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Schottland zu Beginn des 18. Jahrhunderts: Das Land hat 1707 seine Unabhängigkeit an England verloren, doch bildet sich entfernt vom politischen Zentrum London eine neue Mittelschicht mit beachtlicher intellektueller Potenz. "The Scottish Enlightenment" bringt hervorragende Persönlichkeiten in Philosophie, Kunst, Wissenschaft und Technik hervor. Es etablieren sich Schulen, Universitäten, Lesegesellschaften und intellektuelle Zirkel. In diese Zeit fällt die Entwicklung Calum McKeirs vom behinderten Knaben zum Wunderkind und weiter zum gefeierten Flötenvirtuosen. Neid und Rachsucht zerstören jedoch seine Karriere noch ehe sie wirklich beginnen kann.
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Seitenzahl: 621
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Teil: Wie die Vögel im Park
Teil: Wie die Möwen im Wind
Teil: Wie die Eulen in der Nacht
Epilog
Die Krähe singt so lieblich wie die Lerche,
wenn man auf keine lauschet,
und mir däucht, die Nachtigall, wenn sie bei Tage sänge,
wo alle Gänse schnattern,
hielt man sie für keinen besseren Spielmann als den Spatz.
W.Shakespeare:
Porzia in „Der Kaufmann von Venedig“ V,1
Der Knabe saß nahezu bewegungslos auf dem im blaugrünen Tartan Flower of Scotland karierten Plaid, so, wie ihn die Nanny aus dem Rollstuhl gehoben und dort platziert hatte, um zu verhindern, dass er während ihrer kurzen Abwesenheit aus dem klapprigen Gefährt kippen konnte. Gebannt sah er den beiden Schäfern zu, die vor einem Häufchen kleiner Äste saßen und einer ihm fremden Beschäftigung nachgingen. Mit den Schäften ihrer Messer klopften sie die Rinde der Baumabschnitte, rollten die Stücke auf dem Steintisch hin und her, steckten sie in den Mund, leckten und saugten daran, bevor sie wiederum geduldig, mit flinken, kurzen Schlägen die Hölzchen klopften. Endlich schien sie ihre Arbeit zu befriedigen. Lachend lösten sie die Rinde mit einem leichten, drehenden Ruck in einem unversehrten Stück vom Holz, schnitten nach einem ihnen offensichtlich bestens bekannten Muster verschiedene Kerben in Rinde und Holzkern und fügten beides wieder mit großer Vorsicht zusammen. Wenn sie dann die Hölzchen an die Lippen setzten und hinein bliesen, erklangen je nach Dicke und Länge Pfiffe in verschiedenen Tonhöhen.
Der Junge klatschte vor Begeisterung in die Hände. „Wie die Vögel im Park!“ rief er. „Ich will auch!“ Mühsam versuchte er, sich aufzurichten, doch es blieb bei dem Versuch.
Enttäuscht streckte er die Arme in Richtung der beiden Schäfer und wiederholte nur weinerlich: „Ich will auch!“
„Armer Junge!“ Der ältere der beiden erhob sich, nahm eine Hand voll Pfeifchen und legte sie vor dem Kind auf das Plaid.
„Kannst dir drei aussuchen, Kleiner!“ bot er ihm an.
Die Augen des Kindes leuchteten.
„Darf ich zuerst probieren, wie sie klingen?“
„Klar, doch!“
Der zaghafte Lufthauch, den der Knabe in das erste Pfeifchen blies, erzeugte nur einen schwachen Ton. Enttäuscht sah er auf.
„Du musst stärker blasen, die Backen richtig voll Luft nehmen!“ belehrte ihn der Schäfer.
Der zweite Versuch gelang. Die Weidenpfeife gab einen kräftigen Ton von sich. Nach der Reihe probierte der Knabe die Pfeifen, lauschte den Klängen sekundenlange nach und legte sie nach einem nur ihm bekannten System vor sich auf die Decke. Das kleine Gesicht wurde rot vor Anstrengung und Konzentration. Schließlich entschied er sich für eine kleine, eine mittlere und eine etwas größere Pfeife.
„Gut gewählt, Kleiner!“ lobte der Schäfer, „die Töne passen zueinander. Wenn du ein bisschen übst, kannst du den Vögeln im Park Konkurrenz machen. Horch nur, ich kann pfeifen wie der Kuckuck!“
Miss Bromfield hatte Blumen aus dem Gewächshaus holen wollen, doch als sie das ohrenbetäubende Pfeifen hörte, das zweifelsfrei von dort kam, wo sie ihren Schützling zurückgelassen hatte, drehte sie unverrichteter Dinge um und rannte zurück. Zu ihrem Erstaunen saß der Junge fröhlich pfeifend, wo sie ihn zurückgelassen hatte. Seine Augen glänzten vor Vergnügen, als er ihr die drei Pfeifchen entgegenstreckte und glücklich rief: „Miss – schauen sie nur! Damit kann ich Musik machen wie die Vögel im Park! Ist das nicht toll!“
Der jungen Frau blieb vor Staunen der Mund offen. Sie glaubte ihren Ohren nicht zu trauen. Seit fast zwei Jahren waren das die ersten Worte, die das Kind sprach – deutlich, ohne Fehler, ganz so, wie man es von einem fast Sechs-jährigen erwarten konnte. Sie kämpfte mit den Tränen, als sie antwortete: „Ja, Calum, ja! Das ist wirklich ganz toll – aber woher hast du die Pfeifchen?“
So, als hätte nie eine Behinderung vorgelegen, erzählte der Junge:
„Von den beiden Schäfern! Ich habe auch ganz artig Dankeschön gesagt!“
„Hat er, der Kleine! „ bestätigte der ältere der beiden, die nichts Besonderes dabei fanden, dass der kleine Junge mit ihnen redete. Sie wussten nichts von den tragischen Ereignissen, die dazu geführt hatten, dass das Kind gelähmt war und offensichtlich auch die Sprache verloren hatte.
Hoch, hoch, tief, hoch, mittel, tief, hoch, tief, hoch tief, mittel, mittel … scheinbar endlose Tonfolgen in wechselndem Rhythmus drangen durch das Haus.
“Der Junge macht mich noch wahnsinnig mit seiner Pfeiferei!“ Alistair McKeir sprang von seinem Sessel auf, rannte zur Türe und rief wütend nach der Nanny. Miss Bromfield ließ alles liegen und stehen und eilte dienstfertig zum Arbeitszimmer, kämpferisch bereit, die Interessen ihres Schützlings gegen seinen Vater zu verteidigen. Endlich war es nach fast zwei Jahren gelungen, in dem völlig apathischen, gelähmten Kind ein Interesse zu erwecken, auch wenn es, zugegebener Maßen, an den Nerven der Mitbewohner zerrte. Aber seit dem schrecklichen Unfall, bei dem Lady Seonaid McKeir ums Leben gekommen war und seit dem der Knabe kaum Reaktionen auf seine Umwelt gezeigt hatte, war in den letzten Tagen eine merkliche Besserung im Zustand des Kindes eingetreten. Es sprach erstaunlich vernünftig, deutlich artikuliert und in zusammenhängenden Sätzen, so als hätte es in den vergangenen Monaten nur geschwiegen, weil es ihm nicht wichtig erschienen war, etwas zu sagen. Seit es die drei Pfeifchen bekommen hatte, quoll es förmlich über vor Wissbegierde und bombardierte Miss Bromfield mit Fragen. Und vor allem bewegte es sich deutlich mehr als zuletzt. Auch wenn sich die Nanny keinen übertriebenen Hoffnungen über den Gesundheitszustand ihres Pfleglings hingab, so beobachtete sie doch mit großem Erstaunen die ziemlich plötzlichen Veränderungen. Aus Angst, dass diese Entwicklung nicht andauern könnte, hatte sie noch mit niemandem darüber gesprochen. Es kümmerte sich schließlich auch niemand außer ihr um das Kind, schon gar nicht sein Vater. Manchmal dachte Miss Bromfield, dass durch die Geschehnisse damals vor fast zwei Jahren auch McKeir eine Art Lähmung davongetragen hatte - eine Lähmung der Empfindungen für seine Umwelt.
Lord McKeir stand wie ein Racheengel in der Türe. Sein Gesicht war rot angelaufen und seine aschblonden Haare schienen noch widerspenstiger vom Kopf zu stehen als sonst. Im Gegenlicht sahen sie aus wie ein überdimensionaler, reichlich verblasster Heiligenschein, was, wie Miss Bromfield insgeheim dachte, gar nicht so schlecht zu dem Mann passte, der, seit seine Frau tot war, ein seltsames Leben zwischen frommer Ergebenheit in sein Schicksal und zeitweisem Aufbegehren dagegen führte – ein Heiliger in der Probezeit, könnte man meinen.
„Wo bleiben Sie denn?“ fauchte er der Nanny entgegen. „Wenn ich nach Ihnen rufe, haben Sie gefälligst unverzüglich zu erscheinen!“
Miss Bromfield deutete einen ehrerbietigen Knicks an. Sie wusste, dass McKeir darauf Wert legte. Ebenso aber wusste er, dass Miss Bromfield das Wort „ehrerbietig“ im Zusammenhang mit ihrem Dienstgeben längst aus ihrem Vokabular gestrichen hatte. Sie war eine unglaublich tüchtige und selbstbewusste Person, hoch gebildet und belesen, der niemand im ganzen Estate of McKeir das Wasser reichen konnte – auch er nicht, ja, nicht einmal der Pfarrer. Dass diese kluge junge Frau sich nach dem Unfalltod seiner Gattin so selbstlos um das schwer geschädigte Kind kümmerte, erstaunte ihn immer wieder, auch wenn er wusste, dass sie es aus Treue zu ihrer besten Freundin tat. Fast eifersüchtig stellte sich McKeir die Frage, welches unzerreißbare Band die beiden Frauen verbunden haben mochte, dass es über den Tod hinaus so fest hielt. Er fand keine Antwort, begnügte sich damit, dankbar dafür zu sein, dass ihm die Sorge für das unglückliche Bündel Leben, das von seinem gesunden Sohn übrig geblieben war, abgenommen wurde. Er selbst hatte, so musste er eingestehen, nicht die Kraft, mit der Behinderung klar zu kommen. Er empfand es im Gegenteil als eine unglaubliche Gehässigkeit des Schicksals, das ihn nicht nur seiner schönen, geliebten Frau beraubt, sondern ihm auch noch diese schwere Bürde eines behinderten Kindes auferlegt hatte. Nicht selten räsoniert er, dass er sich leichter mit dessen Tod abgefunden hätte als mit seinem jetzigen Zustand. Und nicht nur einmal war er versucht gewesen, dem kleinen hilflosen Geschöpf ein Kissen auf das Gesicht zu drücken, bis es aufhörte zu atmen. Nur der Gedanke, der Mörder seines eigenen Sohnes zu sein, hatte ihn vor diesem endgültigen Schritt abgehalten.
„Verzeihung, Sir – aber ich konnte Calum doch nicht einfach fallen lassen, weil Sie gerufen haben. Bis ich ihn sicher hingesetzt hatte, dauerte es einige Augenblicke!“
„Ja, ja!“ brummte McKeir, „Aber was soll das grässliche Gepfeife im Zimmer meines Sohnes?“
„Das, Sir, ist kein grässliches Gepfeife!“
„Ach nein? Was sonst?“ McKeir wurde ungeduldig, doch Miss Bromfield ließ sich nicht aus der Ruhe bringen
„Das sind die ersten Schritte eures Sohnes zurück in ein normales Leben, Sir!“
„Was soll da heißen?“
„Calum hat endlich einen Weg gefunden, seiner Blockierung zu entkommen. Er erzeugt Töne und Tonfolgen, um zu kommunizieren, und zwar mit den Lebewesen, die für ihn offensichtlich wichtiger sind als wir Menschen – wahrscheinlich, weil sie ihm weniger übel mitgespielt haben. Er versucht zu pfeifen wie die Vögel im Park!“
McKeir griff sich an die Stirne.
„Oh Gott! So schwer geschädigt ist er also! Armer Junge! Total aus dem Ruder!“
„Nein, Sir! Calum ist keineswegs „total aus dem Ruder“! Ich wollte eigentlich noch ein paar Tage zuwarten, um die Entwicklung besser einschätzen zu können, aber jetzt muss ich es euch wohl sagen: Calum spricht – und zwar vollkommen klar, deutlich und vernünftig!“
„Was? Seit wann?“ McKeir packte die Nanny am Oberarm, dass es schmerzte. „Warum haben Sie das nicht gleich gesagt, Sie, Sie ….!“
Er fiel ihm in seiner Erregung keine passende Beschimpfung ein. Miss Bromfield machte sich nicht los, sondern legte ihre Hand auf seine, in der Hoffnung, ihn mit ihrer Geste etwas beruhigen zu können, ehe sie antwortete.
„Verzeiht, Sir, aber ich kenne eure ungestüme Art, eure Ungeduld und euer überschäumendes Temperament, das durchaus seine großartigen Seiten hat, doch im Moment erscheint es mir wichtiger, ganz behutsam vorzugehen und ein wenig die Fortschritte in der Entwicklung abzuwarten. Ich glaube nicht, dass es gut wäre, den Jungen jetzt zu überfordern. Es ist nicht auszuschließen, dass er sich sonst wieder in sein Schneckenhaus zurückzieht!“
„So!“ McKeir ließ die Frau los, „Sie glauben also, dass ich meinen Sohn überfordern würde? Sie vergessen wohl, dass Calum mein Sohn ist?“
Miss Bromfield schüttelte den Kopf: „Nein, Sir! Das vergesse ich bestimmt nicht, aber ….“
„Was aber?“
„Der Junge hat Angst vor Euch!“
„Angst? Lächerlich! Warum sollte er Angst haben? Und woher wollen
Sie das wissen?“
„Es hängt wohl mit den Ereignissen von damals zusammen. Calum schaltet sofort ab, wenn von Euch oder seiner Mutter die Rede ist.
Ich befürchte, dass er, obwohl ihm keinerlei Reaktion anzusehen war, alles mitgekriegt hat, was damals geschah. Er war immerhin vier Jahre alt und durchaus in der Lage, das meiste zu verstehen. Gebt ihm Zeit!“
McKeir schwieg.
„Zugegeben eine äußerst schwierige Situation, Sir, aber ich bitte euch, mir noch ein paar Tage zu vertrauen. Calum ist auf einem guten Weg, glaubt mir!“
In diesem Moment drangen wieder die schrillen Töne der Pfeifchen aus dem Kinderzimmer herüber: Hoch, hoch, tief, hoch, mittel, tief, hoch, tief, hoch tief, mittel, mittel …. McKeir drehte sich um, stürmte hinaus und rief im Gehen: „Miss Bromfield, ich weiß Ihre Dienste zu schätzen, aber im Moment überschreiten Sie ihre Kompetenz. Ich will jetzt sehen, was mit meinem Jungen los ist!“
Als McKeir den Raum betrat, hörte das Kind sofort auf zu pfeifen. Mit schreckgeweiteten Augen sah es dem Mann entgegen, die kleinen Hände krampfhaft um die drei Pfeifchen geschlossen. McKeir versuchte, behutsam zu sein und fragte, freundlich lächelnd, mit fast flüsternder Stimme: „ Na, mein Kleiner! Was hast du denn da für ein interessantes Spielzeug?“
Calum antwortete nicht, was sein Vater ohnedies erwartet hatte. Die Behauptungen der Nanny gehörten für ihn in das Reich der übersteigerten Phantasie einer Frau, die an dem Kind einen Narren gefressen hatte. Trotzdem versuchte er es noch einmal: „Willst du mir nicht sagen, womit du so einen fürchterlichen Krach machst!“
„Das ist kein Krach!“
McKeir glaubte seinen Ohren nicht zu trauen. Der Junge hatte ganz deutlich mit klarer Stimme gesprochen. „Wie bitte? Wiederhol das noch einmal!“
„Das ist kein Krach!“
McKeir lachte. „Als was würdest du es denn sonst bezeichnen?“
Der Junge öffnete die Faust, sah mit stolzem Blickt auf die Pfeifchen, dann wieder scheu auf seinen Vater und fragend zu Miss Bromfield, so als wüsste er genau, dass seine Antwort gefährlich werden konnte.
Schließlich flüsterte er:
„Sir, das ich kein Krach, das ist Musik aus der Natur! Ich pfeife wie die Vögel im Park!“ McKeir wurde erst blass, dann rot. Auch die Nanny wurde blass. Mit einem Schnauben wie von einem wilden Stier stürzte sich der Mann auf das Kind, entriss ihm die Pfeifchen und schrie:
„In meinem Haus wird keine Musik gemacht, nie wieder!“ Er wollte den Raum verlassen, doch der zweistimmige Schrei in seinem Rücken stoppte ihn. Das Kind hatte geschrien wie ein verwundetes Reh, kurz, scharf, hoch, die Nanny wie jede erschrockene Frau, zusammen hatte es furchtbar geklungen. Noch ehe sich McKeir umdrehen konnte, fühlte er ein Reißen an seinem Rock und hörte das Wimmern: „Es sind meine Pfeifchen, meine Pfeifchen, meine ….“
Miss Bromfield hatte geschrien, weil sie gesehen hatte, was vor sich gegangen war. Der Junge hatte sich mit unfassbarer Kraft aus dem Rollstuhl katapultiert und war dem Vater nachgelaufen. Nun hing er an dessen Rockschößen und stampfte mit den schlecht entwickelten Füßen, als wäre er nie gelähmt gewesen. Dann aber sackte er zusammen und lag wie ein Bündel nasser Kleider am Boden, still und bewegungslos, ganz so, wie er seit so vielen Monaten gelegen hatte.
Miss Bromfield hob das Kind auf und trug es zu seinem Bett. Der vorwurfsvolle Blick, der McKeir traf, sagte alles.
McKeir griff sich an die Stirne und stöhnte:“ Ich Idiot! Ich blöder, jähzorniger Idiot!“
„Gebt mir die Pfeifchen, Sir, und dann wird es wohl besser sein, wenn Ihr hier verschwindet!“ Miss Bromfield bebte vor Wut darüber, dass nun wohl alle Bemühungen, den Jungen in die Welt zurückzuholen, zunichte gemacht worden waren. „Ihr habt gesehen, was ihr angerichtet habt mit eurem krankhaften Hass auf die Musik!“
Es klang fast weinerlich, als McKeir antwortete: „Aber Sie wissen doch, dass die Musik an allem schuld ist!“
„Nicht hier!“ bremste die Nanny. „Der Junge versteht alles. Wir sprechen am Abend darüber, und es wäre vielleicht zweckmäßig, nach Doktor Fergusson zu schicken. Ich wüsste gerne, was er darüber denkt! Und jetzt geht, ich muss versuchen zu retten, was hoffentlich noch zu retten ist!“
Wie ein geprügelter Hund schlich McKeir aus dem Zimmer.
***
Auszug aus einem Brief Lady McKeirs an ihre Freundin Fiona Bromfield, Rousen Manor, Aberdeen :
….Stell dir vor, Calum bläst schon kleine Melodien auf meiner Flöte!
Wenn Alistair das wüsste, würde er durchdrehen wie neulich. Als ich auf seine provokante Frage, wen oder was ich mehr lieben würde- ihn oder meine Flöte- völlig wertfrei antwortete, das ließe sich nicht vergleichen, ging er auf mich los wie ein wilder Stier. Dass er mir ein blaues Auge geschlagen hat, könnte ich zur Not noch verschmerzen, aber dass er das alles vor Calum gemacht hat, finde ich schon sehr bedenklich. Der Junge hat angefangen, schrecklich zu weinen und hatte solche Angst, dass er sich unter dem Bett versteckte. Ich bin langsam am Ende und weiß mir keinen Rat mehr, wie ich Alistair zur Vernunft bringen kann. Um ein bisschen Abstand und Zeit zum Nachdenken zu gewinnen, werde ich nächstes Wochenende nach Arronchar fahren, wo im Schloss der McPhersons ein Konzert mit dem in London sehr bekannten Flötisten Jean Baptiste Loiellet aus Gent stattfindet. Stell dir vor, der Mann spielt nicht nur Flöte sondern auch Oboe und Harfe – bewundernswert, nicht wahr? Ich werde auch Calum mitnehmen, weil ich den Eindruck habe, es würde im gut tun, aus der gespannten Atmosphäre unserer Hauses herauszukommen.
Es gibt eine große Schar von Kindern auf dem Schloss – ein wenig Spaß könnte dem ernsten Jungen nicht schaden…
***
Doktor Fergusson saß in seinem Wohnzimmer, das mehr der Küche eines Alchimisten glich als einem Wohnraum. Überall standen Gläser mit geheimnisvollen Inhalten und dazwischen häuften sich Bücher und Schriftstücke verschiedenster Herkunft. Fergusson galt als absolute Kapazität für rätselhafte Krankheitsfälle zwischen Perth und Fort Williams. Dass seine Methoden von den gelehrten Herren in Sterling, Glasgow und dem fernen Edinburgh angezweifelt wurden, machte ihn bei der Bevölkerung der Southern Highlands nur noch beliebter.
Dort hielt man von der hochnäsigen Gelehrsamkeit der Ärzte in den großen Städten nur wenig und verließ sich lieber auf die manchmal an Hokuspokus grenzenden Prozeduren des Doktor Fergusson. Wer ihn aber als unwissenden Quacksalber abtat, wurde dem überaus gewissenhaften und klugen Mann nicht gerecht. Auch wenn die einfachen Leute in den Glens um Loch Lomond, Loch Tay und Loch Ranoch gerne übernatürlichen Kräften vertrauten, so waren Fergussons Methoden wissenschaftlich fundierter als es den Anschein hatte. Sogar vor Selbstversuchen, die fast zu seinem Tod geführt hätten, war Fergusson nicht zurückgeschreckt, um den Nachweis für die Wirksamkeit gewisser Heilmittel und –methoden erbringen zu können. Vielen hatte er schon geholfen, für andere jedoch keinen Weg gefunden, was ihn persönlich bedrückte. Auch im Fall des kleinen Calum McKeir war er mit seinem Wissen gescheitert. Traurig genug, dass er die Lady nicht hatte retten können – sie war noch an der Unfallstelle ihren schweren Verletzungen erlegen - er hatte auch bis zum heutigen Tage keine Methode gefunden, den Zustand des Kindes zu verbessern. Trotz gewissenhafter Untersuchungen hatte er keine Verletzungen feststellen können - und doch blieb der Kleine gelähmt und stumm. Seine Reaktionen beschränkten sich auf ein paar wenige Handbewegungen und ein Nicken oder Schütteln des Kopfes, die zwar durchaus bewiesen, dass der Junge bei Verstand war, sich jedoch nicht bewegen konnte. Auch die Besuche bei den Spezialisten in Glasgow hatten keine eindeutige Diagnose erbracht, obwohl McKeir nichts unversucht gelassen hatte, dem Kind zu helfen. Er hätte sogar nach London reisen wollen, hatte die Absicht aber schließlich resigniert aufgegeben, als ihm alle Ärzte übereinstimmend bestätigt hatten, es gäbe keine Erklärung für den eigenartigen Zustand des Jungen und somit auch kein Hoffnung auf eine Heilung.
***
Auszug aus einem Brief eines berühmten Kollegen in London an Doktor Fergusson:
Werter Herr Kollege! Aus euren Schilderungen entnehme ich, dass trotz gewissenhafter Untersuchungen kein physischer Schaden festgestellt werden konnte. Ohne mich festlegen zu wollen und ohne Anspruch darauf, dass meine Ferndiagnose zutreffend ist, fällt mir auf Anhieb nur die Erklärung ein, dass der kleine Patient aufgrund der Unterkühlung einen bleibenden Schaden erlitten haben kann. Auch die Möglichkeit eines nicht auflösbaren Schockzustandes wäre denkbar.
Leider sehe ich keine Erfolg versprechende Möglichkeit, den Knaben zu kurieren …
***
Seit fast zwei Jahren besuchte nun Fergusson seinen kleinen Patienten wöchentlich, ohne dass sich etwas verändert hätte. Körperlich entwickelte sich das Kind normal, wenn man von der Schwäche der nicht bewegbaren Beine absah. Wenn man in seine Augen sah, entdeckte man keinerlei Missfunktion. Das Kind blickte offen um sich, schien alles zu verstehen, aß, bewegte die Hände und Finger völlig normal, reagierte auf Befehle ohne Verzögerung, doch es sprach nicht und konnte nicht laufen. In ausführlichen Gesprächen mit Kollegen war man zum Schluss gekommen, dass der Schock, als das Kind in die eisigen Fluten des Loch Lomond fiel, diese eigenartige Blockade ausgelöst haben dürfte. Doktor Fergusson erinnerte sich noch genau an den Abend, als er zu dem Unfall auf der Straße von Arrochar nach Crianlarich gerufen worden war. Infolge eines Radbruches war die Kutsche der Lady McKeir über die Böschung in das eisige Wasser des Lochs gestürzt. Als Fergusson die Unfallstelle erreichte, hatte man die Frau und das Kind bereits an Land gezogen.
„Die Lady hat bis zuletzt den Jungen über Wasser gehalten!“ erzählten die Retter, von denen sich keiner erklären konnte, wie sie das mit dem gebrochenen Rückgrat und den eingeklemmten Beinen überhaupt hatte schaffen können. „Ein Wunder!“ munkelte man, vor allem deshalb, weil die Lady unmittelbar nachdem man sie aus ihrer misslichen Lage, halb im Wasser, halb unter dem umgestürzten Wagen, befreit hatte, gestorben war
„Sie hat sich für das Kind geopfert!“ sagten die Frauen im Dorf und bekreuzigten sich.
„Sie hat das Kind geopfert!“ sagte McKeir in unbändigem Schmerz wütend.
Als an diesem Nachmittag der Bote vom McKeir Estate mit dem Ersuchen kam, möglichst unverzüglich zur Visite zu kommen, mutmaßte Fergusson, dass jemand krank geworden wäre. Er nahm seine Tasche und ließ sich zum Herrenhaus hinausfahren. McKeir erwartete ihn im Salon, wo auch Miss Bromfield saß „Ist etwas mit Calum?“ war daher Fergussons erste besorgte Frage.
Die Nanny berichtet von den Vorkommnissen der letzten zwei Tage.
„Interessant!“ bemerkte Fergusson, „und was macht der Kleine jetzt!“
„Er schläft, aber er fiebert heftig“
„Hat er, nachdem er seinen Pfeifchen nachgelaufen war, noch etwas gesprochen?“
Miss Bromfield schüttelte den Kopf: „Nein! Er war wieder genauso apathisch wie bisher!“. In ihren Augen standen Tränen der Enttäuschung. So sehr hatte sie gehofft, dass der Junge gesund würde, doch nach dem Eklat mit seinem Vater musste sie wohl ihre Hoffnungen begraben. McKeir selbst war äußerst kleinlaut. Es war ihm bewusst, dass er die Chance verdorben hatte.
Fergusson ging nachdenklich auf und ab. Das Schweigen im Raum war zum Greifen. McKeir und Miss Bromfield folgten ihm mit bangen Blicken, wagten jedoch nicht, seine Gedankengänge zu unterbrechen.
Endlich blieb der Arzt vor McKeir stehen: „Warum?“
Der Gefragte schaute ihn verständnislos an.
„Warum was?“
„Warum darf man in deinem Haus nicht über Musik reden?“
McKeir sprang auf: „Warum wohl! Warum! Warum! Weil die verdammte Musik meine Frau getötet und den Jungen zum Krüppel gemacht hat – diese elende Leidenschaft, den Tönen nachzulaufen!“
„Du spinnst!“ sagte Fergusson trocken. McKeir sah ihn entgeistert an.
Noch nie hatte ihm jemand so direkt eine Beleidigung an den Kopf geworfen. Er war sprachlos: „Aber, aber ….stammelte er nur, doch Fergusson fuhr ungehindert fort:
„Jawohl, mein Lieber! Du spinnst wirklich! Nicht die Musik hat deine liebe Frau getötet, sondern ein unglücklicher Zufall!“
Ungehalten unterbrach McKeir: „Wenn sie nicht unbedingt zu dem blöden Konzert fahren hätte wollen …..“
„Warum glaubst du, dass das Konzert blöd war? Soweit ich mich erinnern kann, war es besonders schön! Der berühmte Flötist aus London – wie hieß er doch gleich..?“
„Jean Baptiste Loeillet“ 1 soufflierte Miss Bromfield Fergusson drehte sich zu ihr um: „Danke, meine Liebe! Euer Gedächtnis ist bewundernswert – also dieser Loeillet spielte hinreißend und es war nur zu verständlich, dass deine Frau, die selber so entzückend die Flöte beherrschte, dorthin wollte.“
McKeir murrte: „Diese verdammte Flöte!“
Fergusson legte ihm die Hand auf die Schulter: „Nun sag mir nur noch, dass du auf das kleine Instrument eifersüchtig warst. Du bist wohl nicht ganz dicht!“
McKeir sprang wütend auf: „Ich muss mich nicht beleidigen lassen – nicht einmal von dir, von dem ich immer dachte, du wärst mein Freund!“
Fergusson drückte ihn mit sanfter Gewalt wieder in den Sessel. „Reg dich ab, Alistair! Ich weiß, was in dir vorgeht, aber du musst endlich aufhören, jemanden beziehungsweise etwas zum Sündenbock für dein hartes Schicksal zu machen, das nichts damit zu tun hat. Deine Abneigung gegen alles, was nur entfernt wie Musik klingt, hat sich zu einem krankhaften Spleen ausgewachsen. Deine Seonaid ist verunglückt, weil das gottverdammte Wagenrad gebrochen ist: Schicksal, oder im schlimmsten Fall die schlechte Arbeit des Radmachers, aber sicher nicht Seonaids Liebe zur Musik trägt daran schuld. Und wenn ich mir das Verhalten des kleinen Calum in den letzten Tagen genau überlege, dann wäre es höchstwahrscheinlich die von dir zu Unrecht gehasste Musik gewesen, die ihn aus seinem Dämmerzustand ins Leben zurückgeführt hätte. Der Junge hat wahrscheinlich instinktiv den Tönen der Natur nachgespürt, weil er wohl die Musikalität seiner Mutter geerbt hat.“
„.. und weil vermutlich Musik das letzte ist, das er von vor dem Unfall in Erinnerung hat“ ergänzte Miss Bromfield.
„Durchaus denkbar!“ stimmte Fergusson zu. McKeir schwieg betroffen.
„Das letzte, das der Junge in Erinnerung hat – Musik, Töne, die Flöte, die elende Flöte, dieses verdammte Instrument, zu dem Seonaid immer öfter flüchtete – vor ihm flüchtete, weil, ja weil..“
Er wollte bewusst nicht weiterdenken.
Das Schweigen in Raum dehnte sich zu belastender Länge. Endlich wagte Miss Bromfield die entscheidende Frage: „Was können wir jetzt noch tun?“
Doktor Fergusson zuckte mit der Schulter: „Ich habe keine Ahnung, wo wir ansetzen könnten. Ich bin mit meinem Latein am Ende. Es bleibt uns wohl nichts anderes übrig, als auf eine neue Gelegenheit zu hoffen!“
McKeir schüttelte nur den Kopf und murmelte: „Armer Junge, der arme Junge! Wie konnte ich nur! Ich alter Narr!“
Miss Bromfield verließ nach einem kurzen Gruß mit hängendem Kopf und Tränen in den Augen den Raum. Für sie gab es nichts mehr zu sagen.
Die beiden Männer saßen noch einige Zeit schweigend beisammen.
Schließlich besann sich McKeir seiner Hausherrenpflicht. Wortlos stellte er zwei silberne Becher auf den Tisch und füllte sie aus einer kostbar geschliffenen Karaffe mit Whisky.
„Eigentlich müsste ich dir böse sein, Fergie – aber im Grund hast du mir wohl die Wahrheit gesagt. Ich habe mich vielleicht wirklich in eine falsche Idee verrannt – aber Seonaid ..“
Er beendet den Satz nicht. Fergusson wartete. Irgendwann würde sein Freund sprechen, das Tabu brechen, das er sich selbst auferlegt hatte. Endlich wurde das Schweigen so dicht, dass die beiden Männer es kaum mehr ertragen konnten. Fergusson stand auf, trat ans Fenster, durch das die letzten Sonnenstrahlen dieses klaren Maiabends fielen und stellte die Frage, die ihn am meisten beschäftigt hatte:
„Hat dich Seonaid betrogen?“
McKeir schüttelte nur den Kopf.
„Was war es dann, was euch auseinander gebracht hat?“
„Ich“ Es klang lapidar.
„Du? Wie soll ich das verstehen?“
„Mein Misstrauen und mein verdammter Jähzorn. Ich habe ihr immer wieder die dümmsten Verdächtigungen an den Kopf geworfen – und dann habe ich sie geschlagen, wenn sie ihre Unschuld mit dieser madonnenhaften Leidensmiene beteuerte. Verstehst du: ich habe sie geschlagen!“
McKeir schrie die Selbstanklage hinaus, als würde sie ihm physischen Schmerz bereiten.
„Na, reizend!“ stellte Fergusson voll Sarkasmus fest. „Da habe ich dich immer für einen Ehrenmann gehalten und nun entpuppst du dich als fieser Schlägertyp und Tyrann. Arme Seonaid! Wenn ich das ganze Drama recht interpretiere, hat sich deine Frau immer mehr von dir abgestoßen gefühlt und Trost in der Musik gesucht, auf die du in deinem Wahn krankhaft eifersüchtig geworden bist. Und du hast es ihr übel genommen, dass sie dich nicht mit einem anderen Mann betrog, woraus du dir wiederum das Recht genommen hättest, sie zu schlagen – nein, sie kompensierte Schmerz und Enttäuschung, indem sie immer öfter und immer besser Flöte spielte, und du fühltest dich immer mehr ins Unrecht gesetzt – einen circulus vitiosus, einen Teufelskreis nennt man das wohl!“
„So wird es wohl sein!“ bekannte McKeir kleinlaut.
„Und der arme Junge hat das alles mitbekommen, ohne es wirklich verstehen zu können, weil er ja noch viel zu klein war.“
„Das steht zu befürchten. Vor allem aber wird er möglicher Weise trotz seines apathischen Zustandes mitbekommen haben, wie ich nach dem Unfall gewütet, geflucht, geschrien und mit Anschuldigungen und Verwünschungen gegen Seonaid und ihre Liebe zur Musik herumgeworfen habe.“
„Durchaus denkbar!“ bestätigte Fergusson, „Wenn ich auch nicht glaube, dass er es bewusst aufgefasst hat. Seine Reaktionen in den letzten Tagen lassen jedoch den Schluss zu, dass es gerade die Töne sind, die ihn aus der Tiefe seines Dämmerzustandes herauslocken könnten. Ich zermartere mir schon die ganze Zeit das Gehirn, ob wir nicht in dieser Richtung einen Weg finden können, dem Kind zu helfen?“
Wieder schwiegen die beiden Männer und hingen ihren Gedanken nach, die um nichts anderes kreisten als um Calums Zukunft.
Fergusson ging langsam zwischen den beiden Fenstern hin und her.
Da es draußen zu dämmern begann, schwand das Licht im Raum rasch, bis der Arzt nur noch als dunkle Silhouette gegen die blauen Scheiben zu sehen war. Irgendwann schenkte McKeir wortlos Whisky nach, irgendwann klopfte es an der Türe, der Butler trat ein und brachte den Leuchter, um überall die Lampen anzuzünden. Als hätte das Licht den Bann des Schweigens gebrochen, seufzte McKeir tief, hob seinen Becher und prostete Fergusson mit dem gälischen „Slàinte mhath“ zu, wohl wissend, dass die Sprache der Highlander unerwünscht und eigentlich verboten war, seit England und Schottland politisch vereint waren. Es war ihm aus dem tiefen Bedürfnis, aber irrealen Wunsch herausgerutscht, zu seinen Wurzeln zurückzukehren, um noch einmal von vorne anfangen zu können. Fergusson, seiner Herkunft nach Schotte, aber klug genug, sich damit abzufinden, dass Schottlands Politik zum gegenwärtigen Zeitpunkt von den Engländern dominiert wurde, lächelte nachsichtig, trank seinen Becher leer und verabschiedete sich mit dem Versprechen, über die Angelegenheit nachzudenken und spätestens in zwei Tagen wieder zu kommen, um nach dem Jungen zu sehen. Bis dahin, so hoffte er, würden sie mit vereinten Kräften eine Lösung gefunden haben.
„Wenn eine Verschlechterung in seinem Zustand eintritt, lass mich sofort holen!“ rief er noch, als er die Treppe hinab in die einbrechende Nacht eilte.
Miss Bromfield saß seit Stunden am Bett des kleinen Calum. Das Kind schlief sehr unruhig, wurde immer wieder von Fieberschüben geschüttelt, wachte aber nicht wirklich auf. Von Zeit zu Zeit tupfte die Nanny kleine Schweißperlen von der Stirne des Kindes oder wechselte die Essigumschläge an den Füßen, wobei sie sich die Frage stellte, ob diese an den gelähmten Extremitäten überhaupt Wirkung gegen das Fieber zeigen konnten. Gegen Mitternacht, als ihr selbst die Augen zuzufallen drohten, begann sie, leise vor sich hin zu singen, womit sie sich bedenkenlos über den McKeir’schen Befehl „No music in my home“ hinwegsetzte. Der Mann, wohlhabend, erfolgreich, politisch geachtet und bedeutend, war in ihren Augen ein gefühlloser, an krankhaften Vorstellungen leidender, unbeherrschter und unberechenbarer Eigenbrötler, zudem krankhaft eifersüchtig, der es jedoch nach außen hin vorzüglich verstand, den Ehrenmann darzustellen.
Was er ihrer besten Freundin angetan hatte, würde sie ihm nie verzeihen, noch weniger aber, was er dem Kind antat. So vieles war völlig schief gelaufen seit der Zeit, als die beiden jungen Damen, Seonaid Colbath-Keats und Fiona Bromfield im Rousen Manor in Aberdeen zusammengetroffen waren, wo beide unter der gestrengen Aufsicht der alten Lady McMorven so etwas wie den letzten Schliff für ihre Zukunft als Gattinnen angesehener, schottischer Adeliger bekommen sollten. Die Mädchen hatten sich sofort angefreundet. Wenn Miss Bromfield heute über diese Zeit nachdachte, so war sie der Überzeugung, dass es nur der intensiven Freundschaft zu verdanken war, dass sie beide den Drill der moralinsauren Lady McMorven ertragen hatten. Schon damals hatte Fiona Bromfield so etwas wie Verantwortung für die jüngere und sensiblere Seonaid übernommen. Nicht selten hatte sie das zarte Mädchen trösten müssen, wenn Lady McMorven wieder einmal ihre Erziehungsmaßnahmen übertrieb.
Seonaid hatte sich schrecklich einsam und völlig unterdrückt gefühlt, aber vieles hingenommen, da sie doch überzeugt war, es für Alistair McKeir zu tun und in ihm den richtigen Mann für ihr ganzes Leben gefunden zu haben. Sie vergötterte den zwölf Jahre älteren Alistair seit ihrer Kindheit und war felsenfest davon überzeugt, dass ihre Eltern die richtige Wahl getroffen hatten, als sie ihre Tochter dem begüterten und einflussreichen Laird zur Gattin versprochen hatten. Nachdem Fiona Bromfield den Gentleman und Heiratskandidaten bei Teegesellschaften und Soireen im Haus McMorven näher kennen gelernt hatte, bedauerte sie ihre Freundin Seonaid weit mehr als sie sie um den fest versprochenen Gatten beneidete. Sie hatte vom ersten Augenblick an eine Aversion gegen ihn, ohne genau definieren zu können, warum. Obwohl sie sich sehr bemühte, mit Seonaid möglichst objektiv darüber zu sprechen, war es ihr nicht gelungen, das träumerische Mädchen davon zu überzeugen, dass McKeir nicht der ideale Ehemann für sie sein würde. Trotz mehrfacher Warnung hatte sich Seonaid in den Kopf gesetzt, Alistair McKeir zu heiraten. Fiona konnte ihr also den Vorwurf nicht ersparen, dass sie einen Teil der Schuld an der Misere selbst getragen hatte.
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Ausschnitt aus einem Brief Miss Fiona Bromfields an ihre Freundin Seonaid, Colbath Manor, Perth:
Bist du dir wirklich ganz sicher, dass du Alistair heiraten willst? Er erscheint mir so grässlich unbedarft in allen Dingen, die dir und mir so wichtig erscheinen. Neulich gab es eine äußerst peinliche Situation hier im Rousen Manor. Lady McLintock (du erinnerst dich, die reizende alte Dame, die es aus unerfindlichen Gründen vorgezogen hat, im totlangweiligen Aberdeen zu leben statt in London) brachte bei einem ebenso todlangweiligen Abend mit dem Lord Mayor das Gespräch auf Georg Friedrich Händel. Alistair stieg gehörig ins Fettnäpfchen, als er keine Ahnung hatte, wer Händel ist und was er macht. Er konnte auch im anschließenden Gespräch nicht mitmischen und zog sich mit beleidigter Miene in das Herrenzimmer zurück, wo er mit Lord Fenniemore einen gehörigen Streit über die Nutzlosigkeit der Kunst und die unübersehbare Gefahr des deutschen Einflusses auf die englische Kultur anzettelte, wobei er sehr laut und unbeherrscht wurde. Liebste Seonaid - ich weiß wirklich nicht, ob er der Richtige für dich ist …
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Das alte gälische Lied, das Miss Bromfield nicht aus dem Sinn ging, handelte von unerfüllter Liebe und unfreiwilliger Einsamkeit in den kargen Glens der Highlands. „Dè a tha thu a’ dèanamh a-nochd?-Was machst du heute Nacht?“ lautete der Refrain, der ihr in den Ohren klang. Sie musste unwillkürlich über die Parallele zu ihrer eigenen Situation lächeln. Als Philip Hearns, der junge, aufstrebende Jurist aus Glasgow, um ihre Hand angehalten hatte, hätte man eigentlich damit rechnen können, dass ihr Leben einen sicheren, gutbürgerlichen Verlauf nehmen würde. Der Traum von einer florierenden Kanzlei war allerdings rasch ausgeträumt. Hearns zog es vor, sich in reichlich dubiosen Kreisen zu bewegen, spielte zu gerne Karten und wurde schließlich, wenige Wochen vor der geplanten Hochzeit wegen Betrügereien verhaftet. „Mo ghràidh, mo gràidh! Mein Liebling, mein Liebling!“ Das war es dann wohl! Fiona Bromfield verkraftete die Enttäuschung erstaunlich gut. Im Grunde ihrer Seele war sie sogar froh, ihre Freiheit nicht eingebüßt zu haben, zumal ihr die Großeltern eine ansehnliche jährliche Apanage vermacht hatten, von der sie praktisch sorgenfrei leben konnte. Sie blieb in Aberdeen im Rousen Manor, offiziell als eine Art Betreuerin für die Töchter feiner Familien, die jeweils für einige Wochen zu Fortbildung hierher kamen, doch lebte sie fortan hauptsächlich für ihre eigenen zahlreichen Interessen: Musik, Malerei, Botanik, Mathematik, Astronomie und Bücher, Bücher, Bücher.
„Miss Bromfield, Sie sind ein unverbesserlicher Bücherwurm! Haben Sie denn gar keine Angst, eine alte Jungfrau zu werden?“ fragte so mancher, oder „ Haben Sie den gar keine Angst, zu klug zum Heiraten zu werden?“ doch Fiona schüttelte nur lachend den Kopf. Als sie dann plötzlich Hals über Kopf Aberdeen verließ, um sich bei McKeir als Nanny zu verdingen, konnte sich keiner einen Reim darauf machen.
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Ausschnitt aus einem Schreiben Alistair McKeirs an Miss Fiona Bromfield, Rousen Manor, Aberdeen:
Verehrteste! Da Sie stets die Vertraute meiner kürzlich unter so tragischen Umständen verstorbenen Gattin waren, wage ich es, Sie um einen Rat zu bitten. Seonaid hat immer wieder angekündigt, dass sie an Sie die Bitte richten wolle, ihr bei der Erziehung unseres Sohnes unter die Arme zu greifen. Noch wenige Tage vor dem Unglück kündigte Seonaid an, Sie zu bitten, für einige Zeit sozusagen als ganz spezielle Gouvernante und gute Freundin die Fortbildung unseres Sohnes zu übernehmen. Inzwischen hat sich alles auf grausame Weise verändert. Calum, der immer ein besonders aufgeweckter und kluger Junge war, ist nur noch ein Schatten seiner selbst: er ist gelähmt und stumm! Die Verzweiflung erfasst mich, wenn ich das hilflose Bündel sehe! Ich bitte Sie inständig, um unserer lieben Verstorbenen Willen, mir zu helfen! ...
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Fiona Bromfield hatte ohne zu Zögern die Aufgabe übernommen, sich um das Kind zu kümmern, wobei infolge der Behinderung des Knaben ihre Tätigkeit hauptsächlich der einer Nanny oder Nurse glich – wickeln, füttern, baden, in den Schlaf wiegen. Manchmal trauerte sie der Vorstellung nach, was sie dem Jungen alles hätte beibringen können und wie viel Freude und Spaß sie und Seonaid an den Fortschritten des Kindes gehabt hätten. Manchmal fühlte sie sich auch wie in der Verbannung, vor allem dann, wenn die Bücherlieferungen aus Aberdeen längere Zeit ausblieben. Sie war jedoch stets ehrlich genug, zuzugeben, dass sie sich ihre Situation selbst ausgesucht hatte und machte niemandem einen Vorwurf, auch wenn sie es hin und wieder bedauerte, keinen ihrer Bildung und Intelligenz entsprechenden Gesprächspartner zu haben. McKeirs Interessen lagen auf völlig anderem Gebiet, Doktor Fergusson war zu sehr auf die Errungenschaften der Medizin fixiert und der Pfarrer, der einzige im weiten Umkreis, der über eine adäquate Bildung verfügte, reizte Fiona mit seiner frömmelnden Sanftmut nur zu heftigem Widerspruch, was ihr sogar selbst manchmal peinlich war. So musste sie sich wohl oder übel damit begnügen, gelegentlich mit einigen ihrer interessanteren Bekanntschaften aus Aberdeen, Glasgow, London und Paris zu korrespondieren und auf diese Weise Kontakt zu jener Welt zu pflegen , die ihr offen gestanden wäre, hätte sie nur die Gelegenheit ergriffen.
Gegen zwei Uhr morgens konnte Miss Bromfield endlich feststellen, dass die Fieberschübe ausblieben, die Krisis ganz offensichtlich überwunden war und das Kind ruhiger schlief. Erleichtert und einigermaßen erschöpft begab sie sich nun auch zu Bett und fiel in einen traumlosen Schlaf der Erschöpfung.
Auch McKeir fand lange keinen Schlaf. Er lief in seinem Zimmer auf und ab wie ein gefangenes Tier und quälte sich abwechselnd mit Selbstvorwürfen und wütendem Hader mit seinem Schicksal. Seine Erwartungen in die Ehe mit der zauberhaften Seonaid hatten sich nicht erfüllt, vor allem wohl deshalb, weil zwischen ihm und ihr Welten lagen. Während er von Jugend an gewohnt war, seine Entscheidungen und seine Tätigkeiten nach einem gesunden, wirtschaftlich Prinzip zu richten, war Seonaid die personifizierte Muse gewesen:
gottvoll naiv, verträumt, in die Künste und in die Natur verliebt und überzeugt, dass ihre romantischen Vorstellungen vom Leben die einzig richtigen wären.
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Auszug aus einem Brief der fünfzehnjährigen Seonaid Colbath-Keats an ihren Verlobten, Alistair McKeir, McKeir Estate, Crianlarich:
Liebster! So darf ich Euch wohl nennen, nachdem unsere Eltern die Verlobung bekannt gegeben haben! Ich träume von Euch und von unserem gemeinsamen Leben, das ich mir ganz herrlich vorstelle, erinnere ich mich doch jeden Tag wieder voll Sehnsucht an unser Treffen am moosgrünen Ufer des Loch Lomond: das Glitzern des Wasser, die Strahlen der Sonne, die durch das Geäst der alten Bäume fielen, die sich vor meinem Ritter zu verbeugen schienen, das Konzert der kleinen Vögel, das die Luft erfüllte, als konzertierten sie nur für Euch – und ich hoffte so sehr, auch für mich - die warme Brise, die auf den See muntere Kräuselwellen zauberte, die so fröhlich zu tanzen schienen wie ich es mir wünschte! Diese Welt umarmte uns mit ihrer wunderbaren, sommerlichen Schönheit- verzeiht mir, wenn ich als Eure kleine Braut nun voll Ungeduld darauf warte, von Euch in die Arme genommen zu werden…
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McKeir seufzte. Wie war er doch stolz gewesen auf seine schöne, von allen bewunderte und geliebte Braut – und wie war er enttäuscht gewesen, als sich ihre Ehe nicht besonders glücklich entwickelte, weil sich Traum und Realität, Festtag und Alltag, Phantasiewelt und Erdverbundenheit nicht vereinen ließen. Auch wenn er seine junge Frau über alle Maßen liebte und verehrte, war er doch auf Dauer nicht in der Lage, ihre in seinen Augen kapriziösen Ansichten und Unternehmungen zu akzeptieren, im Gegenteil: er wurde auf alles eifersüchtig, das er nicht nachvollziehen konnte. Vor allem aber wurde er eifersüchtig darauf, dass Seonaid ihre Erfüllung und so etwas wie Glück auch dann noch finden konnte, wenn er sich ihr gegenüber vergaß, was wiederum dazu führte, dass er sich, sobald er nach seinen Wutausbrüchen wieder zu Besinnung kam, entsetzlich schämte, worüber er sich neuerlich ärgerte. Teufelskreis hatte sein Freund Fergusson das genannt. Jawohl, ein Teufelskreis war es gewesen, in dem er und Seonaid umhergeirrt waren, beide mit der trügerischen Vorstellung und dem innigen Wunsch, aus dem Kreis heraustreten zu können, ohne jedoch zu wissen, wie. Dass der kleine Calum unter den Spannungen litt, war sowohl ihm als auch Seonaid manchmal schon bewusst geworden, doch waren sie beide überzeugt gewesen, trotz allem das Beste für das Kind zu tun.
Das Kind! Stolz und Freude hatte ihn erfüllt, als ihm Seonaid schon nach einem knappen Jahr den ersehnten Stammhalter geboren hatte.
Grauen, Gram und Verzweiflung waren es, die ihn seit dem Unfall quälten. Er hatte die Hoffnung längst aufgegeben, dass der Junge jemals ein normales Leben führen könnte, insgeheim nicht selten auf einen gnädigen Tod für ihn gehofft. Jetzt hatte sich die Situation völlig verändert. Was in den letzten Tagen geschehen war, ließ wieder Hoffnung aufkeimen. Mit ungewohnter Ehrlichkeit sich selbst gegenüber machte sich McKeir bewusst, dass Calum das Einzige war, das ihm von seiner geliebten Frau geblieben war. Hatte er das Kind in den letzten fast zwei Jahren zu oft als unzumutbare Belastung empfunden, so erkannte er, von den negativen Ereignisse in seiner Ehe und dem schicksalhaften Ende immer größeren Abstand gewinnend, dass er Verantwortung für ein kostbares Erbe trug, das kostbarste, das man bekommen konnte. Erschüttert und gleichzeitig beglückt über diese Erkenntnis ließ sich McKeir auf sein Bett fallen.
Er erwachte von seinem eigenen Schrei. Die Vögel, abertausende von knallbunten Vögeln, waren um ihn herumgeschwirrt und hatten ihm grässlich schrille Töne in die Ohren gepfiffen. Immer enger hatten sie ihre Kreise gezogen und immer lauter und durchdringender war ihr Gekreisch geworden. Schließlich hatten sie sich zu einer Armee formiert und waren wie ein breiter Pfeil auf ihn losgegangen. Schutzlos ausgeliefert hatte er der Bedrohung entgegen gestarrt und vergeblich versucht, wenigstens die Arme als Schutz vor das Gesicht zu heben.
Er hatte sich jedoch nicht bewegen können. Die Vögel waren auf ihn zu geschossen und hatten ihn durchbohrt, ohne ihm jedoch Schmerz zuzufügen. Er hatte nur sich selbst in zwei Hälften zerfallen gesehen.
Ganz benommen schüttelte er den Kopf über den unangenehmen Alptraum und stellte sich die Frage, warum man so einen Unsinn überhaupt träumen konnte. Da erinnerte er sich an die eindringlichen Worte seines Sohnes: „Ich pfeife wie die Vögel im Park!
McKeir erhob sich ächzend. „Musik der Natur: das war es, was der Junge gesagt hatte. Musik der Natur und nicht Musik der Menschen, nicht Musik seiner Mutter, nicht Musik als Ausdruck der Separation von anderen, nicht als Provokation, sondern als Ausdruck des Eins seins mit der Welt. Was war er doch für ein blinder Idiot, dass er diese Botschaft nicht verstanden hatte! Es tat ihm in der Seele weh, weil er nun annehmen musste, dass auch Seonaid - er wagte nicht, den Gedanken zu Ende zu denken, doch langsam, ganz langsam, reifte in ihm eine Idee, wie er seinem Sohn vielleicht helfen konnte.
Lady Seonaids Zimmer hatte seit ihrem Tod niemand betreten dürfen. Auf McKeirs Befehl hatte alles so bleiben müssen, wie seine Frau den Raum verlassen hatte. Den Schlüssel verwahrte er seither an einer Kette um den Hals. Als er nun die wenigen Schritte von seinem zu Seonaids Schlafzimmer zurücklegte, klopfte sein Herz wie nach einem Dauerlauf. Er hatte das Gefühl, ein Sakrileg zu begehen, so sehr hatte er selbst dem Raum die Aura eines Heiligtums verliehen. Nervös nestelte er den Schlüssel heraus und schloss mit gemischten Gefühlen auf. Zunächst schlug ihm abgestandene Luft entgegen. Er durchschritt ohne links noch rechts zu sehen den Raum und öffnete das Fenster.
Er atmete tief die Morgenfrische ein. Dann erst wandte er sich um.
Alles war unverändert, als hätte Seonaid erst vor wenigen Augenblicken den Raum verlassen. McKeir bildete sich sogar ein, noch ihren Duft zu riechen. Ihr blauseidener Morgenrock lag zusammengeknüllt am Boden, daneben die weißen, ledernen Pantoffel, die sie im Haus so gerne trug, weil sie viel bequemer waren als das andere modische Schuhwerk. Auf dem Nachttisch lag mit den aufgeschlagenen Seiten nach unten das Buch, das sie zuletzt gelesen hatte. Die Erinnerung daran, dass sie das Buch sterbenslangweilig gefunden und ihm abgeraten hatte, es zu lesen, machte McKeir betroffen. Er würde es nie lesen, schon aus dem Gefühl heraus, Seonaid damit noch nach ihrem Tod in den Rücken zu fallen und ihr Urteil nicht ernst zu nehmen. In der Nische neben dem Fenster stand das Notenpult, darauf ein handgeschriebenes Notenblatt mit einer Holzklammer befestigt, damit es nicht verweht werden konnte. McKeir wagte nicht, das Blatt anzufassen, doch sprang ihm die sauber geschriebene Überschrift ins Auge.
„Calums erstes Lied“ stand da, unverkennbar in Seonaids zierlicher, ein wenig fahriger Handschrift. Darunter lag, in ihre zwei Teile zerlegt, Seonaids Flöte. In McKeir tobte ein Sturm der Gefühle, die sich langsam aber sicher in einer entscheidenden Erkenntnis fokussierten:
Er hatte dieses Instrument in seiner eifersüchtigen Verblendung zum Objekt seines gesamten, unsteuerbaren Hasses gemacht und damit die Beziehung zwischen sich und Seonaid bis zur Unerträglichkeit vergiftet.
„Ich gottverdammter Idiot!“ sagte er laut.
„Selbsterkenntnis ist der erste Weg zur Besserung“ tönte es in seinem Rücken. Erschrocken wandte er sich um. Miss Bromfield stand in der Türe und sah ihn halb mitleidig, halb neugierig an. Im ersten Moment wollte McKeir unbeherrscht hochfahren, doch siegte schließlich sein ehrlich empfundenes Verlangen, einiges gut zu machen, was er in seiner maßlosen Eifersucht zerstört hatte, auch wenn ihm im gleichen Moment siedend heiß bewusst wurde, dass er gegenüber Seonaid nichts mehr gut machen konnte.
„Zu spät!“ flüsterte er verzweifelt.
Fiona sah ihn mit mitleidigem Blick an. Sie merkte, wie ernst es ihm damit war, etwas Grundlegendes in seinem Leben zu ändern. Ganz ohne Tadel wollte sie ihn jedoch nicht davonkommen lassen.
„Tja, Sir! Für manches ist es in der Tat zu spät. Die Lücke, die Seonaids Tod in unser aller Leben gerissen hat, ist nicht mehr zu schließen. Um sie können wir nur trauern – und, “ sie machte eine bedeutungsvolle Pause. McKeir sah sie erwartungsvoll an.
„ Und was?“ frage er heiser.
„Und wir können versuchen - gemeinsam und mit allen Kräften versuchen, Calum in das Leben zurückzuholen. Das sind wir ihrem Vermächtnis schuldig - oder denkt Ihr anders, Sir?“
„Nein, nein – ganz und gar nicht!“ McKeir schüttelte heftig den Kopf.
„Es ist genau das, was mir heute Nacht so deutlich bewusst geworden ist: Calum ist die Erbschaft, die Seonaid hinterlassen hat. Es ist meine verdammte Pflicht und Schuldigkeit, dem Jungen zu einem lebenswerten Dasein zu verhelfen und ich schwöre, ich werde alles tun, um das zu er-möglichen – alles, gar alles und wenn es mein Leben kostet!“
Miss Bromfield lächelte nachsichtig. „Aber Sir, nun übertreibt in eurer Euphorie über eure – nun, sagen wir: Erleuchtung – nicht gleich. Es wird genügen, wenn wir alles Menschen Mögliche tun – wobei ich nicht in Eurer Haut stecken möchte!“
McKeir sah die Frau verständnislos an. Sie lächelte ein wenig spöttisch, als sie sagte: „Geduld war noch nie Eure Stärke – oder?“
McKeir bekam einen roten Kopf und wollte aufbrausen, doch Miss Bromfield bremste ihn ein: „Nicht, Sir! Nicht wütend werden! Es lohnt sich nicht! Ich bin überzeugt, Ihr schafft es, wie der gute, heilige Ritter Sankt Georg gegen den Drachen, gegen eure Unbeherrschtheit den Sieg davon zu tragen. Kommt, lasst uns endlich zu Calum gehen.
Er erwartet euch!“
McKeir sah Miss Bromfield an wie ein Weltwunder. „
„Sagen Sie das noch einmal! Ich höre wohl schlecht!“
„Ihr hört ganz gut, Sir. Es hat sich heute Morgen Erstaunliches ereignet. Calum spricht, und zwar völlig normal und für sein Alter ungeheuer verständig!“
Miss Bromfield war davon erwacht, dass Calum laut und deutlich die Frage stellte: „Wo sind meine Pfeifchen?“
Sie sprang so rasch aus dem Bett, dass sie sich in der Decke verhedderte. Stolpernd und taumelnd durchquerte sie fast das ganze Zimmer, ehe sie sich fangen konnte. Sie musste dabei wohl einen komischen Anblick geboten haben, denn der Junge lachte schallend und rief ihr entgegen:
„Aber Miss, sie wollen doch nicht etwa fliegen?“
„Oh, Calum, Calum, mein Liebling! Glaube mir, wenn du mit mir sprichst, würde ich wirklich am liebsten fliegen!“ antwortete Fiona, gerührt darüber, dass der gestrige Eklat offenbar keine Auswirkung auf Calums zurück gewonnene Fähigkeit, zu sprechen, gehabt hatte.
„Da sind sie doch, deine Pfeifchen!“
Die drei Weidenpfeifchen lagen am Tisch neben Calums Bett. Die Nanny gab dem Kind die Hand, dass es sich aufrichten konnte. Calum nahm die Pfeifchen und betrachtete sie eine Weile, ehe er fragte:
„Wird das Wetter heute gut?“
Fiona wusste nicht, worauf der Junge hinauswollte.
„Ja, ich denke schon. Mittags wird es bestimmt sehr warm!“
„Das ist gut!“ stellte der Junge mit Befriedigung fest „Dann können Sie mich bestimmt bis an das andere Ende des Parks schieben, dorthin, wo die Glashäuser sind!“
„Sicher, aber was sollen wir dort? Blumen haben wir doch erst vor zwei Tagen geholt!“
„Stimmt!“ bestätigte der Junge, „aber dort draußen kann ich meine Pfeifchen blasen, ohne dass er es hört!“
„Er? Wen meinst du?“
„Dad!“ antwortete das Kind mit ernstem Gesicht. „Wenn er mich nicht hört, kann er auch nicht wütend werden, oder? “
Fiona zögerte mit der Antwort. Sie überlegte, wohin dieses Gespräch führen würde. Offensichtlich war sich Calum darüber im Klaren, dass sein Vater das Pfeifen nicht ertragen konnte. Andererseits wollte Calum darauf auch nicht verzichten und suchte einen Ausweg aus dem Dilemma.
„Naja!“ meinte sie, „Bei schönen Wetter ist das ein Ausweg – was aber sollen wir tun, wenn es regnet?“
Calum überlegte. „Dann werde ich wohl nicht pfeifen dürfen! Nicht wahr, Miss, er ist ein böser Mensch!“
Fiona erschrak. Was sollte sie dagegen vorbringen. So, wie sich McKeir seiner Frau und seinem Sohn gegenüber verhalten hatte, musste das Kind davon überzeugt sein, dass sein Vater böse war. Wie konnte man einem Sechsjährigen die komplizierten Gedankengänge und Reaktionen eines zutiefst verunsicherten Menschen erklären?
Wie ihm klar machen, dass Gut und Böse oftmals sehr nahe beieinander lagen?
„Ach, Calum!“ seufzte sie. „Dein Vater ist nicht böser und auch nicht besser oder schlechter als die meisten Menschen. Er hat schon viel in seinem Leben an Leid ertragen müssen – und Leid macht die Menschen hart, weil sie glauben, nur mit Härte dem Schicksal trotzen zu können, und dann kommen sie auf die unsinnigsten Ideen!
Der Junge überlegte kurz, ehe er fragte: „Dass er die Musik nicht leiden kann – ist das so eine unsinnige Idee?“
„Ich bin davon überzeugt!“
„Warum gerade die Musik?“ wollte Calum wissen.
Fiona dachte kurz nach. „Ich weiß es nicht, Calum! Das müsstest du ihn schon selber fragen!“
Der Junge schüttelte den Kopf. „Das traue ich mich nicht! Er kriegt bestimmt wieder seinen …. äh, seinen … Rappel!“
Fiona zuckte mit den Schultern. „Das könnte durchaus sein – andererseits könnte ich mir gut vorstellen, dass er gerade dir eine Antwort geben würde. Schließlich bist du sein Sohn. Vielleicht solltest du wirklich mit deinem Vater sprechen – sozusagen von Mann zu Mann!“
Fiona versuchte, dem Gespräch eine etwas weniger ernste Note zu geben. Sie fürchtete, dass der Junge überfordert sein könnte, obwohl er selbst das Thema angeschnitten hatte.
„Aber jetzt wird es Zeit, uns alltäglichen Dingen zuzuwenden. Du hast noch genügend Zeit, über alles nachzudenken. Jetzt machen wir erst einmal Toilette. Sie klingelte nach dem Mädchen, das ein große Porzellanschüssel, einen Krug mit warmem Wasser und frische, gewärmte Handtücher brachte, damit sie das Kind waschen konnte, nachdem sie es aus dem Bett gehoben und auf den Leibstuhl gesetzt hatte.
Fünf Monate hatte sie mit eiserner Disziplin und Ausdauer daran gearbeitet, den gelähmten Knaben sauber zu bekommen, um wenigstens sich und ihm das mühsame Wickeln zu ersparen. Auch wenn er nicht sprach, so hatte er doch nach einiger Zeit verstanden, was seine Nanny von ihm erwartete. Er hatte gelernt, mit den Händen ein Zeichen zu geben, wenn er musste, was für Fiona ein untrügliches Zeichen dafür gewesen war, dass der Knabe sehr viel mehr von seiner Umwelt wahrnahm, als angenommen wurde.
Inzwischen war es zur Selbstverständlichkeit geworden, dass Calum auf seinem „Thron“ saß. Heute allerdings war etwas anders – Fiona sah es sofort. Während Calums Beine bisher leblos heruntergehangen waren, bewegten sich heute seine Füßchen auf und ab. Auch spreizte der Knabe unwillkürlich die Zehen und plötzlich begann er mit den Beinen zu baumeln, ein absolut untrügliches Zeichen, dass er sie bewegen konnte. Fiona hätte am liebsten laut geschrien vor Freude, dass trotz oder vielleicht sogar wegen des traumatischen Ereignisses vom Vortag offensichtlich eine gewaltige Änderung im Zustand des Kindes eingetreten war.
„Ruhe bewahren!“ ermahnte sie sich selber. Ohne sich etwas anmerken zu lassen, versorgte sie das Kind wie gewöhnlich, wusch es, zog es an und setzte es in den Rollstuhl. Calum selbst schien es auch nicht bewusst zu sein, dass sich etwas geändert hatte. Er spielte mit seinen Pfeifchen herum, ohne jedoch hinein zu blasen und dachte anscheinend über die Dinge nach, die ihn in diesem Zusammenhang beschäftigten. Als das Mädchen das Frühstück servierte, aß er schweigend seinen Porridge, kritisierte aber das erste Mal die Milch.
„Eigentlich mag ich die blöde Milch überhaupt nicht! Immer schwimmt so eine eklige Haut darauf!“
Fiona nahm ihm den Becher aus der Hand. Tatsächlich hatte sich auf dem abkühlenden Getränk eine Haut gebildet. Sie musste schmunzeln, denn auch sie hasste nichts mehr als Milch mit Haut. Ebenso hatte Seonaid davor geekelt. Mit leiser Wehmut erinnerte sich Fiona.
***
Aus einem Brief Lady Seonaid McKeirs an ihre Freundin Fiona Bromfield, Rousen House, Aberdeen:
... stell dir vor, seit die Köchin weiß, dass ich schwanger bin, lässt sie mir täglich morgens heiße Milch servieren. Du erinnerst dich doch noch, dass ich das elende Gebräu überhaupt nicht ausstehen kann, vor allem wenn Hautfetzen darin herumschwimmen. Weißt du noch, wie Lady McMorven sauer war, als ich mich standhaft weigerte, Milch zu trinken, bis ich ihr mit den schönsten Worten, die ich finden konnte, glaubhaft machte, dass es doch wesentlich damenhafter sei, Tee aus einem der zarten Porzellantässchen zu nippen, die sie so sorgsam hütete. Neulich hatte ich wirklich große Mühe, meinen Brechreiz zu unterdrücken, aber ich bringe es einfach nicht über das Herz, die fürsorgliche Frau Wilson zu enttäuschen. Sie meint es ja so gut! Seit gestern habe ich allerdings eine Lösung gefunden, die Milch nicht mehr selber trinken zu müssen: In der Gärtnerei gibt es drei allerliebste Katzen, und niemand schöpft Verdacht, wenn Lady McKeir Blumen für ihr Zimmer holen geht. Es gibt doch bestimmt kaum etwas Damenhafteres als die Liebe zu Blumen, oder?
***
„Sie mochte auch keine Milch!“
Calums Feststellung riss Fiona aus ihren Gedanken.
„Wie, bitte? Wer? Wer mochte auch keine Milch?“ fragte sie zerstreut.
„Mum!“
„Daran erinnerst du dich?“
„Ja! Und ….!“ Der Junge zögerte.
„Und was?
„Sie war sehr - lustig!“
Fiona wandte sich ab. Calum sollte nicht sehen, dass ihr die Tränen in die Augen traten. Mit belegter Stimme bestätigte sie:
„Ja, Calum, das war sie – sehr lustig und fröhlich!“
„Aber er ist doch böse!“ Mit dieser lapidaren Feststellung kehrten sie wieder zu dem heiklen Thema zurück, das Calum und Fiona schon vor dem Frühstück beschäftigt hatte. Noch einmal versuchte sie, den Jungen davon zu überzeugen, dass sein Vater keineswegs böse war, auch wenn es ihr schwer fiel, Argumente zu finden, die das Kind verstehen konnte. Über die Schwächen eines Charakters zu debattieren, ohne anklagend zu wirken, sondern im Gegenteil die positiven Aspekte hervorzuheben, um einem sechsjähriges Kind eine verständliche Erklärung für Vorkommnisse zu liefern, die es noch viel weniger als ein Erwachsener verstehen konnte, war eine schier unlösbare Aufgabe, vor allem, wenn man gnädige Lügen vermeiden wollte. Es gelang ihr nicht wirklich, doch merkte sie, wie der Junge langsam begann, ein Gespräch mit seinem Vater, den er bisher gefürchtet hatte wie der Teufel das Weihwasser, zumindest in Erwägung zu ziehen.
„Wenn ich ihn frage, bekommt er vielleicht wieder seine Wut!“ gab er zu bedenken.
„Das könnte durchaus sein!“ musste Fiona zugeben.
„Vielleicht schlägt er mich dann – er hat sie auch geschlagen!“
„Ach, Calum!“ Fiona wusste nicht, was sie darauf sagen sollte. Im ersten Moment wollte die diese Tatsache abstreiten, doch es wurde ihr siedend heiß bewusst, dass Calum nur zu genau wusste, was passiert war. Sie versuchte, möglichst emotionslos zu sprechen.
„Das wird er nicht wagen – sein Kind dafür zu schlagen, dass es mit ihm über lebenswichtige Dinge sprechen will. Nein, das wird er nicht tun!“
Eine Weile schwieg Calum. Er rang sichtlich mit sich selbst und focht einen inneren Kampf aus, der die Kräfte des Kindes zu übersteigen drohte. Seine Stimme klang weinerlich, als er fragte:
„Von Mann zu Mann? Miss, glauben Sie, dass er mit mir wirklich von Mann zu Mann sprechen wird? Ich bin ja noch kein Mann – ich bin noch viel, viel, viel zu klein!“
Fiona strich ihm behutsam und tröstend über den Kopf: „Auf die Größe kommt es oft nicht an. Wichtig ist, dass du keine Angst hast!“
„Ich habe aber Angst!“ gestand der Junge kleinlaut, „und doch will ich es wissen!“.
„Nun, Calum, dann musst du eine Entscheidung treffen, was größer ist: Der Wunsch, gewisse Dinge zu erfahren oder die Angst vor deinem Vater!“
Wieder überlegte der Junge einige Zeit. Unruhig rutschte er auf seinem Rollstuhl hin und her, stieß mit den Fersen immer wieder gegen das Gestell, ballte die Hände zu Fäusten und schlug in der Luft auf einen imaginären Gegner ein. Schließlich schrie er fast:
„Er muss es mir sagen, er muss!“
„Was genau soll er dir denn sagen?“
„Alles! Er muss mir alles sagen!“
„Alles?“
„Ja, alles! Warum Mum tot ist, warum ich nicht laufen kann, warum er schreit, warum er – böse ist!“
„Bist du sicher, dass du mutig genug bist, ihn zu fragen, wenn er kommt?“
„Weiß nicht!“
„Bist du sicher, dass du wirklich mit ihm sprechen willst?“
„Weiß nicht!“
„Bist du sicher, dass du ihn verstehen wirst?“
„Weiß nicht!“
„Tja, das ist es eben – keiner weiß, wie sich die Dinge entwickeln. Ich, zum Beispiel, weiß nicht, wie ich es deinem Vater beibringen soll, dass du mit ihm sprechen willst!“
Calum lächelte: „Sagen Sie es ihm einfach, Miss – sagen Sie es ihm!“
Seite an Seite eilten McKeir und Miss Bromfield durch den Korridor.
Ehe sie das Kinderzimmer betraten, bat Fiona inständig:
„Sir! Es kann sein, dass der Junge höchst unangenehme Fragen stellt.
Bitte, bitte, wappnet Euch mit aller nur erdenklichen Geduld! Konzentriert Euch lieber darauf, das Kind genau zu beobachten. Ihr werdet feststellen, dass in seine bisher völlig gelähmten Beinchen Bewegung zurückgekehrt ist. Ich habe so getan, als würde ich nicht bemerken, dass es, vor allem wenn es erregt ist, seine Zehen, Füße und Unterschenkel heftig bewegt. Ich könnte mir vorstellen, dass es besser ist, es als selbstverständlich hinzunehmen und keine große Aufregung zu provozieren. Calum sollte, meiner Meinung nach, ganz zwanglos und von selber wieder anfangen, seine Beine zu gebrauchen.“
McKeir überlegte kurz. „Wahrscheinlich haben Sie recht, Miss Bromfield. Ich werde mich zusammen nehmen!“
Fiona lächelte: „Versprochen, Sir?“
„Versprochen!“
Obwohl der Junge selber das Zusammentreffen mit seinem Vater gewünscht hatte, starrte er dem Eintretenden mit schreckgeweiteten Augen entgegen. McKeir agierte klug. Er näherte sich dem Kind nur auf etwa drei Armlängen, zog einen Sessel heran, setzte sich rittlings darauf, legte seine Arme auf die Lehne und stützte sein Kinn darauf.
In dieser Position war sein Gesicht in etwa in Augenhöhe des Kindes.
Calum musste nicht zu ihm aufschauen, was ihm vielleicht ein wenig von dem Gefühl der Unterlegenheit nehmen würde. McKeir fing auch nicht gleich an, zu sprechen. Lächelnd ging sein Blick zwischen dem Kind und Miss Bromfield hin und her, die sich dadurch bemüßigt fühlte, irgendetwas zu sagen, das die Spannung herabsetzen sollte. Ihr fiel aber nichts anderes ein, als Calum reichlich gouvernantenhaft aufzufordern, seinen Vater zu begrüßen.
„Willst du deinem Dad nicht einen guten Morgen wünschen?“ fragte sie. Calum sah sie fragend an, konnte aber in ihrem Gesicht nicht die Antwort finden, die er suchte. Also entschloss er sich, seinen ganzen Mut zusammenzunehmen. „Guten Morgen, Sir!“ flüsterte er. Wie schwer das dem Kind fiel, merkte man schon daran, dass seine Händchen die Pfeifchen so fest umschlossen, dass die Knöchel weiß hervortraten.
„Ein schöner Morgen, nicht wahr? Draußen scheint die Sonne. Wie ich hörte, möchtest du gerne in den Park!“ versuchte McKeir, die Unterhaltung möglichst zwanglos in Schwung zu bringen.
„Yes, Sir!“ war alles, was Calum hervorbrachte.
„Und was wirst du dann im Park machen?“
Der Junge schwieg.
„Ach, komm schon!“ bat McKeir, „Erzähl mir doch ein bisschen etwas? Ich bin doch dein Dad und sehr neugierig, was du gerne tun möchtest!“
Mit erstaunlich fester Stimme antwortete der Junge:
„Sir! Was ich tun möchte, das wird Euch nicht gefallen!“
„So?“ McKeir tat sehr erstaunt. „Du wirst doch keinen Unfug anstellen? Du bist doch ein ganz braver Junge, oder?“
Calum schüttelte den Kopf. „Nein, Sir! Ich bin kein braver Junge – ich mache am liebsten etwas, das mein Dad Krach nennt!“
Unwillkürlich musste McKeir über die für ein Kind außergewöhnlich diplomatische Art schmunzeln, mit der Calum versuchte, ihn davon in Kenntnis zu setzen, dass er sich über das Verbot, die Pfeifchen zu benützen, hinweg setzen würde. Er schämte sich, dass er den Jungen einem solchen seelischen Druck ausgesetzt hatte und beeilte sich daher, ihm eine entsprechende Antwort zu geben: