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Das Klappern von Mühlenrädern und das Rauschen des Wasser beflügeln seit jeher die Fantasie der Menschen. So entstanden nach dem Besuch des Mühlendorfes in Gschnitz/Tirol acht Geschichten im Stil von tiroler Sagen rund um die Objekte, die von alten Handwerksmethoden und alpinen Lebensformen erzählen, die hier im Mühlendorf vor dem Vergessen bewahrt werden, wozu die neuen "Märchen" einen teils ernsten, teils humorvollen Beitrag leisten wollen.
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Seitenzahl: 53
Neue sagenhafte Geschichten aus dem
Mühlendorf in Gschnitz /Tirol
erdacht, erzählt und illustriert
von
Vorwort
Das salige Fräulein vom Sandesbach
Der Eselsmüller
Karli trifft den Teufel
Der Kegeldrechsler
Die Dreschhexe
Der Pferdefuß
Der durstige Senner
Die Kuh Mitzi
Schon immer gibt es erstaunliche Ereignisse oder örtliche Begebenheiten, für die man keine richtigen Erklärungen finden kann. Die von Gudrun Elisabeth Meisriemler erzählten Sagen sollen dem Leser näherbringen, welche Erklärungen die Menschen sich für Ereignisse und Begebenheiten in ihrer alltäglichen Umgebung zurechtlegen. Wobei die Wahrheit schlussendlich im Auge des Betrachters liegt. Gerade in unserer schnelllebigen Zeit, in der wir glauben mit beiden Beinen auf festem Boden zu stehen, ist es manchmal angenehm ein wenig zu träumen und Dinge wieder fantasievoll durch die Augen einer Sagenerzählerin zu sehen. Wir vom Mühlendorf in Gschnitz sind stolz darauf, dass Gudrun Elisabeth Meisriemler den Lesern eine Zeitreise ermöglicht, die Sie verzaubern und begeistern wird.
Reisen Sie, begleitet vom magischen Rauschen des Sandeswasserfalls, das die Welt rund um das Mühlendorf erfüllt, mit der Sagenerzählerin in die Welt der Mystik an diesem wunderschönen Ort in Gschnitz.
Christian Felder, Bürgermeister von Gschnitz
Es klappert die Mühle am rauschenden Bach …
Als ich das erste Mal vom Mühlendorf in Gschnitz /Tirol hörte, dachte ich, dass es sich um eine der üblichen, nur für die Sommergäste aus dem Boden gestampfte Attraktionen der für die Tourismuswerbung im etwas abseits gelegenen Gschnitztal zuständigen Gemeindepolitiker handelt. Bei meinem ersten Besuch wurde ich aber schnell eines besseren belehrt: hier haben sich Menschen, hauptsächlich auf freiwilliger Basis, zusammen gefunden, um den Besuchern ein möglichst authentisches Bild von den alten Handwerksmethoden zu verschaffen, wobei die Kraft des Wassers im Mittelpunkt steht. Die Lage am imponierenden Wasserfall gibt dem ganzen „Dorf“ noch einen besonderen Reiz. In diesem kleinen Büchlein habe ich festgehalten, wozu mich der Besuch im Mühlendorf inspiriert hat. Vielleicht macht es dem Leser/der Leserin und vor allem den Kindern Lust, dorthin zu reisen und sich selbst ein Bild von dem romantischen Platz in Tirol zu machen.
Innsbruck, im März 2020
Gudrun E.Meisriemler Lesung im Mühlendorf am 30. August 2013-11-01 Foto: Arno Cincelli, Bezirksblätter Tirol GmbH, Redaktion Stubai-/Wipptal
Schon oft hat man in Tirol von den „saligen Fräulein“1 gehört, jenen schönen, hilfsbereiten Bergfeen oder Naturgeistern, die manchem armen Menschen in schlimmen Situationen geholfen haben. So ein zauberhaftes Wesen soll auch hinter dem rauschenden Vorhang des Wasserfalls am Sandesbach im hinteren Gschnitztal2 wohnen.
Einmal, vor langer Zeit, kam eine Familie ins Tal, deren Töchterchen sehr schwer krank war. Das arme Mädchen litt an einer unbekannten Lungenkrankheit. Je älter es wurde, desto weniger Luft bekam es. Das Atmen fiel ihm von Tag zu Tag schwerer, doch kein Doktor konnte ihm helfen. Die zahllosen Medikamente, die es verschrieben bekam, halfen nur wenig, kosteten aber enorm viel Geld, sodass der Familie kaum genug zum Leben blieb. So hatten die Eltern in ihrer Not beschlossen, aus der teuren Stadt fort zu ziehen und im Gschnitztal bei einem Bauern, der ein Ausgedinghäuschen3 frei hatte, billige Unterkunft zu suchen. Sie hofften, dass die gesunde Bergluft ihrer Tochter das Atmen etwas erleichtern würde, doch gaben sie sich nicht der Hoffnung hin, dass es etwas an der Tatsache ändern könnte, dass das Mädchen dem Tod geweiht war. Die kurze Spanne seines Lebens wollten die betrübten Eltern dem Kind so angenehm wie möglich machen.
Es war ein schöner Sommer. Die grünen Wiesen, die sich zu beiden Seiten des Sandesbaches die steilen Hänge emporzogen, wo sie in das satte Dunkel des Bergwaldes übergingen, wurden auf der nördlichen Seite vom Massiv des Habicht4, auf der südlichen von den mächtigen Felsen des Tribulaun5 als stumme Wächter überragt. Aus dem steilen Felsgemäuer stürzte seit ewigen Zeiten der Sandesbach in die Tiefe, als hätte er eine unstillbare Sehnsucht danach, sich mit dem Gschnitzerbach zu vereinen.
Sein schäumendes Wasser trug die Farben des Himmels und der Gletscher mit sich: Schneeweiß, Eisblau und Nebelgrau zerstoben beim Aufprall auf dem dunklen Felsen im Sonnenlicht zu einem Schleier aus allen Farben des Regenbogens und glitzerten wie Diamant.
Das kranke Mädchen hatte sich nichts sehnlicher gewünscht, als einmal einen Wasserfall zu sehen. Gestützt von Vater und Mutter, war es ganz langsam den leicht ansteigenden Weg aus dem Dorf zum Wasserfall gewandert. Oft hatte es stehen bleiben und verschnaufen müssen. Als es endlich ganz nahe zum Bach gelangt war, glaubte es, vor Anstrengung zu ersticken. Verzweifelt ließ es sich in die feuchte Wiese fallen und schnappte keuchend nach Luft. Aber was war das für eine Luft? Dem Kind war, als würde ihm jemand mit einem kühlen, seidenzarten Schleier reinen Sauerstoff zufächeln. Ganz tief konnte es plötzlich durchatmen, der quälende Hustenreiz und der Schmerz in der Brust ließen nach. Es wurde ihm leicht, und als es aufblickte, sah es eine wunderschöne Frau, die lächelnd in den Kaskaden des Wasserfalls tanzte. Mit ihrem langen, blonden Haar und den Falten ihres schneeweißen Kleides, das sie wie ein Schleier umspielte, versprühte sie hauchfeine Wassertröpfchen, die die Luft reinigten und flüssiger als flüssig machten. Wie wunderbar war es, die feuchte Luft zu atmen! Schon wollte das Mädchen seinen Eltern die schöne Wasserfrau zeigen, als diese den Finger auf die Lippen legte und den Kopf schüttelte. Nun wusste das Mädchen aus alten Erzählungen, dass man salige Fräulein nicht verraten durfte, wenn sie einem helfen sollten. Also schwieg es ein wenig erschrocken, aber sehr, sehr dankbar. Von nun an aber wanderte es den ganzen Sommer jeden Tag zum Wasserfall. Immer sah es der schönen Wasserfrau beim Tanzen zu, aber nie verriet es auch nur mit einem Wort, was es sah. Das Wunder, an das niemand und schon gar nicht die neunmalklugen Doktoren geglaubt hatten, geschah: das Mädchen wurde gesund. Als der Herbst ins Land kam, kehrte die Familie in die Stadt zurück, verbrachte aber von nun an Jahr für Jahr einige Wochen im schönen Gschnitztal. Und weil die klugen Doktoren nicht an salige Fräulein und auch nicht gerne an Wunder glauben, suchten sie eine wissenschaftliche Erklärung für die Heilung des Mädchens. Nach eingehenden Untersuchungen kamen sie zu dem Schluss, dass das fein versprühte Wasser des Sandesbach-Wasserfalls auf jeden Fall heilsam ist.