicht gut ertragen oder bewältigen können. So träumte ein passionierter Hobbygärtner, wie eine Wildschweinhorde seinen Garten durchwühlte, und war am Morgen sehr erleichtert, seinen Garten unzerstört zu finden. Sein Albtraum hat sich nicht bewahrheitet, aber wie sich eine solche Zerstörung anfühlt, ist ihm geblieben. Das Angstgefühl hat er quasi im Traum erprobt. Ähnlich musste sich eine Frau nach dem Aufwachen sofort bei ihrer Freundin versichern, dass sie noch lebt, weil sie ganz realistisch von deren tödlichem Herzinfarkt geträumt hatte. Diese Träumerin spürte, dass ihr schockierender Traum eine Einübung ins Abschiednehmen war. Träume spielen allerdings nicht nur mit schrecklichen Möglichkeiten, sondern auch mit unseren Wünschen und Sehnsüchten, erzählen etwa von einem Traumhaus, einer Traumfrau oder Traummann. Da bedauern wir gelegentlich, aufwachen und in die Realität zurückkehren zu müssen.

Wann träumen wir und wie?

Wer häufig von schlimmen Träumen geplagt wird, wünscht sich vielleicht ein traumloses Leben und blickt unter Umständen neidisch auf Menschen, die nicht träumen. Andere dagegen finden es schade, dass ihnen die Welt der Träume verschlossen bleibt. Kann es sein, dass manche Menschen träumen und andere gar nicht?

Da wir ohne Erinnerung keinen Zugang zu unseren Träumen bekommen, müssen wir zunächst klären, wie es um unsere Erinnerungsfähigkeit bestellt ist. Eine 1984 durchgeführte repräsentative Umfrage bei 1000 Schweizer Bürgerinnen und Bürgern ergab, dass lediglich 6 Prozent sich nie an ihre Träume erinnerten. Im Gegensatz dazu erinnerten 14 Prozent der Befragten – also jede siebte Person – die eigenen Träume jeden Morgen. Umfragen in anderen Ländern zeigen ähnliche Ergebnisse.17

Die Fähigkeit, sich an Träume zu erinnern, ist allerdings keine unveränderbare Persönlichkeitseigenschaft, sondern unterliegt gewissen Schwankungen. So scheint die Traumerinnerungsfähigkeit während der Pubertät am besten zu sein und kann in persönlichen Umbruchsphasen oder Identitätskrisen wieder ansteigen. Kreativen oder sogenannten »dünnhäutigen« Menschen fällt die Erinnerung häufig leicht. Und Menschen, die aufgrund ihrer Durchschlafstörungen häufig aufwachen, erinnern sich häufiger an Träume als Menschen mit einem ungestörten Schlaf. Je häufiger ein Mensch erwacht, desto wahrscheinlicher kann er einen Traum einfangen. Das macht sich die moderne psychologische Schlafforschung zunutze. Sie lässt Menschen in einem Schlaflabor schlafen, weckt sie zu genau definierten Zeiten und erfragt die Träume. Doch diese systematische Untersuchung der menschlichen Traumaktivität ist erst möglich, seit vor etwa 90 Jahren die Struktur unseres Schlafes enträtselt worden ist.