Der Neubeginn - Penny Jordan - E-Book

Der Neubeginn E-Book

Penny Jordan

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Beschreibung

Der Crighton Clan: So harmonisch, wie diese große Anwaltsfamilie sich gibt, ist sie nur auf den ersten Blick, Unter der glatten Oberfläche verbergeb sich verbotene Leidenschaften, zerstörerische Rivalitäten und brennender Ehrgeiz. Besonders Olivia und Caspar verspielen ihr Liebesglück, weil sie echte und scheinbare Konflikte nicht bewältigen können. Nach zehn gemeinsamen Jahren halten beide ihre Ehe für zerrüttet Caspar Johnson - Der sympatische Jurist: Er weiß, dass sich Olivia immer als ungeliebtes Kind ihres Vaters David empfunden hat und sich bei ihm vergeblich bemühte, als Anwältin anerkannt zu werden. Als David nach langer Abwesenheit zur Familie zurückkehrt, fühlt sie sich in ihrer selbst erschaffenen Existenz von ihm so bedroht, dass sich ihre Aggressionen auch gegen den verständnisvollen Caspar wenden. Es gelingt ihm daher nicht mehr, zu ihrem Herzen durchzudringen... Olivia Crighton - Die ehrgeizige Anwältin: Jedes Gespräch mit ihrem Mann mündet in Streit. Ihr Sexleben ist auf dem absoluten Nullpunkt. Während eines Familienaufenthalts in Amerika eskaliert die Situation, Im Zorn kehrt die sensible Olivia mit den beiden Töchtern Amelia und Alex nach England zurück. Caspar bleibt trotzig in seiner Heimat. Erst als seine Frau schwer erkrankt, fliegt er auf Bitten ihres Vaters David zu ihr. Kann sich Caspar noch mal mit Olivia aussöhnen?

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Seitenzahl: 405

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IMPRESSUM

Der Neubeginn erscheint in der HarperCollins Germany GmbH

Redaktion und Verlag: Postfach 301161, 20304 Hamburg Telefon: +49(0) 40/6 36 64 20-0 Fax: +49(0) 711/72 52-399 E-Mail: [email protected]
Geschäftsführung:Thomas BeckmannRedaktionsleitung:Claudia Wuttke (v. i. S. d. P.)Produktion:Jennifer GalkaGrafik:Deborah Kuschel (Art Director), Birgit Tonn, Marina Grothues (Foto)

© 2001 by Penny Jordan Originaltitel: „Starting Over“ erschienen bei: Harlequin Enterprises Ltd., Toronto Published by arrangement with HARLEQUIN ENTERPRISES II B.V./S.àr.l.

© Deutsche Erstausgabe in der Reihe JULIA PRESTIGEBand 55 - 2002 by CORA Verlag GmbH & Co. KG, Hamburg Übersetzung: Emma Luxx

Umschlagsmotive: Harlequin Books S.A.

Veröffentlicht im ePub Format in 12/2016 – die elektronische Ausgabe stimmt mit der Printversion überein.

E-Book-Produktion: GGP Media GmbH, Pößneck

ISBN 9783733769727

Alle Rechte, einschließlich das des vollständigen oder auszugsweisen Nachdrucks in jeglicher Form, sind vorbehalten. CORA-Romane dürfen nicht verliehen oder zum gewerbsmäßigen Umtausch verwendet werden. Sämtliche Personen dieser Ausgabe sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind rein zufällig.

Weitere Roman-Reihen im CORA Verlag:BACCARA, BIANCA, ROMANA, HISTORICAL, MYSTERY, TIFFANY

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1. KAPITEL

„Sex! Sex! Kannst du eigentlich an nichts anderes denken als an Sex?“, fauchte sie wütend.

„Wir sind verheiratet. Wir sollten Sex haben“, erwiderte Caspar ohne Rücksicht auf Verluste, wobei seine eigene Wut und das Gefühl, etwas schlecht gehandhabt zu haben, von ihrer Wut noch angefacht wurde.

„Wir sollten unheimlich vieles“, entgegnete Olivia schneidend. „Gestern hätten wir zum Beispiel eigentlich mit den Mädchen in den Park gehen sollen, aber du musstest ja unbedingt mit deinem Bruder Golf spielen.“

„Ach, jetzt verstehe ich, so ist das also?“, provozierte Caspar sie. „Es gibt keinen Sex, nur weil ich mir erlaubt habe, mir gestern ausnahmsweise mal mit meinem Bruder einen schönen Tag zu machen?“

„Deinem Halbbruder, genauer gesagt“, stellte Olivia kühl richtig.

Ihr Herz klopfte rasend schnell. Sie fühlte sich krank, atemlos und überwältigt von der schieren Intensität ihrer Gefühle und der Anstrengung, sie unter Kontrolle zu bringen.

Gleich würde ihr der Schweiß ausbrechen und dann … dann … Aber nein, sie würde sich nicht gestatten, sich krank zu fühlen, geschweige denn krank zu sein; täte sie es, brächte sie das zu sehr in die Nähe ihrer Mutter und der Neurosen, von denen diese getrieben wurde. Dem ewigen Kreislauf von Fressorgien und Entleerung, der das Leben ihrer Mutter beherrscht hatte und das Leben aller, die um sie herum gewesen waren.

Sie waren jetzt seit ein paar Wochen in den USA, in erster Linie weil einer von Caspars Halbbrüdern heiratete, aber auch, damit Caspar ein bisschen Zeit mit seiner großen und weit verzweigten Familie verbringen und ihnen seine Frau und die beiden Töchter vorstellen konnte.

Olivia hatte ursprünglich nicht mitfahren wollen, weil sie im Moment so viel zu tun hatte, dass sie allein der Gedanke an Urlaub vor Nervosität ganz krank machte. Weil sie sich geweigert hatte, war es zwischen Caspar und ihr zu einer lautstarken Auseinandersetzung gekommen.

Dass sie es sich dann in letzter Minute doch noch anders überlegt hatte, hatte nicht etwa damit zu tun, dass sie Caspar eine Freude machen wollte, sondern schlicht damit, dass sie sich strikt weigerte, es ihrer Familie gleichzutun und ihren Vater willkommen zu heißen, der in seine Heimatstadt zurückgekehrt war. Der Umstand, dass sie entschlossen war, die Familienfeier zu boykottieren, hatte den bestehenden Riss zwischen Caspar und ihr noch weiter vertieft.

Wie habe ich bloß jemals glauben können, Caspar sei anders, fragte sie sich jetzt verbittert. Wie hatte sie sich nur einbilden können, dass sie für ihn immer an erster Stelle käme? Dabei war er genau wie alle anderen Menschen in ihrem Leben auch. O ja, sie behaupteten zwar, sie zu lieben, aber in Wahrheit … in Wahrheit …

Sie schloss die Augen und erschauerte vor Kälte, obwohl es in dem Hotelzimmer warm war. Der Druck, den sie im Kopf verspürte, verstärkte sich noch, als sie den Ausdruck in den Augen ihres Onkels Jon zu verdrängen versuchte, als der über seinen Zwillingsbruder David – ihren Vater – gesprochen hatte. Wie konnte Onkel Jon ihren Vater nach allem, was er getan hatte, immer noch lieben?

Vor ein paar Tagen hatte Jon sie angerufen und gedrängt, nach Hause zu kommen, um an der Party in Fitzburgh Place teilzunehmen, mit der die Hochzeit ihres Vaters mit Lord Astleghs Kusine Honor gefeiert werden sollte, aber Olivia hatte sich geweigert.

Sie verstand nicht, warum sie sich ständig so hin und her gerissen fühlte und warum es ihr zunehmend schwerer fiel, ihre Panik unter Verschluss zu halten. Diese schreckliche Angst. Dieses unheimliche Gefühl, als ob sie sich unweigerlich Schritt für Schritt vom Rest der Menschheit entfernte.

Caspar sprang jetzt aus dem Bett, das Gesicht angespannt vor Wut. Hatte sie wirklich einmal geglaubt, ihn zu lieben? Es kam ihr unvorstellbar vor. Als sie sich an ihre Gefühle von früher zu erinnern versuchte, war in ihrem Kopf nur gähnende Leere.

„Danny hat uns in sein Chalet in Colorado eingeladen. Wir könnten Ski …“

„Nein“, fiel sie ihm ins Wort.

Während Olivia ihren Mann beobachtete, spürte sie ein Gefühl von Verzweiflung und Hoffnungslosigkeit in sich aufsteigen. Die Liebe, die sie einst verbunden und die zwei Töchter hervorgebracht hatte, hatte sich in Luft aufgelöst. Sie waren sich fremd geworden. So fremd, dass Caspar es wahrscheinlich nicht einmal zu schätzen wusste, dass sie einen Berg von Arbeit, den sie nach ihrer Rückkehr bewältigen musste, in Kauf genommen hatte, um ihn nach Amerika zu begleiten.

Sie hatte das Gefühl, dass ihr gleich der Schädel platzte. Ihr ganzes Leben lang hatte sie gegen ihren Großvater ankämpfen müssen, weil sie den Wunsch verspürt hatte, in die Fußstapfen ihrer Familie zu treten und Anwältin zu werden. Sie, als Frau! Er würde triumphieren, wenn sie jetzt versagte.

„Ich muss nach Hause. Meine Arbeit …“

„Immer geht es nur um deine Arbeit. Und was ist mit deiner Ehe?“

Ihre Ehe. Olivia warf ihm einen distanzierten Blick zu.

„Unsere Ehe ist keine Ehe mehr, Caspar“, erklärte sie. Das Gefühl von Erleichterung, das bei diesen Worten in ihr aufstieg, war fast so berauschend, als ob sie ein Glas Champagner hinuntergestürzt hätte. Sie spürte, wie sich ihre Stimmung hob und die Anspannung von ihr abfiel.

„Was … was zum Teufel redest du da?“, hörte sie Caspar fragen, aber sie hatte sich bereits von ihm abgewandt, ihre Entscheidung war gefallen.

„Ich finde, wir sollten uns trennen“, hörte sie sich selbst sagen.

„Trennen?“

Sie merkte, dass sie den Atem anhielt, als sie das Entsetzen in seiner Stimme mitschwingen hörte. Fast so, als ob sie wartete … aber worauf?

„Ja“, bestätigte sie ruhig. „Wir werden es selbstverständlich alles ordentlich regeln … vom rechtlichen Standpunkt aus …“

„Das ist natürlich das Erste, woran du denkst … schließlich bist du ja eine Crighton“, gab Caspar verbittert zurück.

Olivia wich seinem Blick aus.

„Das hat dir nie gepasst, stimmt’s?“, fragte sie leise.

„Mir hat es nur nie gepasst, dass diese Ehe immer aus mehr als zwei Personen bestand, Livvy.“

„Du wolltest die Kinder doch ebenso wie ich“, fuhr Olivia verletzt auf.

„Ich rede nicht von den Mädchen“, stieß Caspar hervor. „Ich rede von deiner verdammten Familie. Du kommst mir wie ein kleines Mädchen vor, Livvy. Du lebst in der Vergangenheit und schaffst es einfach nicht, davon loszukommen.“

„Das stimmt nicht.“ Ihr Gesicht war weiß geworden wie ein Blatt Papier. „Wer …“

„Es hängt mir zum Hals heraus, den Sündenbock für das zu spielen, was andere dir angeblich angetan haben, Livvy. Es hängt mir zum Hals heraus, dafür verantwortlich gemacht zu werden, nur weil ich ebenso ein Mann bin wie dein Vater und dein Großvater und Max. Es hängt mir zum Hals heraus, den Kopf für das emotionale Gepäck hinzuhalten, das du so beharrlich mit dir herumschleppst – du mit deiner gottverdammten Opferhaltung!“

„Wie kannst du es wagen, so etwas zu sagen?“

„Weil es die Wahrheit ist“, entgegnete Caspar kalt. „Und ich habe es auch satt, als Wiedergänger deines Vaters, Großvaters und Cousins zu fungieren, Livvy … und erst recht habe ich es satt, für dich den Sandsack zu spielen. Es wird höchste Zeit, dass ich mir auch ein bisschen was vom Leben hole und endlich dieses Buch schreibe, das ich schon so lange schreiben will, mir diese Harley kaufe und durch dieses Land fahre … damit ich mich endlich wieder einmal richtig lebendig fühle.“

Olivia starrte ihn an, als ob er ein Fremder wäre. Dieser egoistische, unsensible Mann mit seinen pubertären Fantasien und der totalen Missachtung, die er gegenüber den Bedürfnissen ihrer Kinder und ihren eigenen an den Tag legte, war nicht der Caspar, den sie zu kennen geglaubt hatte.

„Ich weiß wirklich nicht, warum ich mir je eingebildet habe, dich zu lieben, Caspar“, sagte sie heiser. „Oder warum ich dich geheiratet habe“, fügte sie hinzu, während sie sich fragte, ob er wohl hörte, wie all ihre Träume, ihre Ideale und ihre Liebe in diesem Moment in Millionen Scherben zersplitterten.

„Ach, nein? Dann hast du wirklich ein verdammt kurzes Gedächtnis. Du hast mich geheiratet, weil du deiner Kindheit entkommen wolltest“, sagte Caspar.

Ihre Kindheit. Als er das Zimmer verließ, schloss Olivia, am ganzen Körper zitternd, die Augen.

In ihrem Mund war ein bitterer Geschmack. Sie hatte nie eine richtige Kindheit gehabt. Manchmal war ihr, als hätte sie bereits bei ihrer Geburt gewusst, dass sie ungeliebt war, weil sie nicht das Kind – der Sohn – war, den sich ihr Vater und – wichtiger noch – ihr Großvater gewünscht hatten.

Ihretwegen war Olivia ihr ganzes Leben lang so entschlossen gewesen, sich selbst zu beweisen … ihnen zu beweisen, dass sie etwas wert war. Ihretwegen hatte sie sich in diesen letzten Monaten so abgerackert, um ihre selbst gesteckten Ziele zu erreichen, obwohl es sich immer mehr so anfühlte, als ob sie auf einem Drahtseil über eine erschreckend tiefe Schlucht balancierte. Es bedurfte nur eines falschen Schritts, um abzustürzen … eines versäumten Atemzugs … aber sie musste es machen. Nicht nur für sich selbst, sondern auch für ihre Töchter. Sie war wild entschlossen, ihnen zu ersparen, dass sie es als einen Makel empfanden, als Mädchen auf die Welt gekommen zu sein. Seit David untergetaucht war, nachdem die Wahrheit über ihn ans Licht gekommen war, wurde sie von dem, was er getan hatte, verfolgt.

Und jetzt war er plötzlich wieder da, doch statt ihn, so wie er es verdiente, zu schneiden, feierten alle seine Rückkehr, während sie …

Ihre Kopfschmerzen nahmen noch zu und mit ihnen auch ihre Angst und Verzweiflung.

Wenn du erst wieder zu Hause bist, geht es dir bestimmt gleich besser, versuchte sie sich gut zuzureden. Wenn sie erst wieder bei ihrer Arbeit war. Wenn sie ihr Leben wieder unter Kontrolle hatte …

2. KAPITEL

Haslewich … Crighton-Land …

Crighton-Land. Ihr Mund mit der schön geformten vollen Oberlippe verzog sich verächtlich.

Über die Crightons wusste sie aus den Erzählungen der zweiten Frau ihres Großvaters, der armen Tania, alles.

Tania war so am Boden gewesen, als ihr Großvater sie gerettet, ihr das Selbstvertrauen zurückgegeben und ein neues Leben für sie aufgebaut hatte.

„In solchen Situationen sollte man eigentlich immer beide Seiten hören, Sara“, hatte ihr Vater sie zur Vorsicht gemahnt, als sie vor Wut fast explodiert war über das, was die Crightons Tania angetan hatten.

„Aber, Dad, sie ist so verletzbar, so hilflos … es kann einfach keine Entschuldigung dafür geben, dass sie sie so hängen gelassen haben. Es war herzlos und grausam …

Als ihr die Tränen gekommen waren, hatte ihr Vater bedauernd den Kopf geschüttelt.

Sie war damals achtzehn gewesen, und vielleicht hatte sie alles ja ein bisschen zu sehr schwarzweiß gesehen. Inzwischen war sie älter geworden und betrachtete die Dinge in einem nüchterneren Licht, aber in ihrem tiefsten Innern widerstrebte es ihr immer noch, ihre Antipathie gegen die Crightons aufzugeben. Was wahrscheinlich die reine Gefühlsduselei war … und unlogisch obendrein. Sie schüttelte den Kopf. Nein, das stimmte nicht. Die Crightons waren ganz klar Holzköpfe, ein Clan, der nur daran interessiert war, die eigenen Interessen durchzusetzen.

„Die Crightons sind praktisch Haslewich“, hatte Tania ihr einst mit ihrer sanften Kleinmädchenstimme erzählt. „Alle schauen bewundernd zu ihnen auf, aber …“ Sie hatte sich unterbrochen und war zusammengeschauert. „Sie haben mich so eingeschüchtert und … und ich habe mich immer so unerwünscht gefühlt. Sogar meine eigenen Kinder …“

Ihr waren die Tränen gekommen, und Sara hatte das Gefühl gehabt, gleich mitweinen zu müssen – und nun war sie hier. Sie hatte gerade ihr Auto am Marktplatz abgestellt, den sie jetzt neugierig überquerte.

Es war Mittagszeit, und sie hatte Hunger – richtigen Heißhunger. Sie schaute sich suchend um und beschloss, eine enge, interessant wirkende Straße, die vom Marktplatz abzweigte, zu erkunden.

Ein Wegweiser verkündete: „Uferweg“.

Hier ging es also zum Fluss. Sara liebte Wasser. Ihr Vater segelte leidenschaftlich gern, und als Mädchen hatte sie ihn oft auf seinen Segeltörns begleitet.

Nachdem sie ein Stück gegangen war, entdeckte sie ein kleines Restaurant. Ein kurzer Blick ins Innere verriet ihr, dass es geöffnet war. Sara beschloss, den Versuch zu wagen, und stieß die Tür auf, dann blieb sie verwirrt stehen, als sich eine völlig aufgelöst wirkende Frau mittleren Alters auf sie stürzte und atemlos fragte: „Sara …?“

„Äh … ja“, erwiderte sie total verdutzt, weil ihr völlig schleierhaft war, woher die Frau ihren Namen kannte.

„Na, Gott sei Dank“, rief die ältere Frau aus. „Die Zeitarbeitsagentur hat uns schon so oft im Stich gelassen, aber sie haben mir hoch und heilig versprochen, dass sie diesmal – hier entlang“, fügte sie hinzu, wobei sie Sara bedeutete, ihr zu folgen, als sie zwischen den besetzten Tischen hindurchging.

Sara, die fast das Gefühl hatte, in Alice hinter den Spiegeln gelandet zu sein, folgte ihr.

Nachdem sie den hinteren Teil des Restaurants erreicht hatten, öffnete die Frau eine Tür und ließ Sara den Vortritt, während sie sagte: „Ich muss mich für die Unordnung entschuldigen, aber wir sind ja dermaßen im Stress. Ich habe mir zwar alle Mühe gegeben, mit der Buchhaltung auf dem Laufenden zu bleiben, doch ich schaffe es beim besten Willen nicht. Aber jetzt sind Sie ja da … ach ja, und der Computer geht Gott sei Dank auch wieder. Wahrscheinlich hat ihn die Neuigkeit, dass wir einen Michelin-Stern bekommen haben, genauso umgehauen wie uns. Natürlich werden wir jetzt mit Tischreservierungen überschwemmt, was wunderbar ist. Oder wäre, wenn wir nicht die nächsten drei Wochenenden wegen Hochzeiten völlig ausgebucht wären. Nicht dass wir uns darüber beklagen, das ganz bestimmt nicht, es ist nur …“ Während sie eine Pause einlegte, um nach Luft zu schnappen, schaute sich Sara in dem voll gestopften kleinen Büro um.

Seltsamerweise hatte es Balkontüren, die sich zu einem hübschen kleinen städtischen Park hin öffneten. Als die Frau ihren Blick sah, lächelte sie.

„Wir haben erst vor kurzem dieses Lokal hier eröffnet. Es war ursprünglich ein Café, und wir haben das Haus nebenan gekauft. Das Büro war der hintere Salon des Hauses, und wir haben beschlossen, die Balkontüren zu lassen …“

„Es ist sehr hübsch.“ Sara lächelte.

„Na ja, ja, hoffentlich können wir es nächsten Sommer besser nutzen. Ich bin übrigens Frances Sorter“, stellte sie sich vor. „Ich nehme an, die Agentur hat Ihnen erzählt, dass ich und mein Mann die Besitzer des Restaurants sind. Unser Küchenchef verwendet fast nur ökologische Produkte, und mein Mann baut so viel er kann selbst an. Also, ich weiß nicht, ob die Agentur mit Ihnen über die Bedingungen gesprochen hat oder …“

„Äh, nein, haben sie nicht“, gab Sara wahrheitsgemäß zurück.

Jetzt wäre es eigentlich an der Zeit gewesen, Frances Sorter aufzuklären, dass hier ein Missverständnis vorlag, und dass sie nicht diejenige war, die die Frau erwartet hatte, aber Sara merkte, dass sie aus irgendeinem unerfindlichen Grund zuhörte, wie Frances ihr die überraschend großzügigen Arbeitsbedingungen schilderte.

„Es ist natürlich nur für ein paar Monate“, wurde ihr mit einem Anflug von Besorgnis erklärt. „Darüber hat man Sie doch informiert, oder? Mary, unsere Buchhalterin, erwartet ein Baby, und sie wird bestimmt zurückkommen, aber …“

Ein paar Monate … Sara überlegte. Sie hatte am Ende des letzten Schuljahres an der Schule gekündigt, an der sie zuletzt als Aushilfslehrerin gearbeitet hatte. Sie hatte bereits verschiedene Möglichkeiten ins Auge gefasst, einschließlich der, sich im Ausland eine Stelle zu suchen, und ihr Vater hatte ihr sogar angeboten, dass sie ihren alten Ferienjob zurückbekommen und bei ihm an der Universität als Assistentin arbeiten könnte, falls sie es wollte. Es gab wirklich keinen vernünftigen Grund, warum sie ausgerechnet hier in „Crightonville“ arbeiten sollte. Genau gesagt sprach alles dafür, dass sie es nicht tun sollte. Und warum nickte sie dann zustimmend und versicherte Frances Sorter, dass sie mit dem Gehalt, das man ihr anbot, einverstanden war?

Obwohl sie schon immer ausgesprochen spontan gewesen war – ein Charakterzug, mit dem sie sich früher öfter Schwierigkeiten eingehandelt hatte – war sie jetzt sogar selbst überrascht, sich sagen zu hören: „Obwohl es da noch ein Problem gibt. Ich … also … ich habe bis jetzt noch keine Wohnung hier und …“

„Oh, das ist kein Problem.“ Frances Sorter strahlte übers ganze Gesicht. „Oben im ersten Stock steht eine Wohnung leer, die können Sie haben. Genau gesagt ist es sogar so, dass Sie uns einen Gefallen tun, wenn Sie dort einziehen. Die Versicherung besteht nämlich darauf, dass die Wohnung vermietet wird. Offenbar sehen sie in einem unbewohnten Gebäude ein höheres Versicherungsrisiko, weil Diebe leichter einbrechen können. Die Wohnung ist nur klein, aber die früheren Besitzer haben sie komplett renoviert und … na, am besten gehen wir gleich mal rauf und schauen sie uns an, was meinen Sie?“

Na, das ist ja ein Ding, dachte Sara eine halbe Stunde später, nachdem sie sich von Frances verabschiedet hatte. Als sie heute Morgen von ihrer Freundin weggefahren war, hatte sie mit keinem Gedanken daran gedacht, nach Haslewich zu fahren, geschweige denn, hier einen Job anzunehmen, und doch war sie jetzt hier … Sara gehörte zu jenen Menschen, die fest an das Schicksal glaubten und nach Chancen griffen, um die vorsichtigere und weniger fantasiebegabte Menschen einen großen Bogen machten. Ihrer Meinung nach war das Leben ein Abenteuer oder sollte es zumindest sein. Ihre Augen begannen zu funkeln. Wer weiß, aber vielleicht bekam sie ja sogar eine Gelegenheit, den Punktestand für ihre zarte und verletzliche Stiefgroßmama ein bisschen auszugleichen und einigen dieser aufgeblasenen Crightons ihren Platz zu zeigen. Auf jeden Fall war es eine Herausforderung, die sie mit Freuden annehmen würde!

Sein Mandant war von einem Zellengenossen im Drogenrausch tätlich angegriffen worden, und als Nick ihm helfen wollte, hatte man mit einem Messer auf ihn eingestochen.

Glücklicherweise waren keine wichtigen inneren Organe verletzt worden, obwohl sich der Heilungsprozess länger als erwartet hinzog, weil die Wunde sich entzündet hatte. Die Entzündung war mittlerweile zurückgegangen, aber sein Arzt hatte ihm dringend ans Herz gelegt, noch ein bisschen langsam zu treten, bis die Verletzung ganz verheilt war.

Ja, es war wirklich nett von Saul und Tullah, dass sie sich so rührend um ihn kümmerten, aber die Wahrheit war, dass er bei dem ganzen Wind, den sie um ihn machten, langsam anfing, sich schrecklich zu langweilen.

Er war schließlich ein erwachsener Mann, der daran gewöhnt war, seine knappe Freizeit mit Aktivitäten außerhalb des Hauses zu füllen; Aktivitäten, die ihm Spaß machten: Bergsteigen und Segeln, Wildwasserkanufahren … alles, Hauptsache, es brachte Spaß und einen hübschen kleinen Kick … nicht dass er je irgendwelche gefährlichen Risiken in Kauf nähme … na gut, nicht so oft jedenfalls!

Bei der letzten Kontrolluntersuchung hatte er seinen Arzt zu überzeugen versucht, dass es ihm gut genug ginge, um an seine Arbeit zurückkehren zu können. Immerhin sei ein Anwalt ja nicht unbedingt körperlich gefordert, hatte er schlau argumentiert.

„Nun, da ist was Wahres dran“, hatte der andere Mann zugestimmt. „An einem Schreibtisch zu sitzen oder vor Gericht ein Plädoyer zu halten dürfte der Wunde, die jetzt offenbar wirklich langsam verheilt, nicht allzu sehr schaden …“

„Prima! Dann kann ich also wieder arbeiten?“, hatte er begierig gedrängt.

„Machen Sie sich nicht lächerlich, Nick“, hatte der Arzt freundlich widersprochen. „Sie sind zwar Anwalt, aber wie mir bekannt ist, schieben Sie nicht gerade eine ruhige Kugel. Ihr Job bringt allerhand Risiken mit sich, die kein normaler Mensch mit einem gesunden Respekt für seine körperliche Sicherheit je in Kauf nehmen würde.“

Nick hatte nur die Schultern gezuckt, weil sich dagegen schwer etwas einwenden ließ. Seine Arbeit – er fungierte als eine Art Unterhändler für Leute, die im Ausland mit dem Gesetz in Konflikt geraten waren – brachte ihn oft in gefährliche Situationen. Wenn er es mit einer besonders korrupten Regierung zu tun hatte, hatte er keine Hemmungen, irgendwelche Funktionsträger zu bestechen, um seinen Mandanten freizubekommen, und dann war es ratsam, möglichst schnell die Kurve zu kratzen.

Angefangen hatte alles damit, dass er als frisch zugelassener Strafverteidiger im Namen der Eltern eines Studienkollegen ein Gesuch an eine fernöstliche Regierung gestellt hatte, um zu erreichen, dass ihre Tochter aus dem Gefängnis entlassen wurde, wo sie wegen angeblichem Drogenschmuggel einsaß.

Nachdem er den Fall erfolgreich abgeschlossen hatte, war er von anderen Eltern bestürmt worden, ihnen bei ähnlich gelagerten Fällen zu helfen.

Nick fand es schockierend, dass sogar heutzutage, wo doch eigentlich dem naivsten Touristen die Gefahren bekannt sein sollten, junge Leute – vor allem junge Mädchen – immer noch in die Falle gingen und sich als Drogenkuriere missbrauchen ließen, manchmal wissentlich, aber wesentlich öfter ohne ihr Wissen.

Er fungierte natürlich auch noch als Unterhändler für andere Leute, aber auf jeden Fall war es ein Beruf, der es ihm erlaubte, viel zu reisen. Seine Arbeit war für ihn Mittel zum Zweck, kein Selbstzweck.

„Ich habe uns für heute Abend einen Tisch in Sorters neuem Restaurant bestellt“, hatte Tullah heute Morgen beim Frühstück verkündet. „Sie haben jetzt einen Michelin-Stern, und ich muss gestehen, dass ich schon mächtig gespannt auf ihr neuestes Menü bin. Es wird dir schmecken, Nick.“

Na ja, bestimmt würde es ihm schmecken, aber wenn er ganz ehrlich war, musste er zugeben, dass er sich nach etwas sehnte, das vielleicht ein klitzekleines bisschen aufregender war als die Art Häuslichkeit, die er bei seinem Bruder Saul und dessen Familie genoss. Es war alles wunderbar … sehr schön … unheimlich gemütlich, wirklich, aber entschieden nicht das Richtige für ihn … nicht zum jetzigen Zeitpunkt jedenfalls. Diesem Nist- und Brutpflegetrieb, von dem so viele Männer seines Alters gepackt wurden, konnte er beim besten Willen nichts abgewinnen. Nicht dass er aus Prinzip gegen eine feste Bindung oder gegen die Ehe gewesen wäre … das war er nicht; bloß für sich selbst wollte er es nicht – weder jetzt noch später! Dafür schätzte er seine Freiheit viel zu sehr.

„Ganz bestimmt“, versicherte Honor ihm mit einem Lächeln, als er sich anschickte, sie zu küssen.

„Also wirklich, ihr zwei!“, hatte sich Abigail, Honors ältere Tochter aus ihrer ersten Ehe, beschwert, als sie das letzte Mal zu Besuch da gewesen war. „Ich habe noch nie ein Paar gesehen, das dermaßen voneinander besessen ist wie ihr.“

„Mm … bist du besessen von mir?“, hatte David scherzhaft gefragt, nachdem Abigail wieder nach London gefahren war.

„Bestimmt nicht“, hatte Honor streng verneint, aber ihre Stimme war weicher geworden, als sie hinzufügte: „Nur wahnsinnig verliebt, das ist alles!“

„Ich frage mich, wann er wohl ankommt?“

Sie kannten sich mehr als ein Jahr und hatten vor ein paar Wochen geheiratet, und Honor hatte nie auch nur eine Sekunde an ihrer Entscheidung gezweifelt. Sie wusste über Davids Schande, über seine Vergangenheit mit ihren dunklen Schatten und Geheimnissen Bescheid, aber sie kannte auch die Geschichte seiner Läuterung, seiner Wiedergeburt aus der Schale seiner Vergangenheit. Jetzt freute sie sich darauf, den Mann, der bei dieser Läuterung eine entscheidende Rolle gespielt hatte, in ihrem Heim begrüßen zu dürfen. Father Ignatius, den irischen Geistlichen und Missionar, der zurzeit in Irland zu Besuch war. David und Honor freuten sich, dass sie es geschafft hatten, ihn zu überreden, Jamaika zu verlassen und auf Dauer bei ihnen zu leben.

„Er will morgen von Dublin nach Manchester fliegen“, sagte David, der schon ganz aufgeregt war. „Ich habe angeboten, ihn am Flughafen abzuholen, aber das wollte er nicht. Er sagte, dass er noch etwas zu erledigen habe.“

„Ja, ich weiß“, stimmte Honor geduldig zu, als ob sie das alles nicht bereits ein Dutzend Mal gehört hätte.

„Und dann sagte er, dass er allein herkommen wolle und dass ich nicht seinetwegen extra nach Dublin reisen müsse“, fuhr David fort.

Honor lächelte wieder beruhigend.

„Ich hoffe nur, dass er sich hier bei uns wohl fühlt.“

„Das wird er bestimmt“, gab Honor zuversichtlich zurück und fügte, sich an ihn lehnend, sanft hinzu: „Er kommt deinetwegen hierher, David …“

Honor hatte den Priester bei ihrer Hochzeit auf Jamaika kennen gelernt und hatte entdeckt, dass er genauso war, wie David ihn beschrieben hatte, und noch viel mehr. Alle drei verband sie der Glaube an die Würde der Natur und der Respekt für die Welt.

David lächelte reumütig und lachte leise auf. „Also gut, dann rege ich mich also wieder einmal unnötig auf.“

Es gab immer noch Tage, an denen er sich selbst kneifen musste, um sich zu beweisen, dass er nicht träumte. Bei dem Gedanken daran, wie viel Glück er gehabt hatte, wurde er immer noch demütig. Weil er dieses Glück nicht verdient hatte. Das hatte er auch zu Jon gesagt, aber sein Bruder hatte nur verneinend den Kopf geschüttelt.

David waren in seinem fünften Lebensjahrzehnt so viele wertvolle Geschenke gemacht worden. Seine Freundschaft mit dem Priester. Die Liebe zu Honor, die von ihr aufrichtig erwidert wurde; dass seine Familie ihn wieder in ihren Schoß aufgenommen hatte. Obwohl ein kleiner Schatten diese große Freude trübte, weil es ein Familienmitglied gab, das ihn nicht wieder aufgenommen hatte – seine Tochter Olivia. Und sie hatte allen Grund dafür. David verstand das. Er war ihr kein guter Vater gewesen, und sie war bereits in jungen Jahren gezwungen gewesen, nicht nur für ihr eigenes Leben Verantwortung zu übernehmen, sondern zusätzlich auch noch für das Leben ihrer Mutter und ihres jüngeren Bruders. Erschwerend hinzu kam noch das ablehnende Verhalten seines Vaters ihr gegenüber, der Jons Sohn Max im Vergleich dazu förmlich anbetete, und so war es kein Wunder, dass sie ihrem Vater, der bei ihr so kläglich versagt hatte, ablehnende Gefühle entgegenbrachte.

Aber sein Kummer über ihre anhaltende Entfremdung hatte nicht nur etwas mit ihm selbst zu tun, sondern auch mit ihr. Er war nicht mehr der David, der sein altes Leben einfach feige hinter sich gelassen hatte, weil er es nicht geschafft hatte, sich dem zu stellen, was er angerichtet hatte. Jetzt kannte und verstand er die Macht destruktiver Gefühle, die sich auf denjenigen, der sie fühlte, noch zerstörerischer auswirkten als auf jene, gegen die sie gerichtet waren. Und Olivia war zutiefst verletzt – das wusste David.

„Gib ihr Zeit“, hatte Jon ihm geraten.

Und dann war da noch sein Sohn, aber Jack hatte die Liebe und Fürsorge von Jon und Jenny bekommen, die er selbst und seine Exfrau Tania ihm nicht hatten geben können. Jack war sich im Unterschied zu Olivia seiner selbst sicher, er fühlte sich wohl in seiner Haut. Auch wenn er ihm, David, mit einer gewissen abwartenden Wachsamkeit begegnete, war da nichts von der Wut oder Angst, seine Rückkehr betreffend, zu spüren, die er in Olivias Reaktion wahrgenommen hatte.

Dass sie sich kategorisch weigerte, ihn zu sehen oder auch nur mit ihm zu telefonieren, war vielleicht verständlich. Seine Rückkehr war ein Schock für sie gewesen, das wusste David, und er wusste auch, dass er ihr kaum einen Grund gegeben hatte, ihn zu lieben oder zu achten; aber er hatte gehofft, dass sie wenigstens an der Hochzeitsfeier teilnehmen würde, die er und Honor in Fitzburgh Place ausgerichtet hatten, doch auch hier hatte sie sich verweigert. Er hoffte verzweifelt auf irgendeine Art Wiedergutmachung ihr gegenüber, indem er mit ihr redete, erklärte … um Verzeihung bat.

Er hatte kein Recht, Liebe von ihr zu erwarten; das musste er zugeben. Aber ihr Schmerz tat ihm ebenso weh wie sein eigener – ihr Schmerz, seine Schuld.

Jedes Mal, wenn er Max anschaute und sah, was aus Jons Sohn geworden war, erinnerte er sich selbst daran, dass Max die besten Eltern hatte, die sich ein Kind nur wünschen konnte, während Olivia dies nicht gehabt hatte, woran nur er und sein Egoismus schuld waren.

Als Honor die Traurigkeit in seinen Augen sah, wusste sie sofort, was die Ursache dafür war … Olivia. Sie konnte sich nicht einmal vorstellen, wie es wäre, wenn sie von einer ihrer Töchter abgelehnt würde … wenn sich eine Tochter so verletzt und abgetrennt von ihr fühlte, dass sie sich weigerte, sie in ihr Leben zu lassen; oder richtiger gesagt, konnte sie es, aber die Vorstellung war so unerträglich, dass es ihr kalt über den Rücken lief.

Honor, die gut zuhören konnte, hatte von den anderen Familienmitgliedern schon eine Menge über Olivia erfahren, aber nicht etwa, weil man über sie hergezogen oder sie kritisiert hätte. Nein, die Crightons waren absolut loyal. Was sie gelernt hatte, war, wie besorgt alle ihre Verwandten ihretwegen waren.

„Sie war so glücklich bei ihrer Heirat mit Caspar“, hatte Jenny gesagt. „Und als dann die Mädchen kamen …“

Und ihre Schlussfolgerung war gewesen, dass dieses Glück leider nicht angehalten hatte.

„Sie arbeitet zu viel“, hatte irgendwer gesagt, und es hatte auch noch andere, von liebevoller Besorgnis geprägte Bemerkungen gegeben, die Honor dahingehend interpretierte, dass über Olivias Leben ein Schatten hing und dass sie unglücklich war.

„Manchmal könnte man fast glauben, dass sie Angst hat, sich zu entspannen und Spaß zu haben“, war die vielsagendste Aussage gewesen, die von Tullah, Sauls Frau, gekommen war, wobei sich ihre schönen Augen verdunkelt hatten. Honor vermutete, dass Olivia als Kind so viel Schaden genommen hatte, dass sie jetzt das dringende Bedürfnis verspürte, die Zügel fest in der Hand zu behalten und sich anzutreiben, um ihre selbst gesteckten Ziele auch wirklich zu erreichen. Und ihr Selbstwertgefühl schien sehr gefährdet zu sein.

Honor beugte sich zu David hinüber, knabberte an seinem Ohrläppchen und flüsterte: „Komm, lass uns ins Bett gehen.“

„Was?“, gab David gespielt schockiert zurück. „Es ist erst Nachmittag …“

„Mm … Zeit für ein Mittagsschläfchen.“ Honor lächelte verführerisch.

Arm in Arm gingen sie über den mit Kies bestreuten Platz, der das Wohnhaus von den Nebengebäuden trennte.

Honor freute sich auf die Ankunft von Davids altem Freund und Mentor, und als sie an den Lavendelbüschen vorbeikam, beugte sie sich kurz hinunter, um mit ihrer freien Hand darüberzustreichen.

Sie hatte vor, hier viele verschiedene Kräuter anzupflanzen und sich daraus ihre eigenen Kräutertees und Kräutercremes herzustellen.

Olivia erinnerte sie ein bisschen an ihren Lavendel … äußerlich robust und zäh, aber innerlich so zart, dass die leiseste Berührung Spuren hinterlassen und Schaden anrichten konnte.

3. KAPITEL

„Mummy ist oben“, informierte Amelia, die ihr aufgemacht hatte, sie.

„Ja, sie packt Daddys Sachen zusammen“, fügte Alex unschuldig hinzu.

„Dad bleibt in Philly … in Amerika“, ergänzte Amelia, und beide Mädchen standen da und schauten sie mit so todtraurigen Augen an, dass Bobbie sie am liebsten in den Arm genommen und gedrückt hätte.

„Olivia“, rief sie vom Fuß der Treppe nach oben. „Ich bin’s – Bobbie. Kann ich raufkommen?“

Als Olivias Kopf über dem Geländer auftauchte, konnte Bobbie ihr ansehen, dass sie es nicht geschafft hatte, den Schreck zu verbergen, der ihr bei Olivias Anblick in die Glieder gefahren war. Olivia hatte abgenommen, und ihre Haut wirkte ebenso grau und leblos wie ihre Augen. Sie sah einfach schrecklich aus. Bobbie schluckte. Jetzt war es Olivia, die sie am liebsten in den Arm genommen hätte.

„Die Mädchen haben es dir schon erzählt, stimmt’s?“, vermutete Olivia erschöpft.

„Sie haben irgendetwas davon gesagt, dass Caspar in Philadelphia geblieben ist“, stimmte Bobbie verlegen zu.

„Du kommst besser rauf“, sagte Olivia. „Caspar und ich haben uns getrennt“, informierte sie Bobbie, nachdem diese oben war. „Es ist das Beste, für alle von uns. Zwischen uns beiden klappt es schon lange nicht mehr und … er ist nicht mehr der Mann, den ich geheiratet habe, Bobbie, und ich …“ Olivias Stimme brach, und Bobbie sah, dass ihr die Tränen in den Augen standen.

„Nein“, wehrte Olivia ab, als Bobbie die Hand nach ihr ausstreckte. „Ich will kein Mitleid … das brauche ich nicht … es tut mir nicht Leid. Ich bin froh, dass es so gekommen ist. Unsere Ehe hat eben einfach nicht funktioniert“, versuchte sie angespannt zu erklären. „Ich glaube, nachdem Caspar über den ersten Schock weg war, war er auch erleichtert.“

Als sie den Schmerz in ihrer Stimme mitschwingen hörte, runzelte Olivia verwirrt die Stirn. Warum sollte es ihr wehtun? Sie liebte Caspar nicht mehr. Es war eine Erleichterung, nicht mehr hören zu müssen, dass sie zu viel Zeit mit ihrer Arbeit verbrachte und zu wenig mit ihm und den Mädchen. Und es war ebenso eine Erleichterung, dass sie sich jetzt nur noch um die Beziehung zu ihren Töchtern kümmern musste. Nachdem jetzt ihr Vater zurückgekommen war, würden sie die Leute noch mehr beobachten und nur darauf warten, dass sie versagte.

„Ich weiß, dass in einer Beziehung manchmal Sachen passieren, die äußerst ärgerlich zu sein scheinen, eigentlich Kleinigkeiten, aber sie sind wie ein Steinchen im Schuh und können …“, begann Bobbie.

„Kleinigkeiten?“, unterbrach Olivia sie mit einem bitteren Auflachen. „Es geht hier nicht um Kleinigkeiten, Bobbie. Es ist Monate her, seit Caspar und ich Sex hatten …“

Einen Moment lang vermutete Bobbie, Olivia beklage sich, dass Caspar nicht mit ihr schlafen wolle, aber als sie verärgert fortfuhr: „Es war unmöglich … ich konnte es einfach nicht …“, wurde ihr klar, dass es genau andersherum war.

„Caspar schien zu denken, dass ich einfach nur gemein bin … dass ich mich ihm nur vorenthalte, um Punkte zu sammeln. Das zeigt, wie weit wir uns auseinander gelebt haben“, brach es aus Olivia heraus. Ihre Hände zitterten. „Wir hatten schreckliche Auseinandersetzungen deswegen. Es war so schlimm für die Mädchen. Ich habe mich bemüht, aber Caspar …“

„Hast du mal an eine Therapie gedacht?“

Olivias Schmerz und Verzweiflung waren fast mit Händen zu greifen. Sie war normalerweise so ruhig und beherrscht, dass Bobbie schockiert war über die Veränderung, die mit ihr vorgegangen war.

„Eine Therapie!“ Olivia lachte freudlos auf. „Wie meine Mutter sie dringend nötig gehabt hätte, meinst du das? Entschuldige. Ich weiß …“ Sie unterbrach sich und hielt sich die Hand vor den Mund, als wolle sie sich selbst zum Schweigen bringen.

„Dafür ist es jetzt zu spät“, erklärte sie einen Moment später. „Unsere Ehe ist gescheitert.“

„Was wird Caspar machen?“, fragte Bobbie.

„Er nimmt ein Sabbatjahr, die Uni hat es schon genehmigt. Er hat vor, mit dem Motorrad durch Amerika zu fahren, mit einer Harley“, sagte Olivia verächtlich. „Das war schon immer sein Traum.“

Zu ihrem eigenen Entsetzen merkte sie, dass sie weinte, ohne zu wissen, warum.

„Oh, Livvy, Livvy“, hörte sie Bobbie sagen, aber als diese einen Schritt auf sie zu machte und die Arme ausstreckte, wich Olivia, den Kopf schüttelnd, zurück.

Es gab so viel, was getan werden musste, so viele Vorbereitungen, die sie treffen musste. Wenn sie am Montag wieder anfing zu arbeiten, wollte sie vor acht in der Kanzlei sein. Dann hatte sie eine Stunde, um die Post durchzusehen, die auf sie wartete, und den Rest konnte sie sich am Abend mit nach Hause nehmen und lesen, wenn die Mädchen im Bett waren. Nachdem sie jetzt auf Caspar keine Rücksicht mehr zu nehmen brauchte, hatte sie abends wenigstens Zeit zum Arbeiten.

„Natürlich stimmt da was nicht“, gab er trocken zurück. „Sie hat Caspar verlassen.“

„Nein, ich meine davon abgesehen … irgendetwas stimmt mit Livvy nicht“, beharrte Bobbie. „Sie war … irgendwie ganz anders … so …“

„Sie ist wahrscheinlich ziemlich fertig. Das ist bloß normal.“

Bobbie seufzte. Auch wenn sie ihren Mann noch so sehr liebte, gab es doch Zeiten, wo sie nicht auf derselben Wellenlänge waren. Eine Frau hätte sofort verstanden, was sie meinte.

„Ich frage mich, ob Jenny es schon weiß“, sagte Bobbie. „Aber eigentlich muss sie es wissen. Sie und Olivia standen sich immer sehr nah.“

Jons Frau Jenny war für Olivia während ihrer schwierigen Kindheit eine Art Ersatzmutter gewesen. Olivia arbeitete jetzt in der Familienkanzlei, die von Jon geleitet wurde.

Schnell griff Bobbie zum Telefon und wählte Jennys Nummer.

„Eben hat Bobbie angerufen. Sie war heute Nachmittag bei Livvy. Ich hatte eigentlich auch vor, bei ihr reinzuschauen, aber dann habe ich es doch nicht geschafft. Livvy und Caspar haben sich getrennt. Livvy ist ohne ihn zurückgekommen.“

„Was?“

Jons war nicht minder entsetzt als Jenny. Er schüttelte fassungslos den Kopf.

„Ich dachte, sie sind so glücklich.“

„Das waren sie auch“, sagte Jenny. „Bis zu Davids Rückkehr …“ Obwohl sie sich Mühe gab, schaffte sie es nicht, den anklagenden Unterton aus ihrer Stimme herauszuhalten.

Sie konnte Jon ansehen, dass ihre Worte ihn aufgebracht hatten, und sie wusste, dass sie ungerecht waren, aber jetzt konnte sie sie nicht mehr zurücknehmen.

Jon hatte sich seit der Rückkehr seines Zwillingsbruders verändert. Er schien nur noch mit David beschäftigt zu sein. So sehr, dass Jenny sich fast aus seinem Leben ausgeschlossen fühlte, was natürlich lächerlich war. Sie waren seit über dreißig Jahren verheiratet, und gerade die letzten Jahre hatten sie zusammengeschweißt, ihre Ehe … ihre Liebe hatte eine neue Tiefe bekommen. Diese letzten Jahre … ohne David.

Aber jetzt war David wieder da, und Jon gehörte nicht mehr nur ihr allein. Jetzt hieß es ständig David hier und David da. Jenny konnte die Liebe zu seinem Bruder in seinen Augen sehen und jedes Mal, wenn er seinen Namen aussprach, in seiner Stimme hören.

„David ist nicht dafür verantwortlich, dass Olivias Ehe in die Brüche gegangen ist. Das kann er nicht sein“, wandte Jon ein.

„Vielleicht nicht“, sah Jenny sich genötigt zuzugeben. „Aber er ist dafür verantwortlich, was Olivia ist, Jon … das hast du selbst oft genug gesagt.“

„Es stimmt, dass Livvy keine besonders glückliche Kindheit hatte“, pflichtete Jon ihr bei. „Aber das kann man nicht allein David anlasten …“

Jenny seufzte ungeduldig.

„Bevor David zurückkam, hast du selbst gesagt, dass du dir um Olivia Sorgen machst, dass du findest, dass sie viel zu viel arbeitet.“

„Ja, das tat sie … tut sie“, räumte Jon ein.

Es hatte ihn beunruhigt, während ihrer Abwesenheit zu entdecken, wie viel zusätzliche Arbeit Olivia auf sich genommen hatte, und vor allem ganz unnötigerweise. Wenn sie gesagt hätte, dass sie Hilfe brauchte, hätte er sich darum gekümmert, dass sie welche bekam. Aber sie hatte keinen Ton gesagt. Bei dieser Arbeitsbelastung war es kein Wunder, dass ihre Ehe gescheitert war. Ihre Urlaubsvertretung hatte es nicht einmal annähernd geschafft, ihr Pensum zu bewältigen, so dass Jon die restliche Arbeit zwischen sich und Tullah, die Teilzeit arbeitete, und seiner Tochter Katie, die ebenfalls in der Kanzlei tätig war, aufgeteilt hatte.

Als Jenny jetzt hinter ihm vorbeiging, ohne wie üblich stehen zu bleiben, um ihm einen flüchtigen Kuss auf den Scheitel zu geben, stutzte er und wollte gerade die Hand nach ihr ausstrecken, aber sie war schon fort.

Seit David zurück ist, ist Jon so mit ihm beschäftigt, dass er mich kaum mehr sieht, dachte Jenny, während sie sein Arbeitszimmer verließ.

Sie wusste, wie sehr er seinen Zwillingsbruder liebte. Beneidete er ihn womöglich ein bisschen? Verglich er ihre ruhige, behagliche Ehe mit Davids unübersehbar leidenschaftlicher Beziehung zu seiner neuen Frau Honor? Immerhin war Honor so viel aufregender als sie selbst.

Hör sofort auf damit, ermahnte Jenny sich, als sie in die Küche ging. Auch wenn sie sich gegenüber Davids erster Frau Tania, genannt Tiggy, dem glamourösen Model, oft minderwertig gefühlt hatte, würde sie es doch nicht zulassen, dass sich die Geschichte wiederholte.

Die große Küche wirkte so leer, nachdem ihre Kinder jetzt praktisch alle erwachsen waren.

Von ihren vier Kindern lebte nur noch Joss, der Jüngste, zu Hause, aber auch er würde Jack bald auf die Universität nachfolgen.

Natürlich kamen Maddy und die Kinder – ihre Enkelkinder – regelmäßig, es gab kaum einen Tag, an dem sie sie nicht sah, dennoch …

Nestleeresyndrom nannte man es, wenn eine Frau anfing, darunter zu leiden, dass ihre Kinder aus dem Haus waren.

Entschlossen erinnerte Jenny sich daran, wie glücklich sie war – im Unterschied zu ihrer Nichte.

Arme Livvy. Jenny hatte Mitleid mit ihr.

„Es ist nichts“, versicherte Maddy. „Mir ist nur ein bisschen flau im Magen.“

„Komm, setz dich hin“, forderte Max sie auf und schüttelte den Kopf, als sie weiterhin darauf bestand, dass alles in Ordnung sei.

Diese vierte Schwangerschaft, über die sie sich beide so gefreut hatten, machte ihr, soweit Max es wusste, weit mehr zu schaffen als die drei vorangegangenen, und er verfluchte sich dafür, dass sie wieder schwanger geworden war, obwohl sie bereits drei Kinder und seinen Großvater hatte, um die sie sich kümmern musste.

Er würde seine Mutter bitten müssen, ein Auge auf sie zu haben, damit sichergestellt war, dass sie sich nicht übernahm.

„Heute müsste eigentlich Livvy zurückkommen“, bemerkte Maddy. Ihre Übelkeit war zum Glück wieder abgeklungen. Das Letzte, was sie wollte, war, dass Max anfing, sich Sorgen zu machen.

„Ich weiß, dass sie nur ein paar Wochen weg waren, aber hier war so viel los, dass es mir viel länger vorkommt“, fuhr Maddy fort.

„Hm …“

„Ich frage mich, wie sie damit zurechtkommt, dass ihr Vater zurück ist. Honor erzählt, dass David sich sehnlichst wünscht, den Bruch zwischen ihnen zu kitten, aber er glaubt es Livvy schuldig zu sein, sie nicht zu drängen.“

„Das braucht seine Zeit“, sagte Max. „Davids Rückkehr war für uns alle ein Schock und für Olivia ganz besonders.“

Maddy wollte eben bemerken, dass sich ihre Sorge um seine Cousine Olivia nicht nur auf ihre gestörte Beziehung zu ihrem Vater beschränkte. Ebenso beunruhigend fand sie die Klagen, die Caspar ihr gegenüber bezüglich seiner Ehe geäußert hatte, aber in dem Moment, in dem sie den Mund aufmachte, wurde sie erneut von Übelkeit überschwemmt.

Das ist bestimmt ganz normal, versuchte sie sich zu beruhigen. Sie hatte bereits einen Termin beim Arzt – der überfällig war, wie sie zugeben musste. Ihren letzten hatte sie absagen müssen, weil Ben krank gewesen war. Ihre geschwollenen Knöchel und die Tatsache, dass ihr so übel war und sie sich so müde fühlte, war kein Grund, sich Sorgen zu machen. Und warum sollte sie auch? Sie hatte bei ihren drei anderen Schwangerschaften nie irgendwelche Probleme gehabt.

„Und du wirst es nicht glauben“, fuhr sie fort. „Ein paar Leute vom Crighton-Clan haben für heute Abend einen Tisch reserviert, so dass ich aus nächster Nähe einen Blick auf den ,Feind‘ werfen kann.“

„Ich habe dir schon früher gesagt, dass du bis jetzt nur die eine Seite gehört hast“, erinnerte ihr Vater sie.

„Das ist mir egal. Und wenn nur die Hälfte von dem stimmt, was Tania erzählt, haben sie sie trotzdem abscheulich behandelt.“

Richard Lanyon unterdrückte am anderen Ende der Leitung ein Aufseufzen. Seine Tochter hatte eine Schwäche für Verlierer und Unterdrückte, und er konnte nur hoffen, dass ihr das Leben nicht allzu viele Ideale und Illusionen raubte.

Er selbst schätzte die zweite Frau seines Vaters als naiv und kindlich und total egoistisch ein. Aber sein Vater betete sie an und hielt seine schützende Hand über sie, auch wenn er sich manchmal über sie ärgerte.

„Nun, ich kann dich nur warnen, allzu viele Drachen töten zu wollen“, warnte er Sara jetzt scherzhaft.

„Keine Angst“, versprach sie. „Aber es wird Zeit, dass jemand die Crightons mal ein bisschen von ihrem hohen Ross runterholt. Genieß deinen Urlaub“, fügte sie liebevoll hinzu.

Ihr Vater und ihre Mutter hatten vor, in ihr Apartment in der Karibik zu fahren, das in einem Ferienzentrum lag, das ihr Vater, der von Beruf Architekt war, mitentworfen hatte. Sara wusste, dass sie jederzeit mitfahren und einen langen Urlaub auf Kosten ihrer Eltern hätte machen können, aber das ließen ihr Stolz und ihr Unabhängigkeitsstreben nicht zu. Sie war Lehrerin geworden, weil sie anderen helfen wollte, und ihrer Meinung nach gehörte Bildung zu dem Wertvollsten, was man Kindern mit auf den Weg geben konnte, aber die ernüchternde Realität an den Schulen heutzutage knabberte an ihren Idealen.

Inzwischen war ihr zu ihrem Erschrecken klar geworden, dass sie anfing, neu über ihre berufliche Zukunft nachzudenken. Wenn sie sich eine Weile hier in Haslewich ihren Lebensunterhalt verdiente, hatte sie Zeit zu überlegen, was für Möglichkeiten sie hatte – und gleichzeitig konnte sie ein bisschen Dreck unter dem Teppich der Crightons hervorkehren.

Trotz der Einwände ihres Vaters zweifelte Sara nicht daran, dass man Tania abscheulich behandelt hatte.

Nachdem sie ihre wenigen Habseligkeiten in der gemütlichen kleinen Behausung verstaut hatte, ging Sara wieder nach unten in das Restaurant, wo Frances Sorter sie mit einem Lächeln begrüßte.

„Wir erwarten normalerweise nicht von Ihnen, dass Sie abends arbeiten, aber wenn Sie Lust haben, sich ein bisschen umzuschauen …“, sagte Frances.

„Ja, gern“, erwiderte Sara aufrichtig, dann verzog sie verlegen das Gesicht, als ihr Magen laut und vernehmlich knurrte.

„Ach du meine Güte, Sie müssen ja halb verhungert sein“, rief Frances aus. „Normalerweise isst das Personal, wenn wir mit dem Servieren fertig sind, aber ich kann Ihnen etwas ins Büro bringen lassen.“

„Ein Sandwich wäre herrlich“, sagte Sara.

„Ein Sandwich?“ Frances wirkte entsetzt. „Das ist hier ein ausgewiesenes Feinschmeckerrestaurant“, sagte sie, wobei ein belustigtes Lächeln ihre Mundwinkel hob. „Was halten Sie von Wildlachs mit Gemüse vom Holzkohlengrill?“

„Ich bin jetzt schon hin und weg“, gab Sara mit einem Auflachen zurück. Es würde ihr Spaß machen, hier zu arbeiten. Frances hatte Sinn für Humor, auch wenn sie im Augenblick ziemlich fertig war.

Fast eine Stunde später verzog Sara das Gesicht, als sie sich den letzten Bissen ihres köstlichen Abendessens in den Mund schob. Sie war so in ihre Arbeit vertieft gewesen, dass alles kalt geworden war – nicht dass sie noch hungrig gewesen wäre! Die mehr als großzügig bemessene Portion hätte gut und gern zwei Leute satt machen können.

Sie runzelte die Stirn, als der Computer sich weigerte, ihr die Information zu geben, die sie brauchte, um ihre Aufgabe zu beenden. Sie würde sich bei Frances Rat holen müssen.

Sie verließ ihr Büro und ging den kurzen Flur hinunter, an dessen Ende das Restaurant lag, und trat nach kurzem Zögern ein.

Frances hatte ihr erzählt, dass sie heute Abend im Restaurant „im Einsatz“ war, aber sie war nirgends zu entdecken. Es herrschte Hochbetrieb, alle Tische waren besetzt.

„Livvy ist zurück, aber ohne Caspar. Er ist in Amerika geblieben, und Livvy sagt, dass sie vorhaben, sich scheiden zu lassen.“

Tullah runzelte leicht die Stirn. Es hatte eine Zeit gegeben, in der sich Saul und Livvy ziemlich nahgestanden hatten, und Saul hatte selbst zugegeben, dass er sich damals von seiner Cousine zweiten Grades sehr angezogen gefühlt hatte, aber das war Vergangenheit. Jetzt war sie Sauls Frau.

„Mir tun nur die Mädchen Leid“, fuhr sie fort.

„Es ist schwer für Kinder, wenn ihre Eltern sich trennen.“

Saul hatte drei Kinder aus erster Ehe, und Tullah konnte sich noch gut erinnern, wie unglücklich und verloren sie gewirkt hatten, als sie sie zum ersten Mal sah.

Sauls erste Frau hatte nicht nur ihren Mann, sondern auch ihre drei Kinder verlassen, weil ihren Worten nach in ihrer zweiten Ehe für ihren Sohn und ihre beiden Töchter kein Platz war.

Am Anfang, als Saul und ich uns verliebt und schließlich geheiratet haben, war es für keinen von ihnen leicht, erinnerte sich Tullah. Doch inzwischen hatten die Kinder sie voll akzeptiert. Ein viertes gemeinsames Kind machte ihre Familie komplett, aber Tullah wusste, dass sie für Sauls ältere drei Kinder eine besonders beschützerische Liebe empfand, vor allem für seine Tochter Meg, und so konnte sie auch mit Amelia und Alex mitfühlen.

„Also, meiner Meinung nach sollten Frauen und Männer strikt getrennt gehalten werden, außer für reine Fortpflanzungszwecke“, mischte sich Nick jetzt ein, wobei er schelmisch grinste, während in seinen Augen belustigte Fünkchen tanzten.

Wie alle Crightons sah auch er außergewöhnlich gut aus, aber bei ihm kam noch hinzu, dass er eine aufregende Aura von Gefahr ausstrahlte, die mit einer geradezu provozierenden Männlichkeit gekoppelt war. Tullah schüttelte missbilligend den Kopf und sagte: „Du bist wirklich unverbesserlich, Nick.“

„Nein, ich bin nur wild entschlossen, nie in diese Falle zu tappen und mir nie von meinen Gefühlen mein Leben ruinieren zu lassen“, erklärte Nick entschieden.

Saul hüllte sich in Schweigen. Er war mit den Ansichten seines jüngeren Bruders bezüglich Ehe und Verpflichtungen bestens vertraut.

„Na, eines Tages wirst auch du deine Meinung ändern“, prophezeite Tullah ihm. „Du wirst eine Frau sehen und dich auf Anhieb in sie verlieben …“