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Ein neuer Fall für Julia Durant aus Frankfurt aus der Feder von Bestseller-Autor Daniel Holbe, der das Erbe von Andreas Franz weiterführt, und ein spannender Kriminal-Roman der Extraklasse Stadtwald Frankfurt. Vollmond. Ein ermordetes Pärchen gibt der Polizei Rätsel auf. Handelt es sich um ein Sexualdelikt? Eine Beziehungstat? Oder um Raubmord? Die Mordkommission um Julia Durant tappt im Dunkeln, und auch nach Wochen will sich kein Ermittlungserfolg einstellen. Ausgerechnet als man im Kommissariat die Hochzeit der Kollegen Doris und Peter feiert, geschieht der nächste Doppelmord. Wieder in einem Waldgebiet, nur unweit des ersten Tatorts. Hat die Stadt es mit einem Pärchen-Mörder zu tun? Die Presse schlägt Alarm, ein Privatmann setzt eine Belohnung aus, eine Bürgerwehr formiert sich. Dann stellt sich heraus, dass es sich tatsächlich um eine sexuelle Tat zu handeln scheint. Da wird ein Mordfall aus einem anderen Bundesland gemeldet, der verdächtige Ähnlichkeit mit den beiden Doppelmorden in Hessen zu haben scheint.verschaffen. Eine Herausforderung für Julia Durant und ihr Team!
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Andreas Franz / Daniel Holbe
Julia Durants neuer Fall
Knaur eBooks
Bis dass der Tod sie scheidet.
Der 19. Fall für die Frankfurter Kultkommissarin Julia Durant
Er schlägt zu, sobald der Vollmond am Himmel steht: Ein ermordetes Pärchen im Frankfurter Stadtwald gibt Kommissarin Julia Durant und ihrem Team Rätsel auf: Handelt es sich um ein Sexualdelikt? Eine Beziehungstat? Oder um Raubmord? Die Spuren sind nicht eindeutig und führen letztlich ins Nichts. Erst als im selben Waldgebiet ein weiterer Doppelmord geschieht, ist klar: Frankfurt wird von einem Pärchenmörder heimgesucht. Die Öffentlichkeit gerät in Panik, eine Bürgerwehr formiert sich. Und Julia Durant läuft die Zeit davon, denn der nächste Vollmond steht unmittelbar bevor …
Motto
Prolog
Samstag
Sonntag
Montag
Dienstag
Sonntag
Montag
Dienstag
Mittwoch
Donnerstag
Epilog
Leseprobe »Julia Durant«
Wie kannst du ruhig schlafen,
Und weißt, ich lebe noch?
Heinrich Heine, 1823/24
Panik.
Die letzten Gedanken einer Sterbenden, die verzweifelte Hoffnung auf Rettung.
Wolkenfetzen jagten über die Baumspitzen hinweg. Mitternacht war längst vorbei. Das Licht des Mondes hüllte die Einsamkeit des Waldes in ein eisiges Schwarz-Weiß.
Sie blickte ihn an. Unter dem Strumpf waren die Augen zu erkennen, deren Wachsamkeit nicht die geringste Bewegung entging. Der Rest der Konturen glich denen eines Raubtiers. Wie ein matter, schwarzgrauer Pelz lag der Stoff über der Haut. Zwang Nase und Lippen in ein formloses Dasein. Selbst wenn sie diese Nacht überlebte, sie würde ihn nicht wiedererkennen können. Nicht einmal die Augen, selbst wenn er ihr gegenüberstünde.
Als er ihr die Hände um den Hals legte, war sie sicher, dass sie die Nacht nicht überleben würde.
»Wehr dich nicht!«, hörte sie ihn sagen.
Wie sollte sie auch?
Ihre Gelenke lagen in Handschellen. Ihr nackter Körper lag zum Teil auf einer Picknickdecke, zerwühlt und mit allerlei Laub und Dreck darauf. Ihre Kleider; vom Leib gerissen. Zum Teil hatte sie es selbst getan. Nur BH und Slip hatte er ihr selbst genommen. War mit einer scharfen Klinge daruntergefahren – in diesen Sekunden hatte sie kaum zu atmen gewagt, damit er nicht abrutschte und ihr die Haut zerschnitt.
Als käme es darauf an.
Einige Stunden zuvor hatte sie noch an der Bushaltestelle gesessen.
Nicht weit von einem Parkplatz, der auch von Berufspendlern genutzt wurde. Dorthin kam er, wenn sie sich trafen. Doch heute hatte er sich Zeit gelassen. Vermutlich der dichte Verkehr, es hatte einen schweren Unfall am Frankfurter Kreuz gegeben. Die Dämmerung hatte bereits eingesetzt, was ihr sichtlich Unbehagen bereitet hatte. Man las so viel Schreckliches in der Zeitung. Und dann hier an einer abgelegenen Haltestelle in der Nähe eines Parkplatzes, an dem allerlei zwielichtiges Gesindel verkehrte?
Der Mann beobachtete sie seit einer halben Stunde. Jede Muskelbewegung, jeden besorgten Blick, den sie in Richtung Straße warf. Ein Bus näherte sich, er hielt an, Leute stiegen aus. Sie blieb sitzen. Als der Bus sich wieder entfernte, kramte sie eine Zigarette aus der Handtasche. Paffte ein paar Züge, nur um den Glimmstängel dann halb geraucht in den Kanal zu werfen. Der nächste Griff hatte einer Packung Mentos gegolten, der übernächste förderte den Schminkspiegel zutage. Lippenstift, Augenbrauen, sie zupfte an sich herum. An ihrem perfekten Körper. Er betrachtete das Kleid. Sie hatte es schon einmal getragen. Doch heute stand es ihr besonders gut. Als er daran dachte, wie sich der Saum schon bald über ihre Knie nach oben bewegen würde, wurde ihm heiß und kalt. Seine Lenden begannen zu pulsieren. Und je länger er wartete, desto unerträglicher wurde seine Gier.
Doch er durfte seine Deckung nicht verlassen. Noch nicht.
Musste lauern wie ein Raubtier auf seine ahnungslose Beute.
Dann endlich näherte sich das Auto.
Sie sah es auch.
Winkte freudig, schaute sich sofort verstohlen um, aber niemand interessierte sich für sie.
Außer mir, dachte der Beobachter.
Und außer ihm.
Jenem fremden Mann, der hin und wieder in das Leben der jungen Frau trat. Der sie vergessen ließ, dass sie eine Familie hatte, die von ihren Liebesspielen nichts zu ahnen schien.
Er folgte den beiden in den Wald.
Bei dem Gedanken daran, was passieren würde, ergoss er sich in seine Unterhose.
Ein Jumbo näherte sich.
Das Geräusch der Triebwerke übertönte den erstickten Schrei, noch bevor er ihr den Hals zudrückte. Seine Daumen gruben sich tief in die weiche Haut. Die Kette zerriss. Perlen kullerten über die Decke und verschwanden zwischen Nadeln und altem Laub.
Sie sah das Aufblitzen der Landeleuchten über ihren Kopf hinwegziehen.
Dann noch einmal den Mond und die Wolkenfetzen.
Ihre letzten Gedanken galten ihm.
Dann kam die Schwärze.
Für immer.
Etwas regte sich neben ihm.
Nur langsam begriff der Mann, dass er in einem fremden Bett lag. Dass die Geräusche, die ihn umgaben, nicht die gewohnten waren. Dass er nicht alleine war.
In seinem Kopf hämmerte ein dumpfer Schmerz, der zweifellos von dem ganzen Alkohol kommen musste. Oder war da noch etwas anderes?
Es atmete. Ein leises Räuspern, gefolgt von einem Stöhnen. Die Stimme klang gequält, woher kam sie?
Er war noch nicht in der Lage, die Quelle des Geräusches auszumachen. Sein Körper wollte sich drehen, er wollte sich aufrichten, und dann war da dieser Druck auf seiner Blase. Vermutlich war er deshalb wach geworden. Weder seine Augen noch sein Gehirn waren bereit für die Reize eines neuen Tages.
Das Sonnenlicht flammte unbarmherzig in das Zimmer.
Natürlich. Das Hotel.
Allmählich formten sich Erinnerungsfetzen.
Das Klo. Er musste aufstehen, ob er wollte oder nicht. Ohne sich nach ihr umzudrehen, quälte er sich in eine wacklige Sitzposition. Drückte sich nach einem Moment des Durchatmens in die Senkrechte, orientierte sich. Dann wankte er los in Richtung Badezimmer.
Sollte das Zimmer nicht eigentlich …?
Ein dunkles Sakko hing halb über der Sitzfläche eines Stuhles.
Hatte ich nicht eigentlich …?
Es hatte keinen Sinn. Das Gehirn des Mannes war noch nicht fähig, logische Schlussfolgerungen zu ziehen. Wie beiläufig wanderte sein Blick auf die Digitalanzeige des Weckers. Gerade Viertel nach sechs. Kein Wunder.
Während er sich im Sitzen erleichterte, fiel sein Oberkörper nach vorn. Seine Unterarme landeten auf den nackten Oberschenkeln. Wäre es nicht so unbequem gewesen, hätte er seinen Schlaf womöglich einfach hier fortgesetzt.
Ein Lichtreflex ließ ihn zusammenzucken. Der ungewohnte Glanz kam von seiner rechten Hand. Genauer gesagt von seinem Ringfinger. Müde hob er die Hand vors Gesicht und wiegte und drehte sie. Dann lächelte er, auch wenn selbst die leichteste Bewegung der Mundwinkel bereits neue Schmerzen zu verursachen schien.
Mit einem tiefen Seufzer drückte er sich nach oben und stützte sich auf das Marmorwaschbecken. Ganz behutsam, als wolle die Hand den Ring nicht daran zerkratzen, tastete er nach dem vergoldeten Wasserhahn. Hörte das Rauschen, blickte in den Strudel des Wassers und streckte dann die Hände unter das Nass. Rieb sich etwas davon in Gesicht und Nacken. Schenkte sich einen scheuen Blick. Obwohl er wusste, dass sein Spiegelbild kein allzu angenehmer Anblick sein würde.
»Mannomann, du wirst alt«, raunte er sich mit belegter Stimme zu.
Weil seine Zunge klebte, füllte er ein Zahnputzglas mit kaltem Wasser. Stürzte es gierig hinab und wiederholte den Vorgang. Dann wischte er sich den Mund ab. Schaute noch einmal in das mit leichten Stoppeln übersäte Gesicht. Fuhr sich durch das dunkle, zerzauste Haar, welches wie Gummi wieder genau dorthin zurückschnellte, wo es vorher gelegen hatte.
Ohne eine Dusche würde er kaum wach werden und in Form kommen …
Später, entschied er. Es ist nicht einmal halb sieben.
Er ging zurück in Richtung Doppelbett. Eine zwei mal zwei Meter breite Matratze ohne Mittelritze. Eine Spielwiese für Verliebte oder für Frischvermählte. Seine Zehen spielten mit dem Teppichboden, als er für einige Sekunden innehielt und die geschwungenen Konturen betrachtete, die sich unter der Sommerdecke verbargen. Er hörte ihren Atem, nur ganz leise. Die lackierten Zehennägel waren alles, was von ihr zu sehen war.
Peter Kullmer war ein glücklicher Mann, auch wenn er längst hätte merken müssen, was an dem Idyll nicht stimmte. Der Ring an seinem Finger, die gestrige Feier. Vor einem Jahr hatte er seine Lebensgefährtin um ihr Jawort gebeten. Doris Seidel hatte nicht gezögert. Gestern war es so weit gewesen. Ihre gemeinsame achtjährige Tochter hatte Blütenblätter gestreut. Viele Liter Bier, Wein und Sekt waren geflossen. Und härtere Sachen. Und ausgerechnet hier verlor sich Kullmers Erinnerung.
Wie enttäuschend, dachte er, während seine Zehenspitzen sich noch immer in den weichen Teppichboden gruben. Ausgerechnet in deiner Hochzeitsnacht hast du einen Blackout.
Dann flog die Tür auf, und die Blondine auf dem Bett richtete sich mit einem spitzen Schrei auf. Den blanken Busen mit der Decke verbergend, starrte sie Richtung Eingang.
»Zieh dich an. Wir haben einen Einsatz«, kam es von dort, während Kullmer nur langsam begriff, was soeben geschah.
Sein Blick suchte die Hose. Auf dem Stuhl.
Die Schuhe? Einer hier, einer dort. Als habe er sie mit Schwung von den Füßen befördert. Ebenso die Socken.
Einzig seine bunten Boxershorts trug er am Leib, sonst wäre er womöglich im Erdboden versunken. Wäre voll und ganz von dem kakifarbenen Weich verschlungen worden.
In der Hotelzimmertür stand Doris Seidel.
Vollständig bekleidet und sichtlich in Rage.
Peter Kullmer hoffte in dieser Sekunde eigentlich nur noch eines: dass sie ihre Dienstwaffe nicht bei sich trug.
Im Radio lief der Werbeblock an, der vor die Nachrichten geschaltet war. Julia Durant drehte die Lautstärke leiser, verärgert, weil man dem Song von Guns N’ Roses über eine Minute Spielzeit gestohlen hatte. Ausgerechnet. Sie klappte den Innenspiegel ihres Opel Speedster hinunter und prüfte ihr Aussehen. Es missfiel ihr. Die Haut war glänzend und porig, unter den Augen lagen Schattenringe. Der halbe Körper sehnte sich nach Schlaf, die andere Hälfte nach einem Physiotherapeuten. Vermutlich lag es an dem vielen Sekt, dem Grillfleisch und dem ausgelassenen Tanz.
»Was soll’s«, murmelte die Kommissarin und klappte den Spiegel hoch. Man heiratet schließlich nur einmal. Und bevor sich trübe Gedanken breitmachen konnten, schwang sie mit einem Ruck die Autotür auf und stieg aus.
Die Hochzeit ihrer beiden Kollegen hatte bei Julia Durant nicht nur angenehme Saiten anklingen lassen. Vor vielen Jahren, Anfang der Neunziger, war ihre eigene Ehe zerbrochen. Damals, mit gerade dreißig auf der Suche nach einer Neuorientierung, hatte sie ihre Brücken in München hinter sich abgebrochen und war nach Frankfurt gezogen. Und als leitende Ermittlerin der hiesigen Mordkommission wartete ein neuer Arbeitstag auf sie. Der Tod nahm keine Rücksicht auf Beziehungen. Genauso wenig wie auf verkaterte Ermittler.
Frank Hellmer schnitt um die Ecke. Er fuhr den schwarzen Range Rover seiner Frau, ein ungewohnter Anblick. Schotter spritzte, als er auf den Parkplatz einschwenkte.
»Da hätten wir ja gleich im Hotel übernachten können«, rief er Durant beim Aussteigen zu und sah sich prüfend um. »Wo ist denn unser Dream-Team?«
Die Kommissarin hob die Schultern. »Angeblich wurden sie verständigt. Mehr weiß ich auch nicht.«
Ihr Partner umarmte sie flüchtig. Dann grinste er breit: »Du bist ja genauso verspannt wie ich. Kopfschmerzen inklusive?«
Julia rollte die Augen. Selbst diese Bewegung verursachte ihr ein Stechen. »Reden wir nicht drüber. Lass uns lieber mal sehen, was anliegt.«
»Warten wir nicht auf die Kullmers?« Hellmer grinste.
»Nein. Gönnen wir ihnen noch ein paar Flitterstunden«, entschied Durant und öffnete den Kofferraum, um ein Paar Wanderschuhe ans Tageslicht zu befördern.
Dr. Andrea Sievers vom rechtsmedizinischen Institut stand wie eine Astronautin inmitten einer Gruppe von schlanken Baumstämmen, deren Rinde alles andere als gesund aussah. Die meisten Äste waren kahl, was damit zusammenhängen mochte, dass die Bäume zu eng standen und einander das Licht raubten. In ihrer Mitte befand sich eine Art Lichtung. Dort wehte der leichte Schutzanzug der Rechtsmedizinerin in einer Brise. Fehlte nur noch der Helm. Als sie die beiden Kommissare erblickte, winkte sie: »Hallo, Lieblingskollegen! Immer dem Aroma nach …«
Julia schüttelte den Kopf, und Hellmer verzog den Mund. So unmöglich der Sarkasmus von Dr. Sievers auf andere auch wirkte, hinter der Fassade verbarg sich eine einfühlsame Frau und zugleich eine akribische Wissenschaftlerin, der kaum ein Detail entging. Dass sie den dauernden Kontakt mit dem Tod, den ihr Beruf mit sich brachte, mit einem dicken Fell aus schwarzem Humor abfing, konnte man ihr nicht übel nehmen.
Tatsächlich meinte die Kommissarin, einen Geruch von Verwesung wahrzunehmen.
Hellmer kam ihr zuvor: »Na prächtig. Das brauche ich jetzt am allermeisten.« Er rümpfte demonstrativ die Nase.
Der Kriminaldauerdienst hatte vor knapp zwei Stunden die diensthabenden Ermittler benachrichtigt. In einem Waldstück nahe dem Flughafengelände hatte ein früher Spaziergänger zwei Leichen entdeckt. Der Hund habe verrückt gespielt, er habe ihn kaum halten können. Was er auf die Entfernung für verweste Wildschweinkadaver gehalten habe, so die Aussage des Auffindungszeugen, entpuppte sich bei näherem Hinsehen als zwei Körper mit unverkennbar menschlichen Schädeln. Die Schutzpolizei hatte den Fundort mit einem Notarzt aufgesucht und weiträumig abgesperrt. Dann hatte sich die Maschinerie in Gang gesetzt.
Als Durant und Hellmer die Szene erreichten, hielt sich die Kommissarin die Hand vors Gesicht, denn der Geruch war kaum zu ertragen. Angesichts der skelettierten Knochen fragte sie sich, weshalb es noch immer derartig stank.
»Es wird gleich besser«, sagte die Rechtsmedizinerin und deutete mit dem Daumen hinter sich. »Ein toter Waschbär, wir haben ihn vor ein paar Minuten erst gefunden. Ist eingetütet. Von denen da«, sie deutete zu Boden, »geht schon lange kein Gestank mehr aus.«
»Hm.« Die Kommissarin hatte noch immer eine Faust vor dem Mund. Eilig wurden ein paar Sätze gewechselt, die sich auf den vergangenen Abend bezogen. Neben den Kollegen des K11 hatte natürlich auch Dr. Sievers zu den Hochzeitsgästen gehört. Nur dass man Andrea weder die Folgen des Sekts noch die des Tanzens ansah.
Julia sah sich genauer um. Sie zählte zwei Oberkörper mit den dazugehörigen Extremitäten. Hier und da waren vereinzelte Knochen mit Tatortmarken versehen. Haare und Sehnen, eine Menge Ungeziefer, keine Kleidungsreste.
»Um Himmels willen!«, sagte sie.
»Das dachte ich mir auch.«
»Waren die beiden nackt?«
»Scheint so.« Andrea nickte. »Das war jedenfalls nicht der Waschbär.«
»Wie lange sind sie schon tot?«, erkundigte sich Frank.
»Grob gesagt, mindestens zwei bis drei Wochen. Eher mehr.«
»Bekommen wir das noch genauer?«, fragte Julia.
»Klar. Nach der Obduktion. Aber das dauert, nur damit das schon mal gesagt ist. Insektenbefall, Humus, Wildschweine, Klima.« Die Ärztin seufzte schwer. »Es ist der schlimmstmögliche Fundort zur schlimmstmöglichen Jahreszeit.«
Die beiden haben es nicht mehr eilig, dachte Julia Durant und rechnete zurück. Mitte Juni. Es war fast durchgehend sommerlich und trocken gewesen. Warum hatte man die Toten nicht längst gefunden?
Ein vorbeiziehendes Flugzeug ließ sie zusammenzucken.
»Scheiße, ist der tief!«, entfuhr es ihr.
»Frag mich mal«, murrte Frank Hellmer. »Bei uns im Garten kann ich den Piloten praktisch zuwinken.«
Durant schwieg. Auch wenn Frank damit sicher übertrieb, wusste sie, dass der Fluglärm ein Thema war, das das Rhein-Main-Gebiet noch lange beschäftigen würde. Das hatte man in München irgendwie eleganter gelöst. Sie räusperte sich und fragte nach Hinweisen auf die Identität der beiden.
»Fehlanzeige«, kam es von Andrea zurück. »Ich kann euch mit Gewissheit sagen, dass es sich um einen Mann und eine Frau handelt. Beide im mittleren Alter, also keine Jugendlichen. Er dürfte so um die eins achtzig sein, sie eins fünfundsechzig. Und spart euch die Frage nach einem Sexualdelikt. Zwischen dem Schweinkram, den die beiden hier womöglich veranstaltet haben, liegen Wochen und eine Rotte Wildsäue.«
»Und die Wildschweine haben …«, begann Hellmer angeekelt.
»Die haben alles angefressen oder weggeschleppt«, bestätigte Sievers mit einem langsamen Nicken. »Platzeck und sein Team werden eine Menge Spaß haben.«
Platzeck war der Chef der Spurensicherung. Meistens ein wenig mürrisch, weil alle Welt Wunder von ihm zu erwarten schien, war er im Großen und Ganzen eine allseits geschätzte Person, auf die man sich verlassen konnte. Er machte kaum Fehler, nichts, weswegen einem im Prozess wegen schlampiger Beweismittelsicherung ein Strick gedreht werden konnte.
»Apropos«, Julia sah Andrea fragend an, »gegenseitig umgebracht haben sie sich ja wohl nicht, oder? Gibt es irgendwelche Anzeichen?«
Andrea Sievers hob den Zeigefinger und schnalzte mit der Zunge. »Dachte mir schon, dass du so etwas von mir wissen willst. Aber gib mir wenigstens ein paar Stunden. Dann weiß ich, ob die Halsverletzungen vom Würgen kommen. Eines kann ich schon mal mit absoluter Gewissheit sagen.«
»Und das wäre?«, fragte Hellmer ungeduldig.
»Die beiden kreisrunden Austrittswunden an den Schädeln«, antwortete die Rechtsmedizinerin triumphierend. »So kaltblütig ist nicht mal der bösartigste Keiler.«
Sievers vergewisserte sich bei einem der Spurensicherer, ob sie den Schädel anheben dürfe. Unter seinem Schutzanzug nickte es zu einem dumpfen »Klaro«.
Durant fragte sich, wie Platzeck den Überblick über seine Untergebenen behielt, besonders jetzt, da sie alle in den gleichen unförmigen Anzügen steckten. Raumfahrer, dachte sie mit einem Lächeln. Selbst ihre Bewegungen erinnerten daran.
Die Rechtsmedizinerin wies auf den weiblichen Schädel. Man erkannte noch die langen Haare und die Gesichtsmuskulatur. Durant schluckte, es schien ihr wie eine Mischung aus einer ägyptischen Mumie, der man die Bandagen entfernt hatte, und einer Moorleiche. Sie verdrängte die Vorstellung, wie aasfressende Tiere über die Tote hergefallen waren, und zwang sich, sich auf die Bestie zu konzentrieren, die den beiden das angetan hatte.
»Kopfschuss«, hörte sie Andrea Sievers erklären, während ihr in Latex gehüllter Finger sich der Mundhöhle der Frau näherte. »Von unten hinein. Todsicher.«
Julia Durant kniff die Augen zusammen, prüfend, ob dieser Kommentar in Sarkasmus enden sollte. Doch die Ärztin war vollkommen ernst.
»Bei ihm wurde die Waffe unter dem Kinn angesetzt, also anders als bei ihr.«
»Vielleicht hat er sich geweigert, den Mund aufzumachen«, erwiderte Durant.
»Das – oder er war bereits bewusstlos. Vielleicht konnte er ihn nicht mehr öffnen. Oder er lag auf dem Rücken …«
»Klar«, unterbrach Hellmer die beiden. »Das wird die Obduktion zeigen. Bis dahin ist alles reine Spekulation.«
Durant schenkte ihm einen Blick. Hellmer war blass, ganz ungewohnt, denn ihm machten selbst grausame Szenen wie diese nur wenig aus. Zumindest zeigte er es nicht so.
»Ist alles okay mit dir?«, erkundigte sie sich.
»Ich bin kurz vorm Kotzen«, raunte er zurück. »Außerdem weiß ich, dass meine Tochter sich öfter in diesem Waldstück aufhält.«
Daher also wehte der Wind.
»Hier?«, fragte Durant ungläubig, als die nächste Maschine über ihre Köpfe hinwegdonnerte.
»Verstehen muss ich’s nicht«, murrte Hellmer.
»Hallo!«, unterbrach Dr. Sievers die beiden. Sie hatte die Hände in die Hüften gestemmt und zog eine Grimasse. »Können wir mal bitte bei der Sache bleiben? Ich habe genauso wenig geschlafen wie ihr, und in diesem Scheißwald gibt es nirgendwo Kaffee.«
»Sind die Gnadenlosen denn informiert?«, wollte Hellmer wissen und spielte damit auf die Bestatter an. Sie tauchten an jedem Tatort auf, in billigen schwarzen Anzügen, die einen Hauch von Pietät vermitteln sollten. Trugen ihren Zinksarg mit sich, in dem schon unzählige andere gelegen hatten. Hielten sich dezent im Hintergrund, bis die Leiche zum Abtransport freigegeben wurde.
Wie aufs Kommando näherte sich ein Uniformierter, dem die beiden Männer schweigend folgten.
Julia Durant ertappte sich bei dem Gedanken, dass die Sicherstellung der Spuren wohl bis in den Abend hinein dauern würde. Ebenso wie es Zeit brauchen würde, den Toten DNA zu entnehmen und diese mit den bundesweiten Datenbanken abzugleichen. Ob sie sich noch ein paar Stunden Schlaf gönnen durfte?
Hellmer schien Ähnliches zu denken, wobei ihm noch die Sorge ins Gesicht geschrieben stand. Dachte er an seine Tochter? Aber sie war doch gestern auch bei der Hochzeit gewesen. Ihr ging es gut. Und Stephanie war eine relativ vernünftige Achtzehnjährige.
Julia Durant bereitete etwas ganz anderes zunehmend Kopfzerbrechen. Sie brauchte Doris Seidel und Peter Kullmer, sosehr sie ihnen auch ihre Auszeit gegönnt hätte. Doch ein Doppelmord dieser Art erforderte das ganze Team. Ungewöhnlich war, dass sie auch nach drei Versuchen niemanden der beiden ans Telefon bekam. Doch ausgerechnet als sie sich ihren Weg zurück in Richtung Parkplatz bahnte, erblickte sie die frisch verheiratete Kollegin.
Sie war allein.
Und sie sah fürchterlich aus.
Sie waren einen halben Kilometer vom Fundort entfernt. Ein Hundeführer der Polizei mit seinem Schäferhund. Ein muskulöses, groß gewachsenes Tier. Es wirkte aufgeregt, rastlos, die Nase stand nicht still.
Die Person wäre um ein Haar erstarrt, dann rief sie sich in Erinnerung, dass sie sich um nichts Gedanken machen musste. Keine Drogen. Keine Waffen. Nur ein Spaziergang am Samstagmorgen, wie viele andere es auch taten. Familien. Paare. Verliebte. Lebensfreude, wohin man auch sah. Als der Uniformierte auf derselben Höhe war, ein freundliches Nicken. »Na, Auslauf?«
»Leider nein«, gab der Beamte zurück. Sagen durfte er ja nichts. Doch die Person wusste ohnehin längst Bescheid.
»Ich habe die Einsatzfahrzeuge gesehen. Muss ich mir Sorgen machen?«
Der Beamte legte prüfend den Kopf zur Seite. »Nein«, entschied er. »Es besteht keine akute Gefahr. Aber dort hinten kommen Sie nicht weiter.«
»Wo hinten?«
»Sie können zum Schwimmbad rüber. Neben den Bahngleisen. Weiter in den Wald geht es nicht.«
»Hm. Und den Grund verraten Sie mir nicht?«
»Bedaure. Laufende Ermittlung.« Der Hund wurde unruhig, und der Beamte schickte sich an, weiterzugehen. »Hören Sie«, sagte er und hob die Augenbrauen, »die Mordkommission ist da. Das ist alles …«
Mehr brauchte es nicht.
»Danke«, wünschte die Person und hob zum Abschied die Hand. »Und viel Erfolg.«
Sie würden es brauchen.
Ob der Bulle begriff, dass er in die völlig falsche Richtung trabte? Dass es kaum mehr als eine Tierfährte war, die seinen Köter so in Aufregung versetzte?
Diese Pfeifen! Sie würden Tage brauchen, um zu begreifen, was sich hier abgespielt hatte. Wer sie waren, wo sie ermordet wurden, und warum.
»Ihr werdet es nie verstehen«, dachte die Person, noch immer lächelnd, und schritt weiter.
So wie die beiden es auch nicht verstanden hatten. Bis zum Schluss hatte sich in ihren Pupillen die Hoffnung widergespiegelt. Die bange Zuversicht, dass irgendein Jäger, oder der liebe Gott, oder der Mann im Mond ihnen zu Hilfe eilen würde. Doch keiner war gekommen. Nur das Raubtier mit der schwarzen Maske.
Wenige Minuten später erreichte die Gestalt die Absperrung, an der sich weitere Beamte tummelten. Ein Pärchen wechselte Worte mit den Männern, offenbar suchten diese nach einer Abkürzung auf die andere Seite des Fundorts.
Maliziöse Gedanken hallten durch das Gehirn und klangen bald wie ein Dialog zwischen Engelchen und Teufelchen.
Ich könnte sie euch zeigen …
Nicht hier und nicht jetzt!
Aber bald. Sehr bald.
Du bist ich,
ich bin du.
Ich töte dich.
Die meisten Fahrzeuge waren Einsatzwagen. Etwas abgelegen stand ein alter Golf Variant ohne Kennzeichen, der grelle Aufkleber des Ordnungsamtes prangte auf der Windschutzscheibe.
Julia Durant ging einige der Fragen durch, die zu klären waren. »Halterermittlung der parkenden Autos. Irgendwie müssen die beiden ja hierhergekommen sein.«
Es musste doch festzustellen sein, wenn ein Wagen über Wochen auf demselben Platz stand. Andererseits fiel im Juni noch kein Laub, und es hatte kaum geregnet. Trotzdem.
»Erledige ich«, sagte Frank Hellmer.
»Erledige ich«, sagte Doris Seidel, praktisch zeitgleich.
Durant seufzte und bedeutete ihrer Kollegin, sich der Sache anzunehmen.
Vor einer Viertelstunde waren Durant und Seidel einander in die Arme gelaufen.
Doris war eine hochintelligente, analytisch denkende Kollegin, die Julia nicht nur beruflich schätzte. Kaum eins fünfundsechzig groß, kurze blonde Haare und feine Gesichtszüge, die jetzt müde und zerschlagen wirkten. Ausgerechnet heute.
»Mensch, da bist du ja! Was ist denn los?«, hatte Julia gefragt.
Erst wollte Doris die Sache abtun: »Wir haben einen Fall. Das ist jetzt wichtiger.«
Doch das ließ ihre Kollegin und Freundin nicht zu. »Nichts da, Doris. Du kommst total verheult hier an, ich will wissen, was los ist, sonst schicke ich dich sofort nach Hause.«
»Nach Hause.« Doris lachte kehlig und murmelte etwas von »keine zehn Pferde«.
»Jetzt sag schon«, drängte Durant, »bevor die anderen hier auflaufen.«
Was Doris Seidel ihr dann erzählte, schlug dem Fass den Boden aus.
Konnte das sein? Hatte sie sich nicht getäuscht?
Doch andererseits: Was konnte man schon falsch daran interpretieren, wenn man einen halb nackten Mann in einem Hotelzimmer vorfand, auf direktem Weg ins Bett, wo eine nackte Blondine auf ihn wartete?
»Dieser Scheißkerl«, heulte Doris.
Ausgerechnet jetzt. Ausgerechnet so.
Julia schüttelte den Kopf und nahm sie in den Arm. »Willst du wirklich hierbleiben?«
»Ja. Bitte. Ich halte es nicht aus, woanders zu sein. Schon gar nicht zu Hause.« Doris Seidel wischte sich die Tränen ab, massierte die Schläfen und atmete tief durch. »Arbeit ist jetzt genau das Richtige. Am besten mit Schwung.«
»Das kannst du haben«, erwiderte Durant, und die Bilder der beiden skelettierten Leichen traten vor ihr geistiges Auge. Dabei schossen ihr eine Million Fragen durch den Kopf.
Gab es nicht irgendeine plausible Erklärung für Kullmers Verhalten?
Wann hatte sie ihn am vergangenen Abend zuletzt gesehen?
Und warum ausgerechnet Barbara?
Eines war unstrittig: Peter Kullmer war ein Heißsporn. Die Jahre, in denen er als hochpotenter Gockel jedem Rockzipfel der Abteilung nachgestellt hatte, mochten zwar lange vorbei sein, doch seine Instinkte hatte er gewiss nicht verloren. Barbara Schlüter, zumindest glaubte Durant sich daran zu erinnern, war ebenfalls eine von Peters Eroberungen gewesen. Er hatte es wirklich überall probiert, sogar bei Julia selbst. Erfolglos. Ganz im Gegensatz zu Barbara. Das alles lag viele Jahre zurück.
Weshalb war Barbara dann auf der Gästeliste der Hochzeit gewesen?
In dubio pro reo, dachte Durant. Im Zweifel für den Angeklagten.
Kullmer musste Rede und Antwort stehen. Er musste die Sache aufklären und Farbe bekennen. Und er musste die Konsequenzen tragen.
In flagrante delicto. Mehr »flagranti« wäre es wohl nur gewesen, wenn Doris zehn Minuten später ins Zimmer geplatzt wäre …
»Wegen mir kannst du bleiben«, hatte Julia Durant entschieden. Schlechte Erfahrungen mit Männern hatte sie selbst weiß Gott genug gesammelt.
»Danke. Aber kein Wort zu den anderen«, trug Seidel ihr auf.
Durant versprach es ihr, auch wenn beiden klar war, dass sich diese Sache wohl kaum lange geheim halten ließ. Dann hatte Julia ihr in wenigen Sätzen von den beiden Leichen auf der Lichtung berichtet. Irgendwann war Hellmer dazugestoßen. Er schien sich nicht weiter an Seidels verquollenen Augen zu stören, jedenfalls sagte er nichts.
Während Doris sich also daranmachte, die Kennzeichen zu notieren und einen Blick in das Innere der Autos zu werfen, gingen sie die nächsten Fragen an.
»Vermisste Personen, männlich wie weiblich«, sagte Durant. »Zuerst aus der Stadt, alle Personen zwischen fünfundzwanzig und sechzig.« Und auch wenn es ihr nicht passte, sie mussten die Fahndung an Darmstadt, Offenbach und Wiesbaden weitergeben. Süd-, Südost- und Westhessen. Zu zentral lag diese Gegend. Zu gut angebunden an sämtliche Verkehrswege.
Was der Kommissarin genauso wenig passte, war, dass sie immer wieder an Barbara denken musste.
»Wenn das ein Pärchen war«, dachte sie laut, »wer hat die beiden dann getötet? War es ein Raubmord? Oder ein Sexualdelikt? War es jemand, der ihnen zufällig über den Weg lief? Aber geht jemand ohne Vorsatz mit einer Schusswaffe in den Wald?«
Hellmer nickte und nahm den Faden auf: »Ich frage mich, ob der Fundort auch der Tatort ist. Und wo sind die Kleidungsstücke und die persönlichen Gegenstände? Das kann doch nicht alles von Tieren verschleppt worden sein.«
»Du meinst, der Täter hat Souvenirs mitgenommen?«
»Entweder das, oder er wollte sämtliche Spuren beseitigen.«
»Da ist mir mein Gedanke aber lieber«, warf Durant ein, und Hellmer neigte fragend den Kopf.
»Wenn er so krank ist, dass er Souvenirs sammelt«, erklärte Durant, »ist mir das fast lieber als irgendein hochintelligenter Killer, der seine Tatorte akribisch reinigt.«
»Na ja.« Hellmer schien das etwas weit hergeholt zu finden, und auch Julia musste sich eingestehen, dass der Gedanke nicht zu Ende gedacht war.
Doch bevor sie das ausdiskutieren konnten, kam Doris Seidel zurück.
Sie hatte sämtliche Autotypen und Kennzeichen notiert und wollte mit der Kamera losziehen, um überall dort, wo auf den Sitzen, Armaturen oder der Heckablage etwas Auffälliges zu sehen war, Fotos zu machen.
»Diese drei hier«, sie reichte Durant einen Zettel, »fallen aus der Reihe.«
Die Kommissarin bedankte sich und las die Kennzeichen.
GG, OF, KI.
Groß-Gerau und Offenbach. Nachbarn.
»Denkst du auch an Kollege Brandt?«, hörte sie Seidel fragen.
Peter Brandt war Ermittler der Mordkommission im Präsidium Südosthessen, welches seinen Sitz in Offenbach hatte. Auch wenn er eine notorische Abneigung gegen alles hatte, was von der anderen Seite des Mains kam, verband Durant und ihn eine kollegiale Freundschaft. Das mochte nicht zuletzt damit zusammenhängen, dass sie aus München stammte und somit im Grunde von derselben Uferseite wie Brandt.
Tatsächlich spielte all das im Augenblick nicht die geringste Rolle für die Kommissarin. Sie schüttelte den Kopf. Denn sie dachte an das dritte Kennzeichen. Ausgerechnet Kiel?
Seidel hielt ihr Handy bereit. »Der GG ist ein Suzuki Vitara, ziemlich heruntergekommen. TÜV abgelaufen im Juni.«
Durant rechnete nach. Laut Dr. Sievers lag der Todeszeitpunkt, rein rechnerisch, etwa Mitte Juni. Gehörte das Fahrzeug dem oder den Opfern? War es zuletzt mit gültigem TÜV bewegt worden? Hierher?
»Der Offenbacher scheint eine Familienkutsche zu sein«, fuhr Doris Seidel fort. »Kindersitz auf dem Beifahrersitz.«
»Vorne?«, fragte Durant.
»Ja.«
Julia Durant überlegte, ob man aus einem vorn befindlichen Kindersitz schließen durfte, dass der Fahrzeughalter alleinstehend sei. Ihr fehlte es an solchen Erfahrungen. Denn ihr Kinderwunsch, den sie in den Dreißigern noch intensiv gehegt hatte, war unerfüllt geblieben. Und jetzt, mit vierundfünfzig, war sie in einem Alter, wo sie sich damit abgefunden hatte. Nur noch selten verspürte sie leise Wehmut, meistens dann, wenn die Boulevardpresse sich auf eine Prominente stürzte, die mit Mitte fünfzig noch einmal schwanger werden musste. Und alle Welt sich das Maul darüber zerriss.
Der Kindersitz jedenfalls, nein. Kutschierte Kullmer seine Tochter nicht auch vorne sitzend? Durant biss sich auf die Lippe. Kein guter Vergleich an diesem Tag.
»Was für eine Marke?«
»Opel Astra«, antwortete Seidel. »Auch schon ein paar Jahre auf dem Buckel. Es liegen haufenweise Fast-Food-Tüten drin, so als wohne einer in dem Auto. Und der Aschenbecher quillt über.«
»Hm.«
»Er ist mir aufgefallen, weil die Scheibe total schmierig ist. Und die Reifen verstaubt und mit Spuren von herabrinnendem Wasser. Neben dem alten Kombi scheint er das am längsten hier stehende Auto zu sein.«
»Okay. Und der Kieler?«
»Ein silberner BMW. Schnittig, sauber, Lederausstattung und ein paar Accessoires. Ein typisches Vertreterauto, ohne das fremde Kennzeichen wäre es kaum aufgefallen. Ein Kilometerfresser, mit dem es sich bequem reisen lässt.«
Durant sah sich um. »Und wo ist der Fahrer?«
»Eben« Seidel grinste schief. »Das frage ich mich auch. Wobei der Wagen garantiert nicht seit mehreren Wochen hier abgestellt ist.«
»Ich gebe das alles weiter.« Durant wählte die Nummer von Platzecks Diensthandy. Wechselte ein paar Sätze mit ihm und bat anschließend darum, dass sich jemand um den Golf Variant kümmern solle. Er müsste ohnehin demnächst abgeschleppt werden. Durant ordnete an, dass man sich die Fahrgestellnummer zugänglich machen solle. So behutsam wie möglich.
Platzeck lachte. »Kinderspiel bei ’nem alten Dreier! Da siehst du hinterher nichts, als wären wir nie drin gewesen. Und im Übrigen heißt das FIN. Fahrzeug-Identifizierungsnummer.«
»Du hast mich ja auch so verstanden«, gab die Kommissarin mit bittersüßem Tonfall zurück. Als sie auflegte, hörte sie Hellmer gerade etwas über Peter Kullmer sagen. Ein Kloß formte sich in ihrem Hals, als sie das Aufflammen in Doris Seidels Augen sah. Am liebsten hätte sie ihren Kollegen am Schlafittchen gepackt und zurück in den Wald gezogen, doch das war gar nicht nötig.
»Dienst ist Dienst«, kam es mit eisiger Gleichgültigkeit. »Wenn das Handy klingelt, hat nun mal der Job Priorität.«
Hellmer wollte dagegenhalten, doch Durant sagte: »Kennen wir doch alle, oder etwa nicht, Frank?« Sie zwinkerte ihm derart provokant zu, dass er spontan nichts erwidern konnte. »Na komm, dann vergeuden wir mal nicht unsere Zeit«, fuhr sie fort. »Wenn wir schon so früh hier antreten müssen …«
Doris Seidel bedankte sich mit einem traurigen Lächeln und widmete sich wieder den geparkten Fahrzeugen.
Eine Viertelstunde später beobachtete Frank Hellmer die Handgriffe, mit denen der Golf aufgebrochen wurde. Es waren wenige, gezielte Handlungen, ausgeführt von einer blutjungen Kollegin mit kecken Augen und braunem Pferdeschwanz. Alles unter dem Blick von Platzeck. Es dauerte nur Sekunden, dann schwang die Fahrertür auf, und von »Aufbrechen« konnte da wirklich keine Rede sein. Man würde nicht die kleinste Spur sehen. Hellmer trat einen Schritt zurück, um die Motorhaube freizugeben, da meldete sich sein Telefon.
»Ach schau an«, begrüßte er den Anrufer, der offenbar nicht an einem Schlagabtausch interessiert war.
»Hast du Zeit?«
»Machst du Witze? Wir stecken in einem Doppelmord.«
»Scheiße.« Peter Kullmer ließ eine Pause, man konnte seine Gedanken förmlich mahlen hören. »Ist Doris auch da?«
»Logo«, antwortete Frank. »Wir vermissen dich alle schon. Wo steckst du denn?«
»Das glaube ich eher weniger«, murrte Peter. »Ich meine, dass ihr mich alle vermisst.«
»Jetzt spuck’s schon aus, verdammt!« Hellmer sprach so energisch, dass die beiden Forensiker für eine Sekunde innehielten und zu ihm blickten.
»Scheiße, Frank, das ist nicht so einfach«, druckste sein Kollege. »Bist du allein?«
»Jein. Stehe hier auf einem Parkplatz.«
»Hm. Und Doris und Julia?«
»Stehen in einer anderen Ecke. Verdammt, Peter, jetzt mach endlich mal ’ne Ansage!«
»Hm …« Pause. »Hat Doris nichts gesagt?«
Hellmer verneinte, kurz angebunden, und wartete darauf, was Kullmer ihm erzählen würde. Doch als dieser ihm seine Erinnerungsfetzen wiedergab, stockte ihm der Atem.
»Du hast was?«
»Komm schon, Frank. Ich weiß nicht, was ich hab! Ich weiß gar nichts, kapierst du?«
Frank Hellmer hatte eine ziemlich unrühmliche Vergangenheit, wenn es um eheliche Treue ging. Er hatte seine erste Ehe – seine gesamte Familie, um genau zu sein – vor vielen Jahren vor die Wand gefahren. So sehr, dass außer Trümmern nichts mehr geblieben war. Und seine zweite Frau, Nadine, hatte er nach Strich und Faden betrogen. Damals, als der Alkohol ihn so fest im Griff gehabt hatte, dass es einem Wettrennen gleichkam, was zuerst draufgehen würde. Seine Ehe? Seine Leber? Es war ein Kampf auf Leben und Tod gewesen – und Hellmer hätte ihn ohne seine Frau und ohne Julia Durant verloren.
Fischte Kullmer etwas nach seinem Verständnis?
Peters Vergangenheit war kein Geheimnis. Es glich einem Wunder, dass er kein halbes Dutzend unterhaltspflichtiger Nachkommen hatte. Doch seit der Liaison mit Doris Seidel war alles anders. Oder etwa nicht?
»Hallo? Bist du noch da?«
Hellmer räusperte sich. »Ähm, klar. Aber was soll ich jetzt machen?«
Am anderen Ende der Verbindung seufzte es: »Wenn ich das bloß wüsste.«
Die mehrspurige Trasse verlief von Süden her in Richtung Stadt. Für eine Weile vermittelte sie den Eindruck, als führe sie immer tiefer in ein Waldgebiet hinein. Dann, urplötzlich, zeigten sich Häuser unterschiedlichster Bauweise, und von den Botschaftsgebäuden wehten bunte Fahnen. Das Institut für Rechtsmedizin befand sich in einem erhabenen Sandsteingebäude. Bei ihrem ersten Besuch dort war Andrea Sievers prompt vorbeigefahren, und sie wusste, dass es vielen Passanten ähnlich erging. Man übersah vielleicht nicht das Gebäude, aber man übersah die Beschilderung. Man hatte keine Vorstellung davon, was sich im Inneren abspielte. Welche Bilder sich den Beschäftigten boten, insbesondere heute.
Dr. Sievers hatte die Leitung des Instituts vor ein paar Jahren übernommen. Dazu gehörte es auch, Medizinstudentinnen und -studenten mit Leichenöffnungen zu beglücken, eine Tätigkeit, die sie insgeheim genoss. Spätestens, wenn sie mit ihrem Besteck den Dünndarm anhob und dieser wie überdicke Spaghetti herabhing, vergingen auch dem letzten Großkotz die Machosprüche.
Seufzend drückte Andrea ihre Zigarette in den Sand des Aschers und erhob sich. Sie musste zurück in den Keller. Niemand würde ihr die Arbeit abnehmen. Wie unbeschwert wäre es doch, ein paar Studenten zu bespaßen. Stattdessen wartete ein skelettiertes Pärchen. Ein unvollständiges Pärchen noch dazu. Man hatte circa neunzig Prozent des Mannes gefunden und fünfundachtzig Prozent der Frau, wenn man das so sagen konnte. Andrea nahm wieder ihren Platz ein und prüfte, wo ihre Aufzeichnungen abrissen. Genau, dachte sie. Die Fehlteile der Frau. Irgendwo im Wald mussten sich unter anderem zwei Finger von ihr finden. Sie beendete die Aufstellung und gab die Daten in einem kurzen Telefonat an Platzeck weiter.
»Du bist witzig!«, rief dieser. »Wie sollen wir das denn finden? Mit einer Hundertschaft?«
»Weiß ich selbst. Fakt ist aber, dass diese Körperteile fehlen. Und es gibt drei Möglichkeiten, von denen ich eine so gut wie ausschließen kann. Wildtiere haben sie gefressen, Wildtiere haben sie verschleppt, oder der Täter hat sie abgetrennt.«
»Lass mich raten. Kein Souvenirjäger?«
»Sieht nicht danach aus«, murmelte Andrea. Einer aktuellen Studie zufolge galt es als äußerst unwahrscheinlich, dass Leichenzerstückelungen außerhalb der Wohnung von Täter oder Opfer vollzogen wurden. Wobei es keine echte Zergliederung gegeben hatte. »Wenn es menschlichen Ursprungs ist«, fuhr sie fort, »hat er viel zu früh mit dem Zerlegen aufgehört. Wurde er gestört? Warum hat dann keiner die Leichen gemeldet? Verstehst du? Sucht den Kram zusammen, egal wie, oder schließt das Ganze ab. Ich möchte jeden noch so kleinen Fitzel, an dem sich DNA befinden könnte, auf dem Tisch haben, versprich mir das bitte!«
Platzeck versicherte ihr, dass sie das Waldstück systematisch durchkämmen würden.
Sievers ließ den Blick über die beiden Toten wandern. Dann griff sie erneut zum Telefon, um Julia Durant zu erreichen.
»Bei der Frau handelt es sich um eine etwa fünfunddreißig Jahre alte Brünette«, begann sie ohne große Vorrede, »eins fünfundsechzig, um die sechzig Kilo, alle Angaben wie immer ohne Gewähr.« Im Folgenden ratterte Andrea ihre Erkenntnisse herunter, wobei sie betonte, dass vieles nur auf Vermutungen beruhen könne. Der Zustand der Leiche sei einfach miserabel. Die Frau habe allem Anschein nach ein Kind entbunden, musste Laufsport betrieben haben und sei am Schulterblatt tätowiert gewesen. Der Tod sei entweder durch den Kopfschuss herbeigeführt worden oder aber durch Erwürgen. Das gebrochene Zungenbein deutete auf ein starkes Würgen hin.
»Bei ihm auch?«, fragte Durant, die daran dachte, dass das Festhalten und Würgen im Grunde auch von einem sexuellen Peiniger ausgehen könne. Und das musste nicht zwingend der Mörder sein.
»Jep.« Andreas Antwort brachte diesen Gedanken direkt zum Platzen. »An seinem Hals ist es sogar noch deutlicher zu sehen.«
»Wieso?«
»Weil sein Hals noch da ist.«
Julia Durant rollte die Augen. »Verstehe.«
So einfühlsam Andrea Sievers als Mensch auch sein mochte, wenn sie ihren Job tat, schien sie einen Titanpanzer zu tragen.
»Kommen wir zu ihm«, fuhr die Rechtsmedizinerin fort, und die Prozedur begann von vorn. Größe, Gewicht, alles nichts Besonderes. Mittvierziger, dunkelhaarig, eins achtzig, achtzig Kilo. Tragespuren einer schweren Uhr. Klebereste auf der Haut an den Handgelenken, die es im Übrigen auch bei der Frau gegeben habe.
»Sie waren gefesselt«, konstatierte Durant. »Gibt es Hinweise auf sexuelle Aktivität?«
»Bedaure. Bei ihm gibt’s nicht mehr viel, was ich untersuchen kann. Und bei ihr … zu lange her. Ich bin noch nicht fertig, aber …«
»Ja, schon gut. Melde dich bitte, hörst du?«, drängte die Kommissarin. »Kannst du mir noch etwas zum Todeszeitpunkt sagen?«
Andrea Sievers zog ihren Kalender hervor, auf dem sie einen Kringel um die dreiundzwanzigste Kalenderwoche gezogen hatte. »Pfingsten«, sagte sie leise. »Irgendwann um diese Zeit, wobei das Plus/Minus hier schon ziemlich groß wird.«
»Das sind über vier Wochen«, rechnete Julia Durant nach und seufzte. Sie bedankte sich, schälte sich aus ihrem Bürostuhl und trat vor die Kaffeemaschine. Den bitteren Geschmack im Mund würde sie heute wohl nicht mehr losbekommen.
Kurze Zeit später führten die Halterermittlung und der Abgleich der Vermisstenmeldungen zu einem interessanten Ergebnis. Auch wenn man noch ohne eine eindeutige Identifizierung über äußere Merkmale, Fingerabdrücke oder DNA auskommen musste, erschien die Übereinstimmung anderer Faktoren als ziemlich belastbar. Am zehnten Mai war die dreiunddreißigjährige Susan Satori aus Dreieich von ihrem Ehemann als vermisst gemeldet worden. Zuletzt gesehen hatte er sie am Freitagnachmittag, am Abend war sie mit ihrem Opel Astra weggefahren und seither weder erreichbar gewesen noch im Freundeskreis gesehen worden.
»Ist es der Astra?«, vergewisserte sich Julia Durant bei Doris Seidel, die ihr die Neuigkeit soeben überbracht hatte.
Doris nickte. »OF, mit Kindersitz.«
Beide Frauen wussten, was das bedeutete. Dort draußen gab es ein Kind, das seit Wochen auf die Heimkehr seiner Mutter wartete. Und die nächste Person, die seine Mutter erwähnte, würde ihm einen Alptraum überbringen, von dem es sich jahrelang nicht erholen würde. Vermutlich nie.
Ein digitales Klingeln ließ Durant aufhorchen. »Dein Telefon«, sagte sie und deutete in Richtung von Doris’ Büro.
Augenrollen. »Ich weiß. Es ist Peter.«
»Scheiße, ihr müsst das klären.«
»Ich muss ja wohl gar nichts!«, erwiderte Doris trotzig.
Verdenken konnte Julia ihr diese Reaktion nicht.
Kommissariatsleiter Hochgräbe hatte zur Dienstbesprechung gebeten. Anwesend waren neben ihm Durant, Hellmer und Seidel. Claus Hochgräbe hatte den Konferenzraum gewählt, obwohl auch sein Büro genügend Platz geboten hätte. Auf einem Tisch warteten Kaffee und Sprudelwasser, Tassen, Gläser und sogar eine Dose mit Schokogebäck. Überbleibsel eines anderen Treffens, vermutete die Kommissarin, was niemanden hinderte, zuzugreifen.
Wenige Minuten zuvor hatten sie und Claus auf dem Flur gestanden. Die beiden waren seit einigen Jahren ein Paar, und Anfang 2015 hatte Hochgräbe den Leitungsposten übernommen. Diese Veränderung war anfangs nicht einfach gewesen, denn Julia ließ sich nicht gerne in ihre Arbeit hineinreden. Aber die beiden hatten einen Weg gefunden. Nur auf überschwängliche Liebesbekundungen im Präsidium verzichteten sie. Außer wenn sie hin und wieder einen unbeobachteten Moment erhaschten. Heute allerdings hing eine ungemein gedrückte Stimmung in der Luft, und das hatte nicht hauptsächlich etwas mit dem ermordeten Pärchen zu tun.
»Und Peter hat …?«, raunte Hochgräbe, nachdem er sich umgesehen hatte, ob niemand lauschte.
»Ich weiß es nicht«, gab Durant zurück. »Doris meint, sie habe ihn in flagranti erwischt. Und um ehrlich zu sein, fehlt mir auch die Fantasie, welche Erklärung es sonst geben könnte. Fremdes Zimmer, alte Flamme …« Sie unterbrach sich und hob die Schultern.
»Schöne Scheiße. Und wo ist Peter?«
»Keine Ahnung. Doris hat seine Nummer geblockt und will außer dem Fall von nichts hören. Nehme an, er sitzt zu Hause. Jemand muss ja auf Elisa aufpassen. Und sein schlechtes Gewissen wird ihn vermutlich auffressen.«
Hochgräbe zog den Mund in die Breite. Er hatte noch etwas sagen wollen, doch ausgerechnet jetzt kamen Seidel und Hellmer aus unterschiedlichen Richtungen angetrabt, und das Privatleben wich wieder dem Dienstlichen.
Julia Durant zerkaute einen Keks und spülte ihn mit einem Schluck Kaffee hinunter. Soeben hatte sie die jüngsten Erkenntnisse über das weibliche Opfer zusammengefasst.
»Wow«, schlussfolgerte Hochgräbe. »Dann ist der Tote also schon mal nicht ihr Ehemann, weil dieser sie ja vermisst gemeldet hat.«
»Exakt.« Hellmer nickte. »Außerdem ist der Ehemann einen Kopf kleiner als der Tote, und er hat in den vergangenen Wochen mehrfach nachgefragt.«
»Mich wundert, dass das Auto nicht entdeckt wurde«, sagte Hochgräbe, doch hierfür hatte Julia eine Erklärung:
»Das parkte so, dass man es von der Straße nicht sieht. Da hätte man schon gezielt auf den Parkplatz fahren und suchen müssen.«
»Trotzdem ärgerlich. Wir reden immerhin von vier Wochen.« Hochgräbe drehte seine Tasse in den Händen. »Na ja. Was ist mit ihm?«
»Noch nichts Neues«, antwortete Seidel. »Ich warte auf die Rückmeldung aus Kiel. Da scheint man sich samstags etwas schwerzutun.« Ihre Finger fuhren sich zittrig durchs Haar. »Die Fahrgestellnummer des Golfs ergab einen Treffer. Irgendein Typ, der sich keiner Schuld bewusst ist und behauptet, man habe ihm die Kennzeichen gestohlen. Mimte das Unschuldslamm und war so frech, zu fragen, wer ihm seine aufgebrochene Tür ersetze.«
Die anderen lachten auf.
»Stattet ihm trotzdem einen Besuch ab«, sagte Hochgräbe. »Identität, Alibi, eventuelle Verbindung zu der Ermordeten. Wir können es uns nicht leisten, dem nicht nachzugehen. Was ist mit dem Auffindungszeugen?«
»Steht alles noch an«, sagte Durant, und niemand musste laut aussprechen, dass es in diesem Fall eine ganze Menge ungünstiger Faktoren gab. Der lange Zeitraum zwischen der Tat und dem Ermittlungsbeginn war einer. Der fehlende Mann, Kullmer, ein anderer. Sie einigten sich darauf, dass Durant und Hellmer nach Dreieich fahren sollten. Der Besuch beim hinterbliebenen Ehemann hing wie ein Damoklesschwert im Raum. Es war eine der schwersten und unangenehmsten Pflichten, die man bei der Mordkommission zu erfüllen hatte, und es war nichts, was im Laufe der Jahre einfacher wurde. Auch wenn die Übermittlung von Todesbenachrichtigungen für die Kommissare ein sich wiederholendes Ritual war: Für jeden Angehörigen war es das erste Mal. Und es traf mit voller Wucht. Schreien, Tränen, Apathie. Nach dem ersten Aufflammen schien in den Angehörigen etwas zu sterben. Etwas in ihrem Blick, etwas in ihren Bewegungen. Als nähme der geliebte Mensch einen Teil von ihnen mit ins Grab. Und es geschah immer genau dann, wenn die Kommissare die Gewissheit überbrachten. Boten des Todes, die zuerst eine Leiche fanden und, als wäre das nicht schlimm genug, auch noch das Glück eines Lebenden zerstörten. Töteten.
»Dann klemme ich mich mal hinter den Golf-Typen«, sagte Doris Seidel.
Hochgräbe hatte nichts einzuwenden. »Ich habe eben noch mal mit der Rechtsmedizin gesprochen«, gab er in die Runde. »Die bundesweite Datenbankabfrage mit DNA ist erst ab Montag möglich. Schneller kriegt Andrea es nicht hin. Und die Sache mit den Fingerabdrücken ist Glückssache. Aber wir kennen sie ja. Sie wird da schon etwas zaubern.«
Durant musste schmunzeln. Zaubern. Manchmal grenzte es wahrlich an Magie, wenn Sievers zum Beispiel einen vertrockneten Finger in Salzlösung einlegte, nur um Stunden später einen nahezu perfekten Abdruck von ihm zu entnehmen.
Doch schon wurde ihr Gemüt wieder schwer. Bis dahin würden DNA oder andere Methoden die Identität des Toten vermutlich längst verraten haben. Über den Täter allerdings sagte das alles nichts aus.
»Wundert mich, dass es in ganz Hessen keine Vermisstenmeldung gibt, die auf unseren Toten passt«, murmelte Hellmer.
»Ein Grund mehr, die Kieler Spur im Auge zu behalten«, kam es von Seidel.
Ein paar Minuten später löste sich die kleine Versammlung auf. Nicht ohne dass die meisten sich im Hinausgehen noch eine Handvoll Kekse angelten.
Der Motor des BMW näherte sich, und sofort legte sich eine kalte Faust um das Herz der Frau. Michaela stand am Herd, den Wasserkocher im Blick. Sie wollte sich einen Kräutertee zubereiten, denn die Nervosität schlug ihr auf den Magen.
Er war pünktlich wie ein Uhrwerk. Vielleicht die letzte Tugend, an der ihr Mann festhielt. Kein Auto in der Nachbarschaft hatte denselben Klang wie der Sechszylinder – und tatsächlich, in der nächsten Minute knarrte auch schon das Gestänge des elektrischen Flügeltors.
In dem Glasbauch begann es leise zu zischen, und die ersten Bläschen tanzten über den Metallboden, der von weißen Kalkflocken übersät war, als wäre es eine Schneekugel. Schwere Schritte ertönten auf der Holztreppe, die von der Garage ins Innere des Hauses führten. Dann die Klinke.
Michaelas Hände klammerten sich um den Rand der Arbeitsplatte. Ihr Herz hämmerte bis in die Kehle, und sie überlegte fieberhaft, ob sie an alles gedacht hatte. Ihr Handy. Das Tablet. Er kontrollierte ihr Leben, er hatte sie vollkommen von sich abhängig gemacht. Hatte ihr gesamtes Vermögen in dubiosen Geschäften verzockt und kettete sie damit nur noch mehr an sich. Das Haus, das Auto, alles war mit Schulden belegt, und eine Trennung würde Michaela in den Abgrund stürzen. Zumindest hatte sie das die längste Zeit der vergangenen Jahre geglaubt.
»Da bin ich«, schallte es in den Flur. Hatte er getrunken, oder war es nur die verzerrte Akustik? Beides war möglich.
Schon stand er hinter ihr und reckte die Hände aus. Michaela entzog sich.
»Hallo?!«, keuchte er angestrengt und griff nach ihrer Schulter. »Eine Begrüßung sieht aber anders aus.«
Er versuchte, sie umzudrehen.
»Warte. Das Wasser kocht gleich«, antwortete sie leise.
»Ist mir scheißegal.« Jetzt roch sie den Alkohol.
»Hallo, mein Liebling«, säuselte sie aufgesetzt. »Schön, dass du da bist.«
»Geht doch«, murrte er und zwang ihr einen feuchten Kuss auf die Wange. Seine Barthaare kratzten. Eine fettige Haarsträhne fuhr ihr durchs Gesicht.
Vor Jahren, als sie geheiratet hatten, war er ein ansehnlicher Mann gewesen. Alte Fotos ließen eine gewisse Ähnlichkeit mit Frank Zappa erkennen. Groß, schlank, tiefgründige Augen und die typisch markante Gesichtsbehaarung. Übrig davon waren eine ungepflegte Frisur und ein aus der Form geratener Körper. Die Haare über der Oberlippe gelb vom Zigarettenrauch, und viel zu oft schien der Alkohol aus sämtlichen Poren auszudünsten.
Das Schicksal hatte eine glücklich begonnene Ehe kinderlos gelassen und durch gezielte Einschläge zu einem finsteren Gefängnis umgebaut.
Las er in ihren Augen, wie sehr sie ihn verabscheute?
Sie zwängte sich aus seinem Griff und wandte sich dem sprudelnden Kocher zu. Doch schon geriet er in Rage, wollte sie überwältigen, die Bewegungen gerieten außer Kontrolle. Das Nächste, was sie hörte, war ein Scheppern, gefolgt von einem unsäglichen Schmerz, als das kochende Wasser ihre Hand verbrühte. Sie schrie – und auch seine Stimme erhob sich. Beide stürzten zum Wasserhahn, kaltes Wasser spritzte über das schmutzige Geschirr in der Spüle. Beide Hände gierten nach Abkühlung.
»Du dumme Fotze!«, stieß er hervor und stieß sie grob von sich. »Danke schön!«
»Du hast doch danach gegriffen«, gab sie zurück.
Doch schon stampfte er davon.
Die Badezimmertür flog auf. Dann der Schrank. Vermutlich kramte er nach einem Pflaster und einer Salbe.
Michaela bewegte sich wie in Zeitlupe. Ihre Verletzung war nicht so schlimm wie befürchtet. Nur ein paar Spritzer. Sie ließ kaltes Wasser darüberrinnen, auch wenn sie einmal gelesen hatte, dass das nicht die beste Behandlung einer Verbrühung sein sollte.
Beklommenheit machte sich breit. Was würde er mit ihr machen, wenn er aus dem Bad zurückkehrte? Sie wusste es nicht.
Doch dann spulten sich die Geräusche, die sie vor Minuten gehört hatte, erneut ab. Nur rückwärts. Treppe. Garage. Sechszylinder.
Er fuhr weg? Tatsächlich. Michaela atmete auf.
Natürlich wusste sie, dass es noch nicht vorbei war.
Ihr Blick wanderte auf den Glaskocher. Es war noch genügend Wasser in ihm.
Sie goss sich eine Tasse ein.
Sehnsüchtig betrachtete sie das Tablet und ihr Handy, die säuberlich auf der Eckbank lagen. Direkt neben der zusammengerollten Katze, die sich irgendwann lautlos dort platziert haben musste. Manchmal erschreckte sich Michaela vor dem Tier, dabei war sie ein grundgütiges Wesen. Vielleicht das einzige unter diesem Dach.
Für eine Sekunde ertappte sie sich bei dem Gedanken, was wohl aus dem Haus und der Katze werden würde, wenn …
Doch dazu würde es nie kommen.
Die Übelkeit kehrte wieder. Müde trottete Michaela mit der Teetasse in Richtung Eckbank.
Nein, es war noch nicht vorbei.
Es war nur vertagt.
Und wenn ihr Mann das nächste Mal zurückkam, würde es richtig schlimm werden.
Sie gibt sich ja ziemlich tapfer«, begann Frank Hellmer das Gespräch, nachdem die beiden Kommissare eine Zeit lang schweigend nebeneinandergesessen hatten. Julia genoss die hohe Sitzposition des Rovers, ein deutlicher Kontrast zu ihrem kleinen, tief liegenden Roadster. Frank, der am Steuer saß, sprach von Doris Seidel, kein Zweifel.
»Das wird nicht lange halten«, schätzte Julia Durant. »Der große Knall steht noch an, spätestens nachher, wenn sie nach Hause muss.«
»Hm. Und was sollen wir machen?«
Julia zuckte mit den Achseln. Dasselbe Gespräch hatte sie bereits mit Claus Hochgräbe geführt. »Da können wir nicht viel machen. Außer uns bereithalten, falls das Ganze eskaliert. Vielleicht könnt ihr Elisa für ein paar Tage nehmen.«
»Ja, daran hab ich auch schon gedacht.«
Beide waren sichtlich erleichtert, dass sie ihre Gedanken noch nicht auf das bevorstehende Treffen konzentrieren mussten.
Vielleicht war das auch der Grund, weshalb Hellmer die Nibelungenallee wählte und über das Nordend in Richtung Osthafen fuhr. Erst dann steuerte er auf die A661 in südliche Richtung. Er schien es nicht eilig zu haben.
»Meinst du denn, er hat?«, fragte er irgendwann.
»Ich frag’s mich auch die ganze Zeit«, sagte Durant. »Aber ich wünsche mir, dass es nicht so war.« Sie schluckte. »Auch wenn ich’s mir beim besten Willen nicht erklären kann, warum er ausgerechnet bei der Schlüter war.« Sie stöhnte auf. »Lass uns bitte von etwas anderem reden, okay?«
»Klar.«
Nach weiteren zehn Minuten Fahrt erreichten sie ein Mehrfamilienhaus in Götzenhain, einem Ortsteil von Dreieich. Hellmer musste mehrfach ansetzen, um den sperrigen Wagen halbwegs gerade in eine Parklücke zu manövrieren.
»Echt jetzt?« Julia grinste, als sie die Schweißperlen auf Franks Stirn entdeckte.
»Sei bloß still! Ich fahre seit Jahren nur den 911er.«
»Schon klar.« Sie löste den Gurt, und ihr Blick wanderte zufällig auf ein zerknittertes Zigarettenpäckchen, welches beim Rangieren unter dem Sitz hervorgerollt war. Es war schon so lange her, dass sie dieses Laster abgelegt hatte. Und trotzdem blieb der Geschmack. Und das Verlangen, wenn auch nur hin und wieder. Eben war einer dieser schwachen Momente, was damit zusammenhängen mochte, was ihnen bevorstand.
Hellmer hüstelte. »Können wir?«
»Hilft ja alles nichts.« Durant verabschiedete sich von dem Gedanken an heißen, aromatischen Tabakrauch, den sie in ihren Mundraum sog, und knallte die Tür zu.
»Wo müssen wir hin?«
Hellmer nannte die Nummer, und die beiden marschierten los.
Erst nach dreimaligem Klingeln regte sich etwas im Inneren. Während die Kommissare die Köpfe in Richtung der Gegensprechanlage gebeugt hielten, erschien ein Schatten hinter dem Strukturglas der Haustür. Dann schwang sie auch schon auf.
»Wer sind Sie?« Der Fragesteller gab eine traurige Figur ab. Eine Trainingshose aus dunkelblauer Baumwolle, darüber ein verwaschenes T-Shirt. An den Füßen Turnschuhe. Der Bauchansatz ließ darauf schließen, dass weder die Sporthose noch die Schuhe in den letzten Jahren ihrem eigentlichen Zweck nach verwendet worden waren.
»Durant und Hellmer, Kriminalpolizei Frankfurt«, stellte Julia sich selbst und ihren Partner vor und zeigte ihren Dienstausweis. Sie hatte es sich schon lange abgewöhnt, mit der Tür ins Haus zu fallen. Mordkommission. Auf ihr Gegenüber hätte dieses Wort wohl wie ein Vorschlaghammer gewirkt.
Doch der Gesichtsausdruck des Mannes, der nur eine Handbreit größer war als Durant selbst, sprach Bände. Er rieb sich über das schon seit Tagen unrasierte Gesicht. Hautschuppen rieselten hinab.
»Kriminalpolizei«, hauchte er und trat ein Stück zur Seite, um die beiden hereinzulassen. »Das heißt nichts Gutes. Oder etwa doch?«
In seinen Augen flackerte es, und Durant vermochte nicht zu unterscheiden, ob es sich dabei um Hoffnung oder Angst handelte. Wahrscheinlich etwas von beidem. Sie hatte dieses Flackern schon viel zu oft gesehen.
»Herr Satori«, begann sie angestrengt, »wollen wir nicht erst hineingehen?«
Am Ende der ersten Treppe stand eine Wohnungstür offen. Satori blickte treppauf, dann zurück in Durants Gesicht. »Mein Kleiner ist da oben«, sagte er. »Bitte sagen Sie mir jetzt, was Sache ist. Ist Susan … Ha-haben Sie sie gefunden?«
»Es tut uns leid«, erwiderte die Kommissarin kleinlaut.
Die Nachricht riss dem Mann förmlich den Boden unter den Füßen weg. Nur mit Mühe bekam Hellmer ihn zu greifen, als er mit einem Scheppern gegen die Briefkästen strauchelte, die neben der Haustür ins Treppenhaus ragten.
»Herr Satori«, keuchte er und richtete ihn auf.
Satori japste nach Luft. »Susan!« Tränen quollen ihm aus den Augen. »Sind Sie sich sicher? Absolut sicher?«
Julia Durant nickte langsam, auch wenn sie gerne etwas anderes getan hätte. Und was war schon absolute Sicherheit?
»Es besteht kaum Zweifel. Tut mir leid.«
Es dauerte, bis sie die Treppe bis zur Wohnungstür genommen hatten. Satori bebte noch immer, hielt seine Tränen nun aber halbwegs unter Kontrolle. Er musste jetzt stark sein, er wollte seinem Kind nicht wie ein Nervenbündel gegenübertreten. Wie alt mochte das Kind sein? Maximal im Grundschulalter, wenn sie an den Sitz dachte. Wie brachte man einem Schulkind den Tod der eigenen Mutter bei? Und war es bei einem Kleinkind, das viel weniger begriff, einfacher oder schwieriger?
Durant erinnerte sich, wie schwer es mit fünfundzwanzig gewesen war. Ihre Mutter hatte stark geraucht. Sie war langsam und qualvoll erstickt. Viel Zeit, sich mit dem schleichenden Tod auseinanderzusetzen. Viel Zeit, um die Lebensfarbe aus dem Gesicht schwinden zu sehen, bis nur noch ein tristes Grau übrig gewesen war.
Sie fröstelte. Auch die Satoris warteten seit einem Monat auf die Nachricht über Leben und Tod.
Kinderstimmen drangen an Julias Ohr, erst dann begriff sie, dass es der Fernseher war. Auf dem Sofa davor aalte sich ein circa vierjähriger Blondschopf, der um sich herum nichts wahrzunehmen schien. Erst als Satori die Fernbedienung zur Hand nahm und ihm nach dem Abschalten etwas zuraunte, nahm der Kleine die Besucher wahr. Er versteckte sich hinter einem Stofftier, bis sein Vater ihm erklärte, dass es sich um Polizisten handele.
»Und wo sind die Uniformen?«, fragte er mit kritischer Miene.
»Wir müssen am Wochenende keine tragen.« Frank Hellmer lächelte und griff in seine Tasche. »Aber unseren Ausweis haben wir dabei.«
Der Junge betrachtete den Dienstausweis nur kurz, dann prüfte er Hellmers Hosenbund. »Hast du keine Pistole?«
»Nein.«
»Warum nicht?«
»Na ja, das ist auch wegen dem Wochenende.«
Durant musste ebenfalls lächeln. Hellmer machte seine Sache gut.
»Wie heißt du eigentlich?«, wollte der Kommissar wissen. »Ich bin Frank.«
»Philip.«
»Zeigst du mir dein Zimmer?«
Sofort signalisierte Philip Begeisterung und griff nach Hellmers Hand, um ihn in die richtige Richtung zu ziehen. Der Kommissar folgte ihm, und der Junge hatte längst zu plappern begonnen. Es ging um irgendeinen »Ninjago«, was auch immer das war. Die beiden verschwanden um eine Ecke, dann ging eine Tür, und es waren nur noch gedämpfte Geräusche zu hören.
»Was passiert jetzt?«, fragte Satori, der sich auf einen Stuhl am Esstisch gesetzt hatte. »Muss ich sie identifizieren?«
Warum muss er ausgerechnet das fragen?, dachte Julia. Sie zog sich einen Stuhl zurecht und nahm ihm gegenüber Platz. Dann schürzte sie die Lippen. »Tut mir leid, aber das ist nicht nötig«, wich sie aus.
»Nein?«
»Die lange Zeit im Wald«, versuchte sie sich an einer möglichst sanften Erklärung.
»Aber … Ich wollte sie noch einmal sehen …«
Das wollen Sie definitiv nicht, schoss es der Kommissarin durch den Kopf.
»… und was ist mit Philip? Ich meine – das Kind muss sich verabschieden!«
»Wir haben Ihre Frau anhand ihrer Merkmale identifiziert. Dank Ihrer präzisen Beschreibung können wir ziemlich sicher sein. Spätestens, wenn Fingerabdrücke und DNA kommen werden …« Durant unterbrach sich. All das spielte für Satori nicht die geringste Rolle.
»Verzeihung«, fuhr sie fort. »Aber wir versuchen noch immer zu rekonstruieren, was genau sich zugetragen hat.«
»Wurde sie …«
Durant nickte. »Ich bedaure. Es gibt keinen Weg, Ihnen das leichter zu machen. Aber Ihre Frau wurde Opfer eines Gewaltverbrechens.«
»Vergewaltigung?«
»Das können wir nicht sagen«. Durant schluckte schwer. »Allerdings gibt es eine Sache, die ich Ihnen jetzt sagen muss-«
Und diese Sache war von allen die schwerste. »Ihre Frau war nicht allein. Sie wurde neben einem weiteren Leichnam gefunden. Im Wald, Nähe Kelsterbach …«
»Ein anderer Toter?« Satori sprang auf. »Ein männlicher …?«
Durant bestätigte. Sie spulte ein paar Details ab, doch Satori bekam vermutlich kaum noch etwas davon mit.
Ob er wisse, um wen es sich handeln könne.
Ob seine Frau womöglich ein Verhältnis haben könne.
Es verstrich eine zähe, tränenreiche Viertelstunde, voller Frust und Wut, voller Enttäuschung und Selbstzweifel.
»Da stehe ich nun«, resümierte Satori irgendwann und erhob sich. Er schritt zielstrebig zu einem Vorhang, hinter dem sich eine Art Speisekammer verbarg, und kehrte mit einer Flasche Jägermeister zurück. Er wog sie in der Hand, murmelte etwas von einem Geschenk, drehte den Deckel auf und nahm einen mutigen Schluck.
Er wischte sich über den Mund und verzog das Gesicht. Dann wiederholte er das Ganze und stellte die Flasche danach auf die krümelige Tischplatte.
»Ich habe nichts Stärkeres da«, sagte er. »Ich trinke eigentlich nicht.«
Julia Durant nickte. Ihre Gedanken galten dabei vor allem dem Kind. »Haben Sie jemanden, der Sie unterstützen kann?«
»Wieso?« Satori reagierte fast schon trotzig. »Wir kommen seit vier Wochen bestens zurecht!«
»Trotzdem. In dieser Situation …«
»Ich kriege das schon hin. Unser Pfarrer wohnt ums Eck, ich bin aktiv in der Gemeinde. Und Philip hat ein paar gute Freunde. Das wird ihn ablenken.«
Julia Durant schob ihre Visitenkarte über den Tisch und zog dabei eine Bahn in die Krümel. »Bitte melden Sie sich jederzeit, wenn Sie jemanden brauchen«, sagte sie. »Ich habe selbst einen Verlust erlitten. Ich weiß, wie Sie sich fühlen.«
»Ach ja?« Satoris Augen flammten auf. »Hat Ihr Mann auch im Wald eine andere gevögelt, bevor er umgebracht wurde?« Er schnaufte und schob eine kleinlaute Entschuldigung hinterher.
Durant griff kurz nach seiner Hand, dann stand sie auf. »Schon gut. Ich habe solche Situationen leider schon öfter miterlebt. Deshalb weiß ich, dass es gut ist, wenn man jemanden hat.«
Satori legte den Kopf nach hinten. »Wie geht es jetzt weiter?«
»Sobald die Rechtsmedizin uns das Okay gibt, können Sie Ihre Frau bestatten. Und wir werden das Umfeld beleuchten. Das heißt, wir müssen uns noch einmal ausführlich unterhalten. Auch über Ihr Alibi, das können wir Ihnen nicht ersparen. Aber das muss nicht heute sein.«
»Hm.«
»Trotzdem: Es wäre hilfreich, wenn Sie uns alles mitteilen könnten, was zum Zeitpunkt des Verschwindens bei Ihnen los war. Alles, was vielleicht anders war als sonst.«
Satori blieb mit nachdenklicher Miene am Tisch sitzen, und Durant machte sich auf den Weg zum Kinderzimmer, um ihren Partner abzuholen.
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