Der Orthopädist - Gudrun Elisabeth Meisriemler - E-Book

Der Orthopädist E-Book

Gudrun Elisabeth Meisriemler

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Beschreibung

Mitte des 18. Jahrhunderts: erste zaghafte Versuche, Fehlstellungen der Gliedmaßen, insbesondere der am meisten belasteten Füße, zu regulieren, läuten den Beginn eines wichtigen Zweiges der Medizin ein. Ausgehend von einem Buch des französischen Arztes Andry de Boisregard aus dem Jahr 1741, in dem das erste Mal der Begriff "Orthopädie" erwähnt wird, gewinnt diese Fachrichtung rasch an Bedeutung. In dieser Zeit begeistert sich der junger (fiktive) Schuhmacher Jakob Ledermaier für die neuen Ideen. Auf seiner Wanderschaft von Marburg an der Lahn über München, Salzburg, Hall i.T., Bozen, Trient und Padua nach Venedig, auf die er sich begeben muss, bevor er Meister werden kann, trifft er interessante Leute und erlebt manches ungewöhnliche Abenteuer. Er reift so nicht nur fachlich sondern auch charakterlich zu einem selbstbewussten Meister eines Handwerks, das bis heute seine Bedeutung nicht verloren hat.

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Inhalt:

Vorwort

Kapitel 1:

Vorgeschichte 1732: Von Brügge nach Marburg

Kapitel 2:

1733-42: In und um Marburg

Kapitel 3:

1743-49: Von Marburg in die weite Welt

Kapitel 4:

1749: Auf dem Weg nach Süden

Kapitel 5:

1749: Über den Brenner nach Trient

Kapitel 6:

1749-50: Von Trient nach Padua

Kapitel 7:

1750: Von Padua nach Venedig

Kapitel 8:

1750: Venedig I

Kapitel 9:

1750: Venedig II

Kapitel 10:

1750-51: Venedig III

Kapitel 11:

1752: Abschied von Venedig

Kapitel 12:

1752: Von Venedig nach Marburg

Kapitel 13:

1752: Marburger Intermezzo

Kapitel 14:

1752-56: Wieder in Venedig

Kapitel 15:

1756: Tod in Venedig

Kapitel 16:

1752-56: Marburg/Schloss Werthenstein

Kapitel 17:

1756: Venedig – Marburg/Werthenstein

Kapitel 18:

1756-57: Finale in Venedig

Danksagung

Über die Autorin

Quellen

VORWORT

Die Erzählung, die in der Zeit spielt, in der erste ernsthafte Schritte auf dem Gebiet der Orthopädie gemacht wurden, ist frei erfunden. Realer Hintergrund ist jedoch die Entwicklung, die von dem 1741 veröffentlichten Buch des französischen Arztes Nicolas Andry (1658- 1742) ausging, in dem erstmals das Wort „Orthopädie“ erwähnt wurde. Die Ideen wurden schon bald von Ärzten, mit der Mechanik befassten Handwerkern und speziell orientierten Schuhmachern aufgegriffen. In Orbe (Schweiz) wurde bereits 1780 die erste orthopädische Heilanstalt der Welt gegründet. Das 1816 von Johann Georg Heine in Würzburg gegründete „Carolinen-Institut“ zog Patienten aus vielen Ländern Europas an. Während in den Anfängen operative Eingriffe noch lebensgefährlich waren, zählen heute viele Maßnahmen, wie etwa der Ersatz von Gelenken, die Reparatur von Bandscheiben, die Behebung von Gelenkserkrankungen mittels Arthroskopie und vieles andere zur Routine. Noch revolutionärer sind die Erfolge auf dem Gebiet der Transplantation und der computergesteuerten Prothesen, Dinge, von denen die Pioniere nicht einmal träumen konnten.

In den mehr als 250 Jahren der intensiven Erforschung und Entwicklung ist die Orthopädie zu einem bedeutenden, fachübergreifenden Zweig der Medizin geworden. Nach wie vor ist jedoch auch die präzise Arbeit des Orthopädie-Schuhmachers von großer Bedeutung und Wichtigkeit, auf dessen handwerkliches Können nicht verzichtet werden kann.

+++

Kapitel 1:

Vorgeschichte: 1732 Von Brügge nach Marburg

Seit sechs Tagen befand sich die junge Witwe Birga Formesyn aus Brügge auf dem Weg nach Marburg. Die Reise mit der Postkutsche, die sie seit ihrer Abfahrt bereits mehrmals wechseln hatte müssen, da es keine direkten Verbindungen gab, war für eine Frau alleine nicht nur äußerst ermüdend, sondern auch recht riskant, auch wenn die Mitreisenden die schwarze Witwentracht mehr oder weniger respektierten. Trotzdem war die einsame Reisende der Neugier sehr ausgesetzt. So mancher männliche Passagier glaubte sich berufen, den Beschützer spielen zu müssen. Frau Formesyn hingegen begegnete allen Mitreisenden mit stoischer, an Hochmut grenzender Ruhe und Unnahbarkeit, an der sämtliche männlichen aber auch weiblichen Anbiederungsversuche scheiterten. Sie hüllte sich meist in Schweigen, lüftete nur selten den schwarzen Schleier vor ihrem Gesicht, nahm an den Gesprächen im Wagen, an den Poststationen und nächtlichen Unterkünften kaum teil und verriet nichts über ihre Herkunft und ihre Absichten.

Birga Formesyn war die hoch gebildete Tochter eines wohlhabenden Kaufmanns aus Antwerpen, der ihr ein beachtliches, mündelsicher angelegtes Vermögen hinterlassen hatte, von dem sie und ihr Gatte ein angenehmes Leben bestreiten hätten können. Allzu früh verstarb jedoch ihr Mann, nach nur zweijähriger, kinderloser Ehe, an einer heimtückischen Krankheit, die er sich bei einem Aufenthalt in den Tropen zugezogen hatte, wo er neue Geschäftsverbindungen zu knüpfen gehofft hatte. Birga, gerade eben 20 Jahre geworden, haderte mit dem Schicksal. Sie beschloss, nach Brügge zu gehen und sich dort nur mehr dem Studium der Naturwissenschaften zu widmen, was für eine Frau zu jener Zeit nicht gerade einfach war. Trotzdem gab sie sich der Hoffnung hin, ein Mittel gegen jene Krankheit zu finden, an der ihr Mann elend zu Grunde gegangen war.

Mit gleich gesinnten Frauen lebte sie fortan sehr zurückgezogen. In den Gärten der Gemeinschaft zog sie die verschiedensten Kräuter, deren Samen sie zum Teil von Seefahrern erhielt, die ihre Familie kannten und mit denen sie trotz ihrer Abgeschiedenheit Kontakt hielt, weil sie auf neue Erkenntnisse aus fernen Ländern hoffte. Zum anderen Teil stöberte sie auf Märkten herum oder erwarb seltene Samen bei Apothekern. Aus allen möglichen Pflanzen stellte sie dann, häufig nach Rezepten aus alten Folianten und Handschriften, die sie variierte, Elixiere, Teemischungen und Tinkturen her und experimentierte, wenn sie sich ganz sicher war, keinen Schaden anzurichten, an der großen Schar von Bettlern, Strolchen, Tagedieben und arbeitslosen Seeleuten, die die Straßen von Brügge unsicher machten. Diese Ärmsten der Armen waren sehr froh, wenn eine der „weißen Frauen“ - so benannt nach den kuttenähnlichen, weißen Kleidern, die man in der Frauengemeinschaft trug - von Zeit zu Zeit ihre Heilmittel verschenkte. Für vom Alkohol zerfressene Mägen, von der Krätze zerbissene Hände, schlecht heilende, schwärende Wunden, bösen trockenen Husten, triefende Augen und Nasen, Blasenleiden, Ohrschmerzen und vieles mehr wusste Frau Formesyn ihre Hausmittelchen anzuwenden. Offiziell mit den Medikamenten Handel treiben durfte sie allerdings nicht, da dieses Metier den Apothekern vorbehalten war, und sie sehr schnell im Gefängnis gelandet wäre. Da die „weißen Frauen“ ihre Kunst an jenen armseligen Kreaturen ausübten, die den Herren Apothekern und Medici ohnehin keinen müden Gulden brachten, wurde von den hohen Herren jedoch gerne ein Auge zugedrückt und die mitleidige Kurpfuscherei geduldet.

Birga Formesyn hätte sich aus ihrer freiwillig gewählten Klausur nicht fortbewegt, wäre nicht eines Tages der Brief eines Notarius aus Marburg überbracht worden. In wenigen Worten teilte er mit, dass der Bruder ihrer Mutter im fernen Deutschland ohne Hinterlassung von anderen Erben verstorben sei und in seinem Testament ein großes Grundstück mit Haus bei Marburg an der Lahn seiner einzigen lebenden Verwandten vermacht habe. Falls sie Interesse an der Übernahme der Liegenschaft habe, möge sich die werte Erbin, falls rechtsfähig, möglichst rasch in Marburg zur Erledigung der erforderlichen Formalitäten einfinden oder einen Vertreter benennen, der ihre Angelegenheiten vollziehen könnte.

Die Aussicht, in einem eigenen großer Garten alle jene Pflanzen ziehen zu können, die hier in Brügge auf dem engen Raum, der zur Verfügung stand, nicht hochkommen wollten, reizte Birga sehr, doch fehlte ihr der Mut, sich zu entscheiden. Lange überlegte sie, bevor sie die Meisterin der Gemeinschaft, eine erfahrene, weit gereiste Frau, um ihren Rat fragte.

„Ihr solltet diese Chance nützen! Für das Leben hier im Hof seid Ihr doch eigentlich noch viel zu jung. Die Welt steht Euch offen!“ So argumentierte die Meisterin. „Auf jeden Fall solltet Ihr das Erbe in Augenschein nehmen. Vielleicht könnt Ihr dort den Garten Eurer Wünsche aufbauen! Ich weiß doch, wovon Ihr träumt!“

„Eine Frau ganz allein?“ gab Birga zu bedenken.

„Naja! Ich denke, es werden sich doch auch dort in Deutschland Damen finden, die das Projekt zusammen mit Euch wagen,“ versuchte die Meisterin zu beruhigen, „und für den Fall, dass dieses Unterfangen nicht von Erfolg gekrönt ist, könnt Ihr jederzeit, auch nach längerer Abwesenheit, in unseren Kreis zurückkehren. Euer Platz bleibt für Euch reserviert, da Ihr Euch hier rechtmäßig eingekauft habt. Ihr bleibt so lange eine von uns – ganz gleich, was passiert - bis Ihr selbst den Austritt erklärt!“

Noch immer zögerte Birga. „Ich weiß wirklich nicht, ob ich dieser Sache gewachsen bin? Hier kennt mich oder meine Familie jeder und fühlt sich bemüßigt, mir zu Diensten zu sein. Aber dort? Wer weiß …?“

Die Meisterin lächelte: „So kenn ich Euch gar nicht! Wer es mit dem ganzen Gesindel auf unseren Straßen aufnimmt, so wie Ihr es so oft und offensichtlich ohne Bedenken tut, dem kann es doch nicht an Mut gebrechen, in aller Stille einen eigenen, friedlichen Garten zu betreiben! Kopf hoch, Ihr schafft das!“

Ausschlaggebend für ihre Entscheidung, nach Marburg zu reisen war jedoch endlich der Gedanke, dass es in einer so bekannten Universitätsstadt höchstwahrscheinlich Möglichkeiten geben würde, ihre Studien und Forschungen fortzusetzen und ihr Wissen zu vervollkommnen. Ausgehend von den Ideen des Theophrastus von Hohenheim, allgemein als Paracelsus bekannt, der bereits im 16. Jahrhundert die Ansicht vertrat, dass die Bekämpfung von Krankheiten durch Stoffe erfolgen sollte, die mit Hilfe chemischer Kenntnisse hergestellt werden, war 1609 an der Universität Marburg der weltweit erste Lehrstuhl für Chymiatrie gegründet worden, an dem Professor Johannes Hartmann pharmazeutisch- medizinische Chemie lehrte. Zwar war Anfang des 18. Jahrhunderts die Universität Marburg wegen der politischen Wirren nicht mehr ganz so berühmt, doch das Fachwissen war sicher nicht verloren gegangen. Auch wenn ihr als Frau der Zugang zur Universität verwehrt blieb, so würde sie doch, vertrauend auf ihren Charme, jene Leute kennen lernen können, von denen sie neues Wissen zu erlangen hoffte. Nachdem Birga ihre finanziellen Angelegenheiten in Brügge geregelt hatte, machte sie sich daher, ermutigt von den Gesprächen mit der Meisterin und ihren eigenen, für berechtigt gehaltenen Erwartungen auf die Reise.

Endlich erreichte die Postkutsche Aachen, wo Birga sich vor der Weiterreise einige Tage ausruhen wollte. Die alten, gotischen Viertel der freien Reichsstadt waren 1656 bei einer großen Feuersbrunst fast vollständig niedergebrannt. Inzwischen war Aachen neu erblüht und zum modernsten Badeort Europas geworden, wo so bedeutende Leute wie der Zar Peter der Große oder Georg Friedrich Händel zu Gast waren. Es kursierte zu jener Zeit der Spruch: „Was das Feuer zerstört, baut das Wasser wieder auf.“ Bei einem Bummel durch die mondänen neuen Viertel konnte sich Birga davon überzeugen. Der Kurbetrieb florierte. Berühmte Badeärzte kurierten nicht nur zahlungskräftige Patienten sondern konkurrierten vor allem mit- bzw. gegeneinander. Das gesellschaftliche Leben blühte in üppiger Pracht in den barocken Ballsälen, Spielbanken, Konzerthäusern und adeligen Villen. Man pflegte seine Leiden mit beinahe der gleichen Hingabe wie die Vergnügungen.

In den beiden Tagen ihres Aufenthaltes bekam Birga nur einen vagen Eindruck vom Leben in Aachen. Großes Interesse brachte sie dafür ohnehin nicht auf. Beeindruckt war sie nur vom Dom, der aus einer Pfalzkapelle Karls des Großen hervorgegangen war, und von der Adler-Apotheke im Coeberghischen Stockhaus, wo sie mit dem Apotheker ein langes, sehr informatives Gespräch über die Heilkraft und gebräuchlichsten Anwendungen des Wassers führen konnte. Als sie, den Kopf voll mit neuen Ideen, die Apotheke verließ, stieß sie mit einem Passanten zusammen, den sie kaum wahrnahm. Obwohl sich der Mann etwas umständlich aber höflich entschuldigte, merkte sich Birga sein Gesicht nicht. Alles, was ihr in Erinnerung blieb, war der Eindruck, dass der Mann völlig in Leder gekleidet war.

Eigentlich hätte Birga in Aachen eine eigene Mietskutsche nehmen wollen, nachdem die Reise im Postwagen bisher alles eher als bequem gewesen war, doch der Preis und die Tatsache, dass sie mit dem Kutscher ganz alleine am Weg gewesen wäre, hielten sie davon ab. Auch versicherte man ihr, dass zumindest die Verbindung bis Köln gut ausgebaut und der neue, große, modern gefederte Wagen äußerst angenehm wäre. Also setzte die Witwe Formesyn, wieder schwarz gekleidet und mit Schleier, ihre Reise am nächsten Tag doch in der Postkutsche fort. Ein dicker, älterer Priester, eine säuerlich blickende Gouvernante mit ihrem Schützling, einem etwa zwölfjährigen Knaben und ein Herr mittleren Alters, der, wie sich im Laufe der Fahrt herausstellte, als Bibliothekar in Köln arbeitete, waren ihre Mitreisenden. Kurz vor Abfahrt stieg noch ein Passagier zu, den zu ihrem Erstaunen Birga an seiner Kleidung erkannte. Es war der Mann in Leder.

Tatsächlich fuhr man in dem neuen Wagen und auf den einigermaßen ausgebauten Straßen etwas bequemer und rascher. Auch die Reisenden waren auf ihre Art angenehmer. Die Gespräche zeugten von einem gewissen Bildungsgrad, wovon vor allem der Knabe profitierte, der, auch wenn ihn seine Gouvernante immer mit dem gestrengen Verweis, die Leute nicht dauernd zu belästigen, zu bremsen versuchte, immer neue Fragen stellte, die zu beantworten sich die Erwachsenen bemüßigt fühlten. Nur Birga schwieg, hörte aber amüsiert zu.

Nach einiger Zeit und etlichen Meilen drehte sich das Gespräch um das Thema „Träume“.

„Aber“ so stellte der Knabe fest, „mir scheint es verschiedene Arten von Träumen zu geben, nicht wahr?“

„Wie meinst du das?“ fragte der Priester erstaunt.

„Nun ja“ sinnierte der Knabe. „Da gibt es die Träume, die uns in der Nacht heimsuchen, oftmals regelrecht überfallen, ohne dass wir uns dagegen wehren können. Seltsamer Weise sind, zumindest bei mir, diese Träume meist unangenehm oder aufregend oder unheimlich oder so etwas in der Art.“

Die Erwachsenen nickten zustimmend.

„.. und dann gibt es die Träume, denen wir uns in wachem Zustand hingeben. Diese sind eigentlich immer angenehm, wenn sie einen auch manchmal sehr traurig stimmen, weil man sie nicht wahr machen kann. Manche aber kann man wahr machen, wenn man sich sehr anstrengt.“

„Du bist ja ein richtiger kleiner Philosoph“ spöttelte der Bibliothekar.

„Aber es hat recht, das kleine Herrchen“ stimmte der Mann in Leder freundlich zu. Der Priester nickte, nur die Gouvernante konnte es sich nicht verkneifen, bissig zu erwidern: „Heute bist du wieder einmal neunmalklug!“, woraufhin der Junge eine Schnute zog und einige Zeit beleidigt schwieg. Schweigend saßen auch die Erwachsenen da und hingen ihren Gedanken nach. Schließlich aber nahm sich der Knabe wieder ein Herz und wandte sich an den Priester:

„Verzeiht, Hochwürden, dass ich Euch frage: wovon träumt Ihr, wenn Ihr Zeit dazu habt?“

Der Priester lächelte: „Wovon kann ein Priester schon träumen: von den Engeln, der bunten Schar der Heiligen, dem lieben Gott und dass er irgendwann in den Himmel kommt.“ „Schön“ meinte der Knabe, „nur ist es wahrscheinlich nicht ganz leicht, dieses Ziel zu erreichen!“

„Da hast du wohl recht, aber versuchen sollte man es!“ entgegnete der Priester freundlich. Dann wandte er sich an den Bibliothekar: „Unser kleiner Freund wird wohl von uns allen wissen wollen, wovon wir träumen. Ihr seid ein gelehrter Herr, was kann das Ziel Eurer Träume sein?“

Der Bibliothekar merkte, dass der geistliche Herr dem Knaben zuliebe das Gespräch aufrechterhalten wollte, ohne besonders belehrend zu sein. Er gab sich sehr geheimnisvoll, als er fast flüsternd antwortete:

„Du weißt, dass ich viel mit alten Büchern und Handschriften zu tun habe. Da sind nicht selten Geheimnisse darin versteckt. Ich träume davon, einmal eine echte Schatzkarte zu finden und dann einen großen Schatz heben zu können.“

„Oh ja! Das wäre ja toll! Ich würde Euch gerne helfen, den Schatz zu heben!“ jubelte der Knabe.

„Würdest du auch mir helfen, meinen Traum zu verwirklichen?“ fragte der Mann im Ledergewand.

„Wenn es etwas ist, was ich kann, gerne!“ entgegnete der Junge.

„Nun, ich habe, wie du siehst, sehr viel mit Leder zu tun. Mein Traum wäre es, eine Methode zu finden, himmelblaues Leder herzustellen – wirklich himmelblaues, nicht so blassfarbenes, wie es schon gibt.“

Die Mitreisenden lächelten, der Knabe sah den Mann aus ungläubigen Augen an.

„Meint Ihr das ernst?“ fragte er.

„Na klar, mein Junge! Frag nur die werten Damen! Die kennen sich mit modischen Dingen sicher ganz gut aus und werden dir bestätigen, dass es kein wirklich himmelblaues Leder gibt!“

„Pah“ rief der Junge verächtlich, „Mademoiselle Jeanette hat von Mode keine Ahnung! Sie trägt die Kleider, die meine Mutter nicht mehr mag und die schwarze Dame ist sicher schon zu alt, um etwas von Mode zu verstehen!“

Die Gouvernante lief dunkelrot an und zischte wütend: „Du bist ganz unmöglich! Sei nun endlich still und benimm dich!“ Für Birga war es jetzt an der Zeit, in das Gespräch einzugreifen, weil sie Gefallen sowohl an dem Kind als auch an dem Gesprächsthema gefunden hatte. Sie schlug den schwarzen Schleier zurück, beugte sich zu dem Knaben, ohne darauf zu achten, dass die Mitreisenden sehr erstaunt waren.

„Glaubst du wirklich, dass ich schon zu alt bin, um noch mit der Mode gehen zu können?“

Der Knabe schüttelte beschämt den Kopf.

„ .. und selbst, wenn ich es wäre, dann würde ich mich doch aus meiner Jugend daran erinnern, was für schöne Dinge es für uns Damen gibt. Aber nun bist du an der Reihe, uns zu verraten, wovon du träumst!“

„Gerne“, erwiderte der Junge, neu ermutigt, das Gespräch fortzusetzen. „Aber vielleicht wäre es noch besser, Madame, wenn Ihr uns zuerst von Euren Träumen erzähltet?“ Wieder wollte die Gouvernante ihren Schützling einbremsen, Birga aber fiel ihr ins Wort:

„Lasst doch der kleinen Neugiernase die Freude, Mademoiselle! Es ist ein gutes Zeichen, wenn Kinder wissbegierig sind!“

„Wissbegierde ist nicht Neugier!“ brummelte das Fräulein, aber Birga beachtete sie nicht sondern begann, von ihrem Traum zu erzählen:

„Weißt du, dass es sehr viele Pflanzen gibt, aus denen man Medizinen gewinnen kann?“

Der Knabe nickte.

„Ich träume davon, einen riesigen Garten zu besitzen, in dem alle diese wundersamen Kräuter, Blumen und Bäume wachsen, aus denen ich dann Medizin gegen die vielen Leiden der Menschen machen könnte!“

„Ein schöner Traum!“ bestätigte der Priester, und die anderen Mitreisenden nickten beifällig. Der Knabe aber stellte fest:

„Da träumt Ihr ganz ähnliche Dinge wie ich, Madame! Ich träume nämlich davon, einmal ein berühmter Arzt zu werden, der alle Krankheiten heilen kann! Vielleicht können wir uns zusammentun und gemeinsam an die Erfüllung unserer Träume gehen!“

Auch wenn die Mitreisenden über den Eifer des Jungen lächelten, bewunderten sie insgeheim die große Ernsthaftigkeit, die das Kind an der Schwelle zum Erwachsen werden an den Tag legte, als es, quasi als Konklusion der vorangegangen Gespräche vorschlug:

„Vielleicht sollte man unsere Träume besser Hoffnungen und Wünsche nennen! Dann könnten wir sie mit ein bisschen Glück und Fleiß sogar Wirklichkeit werden lassen, oder?“

Die Frage blieb im Raum stehen, da die Postkutsche in die nächste Station einlief, an der der Knabe mit seiner Gouvernante ausstieg.

Abends erreichte die Kutsche die Poststube in Köln, eine der ältesten Stationen in Deutschland, die bereits im Jahre 1516 von Franz von Taxis gegründet worden war. Birga Formesyn quartierte sich in einem Gasthof in der Nähe des Domes ein. Bevor sie sich zum Abendessen in die dunkle Gaststube begab, wollte sie sich noch ein wenig die Füße vertreten und frische Luft schnappen. Langsam schlenderte sie über den Domplatz. Bewundernd sah sie am unfertigen Turm den mächtigen Baukran mit den Treträdern, der allerdings schon lange außer Betrieb war. Schon 1510 war der Bau eingestellt worden und seither spöttelte man, dass bestimmt die Fertigstellung des Bauwerks mit dem Untergang der Welt zusammenfallen würde. Irgendwie bedauerte Birga, dass der Bau nicht vollendet worden war, obwohl natürlich der gotische Stil nicht mehr der Mode entsprach. Die Reliquien der Heiligen Drei Könige hätten allerdings ihrer Meinung nach schon ein fertiges Gotteshaus verdient, zumal Köln keine arme Stadt war. Selbst der Dreißigjährige Krieg hatte ihr nichts anhaben können, weil die Kölner klug genug gewesen waren, sich mit den Truppen gut zu stellen, sich mit gelegentlichen Geldzahlungen freizukaufen und gleichzeitig durch Waffenproduktion und -handel nicht schlecht daran zu verdienen.

Am frühen Abend war die Gaststube fast leer. Nur zwei Tische waren besetzt. An einem saß der Mann in Leder, der sich sofort erhob, als Birga eintrat, sich verbeugte und sie höflich bat, an seinem Tisch Platz zu nehmen. Birga zögerte nur kurz, dann beschloss sie, ihre strenge Zurückhaltung endlich aufzugeben. Im Grunde war es ihr längst langweilig geworden, die Unnahbare zu spielen und immer isoliert zu sein. Also bedankte sie sich mit einem Lächeln und setzte sich.

Die Bedienung war sehr flott. Schon nach kurzer Zeit brachte der Wirt mehrere Schüsseln mit gebratenem Fleisch, Gemüse und Eiern. Dazu gab es duftendes warmes Brot. Eine kesse Kellnerin in einem ziemlich tief dekolletierten Kleid kredenzte süßen Wein. Birga hob ihren Becher und prostete ihrem Tischnachbarn zu: „À la vộtre santé, Monsieur, auf Eure Gesundheit, und dass sich unsere Träume erfüllen mögen!“

„Oh, Ihr spielt auf das nette Gespräch mit dem jungen Herrchen in der Kutsche an! Nun denn: auf unsere Gesundheit und unsere Träume!“ erwiderte ihr Tischherr. Dann aber erhob er sich mit einem Gesicht, das größtes Bedauern ausdrückte. „Ihr verzeiht, dass ich so ungehobelt bin. Ich habe es sträflicher Weise verabsäumt, mich vorzustellen. Was müsst Ihr von mir denken?“

Birga grinste kokett. „Nicht das Beste, Monsieur, aber beruhig Euch – wir können das gegenseitige Vorstellen ja nun nachholen. Also: Ihr zuerst aber schnell, damit das herrliche Essen nicht kalt wird!“

„Zu gerne! Mein Name ist Johann Ledermaier- ja, lacht nur: es ist so: nomen est omen. Ich lebe mehr oder weniger davon, dass ich mich mit Leder gut auskenne!“

„Schön, schön“, unterbrach ihn Birga, „Das könnt Ihr mir alles später erzählen. Nun setzt Euch doch und esst. Ich bin übrigens die Witwe Birga Formesyn aus Antwerpen, nunmehr wohnhaft in Brügge, wenn es genehm ist, und ganz undamenhaft hungrig, wenn es euch genau interessiert. Bon Appétit, Monsieur!“

Ledermaier war verblüfft, mehr noch aber entzückt über den legeren Ton, den die bisher so unnahbar scheinende Dame an den Tag legte. Dass ein Frauenzimmer ihm, dessen Ruf es war, ein Meister des Wortwitzes und des Charmes zu sein, so rigoros den Wind aus den Segeln nahm, imponierte ihm gewaltig. Er gehorchte ihrer Aufforderung, ertappte sich jedoch dabei, dass er die Frau während des gemeinsamen Mahles immer wieder erstaunt beobachtete. Diese Birga Formesyn unterschied sich deutlich von all jenen Damen oder auch Nichtdamen, die er bisher kennen gelernt hatte.

Das Gespräch zwischen den beiden plätscherte in aller Fröhlichkeit dahin, ohne ernsthafte Themen zu berühren. Beide lobten die Küche, sprachen dem vorzüglich mit Zimt, Nelken und Kardamom gewürzten Wein recht ausgiebig zu und genossen die belanglose Unterhaltung, in der jeder von sich erzählte, ohne jedoch Wesentliches preiszugeben. Es war schon spät, als Birga ihre behandschuhte Rechte auf Ledermaiers Arm legte und ihn ernsthaft fragte: „Monsieur, Ihr habt dem Jungen in der Kutsche ein hübsches Märchen vom blauen Leder erzählt. Ihr wolltet wohl auf keinen Fall Eure wahren Träume preisgeben, oder?

Ledermaier schüttelte stumm den Kopf.

„ .. und mir könnt Ihr sie auch nicht verraten?“

Ledermaier erhob sich. Birga fürchtete schon, ihn beleidigt zu haben, da beugte er sich über den Tisch und begann zu reden.

„Doch, Madame, Euch könnte ich meinen Traum verraten – nur – ich weiß nicht, wie ich beginnen soll.“ Nach einer kurzen Pause fuhr er fort: „Seht, ich liebe das Leder. Das Gefühl, die Haut eines anderen Lebewesens zum Schutze der eigenen zu tragen, hat mir schon als Kind eine gewisse Sicherheit gegeben. Ich habe daher immer einen Beruf erlernen wollen, der mit Leder zu tun hat. Zunächst wurde ich Schuhmacher, dann ging ich bei einem Handschuhmacher in die Lehre, arbeitete einige Zeit bei einem Kürschner, dann bei einem Sattler und zuletzt bei einem Täschner: überall lobte man meine Begabung, mit Leder umzugehen, es zu gestalten, zu bearbeiten, kunstvoll zu verzieren, neue Methoden der Bearbeitung zu erfinden – aber überall war ich von den Meistern abhängig. Schließlich wurde ich so etwas wie ein Wandergeselle, ohne jedoch die strengen Auflagen der Zunft – welche hätte ich denn schon wählen sollen – zu erfüllen. So ziehe ich von Stadt zu Stadt, von Schloss zu Schloss, von Gutshof zu Gutshof: überall wird von Zeit zu Zeit jemand gebraucht, der sich mit Leder auskennt. Vor allem die Damen schätzen meine feinen Lederwaren und fliegen auf die zierlichen Schühchen, die ich sozusagen als Störschuster für die zarten und auch weniger zarten Füßchen der Frauen herstelle. Und wenn ich gar keine Arbeit mehr finde, dann spiele ich hin und wieder den Troubadour und singe den Damen zweideutige Lieder. Ihr lächelt, Madame? Ja, ja, ich weiß, die hohe Zeit der Minnesänger ist längst vorbei! Aber glaubt mir, auch die heutigen modernen und aufgeschlossenen Damen sind für Schmeicheleien in musikalischer Form sehr empfänglich. Dafür zahlen sie mich meist besser als für die Schuhe!“ Er machte eine kurze Pause, seufzte tief, als würde ihn sein Dasein schmerzen und fuhr fort: „Ich sehe schon, Ihr seid erstaunt, wenn nicht gar entsetzt: ja, Madame, ich bin ein Filou und lebe davon. Mein Ruf als Lederfachmann ist gut, der als Frauenheld noch besser, doch bringt mich das alles meinem Traum nicht näher!

„Was ist nun eigentlich Euer Traum?“ drängte Birga.

„Eine eigene Werkstatt, in der ich arbeiten und experimentieren kann, frei von dem Zwang, jemandem zu Diensten sein zu müssen. Frei zu sein, versteht ihr, frei zu sein, das zu tun, was das Herz und der Kopf sich wünschen! Aber auch wenn ich sehr fleißig bin, wird mein Geld nie dafür reichen, abgesehen davon, dass die Zünfte kleinen Handwerkern jede Menge Schwierigkeiten machen.“

Er schwieg. Birga senkte, betroffen von dem mit heftiger Emotion hervorgebrachten Wunsch den Blick und überlegte fieberhaft, welche Antwort sie dem Manne geben könnte. Hatte er nicht etwas ausgesprochen, das auch sie insgeheim wünschte? Frei zu sein von äußeren Zwängen, um seinem Innersten eine Chance zu geben? War dieser Wunsch vermessen? Vielleicht ja, vielleicht nein – sie wagte nicht zu entscheiden.

Nach einer Weile, als das Schweigen zwischen ihnen fast unerträglich geworden war, seufzte Ledermaier: „Jetzt seid Ihr entsetzt!“

Birga schüttelte den Kopf. „Nein, Monsieur Ledermaier! Ganz im Gegenteil! Ihr habt Dinge gesagt, die ich selbst schon viel zu oft gedacht habe!“

„Ihr auch? Aber Ihr träumt doch auch von etwas ganz Irrealem, wenn das stimmt, was Ihr dem Jungen erzählt habt! Ein Garten voller Heilpflanzen! Wie wollt Ihr das bewerkstelligen?“

Birga zuckte mit der Schulter, machte aber auf Ledermaier durchaus den Eindruck, als sähe sie einen Weg.

„Jetzt passt einmal gut auf, Monsieur! Ich bin auf dem Weg nach Marburg, um dort ein Erbe zu übernehmen, und zwar, man höre und staune, einen riesigen Garten. Ich habe das Anwesen zwar noch nicht gesehen, aber die Beschreibung davon gibt mir Hoffnung, dass es meinen Vorstellungen entgegenkommt. Dann werde ich daran gehen, meinen Traum wahr zu machen!“

„Ihr habt es gut“, beneidete Ledermaier sie.

Birga lächelte. „Ihr vielleicht auch! Es ist zwar für eine Dame äußerst ungehörig, einen fremden Herrn um seine Begleitung zu bitten, aber genau das tue ich hiermit. Reist mit mir nach Marburg, wenn Ihr keine anderen Pläne habt! Selbst wenn ich Euch keine Werkstatt versprechen kann, so denke ich, dass wir Spaß hätten, und Euer Schaden wird es nicht sein, denn die Reisekosten gehen auf meine Rechnung! Kommt, kommt, schaut nicht so verdutzt und schlagt ein! Was glaubt Ihr, um wie viel besser mein Stand ist, wenn ich in Begleitung eines männlichen Schutzes auftrete!“

Nachdem die Querverbindung mit Postkutschen von Köln nach Marburg äußerst umständlich gewesen wäre, beauftragte Birga ihren neuen Begleiter am nächsten Morgen, einen Wagen samt Kutscher und Pferdeknecht zu mieten. Birga Formesyn war schließlich wohlhabend genug, ließ aber Ledermaier über ihre genaue Herkunft und ihre finanziellen Verhältnisse vorsichtshalber im Unklaren. Sie fand ihn zwar umwerfend charmant, liebenswürdig, klug und interessant, doch so dumm, sich ihm auszuliefern, war sie nicht. Seinen diesbezüglichen Fragen wich sie mit viel Witz geschickt aus.

Nach knapp drei Tagen erreichten sie den Brückenvorort Weidenhausen am linken Lahnufer vor den Toren Marburgs. Der kleine Ort war berühmt für seine Gerbereien. Birga schlug Ledermaier vor, sich hier ein paar Tage umzusehen, um eventuell neue oder andere Methoden der Ledererzeugung kennen zu lernen. Sie selbst würde in Marburg im Gasthof „Sonne“ am Fuße der Festung logieren, wo sie ihn in zehn Tagen erwarten würde, um ihm den Stand der Dinge mitzuteilen. Ledermaier war sich im Klaren darüber, dass Frau Formesyn lieber alleine ihre Erbschafts-Angelegenheiten regeln wollte und blieb in Weidenhausen zurück. Mit gespaltenen Gefühlen sah er der Kutsche nach, die schwankend über die alte, seit 1250 bestehende Weidenhäuser Brücke davon rollte.

Die Häuser der Stadt drängten sich krumm, bucklig und schief unter dem Burgberg. Im Jahre 1128 hatte die später heiliggesprochene Elisabeth von Thüringen die Burg zu ihrem Witwensitz gewählt. Ihr hatte man auch die schöne, gotische Elisabethkirche geweiht, deren Bau auf Anordnung des Deutschen Ritterordens begonnen wurde. Das Marburger Schloss ging auf eine Burggründung im 11. Jahrhundert zurück, war unter den Landgrafen von Thüringen ausgebaut, im späten 13. Jahrhundert mit spätgotischen Umbauten ergänzt, in der Renaissance um die Rentkammer erweitert und schließlich war nach dem dreißigjährigen Krieg das Notwendigste saniert worden. Seit 1700 wurde auf der Burg wieder in größerem Umfang gebaut, um einer neuerlichen Einnahme, wie seinerzeit durch die Truppen unter dem Feldherrn Tilly entgegenwirken zu können.

Die meisten Häuser im ältesten Teil der Stadt waren Fachwerkbauten, zum Teil ganz schmal, zum Teil recht behäbig wie der Gasthof „Sonne“, wo Frau Formesyn Aufenthalt nahm. Gleich am nächsten Morgen begab sie sich in die Kanzlei des Notarius Emmerich Kohler, Doktor der Jurisprudenz, der auch an der von Landgraf Philipp, dem Großmütigen gegründeten, ersten protestantischen Universität lehrte. Der kleine, weißhaarige Herr empfing seinen Besuch herzlich.

„Welch freudige Überraschung, Euch schon so bald hier zu sehen! Tretet näher, hier ans Licht! Ich muss mir doch die Dame genau ansehen, die mein Freund und Klient Carolus Vandenhoolst für würdig befunden hat, ihn zu beerben! Ihr müsst bei ihm einen ganz besonderen Stein im Brett gehabt haben! Immer wieder hat er betont, was für ein herzallerliebstes Geschöpf seine Nichte ist. Nun, lasst mich sehen!“

Birga lief puterrot an und wusste nicht, was sie sagen sollte. Als sie auf einer Bank im Erker der Kanzlei Platz genommen hatte, stammelte sie:

„Ich weiß überhaupt nicht, wie Ihr auf die Idee kommt, dass Onkel Carolus besonders viel für mich übrighatte. Ich habe ihn doch nur ein einziges Mal in meinem Leben gesehen…“ „Ja, ja, ich weiß“, unterbrach der Notarius, „Carolus hat mir alles ganz genau erzählt. Das war, als eure Mutter, seine einzige Schwester, so plötzlich verstorben ist.“

„Er hat es nicht geschafft, rechtzeitig zum Begräbnis zu kommen. Damals lebte er, soviel ich weiß, in Prag. Ich stand selbst noch sehr unter dem Schock des Verlustes meiner Mutter, aber sogar mir, dem elfjährigen, tieftraurigen Mädchen, schien es unglaublich, dass ein erwachsener Mann so bitterlich weinen und klagen konnte. Onkel Carolus stand am Grab und hörte nicht auf, laut zu schluchzen, und ich wusste nicht, wie ich ihm helfen könnte…“

„… und doch wusstet Ihr es!“

„Ich wusste es? Aber ich habe doch nur das heruntergebetet, was mir alle anderen Verwandten, Trauergäste und sonstigen Leute, mit denen ich zu tun hatte, eingetrichtert haben!“

„ .. und das war wohl genau das Richtige: Ihr stelltet Euch auf die Zehenspitzen, legtet Eure kleine feuchte Mädchenhand auf Eures Onkels Tränen überströmte Wange und sagtet: aber sie ist doch jetzt im Himmel, und dort sind alle glücklich!“

„Das hat euch mein Onkel erzählt?“ Birga traten die Tränen in die Augen.

„Ja, das hat er erzählt! Aber es gibt noch einen weit prosaischeren Grund, dass er Euch zur Erbin erklärt hat. Es gibt nämlich keine anderen näheren Verwandten mehr. Seine Frau und ihre Verwandtschaft sind samt und sonders bei der letzten Pestepidemie in Preußen ums Leben gekommen. Das Haus an der Lahn steht schon seit ein paar Jahren leer. Carolus selbst ist in Prag verstorben. Sein dortiges Stadthaus hat er seiner letzten Lebensgefährtin vermacht, aber für den großen Garten hat der leidenschaftliche Botaniker jemanden haben wollen, der das „Grünzeug“, wie ich es immer nannte, um ihn ein bisschen zu necken, schätzen würde.“

„Aber woher wusste Onkel Carolus, dass ich mich für Pflanzen interessiere? Wir haben in Antwerpen und in Brügge seit Jahren nichts mehr von ihm gehört. Als mein Vater noch lebte, kam ab und zu Post, aber das ist sicher bald zehn Jahre her.“

„Mein Freund Carolus war ein kluger, vorausschauender Mann. Er hat, auch wenn Ihr davon nichts gemerkt habt, Eure Entwicklung stets sehr genau im Auge behalten. Er hatte da so seine Quellen!“

Birga schüttelte ungläubig den Kopf: “Das ist ja alles nicht zu fassen! Und schreibt mein Onkel in seinem Testament womöglich auch, dass ich nun in seine botanischen Fußstapfen treten soll?“

„Nicht direkt, aber er gibt seiner Hoffnung Ausdruck, dass ihr wie er in dem Grünzeug mehr sehen könnt als ich alter verzopfter Jurist, oder die meisten Leute überhaupt!“

Birga erhob sich, trat an das mit grünlichen Butzenscheiben verglaste Erkerfenster, hinter dem die Welt eigentümlich verzerrt aussah, atmete tief durch und wandte sich dann dem Notarius wieder zu:

„Alles in allem scheint mir das Testament meines Onkels nicht nur ein materielles, sondern vor allem ein geistiges Vermächtnis zu enthalten, das anzunehmen ich von ganzem Herzen bereit bin. Wenn mein Onkel die Bedeutung der Pflanzenwelt so hochgeschätzt hat, dann betrachte ich es als meine oberste Aufgabe, in seinem Sinne weiterzuwirken!“

„Braves Mädchen!“ lobte der Jurist, „mein Adlatus soll gleich einen Wagen kommen lassen, damit wir den Ansitz besichtigen können. Inzwischen erledigen wir hier noch ein paar Formalitäten!“

Das Anwesen lag wenige Meilen westlich von Marburg am Fuße des Marburger Rückens, an dessen sanften Hängen sich das große Grundstück einige hundert Klafter hinaufzog. Zur Straße hin, die hier dem Fluss folgte, war es mit Birken eingefasst, an der rechten Seite bildete ein kleiner Bach die Grenze zur freien Landschaft, linker Hand wuchsen alleeartig Apfel- und Birnbäume, deren Linie in das Wäldchen am oberen Ende des parkähnlichen Grundstückes mündete. Das Haus war, wie in dieser Gegend üblich, eine einstöckige Fachwerkkonstruktion, jedoch nicht mit Reet sondern mit Schiefer gedeckt, was dem Bau bei schlechtem Wetter von außen etwas Düsteres, allzu Schweres verlieh.

Frau Formesyn betrat das Haus mit gemischten Gefühlen. Es erschien ihr übermäßig groß, ebenso wie das Grundstück. Sie würde viele helfende Hände brauchen, um diese Liegenschaft bewirtschaften zu können. In dem Gebäude, das lange leer gestanden hatte, roch es nach abgestandener Luft und alten Gegenständen, doch schien es trocken und in gutem Zustand zu sein. Im vorderen Teil befanden sich zwei große, leere Räume, die einst als Wohnräume gedient haben mochten. Links und rechts des Flurs schlossen zwei Kemenaten an, in denen noch allerlei Gerümpel lagerte. Die große, mit einem gewaltigen Spülstein und einem noch imposanteren Herd ausgestattete Küche im hinteren Teil des Hauses begeisterte Birga. Von dort trat man, geschützt durch einen kleinen Windfang direkt hinaus in den Garten, in dem der Wildwuchs wohl schon einige Jahre fröhliche Urstände feierte. Trotzdem konnte man noch erkennen, wo einst ein Kräutergarten, die Gemüsebeete und eine Rosenrabatte angelegt waren. Birga war sofort in diese Wildnis verliebt. In ihrem Kopf türmten sich bereits die Ideen, wie sie hier wirtschaften würde. In den oberen Stock führte eine schmale Treppe, die auf einen Trockenboden mündete, der eine Hälfte des Hauses einnahm. Die andere Hälfte des Obergeschoßes war ausgebaut und enthielt zwei geräumige Schlafkammern mit Alkoven.

Zurück in der Kanzlei des Notarius Kohler, beteuerte Frau Formesyn ihre Bereitschaft, das Anwesen zu übernehmen mit großem Enthusiasmus. Der Jurist gab allerdings zu bedenken, dass es für eine Frau alleine überaus schwierig werden könnte.

„Ja, wenn Ihr verheiratet wärt, dann sähe die Sache schon einfacher aus! Glaubt Ihr, dass ihr verlässliche Leute finden könnt, die Euch helfen werden? Wahrscheinlich wäre es das Beste, Ihr bringt aus Brügge oder Antwerpen Hilfskräfte her, die Euch schon vertraut sind!“

In Birgas Kopf hatte sich jedoch schon eine Lösungsidee festgesetzt, über die sie aber mit dem Notarius vorerst noch nicht reden wollte. Sie würde selber noch ein paar Tage brauchen, um sich über ihre Zukunft klar zu werden. Auch wollte sie noch einmal alleine und in Ruhe das Anwesen in Augenschein nehmen, um ihre Vorstellungen und Ideen zu überprüfen. Die nächsten vier Tage benützte sie daher, um jeweils schon am Morgen hinauszufahren, den ganzen Tag über das Gelände und durch das Haus zu streifen und Pläne zu machen. Sie ertappte sich dabei, dass sie stumme Zwiesprache mit ihrem verstorbenen Onkel hielt, so als könnte sie dadurch seinen Geist dazu bewegen, ihr mit Ratschlägen beizustehen. Sie war sich dessen bewusst, dass hier eine riesige Aufgabe auf sie wartete. Und noch etwas war ihr bewusst – alleine konnte sie nicht bleiben.

Am Abend des fünften Tages suchte Frau Formesyn noch einmal den Notarius auf, um mit ihm über ihre Pläne und viele damit verbundene Fragen und Einzelheiten zu sprechen. Mehrmals schüttelte der alte Herr seinen Kopf, brachte Einwände rechtlicher oder wirtschaftlicher Art, aber im Großen und Ganzen teilte er Birgas Ansicht, dass das Anwesen seines Freundes Carolus Vandenhoorst genau das war, was diese junge Frau brauchte, um ihren Lebenstraum zu erfüllen.

Wie vereinbart betrat Johann Ledermaier am zehnten Tag, nachdem er in Weidenhausen aus der Kutsche gestiegen war, den Gasthof „Sonne“. Er fand Frau Formesyn im Gastgarten, auf dem Tisch vor sich Stöße von Büchern und Plänen. Sie schien äußerst beschäftigt und sah erst auf, als sein Schatten auf das Blatt Papier fiel, das übersaht war mit Zahlenkolonnen und Notizen.

„Ihr seid schwer beschäftigt! Da störe ich wohl?“ fragte Ledermaier indigniert. Birga schüttelte den Kopf, wies ihm lächelnd den Platz neben ihr an und legte die Feder aus der Hand.

„Nein, Monsieur Ledermaier, Ihr stört mich nicht. Schön, Euch wieder zu sehen. Ich hoffe, Ihr habt die Tage angenehm und nützlich verbracht! Gibt es Neues bei den Gerbern?“

„Nicht, dass ich wüsste! Hier wird nach althergebrachten Methoden gearbeitet – nicht schlecht, aber auch in keiner Weise sensationell. Und Ihr? Hattet Ihr Erfolg?“ wollte er wissen.

Birga lehnte sich zurück und tat so, als wäre ihre Angelegenheit völlig nebensächlich. „Ja, ja, Monsieur, man kann zufrieden sein, aber das erzähle ich Euch vielleicht später. Im Moment ist alles noch viel zu kompliziert, um sich darüber den Kopf zu zerbrechen. Lasst uns lieber den schönen Tag genießen. Der Wirt soll einen Krug von seinem köstlichen Wein bringen, und wir plaudern so unbeschwert wie auf der Herfahrt. Das ist sicher viel erfreulicher als über ungelegte Eier zu gackern!“

„Es ist also nichts mit Eurem Traum?“ mutmaßte Ledermaier. Er sah sehr enttäuscht aus. Birga zuckte mit den Schultern: „Noch ist nichts entschieden – aber wer weiß?“ Dann erzählte sie ein wenig von dem Anwesen, davon, welche Sehenswürdigkeiten sie in Marburg schon besucht hatte und dass ihr neuer Freund, der Notarius Kohler, ihr aus der Universitätsbibliothek einige Bücher besorgt habe, damit sie die Zeit bei angenehmer Lektüre verbringen konnte.

„Der liebe Doktor Kohler ist übrigens mit einer bezaubernden jungen Frau verheiratet, 14 Jahre jünger als er – stellt Euch das vor!“ erwähnte Birga so en passant. „Ihr seid wohl nicht verheiratet, Monsieur?“

Ledermaier schüttelte den Kopf. „Natürlich nicht! Bei meinem Lebenswandel wäre das auch nicht leistbar … „und“ ergänzte er nach einer kurzen Pause, „auch nicht sehr anständig einer Frau gegenüber. Ich bin kein Kostverächter, das gebe ich gerne zu!“

„Ihr würdet es also mit der ehelichen Treue nicht sehr genau nehmen, wenn ich Euch recht verstehe?“ Birgas Lachen klang ein bisschen frivol, fand Ledermaier, der sich, wie schon manches Mal in der kurzen Zeit ihrer Bekanntschaft, über das Verhalten dieser Frau wunderte.

„Wahrscheinlich bin ich ein wenig freizügig in meinen Ansichten, aber wenn ich mir so eine Ehe vorstelle, die aus materiellen Gründen geschlossen wurde – eine Zweckehe, wie es so viele sind - dann könnte ich durchaus verstehen, dass der Mann ein wenig Vergnügen woanders sucht als bei seiner Geldkatze. Was denkt Ihr so über Zweckehen? Würdet Ihr eine Schreckschraube heiraten und Euren ehelichen Pflichten nachkommen, wenn Ihr Euch dafür andere Wünsche erfüllen könntet?“

Ledermaier schaute sie fragend an, stellte aber fest: „Zweckehen sind oft auf lange Sicht besser als Liebesehen – so wird jedenfalls behauptet. Für mich hat die Sache nur einen großen Fehler!“

„… und der wäre…?“ wollte Birga wissen.

„Ich verkehre nicht in diesen Kreisen, wo solche Ehen geschlossen werden und ich kenne keine reiche Geldkatze - nicht einmal ein Kätzchen, bei dem ich mein müdes Haupt auf das seidene Kissen legen könnte!“

„Olalà, Monsieur – Ihr seid ja richtig sarkastisch! Höre ich da eine gewisse Enttäuschung heraus? Oder gar einen Anflug von Hoffnungslosigkeit?“

Mit einer heftigen Bewegung leerte Ledermaier seinen Becher, ehe er antwortete: „So ist es, meine Gnädigste, ganz genau so ist es!“ Er wollte aufstehen, aber Birga hielt ihn am Arm zurück.

„Nicht so hastig, Johannes Ledermaier! Ihr behauptet, keine solche Dame zu kennen. Nun gut, es mag ja sein, dass Ihr in diesen Dingen nicht so versiert seid! Aber ich versichere Euch: ich kenne eine und Ihr auch!“

Ledermaier schaute Birga fassungslos an. „Ihr kennt eine und ich auch – wie soll ich das verstehen? Wer ist diese ominöse Person? Ihr treibt Scherz mit mir, oder?“

„Aber nein, Monsieur! Ich würde niemals so plumpe Scherze mit einem Manne treiben, der mir seine geheimsten Träume anvertraut hat!“

Ledermaier blickte betreten zu Boden. Er wusste nicht, was er denken sollte. Birga erhob sich und bat:

„Reicht mir den Arm und lasst uns ein paar Schritte tun. Ihr könnt mir glauben, dass es mir nicht ganz leichtfällt, Euch den Namen der bewussten Dame zu nennen!“ Birga war bis zu den Haarwurzeln rot geworden und kleine Schweißperlen standen auf ihrer Stirn, denn die außergewöhnliche Situation machte ihr trotz ihres starken Selbstbewusstseins gehörig zu schaffen. Sie war auf dem Weg - das war ihr bewusst- sich über sämtliche Konventionen hinweg zu setzen. Ledermaier stand auf, nahm sie bei der Schulter und sah ihr in die Augen:

„Ihr?“ fragte er heiser. Birga nickte. „Ja, Monsieur Johannes Ledermaier: ich, die ehrbare Witwe Birga Veronika Formesyn!“

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Kapitel 2:

1733 – 1742: In und um Marburg

Die Ehe Birgas mit Johannes Ledermaier gestaltete sich dank eines von Notarius Kohler ausgeklügelten, sehr differenzierten Ehevertrages sehr effizient. Jedem Partner waren genaue Tätigkeitsbereiche, Pflichten und Rechte zugeteilt. Während Birga sich hauptsächlich dem Aufbau ihres Garten widmete, wozu sie im Laufe des ersten halben Jahres bereits aus der nächsten Umgebung vier Mägde für den Gartenbau und zwei Knechte für die schweren Grabungs- und Rodungsarbeiten gewinnen konnte, richtete sich Ledermaier in einem der vorderen großen Räume mit anschließender Kemenate, wo er schlief, eine für damalige Verhältnisse sehr moderne Werkstatt ein, wo er bald nicht nur experimentierte, sondern allerlei Lederwaren erzeugte, hübschen kleinen Schickschnack in bunten Farben wie Täschchen, Beutelchen, Kästchen, Buchhüllen, Gürtel, Lesezeichen und vieles mehr, was bei den Damen Marburgs guten Absatz fand. Viel Zeit verbrachte er aber auch in geselliger Runde in den Gasthöfen der Stadt oder in der nahe gelegenen Waldschänke. Ein fröhlicher Typ, der stets zu Scherzen aufgelegt war, wurde überall gerne gesehen. Lediglich das Handwerk des Schuhmachers durfte er wegen des Einwandes der Zunft, er sei kein Meister, nicht offiziell ausüben. Der Zunftzwang bestand zwar nicht für Kleingewerbetreibende außerhalb der Stadt, doch wäre aus Ärger über die Entscheidung des Innungsmeisters die Zusammenarbeit mit Birga beinahe geplatzt.

„Ich lasse mich doch nicht schon wieder meiner Freiheit berauben!“ tobte Johannes, als er das Schreiben der Innung in der Hand hielt. „Ich gehe fort aus diesem total verblödeten Land mit seinen verbohrten Spießbürgern und antiquierten Vorschriften! – Ich gehe! In Amerika kann ich tun und lassen, was ich will!“

„Jetzt schütte doch nicht gleich das Kind mit dem Bade aus!“ versuchte Birga zu beschwichtigen. „Du tust gerade so, als sei das Nähen von Schuhen für die Käsefüße anderer Leute das A und O der Welt! Du machst doch ohnehin viel lieber andere Dinge – und die machst du auch noch viel schöner als die dummen Schuhe, weil deiner Phantasie keine Grenzen gesetzt sind! Sollen doch die sturen Marburger ihre groben Treter weiterhin tragen und wie Elefanten durch ihre steilen Gassen trampeln!

„Du hast ja recht“ gestand Johannes ein, nahm Birga in den Arm und flüsterte mit einer Zärtlichkeit, die Birga sehr berührte: „Du bist nicht nur mein herzallerliebstes Geldkätzchen – du bist die klügste und vernünftigste Frau, die mir je begegnet ist!“

Birga kuschelte sich an ihn: „Ja, leider!“ erwiderte sie leise, „leider bin ich so verdammt vernünftig, dass ich mich manchmal selber ohrfeigen könnte – Scheiß Vertrag!“ Sie machte sich los, aber Johannes hatte längst bemerkt, dass Birga für ihn weit mehr empfand als zwischen zwei Vertragspartnern auf wirtschaftlicher Ebene erwartet werden konnte. Er hielt sie an der Hand fest und sah sie fragend an: „Birga? Wie meinst du das? Soll ich doch aus dem Vertrag aussteigen und gehen?“

In Birgas Augen blitzte der Zorn. Sie stampfte mit dem Fuß und rief völlig außer sich: „Nein, nein und nochmals nein, du verdammter Eisblock! Ich will dich!“ Dann riss sie sich los und flüchtete in den Garten.

Kamille, Baldrian und Salbei, die ersten Pflanzen, die sie kultiviert hatte, standen in voller Blüte und dufteten in der heißen Sommersonne. Die Blüten der Kamille waren bereits zur Ernte bereit. Der beste Zeitpunkt dafür lag zwischen dem dritten und fünften Tag des Erblühens. Im kommenden Herbst würde sie auch schon einige andere Kräuter ernten können. Die beiden Apotheken der Stadt hatten ihr die Abnahme der Kräuter zugesichert, sofern sie qualitativ entsprachen, und das würden sie dank des guten Wetters in diesem Jahr. Auch in den Versuchsbeeten mit exotischeren Pflanzen war schon einiges im Kommen. Birgas Interesse lag allerdings im Moment ganz woanders. Sie schalt sich selbst eine Närrin, doch gelang es ihr nicht, ihre Gefühle zu steuern. Sie fühlte sich mit ihren sechsundzwanzig Jahren ebenfalls „voll in Blüte“ wie ihre Pflanzen. In ihrer kurzen ersten Ehe hatte sie nur selten körperliche Erfüllung gefunden, da ihr Gatte sehr viel Zeit auf Reisen verbracht hatte. Vielleicht war das auch der Grund, warum die Ehe kinderlos geblieben war. Bis die beiden Eheleute nach längerer Trennung die Scheu voreinander überwunden hatten, war schon wieder Abschied angesagt, kein Klima, in dem Erotik aufkommen konnte. Das Leben in der Frauengemeinschaft nach dem Tod ihres Gatten war noch viel weniger dazu angetan. Und nun hatte sie sich vertraglich zu einer Josephsehe verpflichtet, nur um einen männlichen Schutz und ein ehrbares Aushängeschild zu haben, ohne damit gerechnet zu haben, dass ihr Körper und ihre Seele verrücktspielen würden. Sie machte sich nichts vor: sie war nicht nur ein bisschen verliebt, sie hätte Johannes am liebsten wie eine Tigerin angesprungen. Der Gedanke ließ sie vor Scham fast vergehen. Verzweifelt, mit sich selbst und ihrem aus dem Gleichgewicht gebrachten Gefühlsleben hadernd, ließ sie sich ins warme Gras fallen und weinte. So fand sie Johannes, der ihr nach einiger Zeit in den Garten gefolgt war.

Auch er hatte, wie schon öfter in letzter Zeit, über die Situation nachgedacht. „Es ist paradox“, sagte er sich, „bevor ich diesen Vertrag mit Birga schloss, hatte ich überhaupt keine Skrupel. Wenn mir ein Frauenzimmer gefiel, wickelte ich es ohne Zögern um den Finger – klappte es, war es mir recht, klappte es nicht, war es mir einerlei. Seit ich diesen vertrackten Vertrag unterschrieben habe, nur um endlich eine eigene Werkstatt zu bekommen, ertappe ich mich immer öfter dabei, verdammt ehrbar sein zu wollen. Und Birga – sie ist so süß - aber ich Idiot habe versprochen, die Finger von ihr zu lassen. So etwas zu versprechen ist ja fast noch blöder, als seine Seele zu verkaufen. Scheiß Vertrag! Ich muss zu ihr!“

Er stand vor ihr, groß und dunkel gegen die Sonne. Sein Schatten lag quer über dem Kamillenbeet und ließ die weißen Blütenkränze grau, die gelben Staubgefäßknöpfchen fahl messingfarben erscheinen. „Wir müssen miteinander reden!“ Es klang fast wie ein Befehl. Er nahm sie bei der Hand und zog sie vom Boden auf. „Reden? Warum?“

„Weil ich nicht will, dass unsere Träume zu Alpträumen werden!“

„Keine Sorge! Unsere Träume haben sich ja ohnehin schon erfüllt!“

„Wirklich? Bist du dir sicher“ Birga schwieg.

„Also bist du dir nicht sicher – und ich auch nicht.“ „Hast du dir mehr erwartet?“

„Nein. Aber unsere Träume haben sich, wie es Träume oft an sich haben, verselbständigt!“

„Wie meinst du das?“ Birga sah ihn mit so schmerzverzerrtem Gesicht an, dass er sie am liebsten an sich gerissen hätte. Die Angst, sie noch mehr zu verschrecken, hielt ihn davon ab. Mühsam suchte er nach Worten.

„Schau, Birga! Wie soll ich dir das erklären? Es ist vielleicht - -- ich weiß nicht --- vielleicht ist es gar nicht so kompliziert. Tatsache ist, dass ich dich verdammt gerne mag, und weitere Tatsache ist, dass du mich auch magst! Das kannst du wohl nicht abstreiten, oder?“

Birga schüttelte heftig den Kopf, war aber zu keinem Wort fähig.

„Gut! Dann sag mir bitte einen vernünftigen Grund, warum wir – äh – also warum wir nicht – verflucht! Mach es mir doch nicht so schwer!“

Angesichts seiner angestrengten Bemühungen musste Birga doch lächeln, stellte sich auf die Zehenspitzen, drückte ihm einen Kuss auf die Stirne und flüsterte: „Du hast recht. Er gibt wirklich keinen Grund, der uns daran hindern könnte– wie heißt es so schön im Juristendeutsch – die Ehe zu vollziehen!“

„Kanaille!“ war das einzige, das Johannes noch hervorbrachte, bevor er sie leidenschaftlich küsste.

Jakob Emmanuel Ledermaier kam am 26. Juni 1734 zur Welt. Dank Birgas außergewöhnlichem Wissen um die Vorgänge im Körper der Frauen, ihrer guten Konstitution und ihrer sorgfältigen Vorbereitung verlief die Geburt ohne nennenswerte Schwierigkeiten. Als die herbeigerufene Hebamme das Neugeborene seinem Vater in den Arm legte, empfand Johannes Ledermaier ungeahnten Stolz und Freude. Nie hätte er sich gedacht, sich zum Familienvater zu eignen. Die Tatsache, für diesen Sohn so etwas wie Vaterstolz und Verantwortung zu spüren, überraschte ihn, zumal ihn in den letzten Wochen heimlich wieder das Fernweh überfallen hatte. Auch wenn es wider jede Vernunft gewesen wäre, so hatte er doch hin und wieder, wenn das Leben allzu geregelt dahinlief, daran gedacht, erneut auf Wanderschaft zu gehen. Diesen Gedanken verwarf er nun mit Freude und voller Überzeugung, hier die Erfüllung gefunden zu haben.

Auch Birga hatte seine Unruhe gespürt. Selbst vor die neue Aufgabe als Mutter gestellt, fand sie sich in einer Zwickmühle. Einerseits wollte sie Johannes nicht mit Gewalt an sich binden. Andererseits war ihr der Gedanke, ihr Kind ohne Vater aufziehen zu müssen, eine Horrorvorstellung. Dass sich Johannes zum liebevollen und verantwortungsbewussten Vater entwickeln würde, hatte sie nicht einmal in ihren kühnsten Träumen erwartet, im Gegenteil: als sie ihre Schwangerschaft bemerkt hatte, hatte sie sich selbst Vorwürfe gemacht, diese nicht verhindert zu haben. Nichts lag ihr ferner, als den Mann, von dem sie wusste, dass ihm die Freiheit alles bedeutete, durch ein Kind an sich zu binden. Jetzt war das Kind da, die Reaktion darauf wesentlich besser als erwartet, aber dennoch schwor sich Birga, das Leben ihres Johannes, und auch ihr eigenes, nicht durch weitere Kinder einzuengen. Weitere Schwangerschaften würde sie zu verhindern wissen.

Jakob gedieh bei der guten Pflege und liebevollen Betreuung prächtig. Da sich beide Elternteile viel mit dem Kleinen beschäftigten, lernte er schon früh sprechen. Mit drei Jahren konnte er bereits einige Wörter in den vielen Büchern seiner Mutter entziffern, mit etwas mehr als vier Jahren flüssig lesen, mit sechs Jahren gestochen scharf schreiben. Zudem kannte er alle Pflanzen in Mutters Garten, wusste von vielen, wozu sie dienten und hatte gelernt, von jenen Dingen, die giftig oder gefährlich waren, die Finger zu lassen. Für diese Fortschritte war seine gebildete Mutter zuständig. Auf der anderen Seite verbrachte der Junge schon früh die Zeit, in der seine Mutter im Garten oder bei der Herstellung und dem Vertrieb ihrer Heilmittel zu tun hatte, in der Obhut seines Vaters. Während Johannes die verschiedensten Lederwaren erzeugte, spielte der Knabe, unter dem großen Zuschneidertisch sitzend und herumkrabbelnd, mit den vielen bunten Lederresten, Bändern, Nieten, Ösen und Knöpfe, die bei der Arbeit abfielen. Er entwickelte eine große Phantasie beim Zusammenfügen der verschiedensten Flicken, wurde von seinem Vater auch sehr gelobt und hatte vor allem auch viel Spaß dabei, weil Johannes das spielerische Element hervorhob. Nicht selten bastelten die beiden gemeinsam an den unnötigsten, lustigsten Dingen, wie Tieren, Blumen, kleinen Puppen oder Spielfiguren. Wenn der Vater dabei auch noch seine fröhlichen Lieder anstimmte, war der kleine Jakob selig. Einziger Wermutstropfen war für den Jungen, dass seine Händchen noch zu schwach waren, um Leder selbst nähen zu können. Selbst das zarte Handschuhleder widersetzte sich. Seine Versuche endeten nicht selten mit Tränen, wenn er sich mit der Nadel oder der Ahle verletzte. Dazu musste er sich auch noch schelten lassen.

„Sei doch nicht so unvernünftig!“ hieß es dann. „Du weißt ganz genau, dass du die Ahle nicht anrühren sollst – und die Nadeln auch nicht! Es geschieht dir ganz recht, wenn du dich stichst!“

Als Jakob fünf Jahre alt war, spielte er eines Tages am Bach, der den Garten begrenzte, was ihm übrigens auch verboten war. Die Gefahr, hineinzustürzen, war zwar nicht sehr groß, weil das Bachbett flach und breit war, aber die Mutter sah es trotzdem nicht gerne, wenn Jakob allein am Bach war, der auf den Buben eine große Anziehungskraft ausübte. So viele interessante Dinge gab es hier zu entdecken. Kleine Fische flitzten umher, wenn man das Ufer betrat. Im Frühling waren die Tümpel am Rand voll Kaulquappen, aus denen die niedlichen kleinen Frösche wurden, die im Sommer im Gras saßen oder abends im Tümpel quakten. Besonders gerne sammelte Jakob auch die flachen oder runden Steine, baute kleine Wehre oder eigene winzige Seen. An jenem Tag fand er einen runden, seitlich abgeflachten Stein mit einem Loch fast in der Mitte, durch das genau sein Zeigefinger passte. Jakob überlegte, wozu er den Stein brauchen könnte. Er drehte und wendete das Ding, kam zu keinem Entschluss und steckte ihn vorläufig in die Hosentasche. Für irgendetwas würde sein Fund schon zu gebrauchen sein. Am Nachmittag half er seinem Vater in der Werkstatt. Es war viel Lederabfall angefallen, den Jakob sorgfältig auflas und in der Ecke deponierte, in der er meistens spielte. Es war auch einiges an feinem Rehleder dabei. Jakob ließ es durch seine Hände gleiten, prüfte seine Elastizität, roch daran, denn er liebte den Geruch von frischem Leder, und wünschte sich wieder einmal nichts sehnlicher, als etwas daraus nähen zu können. Er hätte so dringend ein Futteral für seine vier guten Schreibfedern gebraucht. Das Stückchen Rehleder hätte auch gerade das richtige Maß gehabt. Vater war im Moment sehr mit der Herstellung einer kompliziert angelegten Geldtasche mit mehreren Fächern beschäftigt und achtete nicht auf das Kind, das eine Nadel und etwas gewachsten Zwirn stibitzte. Mit einem Mal wusste Jakob, wofür der Lochstein gut war. Er steckte den Zeigefinger seiner linken Hand hinein, fixierte den Stein mit dem Daumenballen und benützte ihn, ähnlich wie einen Fingerhut, zum Nachschieben der Nadel. Es gelang ihm auf diese Weise, das Leder zu durchstechen und Stich für Stich eine Naht herzustellen, die zwar noch etwas ungleichmäßig aber durchaus brauchbar war. Als er seinem Vater später sein Werk zeigte, konnte dieser nicht genug staunen und ihn über den grünen Klee zu loben. Der Tadel wegen der entwendeten Nadel fiel völlig unter den Tisch. Den Lochstein trug Jakob von nun an immer an einer Lederkordel bei sich um den Hals und betrachtete ihn als seinen Talisman.

In den folgenden Wochen perfektionierte Jakob seine Nähtechnik so sehr, dass sein Vater ihm bald kleine Arbeiten überlassen konnte, vor allem, wenn es um knifflige Nähte ging, die der Junge mit seinen kleinen Händen weit besser ausführen konnte als ein Erwachsener. Der Ruf, dass aus dem Hause Ledermaier besonders fein gearbeitete Lederwaren kamen, verbreitete sich rasch. Johann Ledermaier selbst begab sich von Zeit zu Zeit zu den Gerbern nach Weidenhausen und suchte dort besonders zarte, geschmeidige Leder aus, deren Endverarbeitung er genauestens überwachte. Im Jahr darauf durfte Jakob ihn schon begleiten, um selbst Erfahrungen beim Einkauf der Rohprodukte zu sammeln. Für den Jungen war dies eine Zeit intensivsten Umgangs mit dem Rohstoff Leder. Trotzdem fand er noch Zeit, sich im Lesen und Schreiben zu vervollkommnen.

Als Jakob neun Jahre war, fand es Birga an der Zeit, ihn in eine Schule zu schicken. Bislang hatte sie den Unterricht vor allem deshalb selbst übernommen, weil die nächste Schule etliche Meilen entfernt war und sie dem Buben den weiten Schulweg ersparen wollte. Ihr Mann Johannes war jedoch der Meinung, dass Jakob weiterhin im Haus bleiben und bei ihm arbeiten sollte.

„Was kann denn so ein Dorfschulmeister unserem Jungen noch beibringen?“ gab er zu bedenken. „Jakob kann lesen, schreiben, besser rechnen als ich und kennt mehr Pflanzen, Tiere und Steine als ein Professor. Sogar ein wenig französisch parlieren hast du ihm beigebracht. Ich bin absolut dagegen, ihn in eine Schule zu stecken! Er würde sich vermutlich nur langweilen! Außerdem brauch ich ihn hier!“