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Zwei Frauen. Ein Plan. Und die Frage: Freundin oder Feindin? – Der neue Thriller der Nr.-1-SPIEGEL-Bestsellerautorin
Meg ist eine Meisterin der Täuschung, und sie hat nur ein Ziel: Gerechtigkeit. Sie schleicht sich in die Leben skrupelloser Männer, die sich auf Kosten von Frauen bereichern, und bringt diese um ihr Vermögen und ihren guten Ruf. Doch nun wird es Zeit für ihren letzten Plan: Endlich will sie den Mann zu Fall bringen, mit dem alles begann. Aber sie ahnt nicht, dass ihr jemand auf den Fersen ist. Es ist eine Frau. Und auch sie will Rache …
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Seitenzahl: 421
Das Buch
»Es ist immer noch ein Schock, wenn mich jemand mit meinem richtigen Namen anspricht. Im Lauf der Jahre hatte ich viele Namen, meistens waren es Abwandlungen meines eigenen: Margaret, Melody, Maggie. Falsche Biografien, die von der Studentin bis zur selbstständigen Fotografin reichten, kürzlich auch Innenarchitektin und Life Coach von Filmstars, alles ausgefeilte Erfindungen. Rollen, die ich nahezu perfekt spielte. Aber heute bin ich als ich selbst hier, jemand, der ich schon lange nicht mehr war.«
Die Autorin
Julie Clark wuchs in Santa Monica auf. Während sich ihre Freunde auf Surfbrettern in die Wellen stürzten, las sie lieber Bücher am Strand. Nach dem Studium arbeitete sie in Berkeley an der University of California. Dann kehrte sie zurück nach Santa Monica, wo sie heute mit ihren beiden Söhnen und einem Goldendoodle lebt und als Lehrerin tätig ist. Mit ihrem gefeierten internationalen Debüt »Der Tausch« eroberte sie die SPIEGEL-Bestsellerliste im Sturm und stand wochenlang auf Platz 1.
Lieferbare Titel
Der Tausch – Zwei Frauen. Zwei Tickets. Und nur ein Ausweg.
JULIE CLARK
DER PLAN
THRILLER
Aus dem Amerikanischenvon Astrid Gravert und Katja Hald
WILHELM HEYNE VERLAGMÜNCHEN
Die Originalausgabe The Lies I Tell erschien erstmals 2022 bei Sourcebooks Landmark, Naperville, Illinois.Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.
Deutsche Erstausgabe 04/2022
Copyright © 2022 by Julie Clark
Copyright © 2022 der deutschsprachigen Ausgabe by Wilhelm Heyne Verlag, München, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München
Redaktion: Lars Zwickies
Printed in Germany
Umschlaggestaltung: zero-media.net unter Verwendung von Arcangel (Lillian Polley), FinePic®, München
Satz: Uhl + Massopust, Aalen
Druck und Bindung: GGP Media GmbH, Pößneck
ISBN: 978-3-641-29017-7V002
www.heyne.de
Für Pap-Pap, der mir gesagt hat, dass ich es kann.Für Mum, die mir gezeigt hat, dass ich es kann.
Sie steht auf der anderen Seite des Raumes in einer kleinen Traube von Gästen. In einer Ecke spielt ein Jazzquartett, die hüpfenden, gleitenden Töne tanzen um uns herum, eine leise Untermalung, die von Geld und Klasse zeugt. Meg Williams. Ich nehme einen Schluck Wein, genieße den teuren Jahrgang in dem schweren Kristallglas und beobachte sie. Es gibt nur wenige Fotos von ihr – ein körniges Bild als Oberstufenschülerin aus einem Highschool-Jahrbuch und ein weiteres aus einem YMCA-Mitarbeiterverzeichnis von 2009 –, aber ich habe sie sofort erkannt. Mein erster Gedanke: Sie istwieder da. Mein zweiter: endlich.
Sobald ich sie sah, steckte ich meinen Presseausweis in die Handtasche und bewegte mich unauffällig am Rand des Raums entlang. In den letzten drei Monaten habe ich alle Wahlkampfveranstaltungen von Ron Ashton besucht, hielt die Augen offen und wartete darauf, dass Meg auftauchte. Ich war von einem Google Alert alarmiert worden, den ich vor zehn Jahren erstellt hatte – nach einer Dekade der Stille klingelte es im April, als eine neue Website erschien: Meg Williams, Immobilienmaklerin. Ich wusste immer, dass sie zurückkommen würde. Dass sie es unter ihrem richtigen Namen tat, sagte mir, dass sie nicht vorhatte, sich zu verstecken.
Als sie eintrat und lächelnd ihren Mantel an der Tür abgab, wurde mir für einen Moment schwindelig. Man kann sich auf etwas vorbereiten, es sich hundertmal auf unterschiedliche Weise vorstellen, und trotzdem verschlägt es einem den Atem, wenn es tatsächlich geschieht.
Ich habe einmal mit ihr gesprochen, vor zehn Jahren, aber sie wusste sicher nicht, dass ich diejenige war, die an jenem Tag ans Telefon ging. Es war ein Dreißig-Sekunden-Gespräch, das meinLeben veränderte, und es wäre eine Untertreibung zu sagen, dass ich Meg zum Teil dafür verantwortlich mache.
Scott, mein Verlobter, wird sicher einwenden, dass der Preis – finanziell wie emotional – zu hoch sei. Dass wir es uns nicht leisten können, dass ich bezahlte Jobs nicht annehme, um einer Geschichte nachzujagen, die es vielleicht niemals geben wird. Dass es all die Arbeit, die ich in meine Heilung gesteckt habe, zunichtemachen wird, wenn ich mich wieder mit jener Zeit, jenen Ereignissen und jenen Menschen beschäftige. Er versteht nicht, dass diese Story mich endlich befreien wird – nicht nur davon, Artikel zu schreiben, für die ich lediglich ein paar Cent pro Wort bekomme, sondern auch von den Dämonen, die Meg mir vor langer Zeit geschickt hat.
Ich geselle mich zu einem größeren Kreis von Menschen, lausche ihrem Gespräch und nicke immer wieder zustimmend, während ich Meg im Auge behalte. Beobachte, wie sie herumgeht und mit Leuten spricht. Beobachte, wie sie ihn beobachtet. Ich habe Hunderte von Stunden damit verbracht, ihre letzten paar Jahre in Los Angeles zu rekonstruieren, und wie ich es auch betrachte, Ron Ashton steht immer im Zentrum. Ich weiß nicht, was in ihr vorgeht – zumindest noch nicht –, aber ich weiß, sie ist nicht die Art Frau, die eine Gelegenheit zum Abrechnen auslässt.
Sie wirft den Kopf zurück und lacht über irgendetwas, und als Ron sich ihr von hinten nähert, staune ich, dass ich tatsächlich hier bin und diesen Moment miterlebe. Dass ich der einzige Mensch im Raum bin, der weiß, was passieren wird.
Na ja, nicht der einzige Mensch. Sie weiß es ebenfalls.
Ich drehe mich etwas, so als würde ich aus dem großen Fenster sehen wollen, das einen weiten Blick von Downtown bis zum Meer bietet, und beobachte, wie sie sich miteinander bekannt machen. Scherzhaftes Geplänkel, Gelächter. Er beugt sich hinunter, um sie besser zu verstehen, und ich frage mich, wie sie es macht. Wie sie den Menschen vorlügen kann, sie wäre die, die sie vorgibt zu sein, und sie dazu bringt, ihre tiefsten Wünsche zu offenbaren, sich zu öffnen und manipulieren und betrügen zu lassen. Sich bereitwillig täuschen zu lassen.
Ich beobachte, wie eine Visitenkarte ausgehändigt und in die Tasche gesteckt wird. Dann sehe ich weg, in Gedanken bei ihremEinstieg, der jetzt auch meiner sein wird.
Es beginnt, wie es immer beginnt.
Ich gleite leise neben dich – keine plötzlichen Bewegungen, kein lautes Trara. Als ob ich immer da gewesen wäre. Immer da hingehörte.
Diesmal ist es eine Spendenveranstaltung, bei der pro Gedeck zehntausend Dollar gezahlt werden. Nach fast zehn Jahren fühle ich mich zwischen den Insignien des Reichtums richtig heimisch – den originalen Kunstwerken an den Wänden, den Antiquitäten, die mehr kosten, als die meisten Menschen im Jahr verdienen, und den Hausangestellten, die ich vorgeblich nicht bemerke und die sich leise durch Häuser wie dieses bewegen, das hoch oben auf einem Hügel über Los Angeles thront, während sich die Stadt glitzernd unter uns erstreckt.
Wenn du meine Zielperson bist, dann habe ich dich sorgfältig ausgesucht. Wahrscheinlich befindest du dich gerade in einer Umbruchphase deines Lebens – ein Jobverlust, eine Scheidung, der Tod eines Familienmitglieds. Oder du steckst in der heißen Phase der Kandidatur für ein Amt, bei der es nicht gut für dich läuft. Psychisch angeschlagene Menschen gehen Risiken ein, denken nicht klar und glauben nur zu gerne jedes Märchen, das ich ihnen auftische.
Für meine Recherchen benutze ich hauptsächlich die sozialen Medien mit ihren Check-ins, Geotags und ihrer schamlosen Selbstdarstellung. Und die Ratespiele, die einige deiner Freunde dort veranstalten. Hunde oder Katzen? Anzahl der Brüder und Schwestern? Die meisten der Fragen scheinen harmlos, aber sieh sie dir beim nächsten Mal genauer an. Nenne fünf Orte, an denen du gelebt hast, oder vier Namen, unter denen du bekannt bist – beides ermöglicht mir, mich dir zu nähern. John? Ich bin’s, Meg! Aus Boise, erinnerst du dich? Ich kannte deine Schwester.
Es ist kriminell leicht.
Ich verbringe Hunderte von Stunden mit Beobachten und Recherchieren. Mache mir ein Bild von Menschen, die in deinem Leben eine Rolle spielen, um denjenigen zu finden, mit dem ich mich anfreunden kann und der mich zu dir führt. Am Ende weiß ich alles, was ich über dich und die meisten Menschen in deinem Umfeld überhaupt wissen kann. Wenn du zu mir sagst: Schön, Sie kennenzulernen, kenne ich dich schon seit Monaten.
Beunruhigt dich das? Sollte es.
»Hast du schon die Krabbenküchlein probiert?« Veronica taucht neben mir auf, eine Cocktailserviette in der Hand. In den sechs Monaten, seit ich wieder in Los Angeles bin, sind wir gute Freundinnen geworden. Wir haben uns in einem Yoga-Kurs in Santa Monica kennengelernt, unsere Yogamatten lagen hinten direkt nebeneinander, und aus der freundlichen Begrüßung zweier Fremder am Beginn des Kurses ist schließlich eine dicke Freundschaft geworden. Erstaunlich, wie leicht es mithilfe von Instagram Stories ist, zur richtigen Zeit am richtigen Ort neben der richtigen Person zu sein.
»Nein. Ich habe gehört, es gibt zum Dinner Filet Mignon, und ich spare meinen Hunger dafür auf«, erkläre ich.
Mir wird ganz heiß in der Brust, eine zunehmende Anspannung, die ich immer spüre, wenn ich einen neuen Job beginne. Dieser Teil – den Köder auslegen – gefällt mir am besten. Ich genieße den köstlichen Vorgeschmack dessen, was gleich geschehen wird. Egal wie oft ich es mache, ich bekomme nie genug von dem Nervenkitzel, der immer mit diesem Moment verbunden ist.
Veronica zerknüllt ihre Serviette. »Dir entgeht was, Meg.«
Es ist immer noch ein Schock, wenn mich jemand mit meinem richtigen Namen anspricht. Im Lauf der Jahre hatte ich viele Namen, meistens waren es Abwandlungen meines eigenen: Margaret, Melody, Maggie. Falsche Biografien, die von der Studentin bis zur selbstständigen Fotografin reichten, kürzlich auch Innenarchitektin und Life Coach von Filmstars, alles ausgefeilte Erfindungen. Rollen, die ich nahezu perfekt spielte. Aber heute bin ich als ich selbst hier, jemand, der ich schon lange nicht mehr war.
In diesem Fall hatte ich keine Wahl, denn als Einstieg in diesen Job brauchte ich eine Maklerlizenz, und das ging nicht ohne Sozialversicherungsnummer und Fingerabdruck. Aber es ist in Ordnung, denn diesmal will ich mich zu erkennen geben. Ron Ashton – Bauunternehmer, Lokalpolitiker und Kandidat für den Senat von Kalifornien – soll wissen, wer ihm alles genommen hat. Nicht nur sein Geld, sondern auch seinen guten Ruf, an dem er jahrelang gearbeitet hat.
Ich sehe ihn auf der anderen Seite des Raumes, seine breiten Schultern, die alle anderen um einige Zentimeter überragen, die grauen Haare ordentlich gekämmt, im Gespräch mit Veronicas Mann, seinem Wahlkampfmanager.
Veronica folgt meinem Blick und erklärt: »David sagt, die Wahl wird ein knappes Rennen werden. Ron kann sich in den verbleibenden Monaten keinen einzigen Fehltritt leisten.«
»Wie ist er so?«, frage ich. »Unter uns.«
Veronica überlegt einen Moment und antwortet: »Der typische Politiker. Heimlicher Frauenheld. Hält sich für die Reinkarnation von Reagan. David sagt, er ist von ihm besessen. ›Er hört nicht auf, von dem verdammten Reagan zu reden.‹«
Sie lacht kurz auf und schüttelt den Kopf.
»Und was denkst du?«
Sie sieht mich amüsiert an. »Ich denke, er ist wie jeder andere Politiker da draußen – krankhaft ehrgeizig. Aber er bezahlt David gut, und die Zusatzleistungen sind toll.« Dann stupst sie mich gegen die Schulter. »Schön, dass du kommen konntest. Ich glaube, hier sind einige Leute, die du kennenlernen solltest. Vielleicht neue Kunden.«
Ich nehme noch einen Schluck Wein. Ich bin heute Abend nur hier, um mir einen ganz bestimmten Kunden zu schnappen. »Das könnte ich brauchen«, sage ich. »Es war hart, wieder von vorne anzufangen.«
»Du wirst es schaffen. Schließlich bringst du jahrelange Erfahrung aus Michigan mit. Ich meine, wie du unseren Immobilienkauf in der achtzigsten Straße gedeichselt hast … Ich weiß immer noch nicht, wie du die Verkäufer dazu gebracht hast, so weit mit dem Preis runterzugehen.«
Ich unterdrücke ein Lächeln. Kurz nachdem wir uns kennengelernt hatten, hatte Veronica mir nach dem Yoga beim Sushi erzählt, dass sie eine Immobilie als Geldanlage suchten, aber die Maklerin, die sie kontaktiert hatten, fand nichts in ihrer Preisklasse.
»Hat sie euch die Immobilie in Kelton gezeigt?«, hatte ich gefragt, denn ich wusste genau, was sie suchten. »Die Ranch, die für eins Komma sieben auf dem Markt war?«
Veronica bekam große Augen. »Nein, das wäre perfekt gewesen. Ich sollte sie danach fragen.«
»Sie wurde noch am Tag, an dem sie auf den Markt kam, für ein Vielfaches verkauft, es ist also zu spät«, sagte ich. »Eure Maklerin arbeitet für Apex Realty in Brentwood, stimmt’s? Wir bekommen immer interne E-Mail-Benachrichtigungen über ihre Deals – zehn Millionen, zwanzig Millionen.« Ich nahm ein Stück Sushi und hielt es zwischen meinen Stäbchen in der Luft. »Ich kann dir sagen, Transaktionen in der Größenordnung zu managen, kann ziemlich aufreibend sein.«
Meine erfundene Biografie besagte, dass ich nach einer erfolgreichen Karriere als Immobilienverkäuferin in Ann Arbor zurück nach Los Angeles gekommen war. Meine neue Website ist mit einer in Michigan verlinkt, mit Angeboten, die ich einfach von Zillow und Redfin übernommen habe.
Veronica hatte ihre Stäbchen hingelegt und gesagt: »Sie war großartig, als wir das Haus in Malibu gekauft haben, aber vielleicht ist diese Preisgrenze unter ihrer Würde.« Ich nahm einen Schluck von meinem Zitronenwasser und ließ Veronica darüber nachdenken. Schließlich sagte sie: »Ich würde dich gerne mit der Sache betrauen. Du könntest mal deine Fühler ausstrecken, vielleicht findest du was.«
Ich hatte fast sofort etwas gefunden. Ein einstöckiges traditionelles Haus in einer Straße mit vielen Bäumen in Westchester. Holzfußboden, ein Fenster zur Bucht sowie eine komplett renovierte Küche. Als ich Veronica das vollständige Angebot aushändigte, mit der knappen Beschreibung der Besonderheiten des Hauses und dem Preis, hatte sie abgewehrt: »Das liegt fast fünfhunderttausend über unserem Budget.«
In einem anderen Leben hatte ich einmal einen Kurs in Digital Design belegt. In irgendeiner eingelagerten Kiste liegt noch das Abschlusszeugnis. Zugegebenermaßen ist es eine Fälschung, aber ich hatte genug gelernt, um am Anfang zurechtzukommen, und im Lauf der Jahre noch mehr.
»Ich glaube, ich kann sie deutlich runterhandeln. Lass es uns erst mal ansehen. Es gibt einen Schlüsseltresor, wir können also gleich hinfahren, wenn du willst.«
Das Angebot, das ich ihr ausgehändigt hatte, stimmte – zumindest was die Anzahl der Zimmer, Quadratmeter, Heizungs-, Lüftungs- und Klimaanlage usw. anging. Ich erhöhte nur den Preis. Dann versprach ich, ihn auf wenig mehr als zweihunderttausend über dem tatsächlichen Preis »runterzuhandeln«.
Das funktionierte nur, weil Apps wie Zillow und Redfin für Leute wie Veronica und David nicht existieren. In ihrer Steuerklasse tut niemand etwas, das delegiert werden kann. An Wirtschaftsprüfer und Buchhalter, die ihre Rechnungen bezahlen. Hausangestellte, die ihre Einkäufe erledigen und ihre Mahlzeiten kochen. Und einen verlässlichen Immobilienmakler, der für sie auf die Suche geht, mit den Verkaufsagenten vereinbart, die Immobilienangebote vorab zu bekommen, Besichtigungen organisiert und die Transaktion für sie abwickelt.
David und Veronica unterschrieben Papiere, als ich sie dazu aufforderte, überwiesen das Geld dorthin, wo ich es ihnen sagte, und wenn sie jemals bemerkten, dass sie nie einen Makler oder Verkäufer kennengelernt hatten, dann war es nur ein flüchtiger Gedanke, der sofort wieder verflog.
Am Ende hatte David erklärt, es sei die einfachste Transaktion gewesen, die er jemals getätigt habe. Warum auch nicht, da doch jeder genau das bekommen hatte, was er wollte? Die Verkäufer bekamen zweihunderttausend mehr als den geforderten Preis. Veronica und David dachten, sie hätten dank meines Verhandlungsgeschicks das Geschäft des Jahrhunderts gemacht. Und ich erwarb einen glänzenden – und unangreifbaren – Ruf in ihrem Freundeskreis.
Das Wichtigste an einem guten Schwindel ist der Eindruck von Legitimität. Fast zu sein, was man vorgibt zu sein. Wie am Filmset. Ich bin real. Meine Handlungen sind real. Nur der Hintergrund ist Illusion.
David kommt zu uns und legt den Arm um Veronicas Taille. »Du siehst toll aus, Meg«, sagt er. »Ich hoffe, meine Frau hat dich nicht mit Einzelheiten der Renovierung gelangweilt?«
Ich zwinge mich zu einem Lächeln. »Überhaupt nicht«, erwidere ich. »Wir sprechen gerade über Ron. Wie ich höre, wird die Wahl knapp?«
David nickt. »Unseren internen Umfragen nach sind sie nahezu gleichauf. Die heutige Veranstaltung wird uns einen kräftigen Schub für den Endspurt geben.«
»Du musst erschöpft sein«, erwidere ich. »Veronica sagt, du bist kaum noch Hause.«
David zwinkert Veronica zu. »Danke, dass du ihr Gesellschaft geleistet hast.«
»Es war mir ein Vergnügen.«
Als sich das Gespräch dem jährlichen Urlaub in der Karibik zuwendet, blende ich die beiden aus und beobachte, wie die Gäste sich untereinander vermischen, kleine Trauben bilden und dann in neuen Konstellationen zusammenkommen, während das Quartett in der Ecke einen neuen Song beginnt. Los Angeles ist ganz anders als Pennsylvania, wo ich zuletzt gelebt hatte. Dort hatte ich mich stark umstellen, mich im Auftreten zurücknehmen, dafür sorgen müssen, dass alles an mir zu der Person passt, die ich zu sein vorgebe. Hier sind die Menschen von Natur aus misstrauisch, suchen nach der Ecke, dem Haken, dem Trick. Man geht davon aus, dass niemand genau der oder die ist, die er oder sie zu sein vorgibt.
Ich arbeite hart daran, mich im Freundeskreis anderer Menschen einzunisten, sodass niemand merkt, dass ich keinen eigenen habe. Ich habe seit Jahren keinen wirklichen Freund gehabt, nicht seit der Zeit, bevor ich Los Angeles verließ. Ich versuche, nicht an Cal zu denken oder mich zu fragen, wo er sich gerade aufhält und ob er noch mit Robert zusammen ist. Ich bereue nicht viele Dinge in meinem Leben, aber eines davon ist, wie es mit Cal endete.
Ein Hauch von Angst überkommt mich, als ich wieder darüber nachdenke, wie viel Zeit ich noch habe. Anders als frühere Jobs hat dieser eine Deadline – vierzehn Tage vor der Wahl. Mir bleiben also noch zwanzig Wochen. Einhundertvierzig Tage. Es klingt viel, doch es bleibt nur wenig Spielraum für Fehler oder Verzögerungen. Es gibt bestimmte Etappenziele, die ich auf dem Weg erreichen muss, damit alles funktioniert. Das erste ist die Bekanntmachung mit Ron, und die muss heute Abend geschehen.
Im Rahmen meiner Hintergrundrecherchen habe ich einen Blick in Rons Immobilienbestand geworfen, habe öffentliche Register durchgesehen, um ein Gefühl dafür zu bekommen, über wie viel Eigen- und wie viel Fremdkapital er verfügt. Dank seiner Kandidatur konnte ich auch seine Steuerunterlagen einsehen. Dabei fiel mir auf, wie viele finanzielle Risiken er eingegangen ist und wie viele davon sich zu seinem Vorteil entwickelt haben. Ich muss daran denken, wie er meine Mutter betrogen und unser Eigentum gestohlen hat, und frage mich, wie viele andere Ron auf seinem Weg zum Amt des Senators benutzt und dann weggeworfen hat.
»Meg, hilf uns. Saint John oder Saint Croix?« Veronica sieht mich flehend an.
Ich weiß, dass sie Saint Croix im Auge hat, also sage ich: »Ich war das letzte Mal vor drei Jahren auf Saint John.« Ich schüttele den Kopf, als hätte ich den Aufenthalt in schlechter Erinnerung. »Sosehr ich die Insel liebe, ich war enttäuscht. Ihr wohnt dort im The Villas, stimmt’s?«
David nickt. »Sie haben sich immer gut um uns gekümmert.«
Ich rümpfe missbilligend die Nase. »Ich glaube, sie haben sich gewerkschaftlich organisiert. Es war definitiv nicht das, was ich mir erhofft hatte.«
»Herrje«, sagt er. »Dann Saint Croix.«
Veronica klatscht in die Hände und sagt: »Ich weiß nicht, warum du nie auf mich hörst.«
Von hinten mischt sich eine Stimme in unser Gespräch. »Ich hoffe, ihr drei besprecht die Party nach meinem Wahlsieg.« Ich drehe mich um und sehe Ron Ashton, den Mann, der mein Leben auseinanderriss und meine Mutter in eine Abwärtsspirale stürzte, von der sie sich nie wieder erholte. Seinetwegen musste ich während meines letzten Highschool-Jahrs und auch noch danach im Auto schlafen.
Ich lächle. »Der Mann der Stunde«, begrüße ich ihn und strecke die Hand aus. »Meg Williams.« Ich bin ein bisschen aufgeregt, weil ich ihm die absolute Wahrheit sage. Jahrelang habe ich mir diesen Moment vorgestellt, mich gefragt, ob er mich erkennen oder sich an meinen Nachnamen erinnern würde. Die Gesichtszüge meiner Mutter entfernt in meinen eigenen erkennen würde. Habe mich gefragt, ob ich umdisponieren und aus unserem Treffen ein freudiges Wiedersehen machen müsste, eine zufällige Begegnung, aus der ein naiver Flirt wird. Genug, um über die Holprigkeit unserer früheren Beziehung hinwegzugleiten und ihn zu überzeugen, dass ich damals nichts begriff und jetzt noch weniger. Aber seine Miene ist ausdruckslos, und ich bin erleichtert, dass er mich nicht erkannt hat. Vorerst.
Sein Händedruck ist warm und fest, und ich erwidere ihn den Bruchteil einer Sekunde länger als üblich, bis ich einen Anflug von Interesse in seinen Augen sehe. Er wird sich an diesen Moment erinnern. In Gedanken hierhin zurückkehren und sich fragen, ob er sich anders hätte entscheiden können. Mein Job ist es, dafür zu sorgen, dass die Antwort auf diese Frage Nein ist.
»Meg ist gerade von Michigan nach Los Angeles gezogen«, erklärt Veronica. »Sie ist diejenige, die uns den sensationellen Deal mit der Immobilie in Westchester vermittelt hat.«
Wie ich mir dachte, ist Rons Interesse geweckt. Seinen Social-Media-Accounts zufolge arbeitet er seit fünfzehn Jahren mit demselben Makler zusammen. Einem Mann, gegen den es zwei Beschwerden wegen sexueller Belästigung bei der kalifornischen Makleraufsicht gab. Es sollte leicht sein, die Ursache für seine dritte und letzte zu werden, und dann wäre Ron Ashton fast vier Monate lang ohne Vertretung. Für einen Bauunternehmer ist das ein Problem.
»Immobilien«, sagt er. »Wo bewegen sich ihre Spitzenverkäufe?«
»In Michigan gehörte ich in den letzten Jahren zum oberen einen Prozent«, erkläre ich ihm. »Aber hier in Los Angeles? Geht es nur langsam voran.« Es ist immer gut, ein bisschen Bescheidenheit einfließen zu lassen. Menschen schätzen es, besser zu sein als der andere.
»Haben Sie eine Karte?«, fragt er. »Vielleicht rufe ich Sie an.«
Ich ziehe eine aus meiner Clutch und gebe sie ihm. »Schauen Sie sich meine Website an. Ich bin zwar neu in der Stadt, aber nicht neu in der Branche, und ich kenne Los Angeles gut. Ich würde mich gerne mit Ihnen unterhalten, wenn Sie interessiert sind.« Dann wende ich mich an Veronica und sage: »In Saint Croix müsst ihr unbedingt im The Riverhead essen.«
Während Veronica anfängt, Reisepläne zu machen, spüre ich ein Kribbeln im Nacken. Schon seit Langem weiß ich, dass ich es niemals ignorieren sollte. Ich trete einen kleinen Schritt zurück und blicke kurz nach unten, als wollte ich sichergehen, dass ich nicht stolpere. Beim Aufsehen lasse ich den Blick durch den Raum schweifen und prüfe, ob mich vielleicht jemand beobachtet. Doch ich sehe nur einen Raum voller Menschen, die reden und lachen, trinken und den Mann feiern, den sie nach Sacramento schicken wollen.
Ich lächle Veronica an, höre aber nicht mehr zu. In Gedanken gehe ich meine Ankunft noch einmal durch, die Menschen, mit denen ich gesprochen habe – der Hausdiener, das Wahlkampfteam, das den Vordereingang bewacht, verschiedene Gäste. Harmloser Small Talk, wie er für eine Immobilienmaklerin, die neu in der Stadt ist und sich einen Kundenstamm aufbauen will, nötig ist. Sie sind alle beschäftigt, niemand beachtet mich. Vielleicht ist es nur das vertraute Gefühl, wieder in Los Angeles zu sein. Die Luft ist einzigartig, eine Mischung aus Grasgeruch und Autoabgasen und manchmal, wenn man nah genug ist, der salzige Geruch des Meeres. Ich bin weit entfernt von dem Ort, wo ich aufgewachsen bin, aber unter all den Schichten – all den Identitäten, die ich in den vergangenen Jahren angenommen habe – bin ich immer noch die, die ich war, als ich wegging. Eine Frau auf der Flucht, die wusste, dass sie alles sein konnte. Alles tun konnte. Ich musste einem Mann nur erzählen, was er hören wollte.
LOS ANGELES ZEHN JAHRE FRÜHER
Ich war zur Gaunerin bestimmt, aber das erkannte ich erst, nachdem ich schon einige Zeit lang eine gewesen war. Davor hatte ich das, was ich tat, als mich durchschlagen betrachtet – indem ich mich etwa auf ein Date einließ, nur um eine Einladung zum Essen zu bekommen. Ich versuchte, nicht daran zu denken, was meine Mutter – die schon fast vier Jahre tot war – dazu sagen würde, wenn sie wüsste, was aus mir geworden war. Jemand, der Männer danach beurteilte, ob sie Weichspüler für die Bettwäsche benutzten oder ihre Toilettenartikel – Shampoo, Seife, Zahnpasta – unter dem Waschbecken aufbewahrten, wo ich sie mitgehen lassen konnte. Aber im Oktober 2009 musste ich einsehen, dass diese Art zu leben nicht mehr funktionierte.
Regen prasselte gegen das Fenster des Internetcafés, in dem ich saß und eine heiße Schokolade trank – sättigender als Kaffee – und durch mein Dating-Profil auf Circle of Love scrollte. Ich spähte zur Straße, wo der alte Minivan meiner Mutter stand, und versuchte auszurechnen, wie viel Zeit ich noch auf der Parkuhr hatte. Meine Füße schmerzten vom langen Stehen hinter dem Tresen im Y, wo ich die Leute, die zu ihrem täglichen Work-out kamen, hereinließ, ihnen ein Handtuch aushändigte und so tat, als würde ich nicht gerade innerlich sterben.
Ich konnte es mir nicht leisten, den Job zu verlieren. Ich duschte dort jeden Tag, bewahrte dort meine Kleidung auf und konnte dort zusammen mit den Handtüchern, die ich waschen musste, eine Ladung von meinen Sachen in die Waschmaschine werfen. Mit meinem Lohn bezahlte ich das Benzin, das mein Auto am Laufen hielt, in dem ich auch schlief. Der Wochenlohn reichte gerade, um meine persönlichen Ausgaben zu decken, plus die Zinsen für die Beerdigungskosten meiner Mutter. Mehrere Tausend Dollar Schulden, die sie mir nie aufbürden wollte. Es gab keinen Platz für Fehler. Ich konnte mir keinen Strafzettel für falsches Parken leisten oder ein Loch im Zahn oder Herpes. Ich war nur einen Harnwegsinfekt vom Obdachlosenheim entfernt.
Aber letzte Nacht hatte mir Angst gemacht. Ich hatte in einer ruhigen, baumbestandenen Straße in Mar Vista geparkt, einer von vielen, die ich im Lauf des Monats abwechselnd benutzte. Es war eine meiner liebsten – nicht viele Fußgänger und nur wenige Straßenlaternen.
Ich hatte mich in meinem Nest aus Decken vergraben, versteckt hinter getöntem Glas, das Sonnendach nur einen Spalt weit geöffnet, damit die Fenster nicht beschlugen. Jemand in der Nachbarschaft hörte Fields of Gold von Sting, ein Lieblingslied meiner Mutter. Die Musik überflutete mich, während ich einschlief, meine Muskeln entspannten sich, meine Gedanken verloren sich in der Dunkelheit.
Ich war durch ein Geräusch geweckt worden: Jemand versuchte, das Schloss an der Beifahrertür aufzubrechen. Durchs Fenster konnte ich eine große, schemenhafte Gestalt in dunkler Kleidung erkennen, mit einer Kapuze über dem Kopf. Uns trennte nur eine dünne Glasscheibe. Ich hatte instinktiv gehandelt, war vom Rücksitz gesprungen, hatte die Autoschlüssel geschnappt und mich auf die Hupe gestützt, während ich sie in die Zündung steckte, vom Randstein wegfuhr und in meiner Panik fast ein anderes parkendes Auto rammte.
Erst nachdem ich eine Stunde lang ziellos umhergefahren war, hörten meine Hände auf zu zittern, und mein Herz schlug wieder normal. Ich schauderte bei dem Gedanken, was passiert wäre, wenn der Mann das Schloss aufgebrochen hätte, und stellte mir immer wieder neue Schreckensszenarien vor, eins schrecklicher als das andere. Wie mir jemand die Hand auf den Mund legte. Wie ich zu einem abgelegenen Ort gebracht wurde. Wie ich in einen Graben gezerrt werde.
Meine Augen waren sandig vom Schlafmangel, während ich noch einmal mein Dating-Profil las, auf dem nur Name und Alter stimmten. Meg Williams, einundzwanzig. Beruf: Marketing. Likes: Livemusik, essen gehen, Reisen. Ich lache gerne und bin immer auf der Suche nach Abenteuern! Altersspanne: 18–35. Suche Spaß, keine feste Beziehung. Die letzte Zeile ernährte mich. Ich hatte mindestens drei Dates pro Woche und drängte immer auf Abendessen statt Kaffee. Wenn man im Auto lebt, ist Flüssigkeit das Letzte, was man braucht. Ich nahm jede Einladung an und wurde eine Meisterin im Online-Flirten, nährte die Illusion, dass nach einem Abendessen mit Stoffservietten, Aperitifs und Dessertkarte schöne Dinge geschehen könnten.
Durch drei Dates pro Woche sparte ich mindestens fünfzig Dollar, Geld, von dem ich gehofft hatte, dass es mehr werden würde, bis ich genug hätte, um mir eine Wohnung zu leisten. Aber irgendetwas warf mich immer wieder zurück. Kraftfahrzeugsteuer. Steigende Benzinpreise. Ein Strafzettel.
Und so gab ich mich an jenem regnerischen Oktobernachmittag geschlagen und gestand mir ein, dass ich mehr brauchte als alle paar Tage eine Galgenfrist. Ich brauchte einen sicheren Ort zum Wohnen und jemanden, der bereit war, ihn mir zu anzubieten. Das würde ich nicht bei den Männern auf meinem Bildschirm finden, die alle in ihren Zwanzigern und Dreißigern und nur an lockeren Dates interessiert waren. An Affären ohne Verpflichtungen. Und nicht an einer Freundin, die gleich bei ihnen einzog.
Ich musste die Altersspanne notgedrungen erhöhen.
Ich klickte auf meine Angaben und hob das Alter von fünfunddreißig auf vierzig an. War das alt genug? Vierzigjährige Frauen waren abgeschrieben, aber Männer hatten ein längeres Haltbarkeitsdatum.
»Was soll’s«, murmelte ich und erhöhte auf fünfundvierzig.
Ich dachte an meine Mutter, eine wunderschöne Frau, die darauf bestanden hatte, für sich selbst zu sorgen, wodurch meine Kindheit zehnmal härter gewesen war als notwendig. Sie nahm niemals Hilfe an, aber da immer irgendein armer Kerl in sie verliebt war, gab es viele Hilfsangebote. Sie sagte Nein, wenn einer von ihnen mir neue Schuhe kaufen oder eine Woche im Sommercamp bezahlen wollte. Sie lehnte es ab, wenn uns eine Bleibe angeboten wurde, auch wenn wir eine brauchten. Autoreparaturen. Ein Essen in einem netten Restaurant oder ein Tag in Disneyland. Ich wollte nicht, dass sie sich verkaufte, nur dass sie hin und wieder in Dinge einwilligte, die unser Leben ein bisschen schöner gemacht hätten.
Aber sie fand, dass Frauen auf eigenen Füßen stehen sollten. Sie wollte einen echten Partner, nicht jemanden, der sie aushielt. Eine solche Partnerschaft glaubte sie mit Ron Ashton gefunden zu haben. Seinen verdorbenen Kern sah sie erst, als es zu spät war.
Auf einer neuen Seite wurden Profile von Männern hochgeladen, die zwei- oder dreimal so alt waren wie ich, viele schon völlig ergraut, und mir stockte der Atem bei der Vorstellung, einem von ihnen am Tisch gegenüberzusitzen und eine Anziehung zu heucheln, die ich niemals empfinden würde.
Ich klickte die Profile eines nach dem anderen an. Zu alt. Zu abstoßend. Normalerweise, wenn ich jemanden für ein Date anschrieb, versuchte ich, etwas zu finden, das wir gemeinsam hatten, und wenn es nichts gab, dachte ich mir etwas aus. Ich liebe Steely Dan! Eine schnelle Google-Suche zeigte ihren Konzertplan. Ich bin letzten August sogar nach Vegas gefahren, um ihre Show zu sehen. Wahnsinn! Am Ende des Abends, wenn der Typ ganz nett zu sein schien, spielte es keine Rolle mehr, was die Wahrheit war.
Aber die Männer, die jetzt auf meinem Bildschirm erschienen, gehörten einer komplett anderen Generation an. Eine persönliche Beziehung mit ihnen würde wahrscheinlich Barry Manilow einschließen sowie eine tiefe Zuneigung für Tom Brokaw.
Ich nahm einen Schluck von meiner heißen Schokolade, klickte das nächste Profil an und verschluckte mich beinahe, als ich das Gesicht auf dem Bildschirm sah. »O mein Gott.«
Cory Dempsey. Mr. Dempsey, Mathematiklehrer an meiner ehemaligen Highschool. Seine blauen Augen waren auf dem Bildschirm genauso lebhaft, wie ich sie in Erinnerung hatte, um die Ohren kringelten sich dieselben unordentlichen braunen Haare. Die Mädchen schwärmten für ihn, und die Jungen wollten so sein wie er. In seinem Profil war sein Alter mit achtundvierzig angegeben, aber er hatte immer jünger gewirkt – mehr wie die Schüler als die anderen Lehrer. Engagiert und dynamisch, vom zwölften Jahrgang immer zum beliebtesten Lehrer gewählt, auch von meinem.
Dass aber überall an der Schule über ihn getuschelt wurde, lag nicht daran, dass er so ein großartiger Lehrer war. Auf der Mädchentoilette, in den Ecken der Cafeteria, auf den Tribünen beim Football.
Mr. Dempsey ist so heiß.
Nach der Mathestunde hat Mr. Dempsey richtig mit mir geflirtet. Ich wette, ich hätte ihn anmachen können.
O mein Gott, hör auf. Du bist nichts Besonderes, er flirtet mit jeder.
Ich las noch einmal sein Profil. Cory Dempsey. Beruf: Schulleiter.
Familienstand: Single, nie verheiratet gewesen.
Likes: Basketball, Fantasy Football, Surfen, die Jugend von heute ermutigen, das Beste aus sich zu machen.
Natürlich musste ich sofort an Kristen denken. Wir waren nicht direkt Freundinnen gewesen – sie war beliebt und ich der Niemand, der in Englisch neben ihr saß. Aber sie hatte mich immer in Gruppenprojekte einbezogen und mich auf dem Flur gegrüßt, während alle anderen Blicke über mich hinwegglitten, als wäre ich unsichtbar.
Für alle anderen war ich die Pennerin, weil ich meine Bücher in einer Plastiktüte bei mir trug, denn ich konnte die Kosten für einen Rucksack nicht rechtfertigen. Aber Kristen hatte mich immer verteidigt. »Sei kein Arschloch«, sagte sie einmal zu Robbie Maxon. »Letzte Woche habe ich gesehen, wie du im Chemieraum in der Nase gebohrt hast.«
Sie hatte das Gespräch so meisterhaft von mir abgelenkt, dass niemand bemerkte, wie ich mich entfernte, dankbar für ihre Freundlichkeit, während meine schwere Einkaufstüte mir in die Schulter schnitt.
»Warum bist du so nett zu mir?«, hatte ich sie einmal gefragt, als wir allein auf der Toilette gewesen waren, Schulter an Schulter an den Waschbecken. Ich wusch mir die Hände, während sie Lipgloss auftrug. Unsere Blicke trafen sich im Spiegel, und sie sagte: »Das ist der Mädchen-Kodex. Wir müssen aufeinander aufpassen, niemand anders wird es tun.«
Und dann, mitten im Schuljahr, war Kristen einfach verschwunden. Einen Tag saß sie noch neben mir, machte Witze mit ihrer besten Freundin Laura Lazar, und am nächsten war sie weg. Zuerst dachte ich, sie wäre krank. Aber nach ein paar Wochen wurde klar, dass sie nicht zurückkommen würde. Niemand schien zu wissen, wohin sie gegangen war oder warum.
Natürlich gab es Vermutungen.
Sie geht jetzt auf ein Internat in der Schweiz.
Sie hat einen Platz an der Miss Porter’s School ergattert.
Ihre Oma ist krank geworden, deshalb ist die Familie nach Florida gezogen.
Sie ist schwanger und in eines dieser Heime für unverheiratete Mädchen gekommen.
Laura Lazar hatte sich geweigert, darüber zu sprechen, und behauptete, sie wisse es nicht. Aber ich merkte, dass sie log. Laura wusste, warum Kristen gegangen war, und ich glaube, ich wusste es auch.
Als ich auf die Highschool ging, hatte ich bereits gelernt, mich einzufügen und nicht aufzufallen. Ecken zu finden, in denen niemand die ausgefransten Ränder meiner Secondhandklamotten bemerkte oder die Tatsache, dass meine Haare für gewöhnlich schon am Tag zuvor eine Wäsche nötig gehabt hätten. Und ich sah Dinge, die andere nicht sahen.
Zum Beispiel wie Kristen um die Mittagszeit mit geröteten Wangen und leicht zerzausten Haaren aus Mr. Dempseys Klassenzimmer schlüpfte und an ihrem Rocksaum zupfte. Oder wie sie eines Nachmittags über die Schulter blickte, bevor sie auf den Beifahrersitz seines Autos glitt.
Nichts Offensichtliches, aber es reichte, dass ich bemerkte, wie still sie geworden war. Wie viel Mühe es ihre Freunde kostete, sie in ihre Gespräche zu verwickeln.
Doch was auch immer zwischen Mr. Dempsey und Kristen vorgefallen war, es ging mich nichts an. Und nach einer Weile nahm ich einfach an, was alle dachten – dass Kristen weggezogen war. Und damit hatte es sich.
Jetzt war ich nicht mehr unsichtbar, versteckte mich nicht mehr in Ecken. In den drei Jahren, seitdem ich die Highschool verlassen hatte, hatte ich mich in eine Frau verwandelt, die sich behaupten konnte. Ich wusste, wie man einen Raum in einem Outfit betrat, das Aufmerksamkeit erregte. Wie man in einem teuren Restaurant Wein bestellte und wofür die kleine Gabel war. Ich wusste, wie man Make-up auftrug, sodass es natürlich aussah, und wie man Lippenstift auf den Zähnen vermied. Falls ich Mr. Dempsey auf der Straße begegnen würde, dann wäre ich eine Frau, die er bemerken, aber nicht erkennen würde.
Hatte Mr. Dempsey etwas mit Kristens plötzlichem Verschwinden zu tun? Möglich. Könnte ich das ausnutzen? Sicher.
Ich stellte mir vor, wie ich ihm eine Nachricht schickte. Hallo, Mr. Dempsey! Mein Name ist Meg Williams, Wolverine-Klasse 2006! Rawr!
Der Typ neben mir spielte irgendein PC-Game, hämmerte auf seiner Maus herum und erntete dafür einen vernichtenden Blick von dem Mann hinter dem Tresen. Ich blickte wieder auf meinen Bildschirm und stellte mir das erste Date mit Mr. Dempsey und die typischen Fragen vor, die man immer gefragt wurde – über meine Familie, wo ich aufgewachsen war, was ich mit meinem Leben anfing. Meine Mutter zog mich alleine groß, bis sie an Krebs starb, weil sie sich die Behandlung nicht leisten konnte. Ich schlafe derzeit in meinem Auto und lebe knapp unterhalb der Armutsgrenze. Ich liebe Bruce Springsteen und die Dodgers.
Ich konnte ihm nicht einfach irgendeine Nachricht schreiben und das Beste hoffen. Wenn er Nein sagte, war’s das. Ich musste zuerst alles über ihn in Erfahrung bringen. Woran er glaubte. Was ihn abstieß. Was ihm am wichtigsten war. Sodass ich in all diesen Dingen mit ihm übereinstimmen konnte.
Draußen peitschte noch immer der Regen gegen die Scheiben, und ich stellte mir das Geräusch vor, das er in der Nacht auf dem Dach meines Autos machen würde, während ich versuchte zu schlafen, immer noch unruhig und angespannt. Dann stellte ich mir vor, wie es in einem Haus mit Schlössern an Fenstern und Türen wäre. Den Regen auf dem Dach eines Hauses statt eines Autos zu hören. Fernzusehen oder sich mit jemandem zu unterhalten.
Ich loggte mich aus, kehrte auf die Homepage von Circle of Love zurück und klickte auf New Account.
Das erste Fake-Profil, das ich erstellte – Deidre. Alter: dreiundvierzig, ein bisschen New Age, ignoriert das Älterwerden –, funktionierte nicht. Auf ihre Nachricht – du scheinst ein Mann zu sein, den ich gerne näher kennenlernen würde – kam nicht einmal eine Antwort, also war ich zwei Tage später wieder im Internetcafé, um es noch einmal zu versuchen.
Sandy. Alter: zweiunddreißig. Familienstand: nicht verheiratet. Beruf: Bedienung. Likes: Sonnenuntergang in den Bergen, Wodka Tonic um fünf Uhr nachmittags, Ausflüge nach Mammoth. Sandys Nachricht an Mr. Dempsey: Du bist heiß. Sandy wollte Sex.
Innerhalb von Minuten sprang das Symbol unter Sandys Nachricht von Ungelesen auf Gelesen. Ich beugte mich vor. Drei Punkte zeigten an, dass Mr. Dempsey gerade antwortete.
Eine Minute. Zwei Minuten. Ich überlegte, was er wohl schrieb – würde er flirten, mir Komplimente machen? Es spielte keine Rolle, dass ich nicht aussah wie Sandy. Ich brauchte sie nur für kurze Zeit.
Schließlich erschien seine Nachricht. Danke, aber ich suche etwas Festeres. Ich wünsche dir Glück!
Ich starrte auf den Bildschirm, analysierte seine Worte und dachte über meinen nächsten Schritt nach. Ich dachte wieder an Kristen, die erst siebzehn gewesen war. Würde seine Antwort anders ausfallen, wenn ich Sandy zehn Jahre jünger machte?
Neue Bildsuche, anderes Foto. Blond, lachend, hinter ihr der Sonnenuntergang. Ich war Goldlöckchen, wenn Goldlöckchen eine einundzwanzigjährige obdachlose Frau mit einer Vorliebe für fließendes Wasser war und bereit, für diesen Komfort mit einem Mann zu schlafen.
Amelia. Alter: einundzwanzig. Familienstand: nicht verheiratet. Beruf: Studentin (Hauptfach Früherziehung), zurzeit pausierend, aber hoffentlich bald wieder auf dem richtigen Weg. Likes: Surfen, Liebesromane. Suche eine ernsthafte Beziehung.
Meine Nachricht an Mr. Dempsey lautete: Vielleicht können wir zusammen surfen? Ich klickte auf Senden und meldete mich ab, in dem Bewusstsein, dass dies für eine Weile mein letzter Versuch sein müsste, Mr. Dempsey zu kontaktieren. Ein Teil von mir fragte sich, welcher Schulleiter ein Dating-Profil hatte, das jeder Schüler sehen konnte.
Es wurde mir beinahe sofort klar: Einer, dem es egal ist. Einer, der es vielleicht sogar darauf angelegt hat.
An diesem Abend parkte ich zum Schlafen auf einem gut beleuchteten Parkplatz, obwohl ich dort wahrscheinlich nicht mehr als insgesamt drei oder vier Stunden schlief. Jedes Geräusch – eine Autotür, die zugeschlagen wurde, eine Sirene, Schritte – riss mich aus dem Schlaf, und es war geradezu eine Erleichterung, am nächsten Morgen auf den Parkplatz des Fitnessstudios zu fahren. Ich hatte immer die Frühschicht, machte Licht, nahm die Handtücher aus dem Trockner und faltete sie. Dadurch war ich von der Straße, bevor sich jemand beschweren konnte, dass ich im Auto schlief. Zusätzlich zu dem Luxus, dass ich dort duschen und meine Wäsche waschen konnte, liebte ich die Ruhe am frühen Morgen. Keine nervigen Verkaufsgespräche für Mitgliedschaften, keine lärmenden Kids oder Yoga-Mamis mit riesigen Kinderwagen und Wasserflaschen ohne Kohlensäure. Nur die frühmorgendlichen Fitnessfanatiker, die noch halb schliefen, wenn sie ihre Karte durch das Lesegerät zogen und sich eines meiner Handtücher schnappten.
Ich starrte auf die Fensterscheibe vor mir, und die dunkle Straße dahinter warf mein Spiegelbild zurück. Meine nassen Haare waren zu einem ordentlichen Pferdeschwanz zusammengebunden. Das weiße Poloshirt mit dem Y-Logo war hell und deutlich, aber die Umrisse meiner Gesichtszüge blieben verschwommen, so wie ich mich die meiste Zeit fühlte. Als würde ich mich langsam im Raum auflösen und als würden bald nur noch meine Autoschlüssel und ein Stapel gefalteter Handtücher von mir übrig sein.
Ich stellte den Computer an und loggte mich ohne große Erwartungen auf dem Dating-Portal ein. Doch zusätzlich zu dem Gelesen-Symbol erschien auch eine Antwort.
Wo surfst du gerne?
Ich blickte über die Schulter, als würde gleich jemand hinter mich treten und sehen, was ich tat. Von jenseits des dunklen Bürobereichs erklangen das entfernte Hämmern der Laufbänder und das Klacken von Gewichten, aber vorne war alles still. Ich war elektrisiert.
Ich startete eine schnelle Google-Suche nach den besten Spots zum Surfen in Los Angeles und überlegte, was für ein Mensch Amelia sein könnte. Was ihr wichtig sein könnte und wovon sie träumte. Dann begann ich, ihre Biografie auszugestalten. Amelia Morgan, geboren und aufgewachsen in Encino. Vielleicht hatte sie ein paar Semester an der California State in Northridge studiert, bevor sie abbrechen musste. Jemand, von dem Mr. Dempsey dachte, dass er ihr helfen könnte.
Der Cursor blinkte im leeren Antwortfeld, und ich spürte das Gewicht, das darauf lastete, die Notwendigkeit, die perfekte Antwort zu geben. Zuma, schrieb ich zurück. Ein Strand am nördlichen Rand des L.A. County würde für ein Mädchen, das im Valley aufgewachsen war, am meisten Sinn ergeben. Außerdem war es unwahrscheinlich, dass Mr. Dempsey – Cory – regelmäßig dort war. Die besten Wellen in Malibu, ergänzte ich.
Ich klickte auf Senden und spürte den Nervenkitzel. Verpasste Gelegenheiten waren mir nicht fremd. Einen Moment stehst du vielleicht an der Schwelle zu einem ganz anderen Leben, im nächsten steckst du Vierteldollarmünzen in eine Autowaschanlage, damit man deinem Minivan nicht ansieht, dass jemand darin schläft.
Ich schaute mir noch einmal sein Profilbild an. Ein leicht schiefer Zahn verlieh seinem umwerfenden Lächeln ein bisschen Charakter. Kräftige Schultern vom jahrelangen Surfen. Viel besser als alle meine anderen Optionen.
»Hey, Kleine«, sagte mein bester Freund Cal, als er um 8.30 kam. »Robert und ich waren gestern in Ricochet, mein Gott, du musst ihn unbedingt sehen. Vielleicht können wir am Wochenende in eine Frühvorstellung gehen.«
Ich warf einen Blick über die Schulter, dorthin, wo unser Manager Johnny mit geschürzten Lippen wie ein Sonntagsschullehrer saß und auf seinem Computer herumtippte.
»Ich bin das ganze Wochenende verplant«, antwortete ich.
»Schade. Lust auf Mittagessen heute?«
»Das passt.«
Cal klopfte mit den Fingerknöcheln auf den Tresen und sagte: »Bleib Gold, Ponyboy.«
Cal war mindestens zehn Jahre älter als ich – ab einem bestimmten Alter gibt ein Mensch sein wahres Alter nicht mehr preis – und der Einzige, der wusste, dass ich in meinem Auto lebte. Er fand Wege, mir ein bisschen zu helfen, ohne mich in Verlegenheit zu bringen. Wenn er und sein Freund Robert verreisten, baten sie mich immer, ihr Haus zu hüten, obwohl sie weder Pflanzen zu gießen noch Tiere zu füttern hatten. Außerdem lud er mich mindestens einmal die Woche zum Mittagessen ein, angeblich als Dank dafür, dass ich neue Mitglieder dazu brachte, sich für Trainingsstunden bei ihm anzumelden. Er bestellte immer zu viel und überließ mir dann die Reste. Wie ich hatte Cal im Y zunächst am Empfangstresen gearbeitet, während er abends Kurse belegte, um seinen Trainerschein zu machen. Er drängte mich ständig, auch etwas Brauchbares zu lernen. DasCommunity College wurde für Leute wie uns erfunden. Wahrscheinlich hätte ich es tun können, ich wusste nur nicht, was ich belegen sollte. Wie sollte ein Mensch mehr aus sich machen, wenn er absolut keine Vorstellung davon hatte, was das sein könnte? Was sollte ich belegen? Buchhaltung? Kosmetik? Schweißen?
»Meg«, rief Johnny aus dem Büro. »Denk dran, die Handtücher zuerst in drei Teile zu falten und dann in zwei.«
Ich ließ die Circle-of-Love-Website den ganzen Morgen auf dem Computer vor mir geöffnet, versteckt hinter ein paar anderen Fenstern. Ungefähr um elf las ich noch einmal Corys letzte Nachricht. Du bist eine wunderbare Ablenkung, aber ich hätte beinahe ein Elterngespräch verpasst.
Amelia und Cory hatten den ganzen Morgen hin- und hergeschrieben, und er fing sofort an zu flirten. Ich kann nicht glauben, dass ich schon seit einer Ewigkeit an den Stränden von L.A. surfe und dich noch nie getroffen habe.In den Stunden seit dieser ersten Nachricht hatte er viel von sichpreisgegeben. Ich sammeltedie Informationen und versuchte, mehr herauszufinden.
Ich begann mit einer einfachen Frage. Was ist das Wichtigste in deinem Leben?
Seine Antwort war erwartungsgemäß kitschig. Meine Familie. Noch vor persönlichem Erfolg oder Reichtum, vor Gesundheit, vor allem anderen.
Am meisten bedauerte er, sich vor dem Tod seines Großvaters nicht mit ihm versöhnt zu haben. Es war schmerzlich, aber ich habe viel daraus gelernt. Aber lernen wir nicht ständig etwas dazu und wachsen? Und ich glaube, aus den besonders harten Lektionen lernen wir am meisten.
Als ich ihn nach seinem Job fragte, schrieb er: Junge Menschen zu motivieren ist sowohl spannend als auch ein Privileg.
Ich erfuhr außerdem kleinere Details, Dinge, die mir dabei helfen würden, eine Verbindung zu ihm aufzubauen. Er hatte eine Katzenhaarallergie. Er verstand nichts von Hockey, tat aber so. Er verabscheute alles, was Ingwer enthielt, und liebte schwarzen Kaffee. Er bezeichnete sich als entschiedenen Optimisten.
Amelia gab auch etwas von sich preis. So erzählte sie Cory, dass sie im zweiten Jahr das College verlassen hatte, um ihren Eltern bei der Pflege ihres Bruders zu helfen, der an Leukämie litt (jetzt geht es ihm wieder gut, aber der Weg zurück aufs College war hart!). Wie sie ihren Job als Bedienung verloren hatte, weil sie eine Kollegin anschwärzte, die Essen stahl, nicht ahnend, dass diese Kollegin die Freundin des Geschäftsführers war. Ich war erstaunt, wie mühelos die Geschichten mir einfielen. Sie kamen mir vollständig ausgeformt in den Sinn, ich musste sie nur erzählen. Einfach unglaublich, wie einfach es ist, sich mit dir zu unterhalten, schrieb ich jetzt. Die meisten Typen hier stellen drei oberflächliche Fragen und kommen dann direkt zur Sache.
Es gefiel mir, Amelia zu sein. Meine Probleme abzulegen und ein anderer Mensch zu werden, war befreiend. Amelia hatte Möglichkeiten, die ich nicht hatte, und mit ein paar Tastenanschlägen könnte sie sogar noch mehr haben. Heute hatte sie vielleicht keinen Job, aber morgen könnte sie einen finden, einfach weil ich es sagte.
»Was machst du da?« Johnnys Stimme direkt über meiner Schulter ließ mich zusammenzucken. Ich schloss schnell die Dating-Seite, aber er hatte sie schon gesehen. »Nichts Privates am Computer. Wenn ich dich noch mal erwische, werde ich das melden müssen.«
»Tut mir leid«, sagte ich. »Wird nicht noch mal vorkommen.« Ich hasste mich dafür, dass ich zu Kreuze kroch, aber ich brauchte den Job. Ich schloss den Tab und starrte wieder aus dem Fenster. Als Johnny eine neue Ladung frisch gewaschener Handtücher vor mir auf den Tresen warf, schenkte ich ihm ein strahlendes Lächeln und begann, sie zusammenzufalten.
Nach der Arbeit fuhr ich zur öffentlichen Bibliothek in Santa Monica, weil ich nicht schon wieder Geld für eine Sitzung im Internetcafé verschwenden wollte. Wenn ich am Wochenende etwas essen wollte, musste ich mindestens ein Date vereinbaren. Als ich den großen Raum mit den überdimensionalen Rückgaberegalen und dem Ausleihtresen betrat, der sich über eine ganze Wand erstreckte, wanderten meine Gedanken in die Vergangenheit. Bibliotheken waren immer meine Zuflucht gewesen. Meine Mutter ging jedes Wochenende mit mir hin, und wir verbrachten dort Stunden mit Lesen, isoliert von der Außenwelt. Sie füllte ihre größte Handtasche mit Snacks – Müsliriegel, Chips und Kekse –, und wir machten es uns gemütlich, sobald die Bibliothek öffnete, belegten die besten Stühle im zweiten Stock, der einen Blick auf die Straße unten bot. Wir suchten abwechselnd nach Büchern, aßen heimlich und lasen den ganzen Tag, gingen erst, wenn die Ansage ertönte, dass die Bibliothek gleich geschlossen würde.
Ich näherte mich der Bibliothekarin am Tresen und zeigte ihr meinen Bibliotheksausweis. Sie deutete auf die Computer und sagte: »Suchen Sie sich einen aus.«
Es waren nur zwei andere Besucher online – ein älterer Mann, möglicherweise obdachlos, und ein Teenager, der in der Schule hätte sein müssen. Ich wählte einen Computer am Ende der Reihe und loggte mich in Amelias Account ein.
Es gab keine neuen Nachrichten von Cory, und ich war überrascht, dass ich einen Anflug von Enttäuschung verspürte. Wie schnell ich süchtig nach dem Nervenkitzel geworden war, den eine Nachricht von ihm in mir auslöste.
Dann loggte ich mich in meinen eigenen Account ein. Ich tauschte gerade mit drei oder vier Männern regelmäßig Nachrichten aus, jeder von ihnen eine etwas andere Version derselben Person. Jason, der Risikokapitalgeber, bei dem jeder Satz mit dem Wort ich anzufangen schien. Sean, ein Hypothekenmakler in Manhattan Beach. Und Dylan, der Party-Promoter.
Bis dahin waren meine Kriterien ziemlich einfach gewesen: Sie mussten einen Job haben, sie mussten mir ungefähr drei Fragen über mich stellen, und sie durften nicht aussehen wie der Unabomber. Ich sorgte immer dafür, dass wir uns an einem öffentlichen Ort trafen, und ich ging nie mit jemandem nach Hause, mit dem ich mich nicht sicher fühlte. Manchmal merkte ich es jedoch erst, wenn es zu spät war. Finger, die mir durchs Haar fuhren und dabei zu fest zogen. Hände, die zu hart zupackten. Blutergüsse an Stellen, die sich leicht verhüllen ließen. Das passierte nicht oft, aber wenn, dann gelang es mir, es nicht ins Bewusstsein dringen zu lassen. Ich ging in Gedanken woandershin, bis es vorbei war.
Ich starrte Jasons letzte Nachricht an, eine Einladung in ein Restaurant in Venice, das gerade erst eröffnet hatte, und stellte mir einen endlosen Abend vor, den ich damit verbringen würde, seinem Ego zu schmeicheln. Ich schloss den Account, ohne zu antworten.
Dann ging ich auf die Website des Community Colleges, damit ich Cal zumindest sagen konnte, dass ich es mir angesehen hatte. Buchhaltung. Kunstgeschichte. Betriebswirtschaftslehre. Die Wörter begannen zu verschwimmen, bis mein Blick an Digital Design hängen blieb. Der sechsmonatige Kurs vermittelt die Grundlagen des HTML-Codes, Webdesign und Bildbearbeitung. Schüler erlangen wertvolle Fertigkeiten für jede Branche; oder es ermöglicht ihnen, selbstständig zu arbeiten. Ich schaute mir die Beispielbilder für den Photoshop-Kurs an. Eins davon zeigte eine Familie in einem Park mit ein paar Leuten im Hintergrund. Das zweite Bild war dasselbe Foto, nur diesmal waren die Leute hinten herausgeschnitten, als wären sie nie da gewesen.
Ich klickte auf das Feld Kursgebühren und atmete schwer aus. Einschließlich der Anmeldegebühr kostete der ganze Kurs mit Abschlusszeugnis zweihundert Dollar. Darüber hinaus könnten noch Kosten für notwendiges Material anfallen. Und wenn ich den Kurs abschloss, würde ich die nötige Ausrüstung brauchen. Einen Computer. Software. Für jemanden, der nach Abzug der Steuern weniger als hundertfünfzig Dollar die Woche verdiente – das meiste davon war bereits in dem Moment weg, in dem es auf mein Konto kam –, konnten zweihundert Dollar genauso gut zwei Millionen sein. Ich schloss das Fenster und spürte schmerzliches Bedauern, wie immer, wenn sich eine Tür schloss.
Ich loggte mich aus und winkte der Bibliothekarin zu, als ich ging. Ich hatte noch vier Stunden bis zum Sonnenuntergang, um einen Parkplatz für die Nacht zu finden.