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Erwacht aus einem wochenlangen Schlaf, kann sich die junge Frau Sari an nichts außer ihrer Mission erinnern: sie muss den vermissten Thronfolger des feindlichen Nachbarlandes Azamuth finden. Doch jagt ihr ein dunkler Ritter mit seinen Schergen hinterher. Gemeinsam mit Gefährten, die unterschiedlicher nicht sein könnten, versucht Sari die sprichwörtliche Nadel im Heuhaufen zu finden. Dabei muss sie feststellen, dass es die vermeintliche Grenze zwischen Schwarz und Weiß nicht zu geben scheint...
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Seitenzahl: 655
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Lands of AiraDer Prinz von Azamuth
Originaler Titel: Lost Prince Erste Fassung: 2009
© Iris Fak, 2018 Alle Rechte vorbehalten. Sämtliche Texte und Illustrationen stehen unter Copyright. Vertrieb durch: Neobooks Lektorat/Korrektorat: Sarah Voss, Manfred Fak, Benjamin Schwarz Illustrationen der Protagonisten: Iris Fak Illustrationen der Szenen: Delia Krohmer
Danke.
Ein großes Dankeschön an Sarah Voss, ohne der dieser Roman nie ein Ende gefunden hätte. Sarah, dein Glaube an mich hat mir Flügel verliehen und mir in dunklen Zeiten den Weg erhellt. Gemeinsam haben wir eine Welt erschaffen, die unsere verändert hat. Vielen Dank an meine Eltern, ohne deren Unterstützung ich nicht der Mensch geworden wäre, der ich heute bin. „Ich bin Stolz auf dich“ ist eine hervorragende Wegzehrung. Besonderen Dank auch an dich, Paps. Durch deinen genauen Blick liest sich der Roman um einiges flüssiger.
Inhaltsverzeichnis
Was dieses Buch ist 6
Prolog 7
1. Freund und Feind 8
Verblasste Erinnerungen 18
Hinterhältige Pläne 24
2. In Gefangenschaft 31
Ausbruch 36
Die Jagd beginnt 45
3. Handelsstadt Comerence 52
Ankunft 61
Unerwarteter Besuch 71
4. Die Insel 78
Ikana und seine Legende 88
Maskenball 96
Der seltsame Gentleman 103
Ikanas wahre Geschichte 111
Arcan, das gespaltene Land 120
Das Monster im Herzen 128
5. Magie mag gelernt sein 137
Die Idee 142
Bis auf den Grund 146
Im Wein liegt die Wahrheit 152
Fang des Lebens 158
6. Vergessenes Reich 165
Die verlorene Liebe 171
In der Gewalt einer Hexe 179
7. Destercity, die große Stadt 188
Wie aus Freundschaft Feindschaft wurde 195
Eine fremde Welt 202
Klänge der Erinnerung 208
Ein vergessener Freund 213
Reale Vergangenheit 218
8. Verborgen im Dickicht 226
Fehlschlagende Verhandlungen 230
Frieden kehrt ein 235
Glossar 241
Schatztruhe 248
Eine mit Spaß an der Freude geschriebene Geschichte
Ein Wald voller Wörter, Buchstaben und Beistriche, durch den drei freiwillige Lektoren gingen
Ein freies Werk ohne bezahltem Verlag
Ein milder Fantasy-Roman
Ein eBook
Was dieses Buch nicht ist
Ein Werk mit professionellen, bezahlten Lektoren
Ein Buch, an dem ein Verlag mitgesprochen hat
Ein Roman, zum schnellen Geld verdienen
Ein blutrünstiger Abklatsch von GoT
Eine Scheibe Weißbrot
Ein dunkler Sturm erhebt sich im Westen. Eine Armee von solcher Macht und vereinter Stärke, dass das ganze Land in heller Aufruhr ist. Sie erhebt sich, macht sich bereit den Osten mit kaltem Stahl zu erobern. Manch einer spricht vom Ende einer Ära, dem Zerfall eines Reiches, welches seit über 1000 Jahren besteht. Was ist nur passiert? Es sollte doch Frieden geben. Es sollte doch Verhandlungen geben, die die Länder zusammen schmieden sollten. Neue Handelswege eröffnen. Tür und Tor für Gäste öffnen. Das Land mit neuen, innovativen Ideen und Techniken bereichern. Stattdessen zerbricht das Land in viele kleinere Fürstentümer, unfähig, sich zu verteidigen. Zerstritten, zerstört und vergiftet vom Hass und Neid untereinander. Wo ist die königliche Familie, die uns einte? Die uns an die Spitze des menschlichen Fortschritts führte, uns leitete und stets schützend eine Hand über unsere Reiche hielt? Sind wir wirklich so schwach geworden, dass wir ohne der Führung einer Monarchie außerstande sind gemeinsam einem Feind gegenüber zu treten? Der Krieg kam so plötzlich. Ohne Vorzeichen schien er uns schon bald zu überrollen. War das ihr Plan, vielleicht schon seit Jahrzehnten? Haben sie unseren schwächsten Moment abgewartet, um das Land zu erobern? Oder sehen sie den Verhandlungsversuch, zu dem es tragischerweise nie kam, als Akt der Anfeindung? Trotz alledem werden sich die Menschen nicht kampflos ergeben. Wir mögen nicht geschlossen stehen, doch wir lieben unser Land. Unsere Wälder, Wiesen, Felder, Dörfer und Städte.
Dunkle Klingen blitzen im Schein der Sonne. Schon bald wird rotes Blut an ihnen kleben – unser Blut. Wenn wir jetzt nicht handeln, wird es zu spät sein. Vielleicht helfen uns die Engel. Zwar blicken sie buchstäblich auf uns herab, doch ist es auch ihr Territorium, welches die Dämonen betreten. Ein gemeinsamer Feind könnte unsere Völker einen, wenn auch nur für kurze Zeit. Und was ist mit den Elfen und Arcanern, die auf der Suche nach dem großen Glück in unser Land gezogen sind? Wenn wir es schaffen, sie und ihre Verbündeten zu mobilisieren, hätten wir starke Verbündete. Eine echte Chance, gegen die dunklen Armeen zu bestehen. Und sobald erneut der Frieden eingekehrt ist, schaffen es auch wir Menschen uns endlich zu vertragen. Auf dass uns kein Krieg mehr etwas anhaben wird. Seht mich an. Jetzt sitze ich hier, ich alter Narr und erzähle optimistisch von Dingen, die wahrscheinlich so nie passieren werden. Ich habe Angst. Ich fürchte um die Zukunft meiner Kinder und deren Kindeskinder. Wird es in der Welt von morgen noch einen Platz für unser selbstzerstörerisches Volk geben? Vielleicht ist es von der Natur so vorhergesehen, dass es uns eines Tages nicht mehr geben wird. Die Schwachen werden von Aira getilgt, die Starken gewinnen. Das ist der Lauf der Zeit.
Drei Silhouetten auf einem einsamen, weiten Pfad. Der blasse Mond erhellte ihnen die finstere Nacht, auch, wenn sie bestens an die Dunkelheit gewöhnt waren. Sie befanden sich auf einer Mission, gesandt von ihrem Herrn und Meister. Loyalität bedeutete ihnen alles, so gingen sie über Leichen, um ihre Aufträge auszuführen. Ihresgleichen, die „Dämonen“, wüteten in großen Scharen durch das sonst so friedliche Land Desteral [Dästeral] und verbrannten, raubten und mordeten alles, was sich ihnen auf ihrem Streifzug entgegen stellte – es war Krieg. Die Armeen des Nachbarlandes Azamuth [Asamut] zwangen schon viele kleinere Dörfer, die einst unter der Regentschaft von Adelsfamilien standen, in die Knie. Sie drangen erbarmungslos immer weiter in das Landesinnere vor. Das Menschenvolk fürchtete schon seit langem, dass die Dämonen aufgrund Desterals vielfältiger Natur und reichen Bodenschätze ihr Reich erobern wollten.
Die Ausnahme bildeten diese drei geheimnisvollen Gestalten, die strikt ihren Anweisungen folgten, jene zu finden, die ihr Herr dringlich verlangte. Dabei ahnten sie nicht, wie nah sie ihrem Ziel bereits waren.
Die ersten Sonnenstrahlen durchdrangen das Blätterdach des dichten Waldes. Sie wärmten den Boden und lockten allmählich tagaktive Tiere hervor; aus Angst vor den Raubtieren hatten sie Schutz in Höhlen, Löchern und Bäumen gesucht. Jetzt, am Tag, waren sie sicher. Zumindest die meiste Zeit. Während die heimischen Vögel begannen, ihre Lieder zu singen, streckte im Dickicht des Waldes ein kleines Reh seinen Kopf hervor. Es witterte den Duft des Morgens und die Chance, frischen Tau von den Blättern zu lecken, ehe andere Tiere ihm zuvorkamen. Mit Bedacht und doch in Eile schlich es aus seinem Versteck und begann die gesammelten Tropfen auf den Sträuchern zu trinken. Dies tat das Reh eine ganze Weile, von einem dicht mit Blättern übersäten Ast zum nächsten. Erst, als unerwartet das Gestrüpp neben ihm zu rascheln begann, sprang es voller Furcht hinfort. Ein Fuchs? Ein Wolf? Das Reh wollte es nicht genau wissen. Es sprang fluchtartig durch das Dickicht und darüber hinaus, ehe es einen Wanderpfad kreuzte und kurz danach zum Stehen kam. Die Gefahr schien verschwunden.
Inmitten dem hohen Gras und den vielen Büschen stach ein veilchenblauer Stiefel hervor. Das Reh, welches zuerst ängstlich geflüchtet war, begann nun aus Neugier vorsichtig an diesem zu zupfen. Es arbeitete sich hoch, über die weiße Strumpfhose und das veilchenblaue Kleid, bis es beim Gesicht der scheinbar tief schlafenden Frau ankam. Als diese – aus Reaktion des Stupsen – den Kopf zur Seite drehte, sprang das Reh erneut voller Scheu von dannen, zurück in das dichte Unterholz. Die junge Frau, welche von gefallenem Laub und Erde bedeckt war, begann ihre Augenbrauen zu bewegen. Einzeln zuckten ihre Finger, ehe sich ihre linke Hand das erste Mal seit langer Zeit zu einer Faust zusammenballte. Ihr gesamter Körper fühlte sich so schwer... Leicht zuckte sie als Ganzes und ließ ein gequältes Stöhnen los, als sich ein tiefer Schmerz in ihren Rücken bohrte. Der Boden war und konnte auf lange Sicht nicht weich sein. Sie atmete schnell und unregelmäßig, ehe sie endlich ihre müden Lider heben konnte. Verschwommen nahmen ihre spiegelnden, braunen Augen das erleuchtete Blätterdach des Waldes wahr. Was war passiert? Wieso lag sie an diesem Ort...? Erschöpft von ihrem langen, traumlosen Schlaf, ruhte ihre rechte Hand unbewegt unter ihrer Brust. Allein ihre sich stetig regelmäßigere Atmung hob und senkte den Oberkörper. Wenn die junge Frau genauer über ihre Situation nachdachte, konnte sie kein Ereignis rekonstruieren. Keinen Unfall, keine Begegnung, keine Ankunft, keine Vergangenheit – keinen Namen. Ihr leichtes, bis über die Oberschenkel reichendes Kleid verriet, dass sie keiner bestimmten Nation oder Organisation angehörte. Auch trug sie keine Ausrüstung, Waffen oder Taschen bei sich – wobei diese, sollte sie bereits länger an dieser Stelle liegen, mit Sicherheit gestohlen worden waren. Ihr brünettes Haar reichte bis zu den Schulterblättern und war in alle Richtungen gekräuselt, als hätte es ein Eigenleben. Auch steckte keine Spange mit einer bestimmten Aufschrift oder ähnlichem Hinweis auf ihre Herkunft darin. Langsam begannen sich ihre Augenbrauen überlegend zusammen zu ziehen. Aus heiterem Himmel begann ihr Kopf zu pochen. So stark und schmerzvoll, dass sie sich zur Seite drehte, klein zusammengekauert. Sie fasste nach dem Kopf und zog an ihren Haaren, auf dass der Schmerz vergehe! Erst, als ihr Herz zu rasen begann und sie nach Luft schnappte, ließ der beißende Druck allmählich nach – die junge Frau hatte aufgehört, über das entscheidende „Wieso“ nachzudenken.
Sie musste aufstehen. Aufstehen und aus diesem Wald heraus, um zu sehen, wo sie sich befand. So vertraute die Frau auf die restlichen Kräfte, die ihrem Körper geblieben waren. Vorsichtig stützte sie beide Hände ins hohen Gras und stemmte sich an diesen hoch. Als dann das rechte Bein hinzu kam, gewann sie an Sicherheit. Mit Hilfe eines nahen, kleingewachsenen Baumes, schaffte sie es in einen – noch sehr wackeligen – aufrechten Stand zu kommen. Wie, als wären dies ihre ersten Schritte im Leben, ging sie mit einem freudigen Lächeln voran, stets in der Nähe der Bäume und Sträucher, um sich zur Not an diesen festhalten zu können. Ein paar Mal musste die junge Frau noch auf ihre Tritte in den kniehohen Stiefeln achten, dann ging sie allmählich sicherer. Ihr Weg durch das Dickicht führte sie an eine Lichtung mit kleinem Teich. Dort angekommen, fiel sie vor dem Wasser auf die Knie und trank mit ihren Händen so viel sie nur konnte. Als ihr Durst weniger wurde, spritzte die junge Frau das kühle Nass in ihr Gesicht. Sie schloss dabei die Augen und spürte jeden einzelnen Tropfen, der an ihren Backen entlang wanderte. Mit wieder offenen Augen starrte sie in das ruhige Wasser des Teiches. Beim Anblick ihres Spiegelbildes näherte sie sich mit ihrem Kopf der Oberfläche. Leicht überrascht von dem, was sie sah, fasste sie langsam nach ihrem Gesicht, ihrem Antlitz. Nach sich selbst.„Sari...“ Eine männliche, helle Stimme bohrte sich in ihr Unterbewusstsein. Erneut pochte ihr Kopf dabei, jedoch längst nicht so stark, wie beim ersten Mal.„Sari...“ Die junge Frau, erschrocken von der Stimme, die in ihr hallte, wiederholte schließlich den Namen: „Sa-ri...“, ihr Blick war dabei weiterhin auf die glatte Oberfläche gerichtet, in der die sich spiegelnde, junge Frau die Lippen zu ihren Worten bewegte: „Sari.“
Etwas in ihr konnte sich erinnern. Nur an einen Namen, doch dieser schien zu der Person im Wasser zu passen. Die Frau lächelte mit einem erleichterten Seufzer, glücklich allein über diese Erkenntnis. Die Spiegelung so rein, dass man schwören konnte, auf dem Wasser gehen zu können, geriet in starker Wallung – zwei Enten teilten die glatte Oberfläche des Teiches. Während eine der beiden voller Enthusiasmus ihr Federkleid säuberte, kam die zweite auf Sari zu geschwommen. Sie schnatterte leise, als würde sie Selbstgespräche führen und starrte gleichzeitig auf die junge Frau, die begann, ihren Kopf auf den Händen zu stützen. Kurz nur, dachte sie sich, wollte sie vergessen, dass sie sich ihrer Existenz nicht entsinnen konnte; ein wenig Ruhe in all dem Chaos und zugleich der Stille ihrer Erinnerungen finden. Die Ente streckte sich tief unter das Wasser, um unter der Oberfläche an Essbares zu kommen. Scheinbar hielt sie die junge Frau für keine Bedrohung. Saß sie doch noch dazu still da, ohne sich hektisch zu bewegen. Da durchschwamm die andere Ente den Teich. Sie starrte nicht zu Sari, sondern zu ihrem Partner, dessen Beine akrobatisch in die Luft ragten. Mit dem Schnabel kurz an den Schwanzfedern gezupft, tauchte der Erpel schnell auf – und schnatterte auf den Partner ein.
Sari musste ihre Hände auf den Mund drücken, um die Enten nicht mit ihrem Lachen zu vertreiben. Es war schön, ihnen zuzusehen, kam ihr bei dessen Anblick doch ein wenig die Erinnerung an ein sich streitendes, altes Ehepaar hoch.
Ein Schatten erstreckte sich über Sari, bis zu den Enten. In den Augen der Tiere konnte man regelrecht das Erschaudern wahrnehmen, ehe sie, warnend quakend, die Flügel in die Hand nahmen und geradezu über das Wasser liefen, bis sie ihre Schwingen in den Himmel hoben. Auf und davon, dem Teich den Rücken kehrend. Nun weiteten sich die braunen Augen der jungen Frau: die Reaktion der Enten konnte nur bedeuten, dass jemand direkt hinter ihr stand.
Schnell drehte sie sich, da sie beim Teich saß, mit dem Oberkörper den drei Gestalten hinter sich zu. Kaum blieb ihr beim Anblick der fahlen, violetten Haut des ersten Mannes der Mund offen stehen, packte sie eine muskulöse Hand an den Haaren. Einmal kräftig zur Seite gezogen, wurde die schreiende Frau zu Boden gerissen, nur ein paar Zentimeter am Teich vorbei.
„Wir sind nun das vierte Mal hier vorbei gegangen!“, klagte der zweite, kleine Mann mit Glatze, „Wie bei Ath'ars Macht konnten wir sie übersehen?!“
Die dritte Gestalt, eine schlanke Frau in schwarzem Leder gekleidet, hellem roten Haar und großen, fledermaus-ähnlichen Flügeln, drängte sich in den Vordergrund. Sie stemmte eine Hand bei der Begutachtung ihrer Gefangenen in die Hüfte und winkte ab: „Ist doch egal, Utah [Uta]. Hauptsache wir haben sie.“
„Ist 'sie' auch sie?“, der gerade eben noch brutale, muskulöse Mann, legte unsicher den Kopf schief. „Wie finden wir 'raus, dass 'sie' auch wirklich sie ist?“
„Bist du so blöd? Gar nicht, natürlich! Wir nehmen sie mit, wie all die anderen auch.“, ein wenig desinteressiert entfernte sich die Frau von der Gruppe. „Soll der Meister genauere Angaben machen.“
Nun begann sich der kleinere Mann namens Utah einzumischen: „Lydia [Leidia], stellst du etwa das Wort des Herren in Frage!?“
Sari, die vor Angst Grashalme unter ihren Händen nahezu zerquetschte, fand diese Gestalten plötzlich gar nicht mehr so unheimlich. Sie wirkten auf den ersten Blick richtig boshaft und erschreckend, doch bei näherer Betrachtung hatten sie, wie alle intelligente Lebewesen auch, Charakterzüge, Gefühle und vielleicht sogar Hobbies. Einzig ihr seltsames Aussehen brachte die junge Frau zum Nachdenken. Sie waren anders. Sari hatte weder Flügel am Rücken, noch Hörner oder fahle, violette Haut. Das konnte durchaus beängstigend sein.
Beängstigend... dachte sie sich. Dabei drängte sich ihr ein tiefes, inneres Gefühl auf. Hatte sie doch plötzlich die Eingebung, dass diese Gestalten so gar nicht an den Ort passten... als wären sie nicht aus diesem Land.
Leise flüsterte ihr, unter Kopfschmerzen, die männliche, innere Stimme entgegen: „Dämonen...“
„Dämonen!“, Sari schlug aus heiterem Himmel die Hände vor ihr Gesicht. Als die Gruppe verständnislos zu ihr blickte, zeigte sie, mit zittrigem Finger, direkt auf die drei Gestalten: „I-ihr seid alle Dämonen!“
Es brauchte einen kurzen Moment, ehe schallendes Gelächter die Stille brach. Diese Feststellung einer Gefangenen hatte noch keiner der Anwesenden je erlebt. Sogar der muskulöse Mann lachte laut auf.
„Habt ihr das gehört?!“, lachte die geflügelte Frau, scheinbar mit dem Namen Lydia, „Man kann nichts feststellen, weil einem die dümmsten Lügen aufgetischt werden! 'Ich bin nicht echt brünett', 'ich bin gar keine Frau', 'ich habe noch nie zuvor Dämonen gesehen'. Alles bereits erlebt!“
„Aber-“, Sari versuchte, die Situation zu erklären: „Ich weiß nicht, wer ich bin!“ – was, zugegeben, im schlechtesten ausgewählten Moment geschah.
Wieder verstrichen ein paar Sekunden, ehe die Meute erneut in schallendem Gelächter aufbrüllte.
„Hervorragend! Das erweitere ich auf meiner Liste!“
„Schluss jetzt.“, Utah wischte sich eine Träne weg. „Piov [Piof], nimm sie mit.“
„Geht klar.“ Ohne weiterem Zögern griff der Muskelprotz nach Sari und warf sie über seine Schulter. Zwar strampelte sie, doch war ihr auch bewusst, dass es keinen Sinn hatte, sich gegen alle drei zu wehren.
„Wartet-!“, kopfüber hängend begann Sari auf den Rücken des großen Dämons zu klopfen. Dass er zwei Reihen von kleinen, spitzen Stacheln besaß, versuchte sie dabei zu ignorieren. „Wartet doch! Wohin bringt ihr mich!?“
Die Reise begann mit einem Spaziergang quer durch den Wald. „Du weißt, wo wir hingehen.“, meinte Utah mit Nachdruck, der seinen Kollegen im Anschluss folgte.
„Nein, eben nicht! Woher denn, wenn ich mich nicht einmal selbst kenne!?“
„Jetzt fängt sie schon wieder an.“ Lydia prustete, erneut über Saris Ausreden amüsiert. „Hör' auf mit dem Scheiß, das wird mit der Zeit langweilig.“, sie sah ernst hinter sich, zu ihren Partnern und der Gefangenen. „Und wir hassen Langeweile.“
Der Weg führte die Gruppe an das Ende des Waldes. Vor ihnen lag nun ein weites, nur schwach von Hügeln geformtes Tal. Das Gras war kniehoch und leicht verdorrt. Wohl hatte es, trotz des Windes und der vereinzelten Wolken, schon länger nicht geregnet. Fasziniert vom Anblick dieser endlosen Landschaft, vergaß die junge Frau – zumindest für einen Moment – dass sie unfreiwillig über der Schulter eines Dämonen namens Piov lag. Da kam ihr etwas in den Sinn. Die drei Dämonen hielten sie für jemanden... und wenn diese Person nun tatsächlich Sari war?
So begann sie, auf dem Weg durch die scheinbar endlose Wiese erneut zu reden: „Heh – wisst ihr denn, wer ich bin? Habt ihr den Namen Sari-“
Mit einem heftigen Ruck warf der muskulöse Dämon die junge Frau vor sich, in das Gras. Das geschah so schnell, dass Saris Körper ein paar Sekunden brauchte, ehe der Impuls des Schmerzes – im Rücken und Genick – an den Kopf gesendet wurde. „...Aua.“
Wenig überrascht hob Lydia die Schultern an. Dabei ahmten ihre ledrigen Flügel die Bewegung nach. „Sehr schwer von Begriff, was? Du sollst still sein.“
„Ihr müsst mir zuhören-!“
Mit verschränkten Armen stellte die Frau einen ihrer hohen Stiefel auf Saris Bauch – gerade, als sie sich aufsetzen wollte: „Sei still!“
„Hör' auf das, was man dir sagt!“, Utah brummte laut, „Quatsch' dich aus, wenn wir da sind – ich hab' Hunger!“
Sari hätte wissen sollen, wann Schluss sei. Doch der Zorn, welcher sich wie ein Lauffeuer unter der Gruppe verbreitete, steckte auch die Gefangene an: Wie konnte man nur so unfair sein?
„Sind alle Dämonen so nett drauf!? Wahllos Frauen entführen und einfach hoffen, sie sei die Richtige, ja!?“, Sari steigerte sich regelrecht in Rage, „Ihr bringt das sicher schon euren Kindern bei, dass Gewalt und Entführung toll ist! Ich will echt nicht wissen, was in eurem Reich so schief läuft!!“
Lydia, verblüfft und gleichzeitig amüsiert über die junge Frau, prustete grinsend ihren Kameraden zu.
„Lach nur, du Hexe!! Wenn ich hoch komme, nehme ich deinen hochhackigen Stiefel und schieb-“
Mit Vergnügen – zugegeben, mit zurückgehaltener Kraft – trat Lydia gegen das Gesicht der Gefangenen. Es reichte aus, dass sie endlich still war und ihre Verletzung an der rechten Backe mit zugekniffenen Augen hielt. Kurz schmunzelte die Dämonin noch durch die Runde, dann nickte Utah zufrieden. „So. Dann kann's ja weitergehen.“
Während Piov mit seinem schweren, großen Körper nach Sari griff, war Lydia ein wenig voran gegangen. Sie drehte sich im Gehen um und schritt rückwärts weiter: „Was dauert denn da so lange? Beeilung, langsam kriege ich auch Hunger!“, und plötzlich – ihr Schenkel durchschritt einen gelblichen Lichtstrahl, der bei dessen Berührung aufblitzte und verschwand.
Nun ließ Piov die Gefangene liegen. Alle drei sahen sich zwar fragend untereinander an... doch insgeheim wusste jeder, welches Volk – das die Technologie zur Erkennung von Dämonen besaß – sie gerade auf sich aufmerksam gemacht hatten.
„...Was war denn das?“, fragte Piov noch stumpf nach, als ein Glockenschlag zu hören war.
Ein tiefer, langgezogener Glockenschlag. So tief und lang, dass die gesamte Umgebung von seinem Raunen erfüllt war.
Sich immer noch die Backe haltend, sah Sari mit Tränen in den Augen auf. Ihr Tag hatte nicht besonders gut begonnen. Nun fürchtete sie, dass er noch sehr viel schlimmer werden würde. Unsicher, ob sie wieder ins Gesicht getreten werden würde, hauchte sie leise: „W...was... was war das?“
„Engel...“, war Lydias Antwort, ehe der zweite Glockenschlag ertönte. „Wir müssen hier weg!“, sie klatschte in die Hände, um ihre Kameraden anzuspornen, „Los, los, los! Heb' sie hoch! Weg hier, schnell!“
Piov konnte Sari im Loslaufen verkehrt hochreißen, ehe die Gruppe beim dritten Glockenschlag über die Wiese lief. Sie bewegten sich so schnell sie ihre Beine trugen. Kopfüber konnte Sari die Dämonin wahrnehmen, die ihre Fähigkeit zu fliegen dazu nutzte, schneller voran zu kommen, schneller als ihre Kameraden. Piov kam mit wenigen, dafür großen Schritten nach und Utah hatte mit seinen kurzen Beinen den schwersten Weg vor sich. In ihrem Übereifer hängte Lydia die zwei Dämonen langsam ab. Es entstand eine Lücke zwischen ihnen, die im Laufe der Minuten immer größer wurde. Schließlich war sie so groß, dass sie der Gruppe zum Verhängnis wurde: ein Lichtstrahl drängte sich zwischen sie, summte leise, ehe er zu einer stattlichen Lichtsäule heranwuchs. Sah man nach oben, ging sie durch die Wolken hindurch und verschwand darin.
Da die Lichtsäule nun die Dämonen von Lydia trennten, blieb ihnen nichts anderes übrig, als stehen zu bleiben und ihre Waffen zu zücken. Denn die Lichtsäule bildete die Verbindung und den Transportweg zwischen dem Boden von Aira [Eira] und den fliegenden Inseln der Engel.
„Piov, Utah!“, rief die Dämonin, die trotz ihrer Eile kurz zum Stehen kam, „Haltet durch! Das Lager ist nicht mehr fern, ich schicke Hilfe!“ Mit diesen Worten und einer Portion von Angst – Angst um ihre Kameraden – flog sie erneut los, so schnell sie konnte.
Piov und Utah blieben zähneknirschend zurück. Als die erste Gestalt in der Lichtsäule sichtbar wurde, ließ der kräftige Dämon Sari fallen.
„Alles klar, Piov. Was auch geschieht, lass das Mädchen nicht aus den Augen.“, schnaufte der Kleine, „Das Engelspack darf sie auf keinen Fall erwischen.“
„Klar, Utah.“
Ein Mann in5 weißgoldener Rüstung berührte den Boden. In seiner Hand eine aus Licht manifestierte Armbrust, an seinem weißen Gürtel ein Schwert. Ein blonder, geflochtener Zopf lag über seiner Schulter und endete vor seiner Brustrüstung. Ein Stirnband, in den Farben der Rüstung, unterstrich seinen höher gestellten Rang als Lichtsoldat. Als sei das für Dämonen völlig fremde Erscheinungsbild nicht genug, erstreckten sich am Rücken des Mannes großgewachsene, grellweiße Federschwingen. Es war seine Aufgabe, dieses Gebiet mit zwei weiteren Engeln zu kontrollieren. Anders als seine Kollegen, hatte er die Position eines Kommandeurs und wechselte routiniert die verschiedenen Tätigkeiten mit weiteren Gleichgesinnten seines Ranges.
Mit prüfenden Blick musterte er die Eindringlinge. Seine Stirn legte sich in Falten, als seine hellblauen Augen Sari entdeckten. Doch schon im nächsten Moment richtete er das Wort an die Dämonen: „Ihr seid weit in ein für euch gesperrtes Territorium eingedrungen. Ihr wisst hoffentlich, dass für Dämonen keine Form von Verhandlungen vorgesehen sind. Eure Exekution steht bevor.“ Ganz nach Vorschrift hob der Engel die zweite Hand, in der Handschellen aus purem Licht erschienen. „Ich nehme euch in Gewahrsam. Legt die Waffen nieder und folgt mir.“
War das sein Ernst? Selbst Sari hob bei diesen Worten eine Augenbraue.
So begann Utah zu prusten, während Piov schon längst lachte: „Dummer Engel redet dummes Zeug!“ „Wir sollen dir stillschweigend folgen? Ehrlich!? Bei Ath'ar, Piov, ich glaube, das ist sein Ernst!“
In dieser Lage war leicht nachvollziehbar, dass Sari eine minimale Chance auf Rettung sah. So übel konnte dieser bürokratische Engel für sie gar nicht sein – er war ein Feind der Dämonen und damit ihr Freund. So rief sie, so laut sie konnte, um ihren Standpunkt klar zu machen: „Hiiilfe! Ich werde entführt! Nehmt mich mit!“ „Nu-uh!“, Utah verteidigte mit einem Kopfschütteln die Situation: „Sie lügt, sie gehört zu uns!“
„Oh ja, weil man Vertraute auch ins Gesicht tritt!“
„Das waren wir nicht!“
„Schluss jetzt.“, der Kommandeur machte einen Schritt nach vor, aus der Lichtsäule heraus. „Legt eure Waffen nieder, oder ihr werdet sofort exekutiert.“
Die Mimik der Dämonen verzog sich zu einem finsteren, selbstsicheren Grinsen. Wenn sie eines verstanden, dann war das die Sprache der Schlacht. „Dann komm doch und greife an, du Huhn.“ Als der Engel den Spott hörte, fixierte er die Dämonen. Seine Verhandlungsversuche waren völlig zwecklos. Was hatte er, aus der Perspektive seines Volkes, aber auch anderes erwarten können? Mit einem leisen Seufzer lösten sich die Handschellen im Licht auf. Als er nach dem Griff seines im Gürtel ruhenden Schwertes fasste, sprangen die Eindringlinge in Kampfpose um – blitzartig zog Sari daraufhin den Kopf ein und kroch vorsichtig zur Seite.
Doch der Kampf ließ noch auf sich warten.
Anstatt anzugreifen, starrte sie der Kommandeur weiterhin an. Was hatte er vor? Wollte er Zeit schinden, oder die Dämonen einschüchtern? Wie auch immer seine Pläne aussahen, Utah wurde mit jeder Sekunde ungeduldiger.
Es dauerte nicht lange und der kleine Mann hüpfte von einem Bein auf das andere, brennend darauf, endlich Blut zu sehen. Die Ungeduld in ihm wurde so groß, dass er begann, auf den Engel zu zustürmen und währenddessen seinen Dolch zog. Seiner evolutionären Prägung folgend, faltete der Kommandeur als Drohgebärde seine Federflügel und wich zurück, als Utah immer wieder seine Waffe gegen ihn schwang.
Sari krümmte sich klein zusammen, als Piov mit schweren Schritten über sie hinweg sprang, hin zu einem Baum. Nach dem Motto: wer keine brauchbare Waffe hat, erarbeite sich eine, oder reiße sich, wie in Piovs Fall, einen dicken Ast ab und knicke ihn noch einmal am anderen Ende, um einen spitzen Speer zu erhalten. Während nun der Engel mit dem Abwehren von Uthas Schlägen beschäftigt war, fiel ihm der große Dämon sprichwörtlich in den Rücken und holte zum gewaltigen Angriff aus – Sari kniff die Augen zu, denn ihre Hoffnung auf Rettung sank dabei deutlich. Eine Windböe schnellte herbei. So scharf, dass sie Piov den Ast nicht nur aus den Armen riss, sondern ihn auch noch zersplitterte. Den festen Druck und somit den danach aufkommenden Wind konnte dabei selbst Sari noch spüren. Kaum schlug die Frau die Augen auf und suchte die Herkunft der plötzlichen Böe, wurden die Konturen eines weiteren Engels in der Lichtsäule deutlich. Ebenso in fester, weißgoldener Rüstung, berührte der junge Lichtsoldat den Boden. Seine Haare waren kürzer als die des Kommandeurs – leicht durcheinander bis zur Schulter – und ebenfalls blond. Aus seinen tiefblauen Augen blickte die melancholische Seele eines zwanzigjährigen Mannes, der bereits in seinen jungen Jahren zu viel erlebt hatte. Außerdem gab es einen entscheidenden Unterschied zu seinem Kommandeur: es fehlten Flügel. Dieser war, wie man sich vielleicht denken konnte, über sein verspätetes Eintreffen nicht gerade erfreut. Zwar hatte ihm der junge Lichtsoldat das Leben gerettet, doch starrte er ihn trotzdem beschuldigend an.
„Hah! Ein halber Engel!“, Utah schwang auch weiterhin sausend seinen Dolch, den der Kommandeur mit seinem Schwert abwehrte, „Piov! Los, schnapp' ihn dir!“, und grinste, da sein Feind kurzzeitig das Gleichgewicht verlor. „Hau' ihn zu Brei!“
„Ja, Utah.“, mit tiefer Stimme grollend, stampfte der große Dämon auf den neu erschienen Lichtsoldaten zu. Mit bloßer Faust holte er aus und testete, gleich nachdem der Halbengel den Boden berührte, seine Wendigkeit. Tatsächlich wich er unter den Füßen des großen Dämonen durch – es erschien eine Schneide aus purem Licht in seiner Hand – und zog seine Waffe an Piovs Bein vorbei. Der Dämon knickte mit lautem Gebrüll ein, ehe er seinen Oberkörper drehte und den Lichtsoldaten hinter ihm zur Seite schlug – nur gut für diesen, dass er eine Rüstung trug. Er war dabei sich aufzurichten, als Piov, sauer über die Schnittwunde an seinem Schenkel, erneut mit der Faust von oben kam. „Pass auf!“, Saris Hoffnung war langsam am Zurückkehren, sodass sie versuchte, die Engel moralisch zu unterstützen. Auf ihren Ausruf hin, schmiss sich der Lichtsoldat noch einmal flach ins Gras und rollte sich zur Seite. Piovs Schlag ging erneut ins Leere; seine Wut stieg und mit ihr seine Aggression. „Wrrrwaaahh! Dummer Mensch, sei ruhig!“, nun seinen Zorn gegen Sari gerichtet, stampfte er mit großen, schnellen Schritten auf sie zu. Sari sprang dabei selbstverständlich auf und lief, kreischend, vor ihm davon. Schnell die rechte Hand erhoben, entfesselte der Halbengel eine erneute Windböe, die Piov den verletzten Fuß zur Seite riss, sodass er mit einer Erschütterung des Bodens auf die Nase fiel. Die junge Frau war dabei selbst gefallen und blickte zum Dämon, der hinter ihr grimmig schnaufte. Sich in Sicherheit wiegend, ging der junge Lichtsoldat auf Piov zu und ließ erneut seine Lichtklinge erscheinen. Sah Sari in sein Gesicht, so konnte sie eine Art der Trauer wahrnehmen. Empfand er etwa Mitleid für den Dämon? Als er seine Klinge erhob, hatte zeitgleich Utah den Kommandeur zu Boden gestoßen. Doch anstatt ihn zu erstechen, schmiss er mit aller Kraft seinen Dolch hinterrücks dem Halbengel entgegen – Sari blickte dabei erneut vom Geschehen weg. Hellgelbe Flügel manifestierten sich am Rücken des Lichtsoldaten. Es geschah so schnell, dass man nur in Zeitlupe hätte sehen können, wie sich zuerst sein linker Fuß drehte, ehe der ganze Körper eine Halbdrehung zur Seite vollzog. Der Dolch verfehlte sein Ziel. Er blieb in einem massiven Baum stecken, etwas vom Kampfgeschehen entfernt. Zwei Sekunden; nur so lange dauerte die perplexe Reaktion von Utah. Doch diese Zeit reichte aus, dass der aufgerichtete Kommandeur seine Armbrust erhob, auf dem am Boden liegenden Piov zielte – und in seinen Hals traf. Anders als die Lichtklinge, waren Lichtpfeile speziell „zur Erlösung“ geschaffen. Erreichte auch nur einer sein Ziel, so löste er sich auf, zusammen mit dem getroffenen Dämon. „Piov!“, Utah konnte nur mehr fassungslos mit ansehen, wie sich sein einstiger Partner vom Hals an, in alle Richtungen, in gelb funkelnde Partikel auflöste. „Piiioov!!“
Völlig verzweifelt stieß Utah den Kommandeur auf den Boden zurück und schlug auf ihn ein: „Du dreckiger Engel! Mörder!! Ich werde-!“ Er hielt inne – der Kommandeur hatte die Armbrust fest in seiner Magengrube angesetzt. Utahs Augen weiteten sich; ihm wurde klar, dass der Kampf verloren war. Viel mehr noch: er hatte sein Leben verloren. Noch leicht in Panik, schüttelte er leise den Kopf: „Nein... nein, bitte....!“, doch der Kommandeur zog schwach einen Mundwinkel hoch und drückte ab. Als der Pfeil tief in seinem Körper stecken blieb, taumelte Utah noch, in gelben Partikeln funkelnd, nach hinten. Auch, wenn diese Dämonen Saris Entführer waren, empfand sie gewisses Mitleid. Vielleicht, da sie die Männer etwas länger gekannt hatte, als die Engel. Sie drehte ihren Kopf zur Seite, um nicht mitansehen zu müssen, wie sich Utah mit einem Schrei im Nichts auflöste.
Sie hörte die Schritte des Kommandeurs, wie er sich zum anderen Lichtsoldaten bewegte. Er wischte sich den Schweiß von der Stirn, glücklich darüber, beide Dämonen vernichtet zu haben, sodass ihm mit Sicherheit eine Belohnung erwartete. „Soldat... Wo ist Linn?“ „Zurückgeblieben, Kommandeur Viturin [Wi-tu-rin].“, war die Antwort, mit sanfter Stimme. „Sie sagte, sie fühle sich nicht wohl... ich vermute, aus dem selben Grund wie heute morgen.“
„Hat sie ein Formular zur Freistellung des Dienstes ausgefüllt?“ Der Halbengel nickte. „Es sollte in Eurem Quartier vorliegen.“ „Gut.“, der Kommandeur sah kurz zu Sari, die immer noch im Gras saß. Anschließend zückte er einen Notizblock und schien etwas aufzuschreiben. Seinem ersten Blick gefolgt, beschloss der ihm untergebene Lichtsoldat auf die junge Frau zuzugehen. Seine Mimik änderte sich nicht. Kein Lächeln, keine beruhigende Geste. Allein seine hellgelben Flügel begannen sich aufzulösen; Saris Augen wurden bei dem Anblick etwas größer. „Was wollten die Dämonen von dir?“ – na so was, keine Höflichkeitsform?
Bei seiner Frage plusterte Sari ihre Backen auf – und griff sich nachher auf die schmerzende Wange. „Au-! Eh- Keine Ahnung, was weiß ich.“ Als Reaktion auf ihre unhöfliche Antwort zog der Halbengel die Augenbrauen zusammen: „Du warst mit ihnen unterwegs und stehst unter Verdacht, zu ihnen zu gehören – du solltest es daher wissen.“
„Iiich?“, sie schmunzelte, so gut es ging, „Seh' ich aus, wie ein Dämon? Die Kerle wollten mich entführen! Doch ich habe, ganz ehrlich, keine Ahnung, warum das Ganze! ...Auch weiß ich nicht, wieso ihr sie töten musstet.“
„Das spricht nicht gerade für dich... sie handelten in bösen Absichten.“ Böse...? Das war in Saris Augen reine Ansichtssache. „DU bist böse!“ „W-“, er war tatsächlich perplex. „Was soll das denn jetzt? Beginnst du einen Streit-?“ „Du hast doch angefangen!“ Ehe das Verhör eskalierte, fiel Kommandeur Viturin ins Gespräch: „Dämonen nehmen keine Gefangene.“, er näherte sich, nun doch mit Interesse für Sari. „Es ist äußerst selten, dass Menschen entführt werden. Es muss daher einen triftigen Grund für eine Entführung geben. Das, oder...“, er schmunzelte, leicht amüsiert über seinen Gedanken, „Oder du bist gar kein Mensch.“ „Das ist doch lächerlich....!“, sie deutete auf ihre Backe, „Indiz eins: rotes Blut!“ „Irrelevant. Vampire haben ebenso rotes Blut.“ „Und ich hab' keine Stacheln!“ Dem Halbengel entfloh ein Seufzer: „Du weißt nicht viel über Dämonen, oder?“ „Nein, ich weiß nichts über sie... ich weiß ja nicht einmal, wer ich bin...“, als Sari den Kopf senkte, schien sich die Mimik des Lichtsoldaten zu lockern. „In diesem Fall müssen wir Sie bitten, uns zu begleiten.“, so der Kommandeur, „Paragraph fünfundvierzig, Absatz zwei schreibt vor, jegliche Unklarheiten zu beseitigen, bis die Wahrheit aufgedeckt wurde.“ „Was?“ „Sie könnten sowohl Opfer, als auch Mittäter sein.“ Nun griff sich Sari an die Nasenwurzel. Diese Bürokraten hielten sie wirklich für einen Dämonen? „Na schön-“, ihr kam eine Idee, „Würde das Bild des Mittäters abschwächen, wenn ich euch etwas über diese Typen verrate?“ „Eventuell.“ „Es waren drei.“ Überrascht drehten die Engel den Kopf. „Es waren drei: zwei Männer und eine Frau mit hässlichem Charakter. Sie ist abgehauen, ehe euer Lichtdings auftauchte. Sie redete etwas von 'Das Lager ist nicht mehr weit' und 'Ich schicke Hilfe'.“ Nun sahen sich beide beratend an – wenn das stimmte, war eine ganze Schar an Dämonen unterwegs hierher. So nickte Kommandeur Viturin, doch etwas dankbar. „In Ordnung. Bitte folgen Sie uns.“ „Was, noch immer!?“ „Das ist Vorschrift. Fügen Sie sich, oder wir sind gezwungen, Ihnen Handschellen anzulegen.“ „Oooh mann...“ „Soldat.“, der Kommandeur wartete, bis sich der Halbengel zu ihm gedreht hatte, „Ich übertrage Euch die Verantwortung für die mutmaßliche Verdächtige. Ich muss in die höhere Etage, um weitere Vorgehensweisen bezüglich unserer Zone zu besprechen.“ In aller Höflichkeit verbeugte sich der Lichtsoldat vor seinem Vorgesetzten, „Sehr wohl.“, und vernahm gleichzeitig seine innere Stimme, die zu sagen schien: 'Das war so offensichtlich...' Bei seinem erstmaligen trockenen Blick, lächelte ihm Sari freundlich entgegen. Wie schön es doch nicht war, an solchen Tagen neue Bekanntschaften zu machen.
Das Pflaster unter Saris Fingern knisterte, als sie über ihre Wange strich. Es war ein eigenartiges Gefühl, etwas im Gesicht kleben zu haben. Doch eigentlich war sie dankbar; hatte doch das fremdartige Volk ein gutes medizinisches Wissen und die Vorschrift, jede „in Gewahrsam genommene Person“ zuerst zu untersuchen. Im Grunde genommen bedeutete dies nichts anderes, als strikte Überwachung. Die junge Frau durfte keinen Schritt im Freien machen, ohne dass sie ein Aufpasser begleitete. Wie gut, dass sie nicht im Freien war. Der Halbengel hatte sie in seinem Quartier mit einem schmackhaften Kuchen zurückgelassen, um in Ruhe zu duschen. Es trennte sie nur eine Wand – und außerhalb des Zimmers lag seines Wissens nach ein Gang voll von Wachen. Sollte die Menschenfrau versuchen, zu flüchten, hätte man das sofort bemerkt.
Ihr Kuchen war bereits nach fünf Minuten verschwunden – und sie hatte immer noch Hunger, als hätte sie seit Wochen nichts gegessen. So saß Sari auf dem weichen Bett, wippte schnell wieder gelangweilt mit den Beinen, und kratzte an dem Pflaster. Ach, wie öde es war, in Gewahrsam zu sein. Eigentlich konnte sie froh sein, nur in einer Unterkunft gefangen zu sein. Ginge es nach Kommandeur Viturin, säße sie wahrscheinlich in einem Gefängnis; denn dass Sari in Gesellschaft von Dämonen war, fand er äußerst suspekt. Der Halbengel auch, doch schien er lockerer damit umzugehen. Sari vermutete, dass er erst seit kurzem ein Lichtsoldat war und darum noch keinen so bürokratischen Charakter wie der Kommandeur entwickelt hatte. Wahrscheinlich war er nicht einmal der ernste Geselle, für den er sich ausgab – das musste Sari allerdings erst überprüfen. Als sie im Zimmer umher sah, erblickte sie nur wenige persönliche Gegenstände: ein Buch über Sagen auf dem Kissen, eine Schatulle auf der Kommode und ein paar Kleiderstücke im Schrank. Eine Schatulle...? Die Augenbrauen der Frau zogen sich kurz zusammen; ihre Neugier war so groß, dass sie sich sofort vom Bett erhob und mit leisen Schritten auf die Kommode zuging. In dieser fortgeschrittenen Langeweile hätte sich bestimmt jeder so verhalten. Zögernd stand sie vor dem verzierten, kleinen Holzkästchen. Sie blickte um sich und lauschte, ob ihr Aufpasser in der Nähe war. Als Sari die Luft für rein hielt, fasste sie schmunzelnd nach dem ungesicherten Schlösschen – mit nur zwei Handgriffen war die Schatulle offen. Vorsichtig hob sie den Deckel an... „Was machst du da?“, und knallte das Kästchen, höchst erschrocken, wieder zu. „Gar nichts!“, sie drehte sich blitzartig zu dem in ein Handtuch gewickelten Halbengel um. Seine Haare waren durch die Nässe dunkelblond verfärbt. Über Saris Reaktion zog er nur kurz die Mundwinkel nach oben; er ging zum Kleiderschrank, sodass es die junge Frau für besser hielt, sich während ihrer Verteidigung erneut umzudrehen. „E-ehrlich, ich habe nichts gesehen! Äh- i- ich meine in der Schatulle – nein! Ich meinte-“, sie klatschte sich ihre Hände vor das Gesicht. Tief Luft geholt, begann sie noch einmal von vorne: „Ja... ich war neugierig. Aber in dieser langweiligen Bude verständlich. Ich meine – wie kannst du so überhaupt leben? ...Huh?“
Sie nahm etwas Abstand nach links, als der Lichtsoldat neben ihr nach dem Holzkästchen griff – und für Sari den Deckel hob. Erstaunt und doch etwas enttäuscht, blickte sie auf eine kleine Stoffpuppe. Ihre Augen bestanden aus schwarzen Knöpfen, während auf dem runden Kopf viele, einzelne rote Fäden als Haare eingenäht waren. Das kleine Stoffkleidchen war violett, genau wie die Sandalen.
Der Halbengel kam schnell zur Erklärung, während er sein weißes Hemd zuknöpfte: „Sie gehörte meiner Schwester...“ „Gehörte...?“, Sari blinzelte, hielt es aber für besser, vorläufig nicht weiter zu fragen; sein Kopf hatte sich gesenkt, mit einem sehr nachdenklichen Blick. Erst nach einer Pause seinerseits war ein tiefer Seufzer zu hören, ehe er sich, mit der Puppe in der Hand, auf die Kante des Bettes setzte. Sari blieb stehen und äugte mehr oder minder unbemerkt zu ihm hinüber. „Du weißt also nicht, wer du bist.“, seine Feststellung kam wieder sehr unerwartet. „Huh?“ „Das hattest du gesagt. Als Verteidigung, dass du nicht zu den Dämonen gehörst.“ „So ist es auch! Ich bin in einem Wald aufgewacht! Überall lagen Laub und Dreck und mein Kopf hämmerte so intensiv, dass ich kurz Luft schnappen musste, ehe ich mich zu einem See schleppen konnte und mich dort dank des Spiegelbildes an meinen Namen erinnern konnte-“ „Nicht so schnell-“, er schmunzelte ihr zu, „Man versteht fast kein Wort. Also, wie heißt du?“ War das eine Masche, um ihr Vertrauen zu gewinnen? Wollte er so die vom Kommandeur befohlenen Informationen aus ihr heraus locken? Es war Sari egal. Sie freute sich, dass ihr endlich ein wenig Höflichkeit entgegen gebracht wurde: „Sari.“ „Sari? ...Und weiter?“ „Nichts weiter. Ich kann mich nur an den Namen Sari erinnern...“ „Ein sehr kurzer Name... bist du dir sicher, dass er keine Abkürzung ist?“
„...Ich weiß es nicht. Uhm...Wie ist denn dein Name?“ „Lyze. Lyze Nosheiru [Leis Noscheiru].“ Saris Blick wurde trockener. „Und dein Name ist länger als meiner?“ Er schmunzelte darauf: „Nur der Nachname.“
„Hm.“, die junge Frau starrte auf ihre Füße. War er nun wirklich freundlich? Oder war alles nur gespielt? Kurz dachte sie darüber nach, wie Lyze vor Piov gestanden ist und es nicht fertig gebracht hatte, ihn zu erschlagen. Er hatte sich dadurch in Gefahr gebracht... allein seine gute Reaktion hatte ihn gerettet. Das konnte nicht gespielt sein. Das war... Mitleid.
„Woran denkst du?“
Sari sah bei seiner Frage zu ihm auf – und lächelte. „Ach, nichts... ich frage mich nur... na ja. Als du vor-“, sie stoppte, bei dem Gedanken daran, dass es verdächtig wäre, Piovs Namen zu kennen, „Als du die Gelegenheit hattest, den großen Dämon zu töten und es nicht getan hast... hattest du da Mitleid?“
Sein freundliches Gesicht verzog sich schlagartig: „Ich hatte kein Mitleid. Nicht mit einem Dämon.“
„Nein, natürlich nicht.“, Sari klang sarkastisch, auch, wenn sie ihn eigentlich beruhigen wollte. „Du hast deinem Engelsfreund den Vortritt gelassen, damit er den Lohn einsacken kann. Sehr freundlich von dir!“
„Was soll das denn heißen?“
„Du hattest Mitleid.“
„Nein!“
„Ok – dann Fall Nummer zwei: du hast noch nie etwas getötet.“
„Ich habe schon oft getötet!“, er senkte den Blick, „...Nur noch nichts Intelligentes...“, dann schüttelte der den Kopf, „Und Viturin ist auf keinen Fall ein Freund! Ein kalter, rücksichtsloser Vorgesetzter, der nicht einmal-!“ Nun sah Sari auf – hatte sie gerade einen wunden Punkt getroffen?
Lyze griff sich auf die Nasenwurzel und kniff seine blauen Augen zusammen. Nach einem Moment der Überlegung sah er wieder zu Sari: „Hier geht es nicht um mich. Was hatten die Dämonen mit dir vor?“
Da war er: der eigentliche Grund der Unterhaltung. Doch wusste Sari es nicht. Nicht im geringsten. Die Dämonen hatten es ihr nicht verraten. Aber das wusste der Halbengel wiederum nicht. So schmunzelte sie und drehte den Spieß um: „Ich sage dir erst, was ich weiß, wenn du mir verrätst, was für Probleme du mit deinem Vorgesetzten hast.“
Lyze blinzelte. „Wie bitte?“ Arme verschränkt ging sie ein wenig durch den Raum: „Ganz einfach: Du scheinst unverarbeitete Probleme zu haben. Klar – das geht mich nichts an. Aber meine Probleme gehen auch niemanden etwas an, oder? Laut diesem Bürokraten-Müll scheinbar doch, weil meine Entführer in euer Revier gestolpert sind. Aber du, als junger, neuer, Halb-Dings, scheinst zu verstehen, dass da ein bisschen mehr dahinter steckt, als nur der Gewinn von Informationen.“
Ein bisschen mehr...? Lyzes Miene verzog sich zu einem trockenen Lächeln: „Oder ich sperre dich in eine Arrestzelle, bis du dich entscheidest, zu reden.“
„Ja~“, Sari trat zu ihm und hob den Zeigefinger, „A~ber das wirst du nicht. Dafür hast du bereits zu viel über deinen Charakter verraten.“
Nun sah er sie mit gesenkten, starren Blick an. Für eine Frau ohne Erinnerungen hatte sie enorme Menschenkenntnisse. Vielleicht hatte sie es genau auf diesem Weg geschafft, bei den drei Dämonen zu überleben – er sah auf ihr Pflaster im Gesicht – ...oder auch nicht. „Einverstanden.“ „Was, wirklich?“ „Ja, in Ordnung.“, er klopfte neben sich auf das Bett, „Ich werde dich nach deiner Entlassung vermutlich nie wieder sehen – daher ist es egal. Hauptsache, es beschleunigt den Informationsaustausch.“
Als sich Sari setzte, sah sie etwas enttäuscht aus. Doch schon im nächsten Moment lächelte sie: „Es ist sehr gut, über seine Probleme zu reden! Je öfter, desto besser.“
„Wo hast du denn das her?“
„Keine Ahnung.“
„Uhm...“, Lyze sah zur Puppe in seinen Händen., „Es- es war vor knapp drei Wochen. Ein Brief mit dem Siegel der Engelsherrscherin, Alaphantasa [Ala-fan-ta-sa], lag vor meiner Tür.“, seine Mimik deutete einen gewissen Spott an, „Darin hieß es 'ich habe die Ehre, der Lichtarmee beizutreten und für mein Volk zu kämpfen'. Jeglicher Widerstand hätte mit dem Kriegsgericht bestraft werden können.“
„Oh, aber du hast die 'Ehre'.“
„War das ebenso Sarkasmus?“
„Nein, wie kommst du darauf?“, sie blickte, mit verdrehten Kopf, in Lyzes Gesicht – er lehnte sich daraufhin ein wenig von ihr weg – „Du kommst also nicht von hier?“
„W-wie meinen?“
„Du wohnst eigentlich auf dem Boden, oder?“
„Eh- j-ja. Im Haus meines verstorbenen Vaters... wie du bereits weißt, bin ich nur zur Hälfte Engel... viel mehr Mensch. Das ändert aber nichts daran, dass man für 'sein Volk' in den Krieg ziehen darf.“
„Wie schlimm... jetzt verstehe ich, wieso du die Engel nicht magst. Aber das erklärt auch dein Verhalten.“
„Deute nicht zu schnell... neun Tage vor meinem Einzug stand ein blondes Mädchen vor dem Haus... sie behauptete, meine kleine Schwester zu sein.“, er sah zur Puppe, „Ich erkannte an ihrem Gesicht, an ihrer Art... dass es stimmen musste. Aira, wie sie hieß, schöpfte verdacht, nicht die leibliche Tochter ihrer Zieheltern zu sein. Sie empfanden sie als Zehnjährige für reif genug, es zu erfahren.“
„Du wusstest nichts von ihr...? Aber wieso?“
„Das wussten wir beide nicht. Die Zieheltern erzählten ihr nur, 'es wäre zu ihrer eigenen Sicherheit'...“ Ein tiefer Seufzer war zu hören. Lyze hatte den Kopf gesenkt und schüttelte ihn sacht: „Im Nachhinein verständlich... ich... ich musste zu den Engeln und Aira konnte natürlich nicht mit. So schickte ich sie nach Hause, zu ihrer Ziehfamilie im nahen Dorf... dann erreichte uns die Nachricht, dass ihre Heimat über Nacht angegriffen wurde. Dämonen waren eingefallen und-“
„I-ist sie...?“
„Das weiß ich nicht. Damit die Dämonen das Dorf nicht besetzt hielten, bekam unser Trupp den Auftrag, es zu sichern. Wir entdeckten viele Tote, aber auch traumatisierte Überlebende. Viele davon waren Eltern und klagten, dass ihr Kind fehle.“
„Sie... sie wurde entführt!? Dann ist eine Entführung durch Dämonen doch nicht so selten-!“
„Doch. Denn sie sind hinter einem Mythos her, wie es heißt. Er besagt, es soll ein Kind geben, welches von Geburt an allwissend ist.“, er schmunzelte, „Aira war das als Zehnjährige nun wirklich nicht... und trotzdem ist sie fort.“
„Und wie-?“ „Warte. Das Beste kommt noch: Der Fall der verschwundenen Kinder wird von den Engeln nicht näher untersucht. Es- es 'sei nicht wichtig genug', heißt es-“, man merkte, wie schwer Lyze diese Worte fielen. Er stockte mehrmals, ehe seine Stimme lauter wurde: „Wie kann das nicht wichtig sein!? Es sind Kinder....!“
Nun hatte Sari traurig den Kopf gesenkt. Lyze empfand den Fall selbstverständlich als sehr, sehr wichtig... doch die Engel interessierten sich nicht dafür. Sei es, weil es Menschenkinder waren, oder keine Dämonen mehr in dem von ihnen gesicherten Gebiet auffindbar waren. Bei dem Gedanken daran, dass der Fall bürokratisch abgehakt und beendet war, ballten sich ihre Fäuste: „...Was für Schweine.“
„...Ja.“
„Dann verlass deinen Dienst – geh deine Schwester selbst suchen!“
„So einfach ist das nicht... ich muss dienen, bis es von ganz oben heißt, dass ich gehen darf. Und das... wird leider dauern, bis der Krieg endet.“, er wischte sich tief seufzend über die Stirn. „Und außerdem könnte sie überall sein. Vielleicht sogar hinter der Grenze, in Azamuth.“
Ein Gefühl stieg in Sari hoch. Sie wusste nicht, was es war, doch zog sie bedenklich ihre Augenbrauen zusammen und griff sich auf die Seite der Brust, unter der ihr Herz lag. Nach einer nachdenklichen Pause begann Lyze wieder zu reden: „Ich meine, immerhin ist es nicht-“ – als Sari sich mit schmerzverzerrten Gesicht zusammenkrümmte.
„Azamuth...“, hallte eine männliche Stimme in ihr. „Azamuth...“
„Sari-“, der Halbengel schwieg beim Anblick der geplagten Frau. Er stand auf und blickte mit geneigtem Kopf in ihr Gesicht: „Sari, was ist mit dir?“ Als er keine Rückmeldung erhielt, legte er eine Hand auf ihre rechte Schulter.
Die helle, männliche Stimme von eben fuhr mit der Intensität eines Hirnschlags in ihren Kopf: „Vilior... [Wilior]“ – sodass die Frau vor Schmerzen aufschrie und sich nicht mehr auf dem Bett halten konnte. „Vilior...!“ Diese Stimme... diese Stimme soll aufhören! Sari lag auf dem Boden und hielt ihren hämmernden Schädel, als Lyze zeitgleich zur Tür lief, diese aufriss und quer über den leeren Gang rief: „Wir brauchen einen Arzt! Einen Arzt, schnell!“
Doch niemand schien ihn zu hören. Richtig – es war Mittag und die Lichtsoldaten nahmen ihre wohlverdiente Speise ein. So sah er zurück, zur jungen Frau. Schließlich entschied er sich, selbst Hilfe zu suchen – „Lyze- warte!“ – und blieb bei Saris Stimme überrascht beim Ausgang des Raumes stehen. Geschwächt stützte sich die junge Frau auf; nur mit Mühe konnte sie sich gekrümmt aufsetzen. Ihre Hand wich vom Kopf, ehe sie erschöpft zu Lyze sah: „Es... es geht wieder... Alles okay.“
„Was-“, dem Halbengel hatte sie einen ordentlichen Schrecken eingejagt, „Was war das eben!?“
„Ich... habe mich an etwas erinnert. Diese Schmerzen... das passiert anscheinend immer dabei.“ Bei ihrem Satz weiteten sich Lyzes Augen: Wirklich jedes Mal? Sari war um ihre Probleme nicht zu beneiden. Und doch war der Halbengel neugierig darauf zu erfahren, woran sie sich wieder erinnern konnte. Eventuell war es wichtig – für die Engel.
Er kehrte aus seinen Gedanken zurück, als Sari es schaffte, sich aufzusetzen und gegen den Bettpfosten zu lehnen: „ Ich habe keine Ahnung, wieso das so ist...“
Nun traute er sich näher: „Geht es dir wieder gut...?“
„Ja...“, sie senkte den Kopf, „Nur... ich glaube, du wirst mich gleich hassen.“
Seine Augenbrauen zogen sich zusammen. Lyze verstand nicht, was sie damit sagen wollte... und so ging er neben ihr in die Hocke: „Wieso sollte ich dich plötzlich hassen...?“ „Wegen meinem Wissen.“ Dann war es gefährlich? Oder hatte sie tatsächlich etwas mit den Dämonen zu tun? Noch ehe er fragen konnte, hob sie ihm den Zeigefinger entgegen: „Verspreche... dass du den Engeln nichts davon sagen wirst... bitte.“ „Was-? Aber, ich-“ „Versprich es! Sonst erzähle ich es dir nicht.“ Lyze hatte in die Engel genauso viel vertrauen, wie in einen wildfremden Landstreicher, der auf seine Tasche aufpassen wollte. Denn auch, wenn er ihren Befehlen unterlag, blieb er immer etwas mehr Mensch als Engel. So fiel es ihm nicht schwer, schnell darüber zu entscheiden: „Also gut... in Ordnung. Ich verspreche es.“
Sari zog schüchtern ihre Schultern an. Erst nachdem sie ihre Augen zusammengekniffen hatte und anschließend tief Luft holte, platzte es aus ihr heraus: „Der Prinz von Azamuth wurde entführt und ich muss ihn suchen! Die Dämonen wollten mich wahrscheinlich fangen, weil sie nicht wollen, dass er gefunden wird!“
Das musste der Halbengel erst einmal verdauen. Er brauchte volle dreißig Sekunden, ehe er verwirrt blinzelte. „...Was?“
„Sein Vater, König Halwadar [Hal-wa-dar], hat den Krieg begonnen. Nur Prinz Vilior kann ihn beenden... darum muss ich ihn finden! Ich-“, sie überlegte, doch mehr wollte ihr nicht einfallen. „Ich weiß nicht, wer mir den Auftrag gab... ich weiß es einfach nicht. Aber ich muss ihn finden. Damit der Krieg ein Ende findet.“
Ok. Nun war für Lyze amtlich: Die junge Menschenfrau tickte nicht richtig. So kam er erstmals hoch, zurück auf seine Beine. Anschließend legte er eine Hand in den Nacken und wanderte durch den Raum. Als er eine Runde gedreht hatte, stand er mit gerunzelter Stirn wieder vor Sari: „...Du musst den Prinzen suchen?“
Sie nickte.
„Den Prinzen... vom dämonischen Land, Azamuth, ja?“ Sie nickte erneut. „Dir ist klar, dass die Adelsfamilie von Azamuth aus Vampiren besteht?“ „Lyze... hör zu, ich-“ „Nein... Nein, das- das kannst du vergessen!“, er trat eilig zur Tür und schwang diese auf, „Entweder bist du eine durchgeknallte Menschenfrau, oder ein völlig selbstmordgefährdeter Dämon-!“ „Du hast es versprochen!“ – Saris feste Stimme hallte, ehe er die Hand von der Türklinke nehmen und aus dem Raum treten konnte – und so zögerte er. Er brach nur ungern ein Versprechen, doch genauso hatte er ein Problem damit, seinem Vorgesetzten überaus wichtige Informationen vorzuenthalten. So verharrte er, wie angewurzelt, an seiner Position. Er konnte nicht. Seine Beine wollten nicht den ersten Schritt zu Kommandeur Viturin machen. „Lyze... mal ehrlich, seh' ich aus wie ein Dämon? Kann man mein Verhalten überhaupt vorspielen? Du hast mir deine Probleme anvertraut... und ich dir jetzt meine. Bitte... verrate mich nicht. Dann- dann halte mich eben für durchgeknallt, das macht mir nichts aus... aber... aber lass mich wenigstens gehen! Ich spüre, dass mir die Zeit davonläuft...“ Seine Hand ruhte immer noch auf der Türklinke. Sollte er seine Befehle verweigern? Eine fremde Frau gehen lassen, damit sie einen der größten Feinde der Engel suchen konnte? Was wäre, wenn der Prinz nach seiner Rückkehr nicht Frieden zwischen Azamuth und Desteral schloss, sondern alles verschlimmerte? Und doch spürte Lyze ein starkes, noch nie dagewesenes Bauchgefühl. Es drängte ihn, eine Entscheidung zu fällen. Die für ihn Richtige. Schwer seufzte er, als seine Hand nun endgültig von der Klinke glitt. Zeitgleich hielt sich Sari eine Hand an die Stirn. Sie wusste, dass es für sie nicht gut aussah, wenn sich ihr Aufpasser nicht überreden ließ. „Ich weiß nicht, was weiter passiert, wenn die Engel das erfahren, aber-“
„Du willst es nicht wissen.“, in seiner Entscheidung nun sicher, trat er zurück zu Sari, „Ob Wahrheit oder nicht. Den Boden Desterals würdest du mit Sicherheit nicht so schnell wieder betreten können.“, und bot seine Hand zum Aufstehen an. Von Lyzes Art und ihren verborgenen, manipulativen Fähigkeiten erstaunt, griff die junge Frau wortlos nach ihr und ließ sich hoch helfen. „Du weißt hoffentlich, Sari, dass ich dafür vor das Kriegsgericht gestellt werden kann...?“
„Für was?“ „Dass ich dich laufen lasse.“
„Wirklich!? Oh danke!“, sie drückte ihn vor Begeisterung, „Du bist der tollste Halb-Dings überhaupt! Danke, danke, danke!“ „I-ist gut-“, gespalten durch eine Mischung aus Freude und peinlichem berührt Sein, befreite er sich aus ihrem Griff. „Folge mir nach draußen, aber unauffällig... als wären wir mit den Informationen auf dem Weg zum Kommandeur.“ Sari nickte darauf eilig und kam ihm sogleich nach. Niemals hätte sie gedacht, hier einen Freund zu finden. Einen, der sie trotz ihres schon fast verbrecherischen Wissens laufen ließ. Wer weiß, welche Gründe Lyze für seine Entscheidung hatte? Es war fraglich, ob tatsächlich nur das Ärgernis über die Engel den Auslöser dafür bildete.
Vor dem Gebäude, in dem die Lichtsoldaten einquartiert waren, blieben Sari und ihr Aufpasser stehen. Schon bei Ihrer Ankunft hatte sie das gewollt. Sich alles in Ruhe ansehen – denn was für Lyze selbstverständlich war, war Sari völlig fremd: mit Blumenkränzen verzierte Laternen, die nur mithilfe von Lichtmagie im Inneren erstrahlten. Weißer Rasen, als wäre der Boden mit Schnee bedeckt. Die Wege mit weißem Marmor gepflastert, hier und da ein Zierspringbrunnen mit klarem, blauen Wasser. Blickte man gen Himmel, kreisten die Wolken oberhalb einer mit Gold verzierten Glaskuppel. Abgesehen davon, dass Engel echte Spießer waren, war ihr Zuhause wunderschön. Wir würden sagen: es kam dem griechischen Baustil ähnlich. Doch es war keine Zeit, sich alles im Detail anzusehen – Lyze berührte die Frau an der Schulter, um sie darauf hinzuweisen, dass sie leider weitergehen mussten. Allerdings begann er, bei Saris enttäuschten Blick, nach einem Seufzer über das Reich der Engel zu erzählen:
Die Geschichte der Engel reichte weiter zurück, als die der menschlichen Einwohner Desterals. Bereits zu Zeiten der ersten Besiedelung lebten sie auf ihren fliegenden Inseln und blickten hinab, auf die abergläubischen Ureinwohner. Schon damals waren die Inseln vor den fliegenden Bestien Azamuths, mit denen die Engel stets im Zwist waren, durch gewaltige Kuppeln aus Glas geschützt. Im Laufe der nächsten Jahrzehnte zierte ein goldener Reif den durchsichtigen Schutz, dessen Erscheinungsbild sich mit der Zeit wandelte. Verzierungen und Gravuren großer Lichtkrieger kamen hinzu. Der Halbengel war sich nicht sicher, doch vermutete er, dass diese zur Abschreckung von Eindringlingen dienen sollten.
Auf den schwebenden Inseln gab es keine frei wachsenden Blumen; der Boden hatte seine eigene, mineralisch anders zusammengesetzte Erde. Darum war es bis heute stets etwas Besonderes, wenn ein Engel seiner angebeteten Dame eine Blume schenkte. Anders als das Volk, war es dem Adel nicht erlaubt, zu ehelichen, wen man wollte. Zwar wurde es auch unter den Engeln nicht gerne gesehen, wenn ihresgleichen eine Vermählung mit einem Menschen vom Boden eingingen, doch standen den Herrschern nur die stärksten, schönsten und klügsten Engel der Oberschicht zur Auswahl. Dieser Brauch war fest in der Kultur verankert. Momentan regierte Herrscherin Alaphantasa allein im stattlichen Regierungsgebäude. Sie war bald siebenundzwanzig Jahre alt und damit überreif für ihre Vermählung. Bis jetzt hatte sie sich nicht für einen Herrscher an ihrer Seite entschieden und so fiel die zwanghafte Auswahl des Mannes in spätestens drei Jahren den Beratern zu. Vielleicht war auch das der Grund, weshalb sich Kommandeur Viturin so bemühte, positiv aufzufallen. Lyze kam als Halbengel nie auch nur als Konkurrenz in Frage. „Das Regierungsgebäude befindet sich am Ende dieser Stufen.“, dabei zeigte er auf die enorm breiten Marmorstufen, die einen langen, flachen Weg den bebauten Hügel hinauf bildeten. Jeweils gespiegelt links und rechts am Ende, standen sich stattliche Engelsstatuen gegenüber. Am Ende der Stufen wartete ein hoher, gusseiserner Zaun mit Torbogen. Dieser war schwer bewacht von abwechselnd vier Lichtsoldaten. Auch standen ranghöhere Engel stets an der Seite der Herrscherin. Nur wenn sie es mit Nachdruck verlangte, war sie für sich alleine.
Bei ihrem Gang durch das Dorf, drehte Sari dem Regierungsgebäude den Kopf nach: „...Denkst du, die Menschen haben auch eine Herrscherin?“ Bei ihrer Frage musste Lyze erst überlegen. Desteral war unter vielen adeligen Häusern aufgeteilt und daher wurde jedes größere Dorf anders regiert. So zuckte er mit den Achseln: „Es gibt sehr viele Herrscher unter den Menschen... das ist auch der Grund, weshalb es Desteral so schwer fällt, sich alleine gegen Azamuth zu behaupten: viele Reiche sind seit Langem wegen unzähliger Kämpfe um Territorien zerstritten. Es würde ihnen bestimmt nicht schaden, hätten sie einen gemeinsamen Herrscher...“, er rieb sich das Kinn, „War das nicht sogar einmal der Fall? Ich bin nicht so gut in Geschichte.“
„Ach? Und mit Glaskuppeln und Ureinwohnern kennst du dich aus?“
„Lichtsoldaten müssen einen Test schreiben, ehe sie für diensttauglich befunden werden...“
„Na dann bist du selbst Schuld – wenn du den Test versaut hättest, wärst du nicht genommen worden und könntest deine Schwester suchen-“ „Nein.“ „Nein?“ „Wer den Test nicht schafft, schreibt ihn noch einmal. So lange, bis er ihn schafft. Und glaube mir: ewig in einer Schleife zu sitzen macht kein Spaß.“
„Oh... schon ausprobiert, heh?“
„Nur ein Mal...“ Der Halbengel blieb unerwartet mitten auf dem Marmorweg stehen, sodass Sari fast in ihm hinein gelaufen wäre. Verärgert blickte sie an ihm vorbei, um den Grund für die plötzliche Pause zu sehen: der Kommandeur!
„Nosheiru... wohin des Weges?“, dabei sah Viturin zu Sari. Als Lyze keine sofortige Antwort gab, trat er näher und deutete – nur ein wenig prahlend – auf sein neues, goldenes Abzeichen. „Nebenbei, ausgezeichnete Arbeit. Die Information konnte einen geplanten Angriff der Dämonen aufdecken. Ein Trupp wurde ausgeschickt, der diese kopflosen Bestien aus dem Hinterhalt überrannte. Für meine glorreiche Führung wurde ich zum Kommandeur zweiten Ranges befördert. Ab sofort übernimmt ein anderer Soldat meine Position des überwachten Gebietes.“, er grinste, „Herzlichen Dank. Um meine Wertschätzung zu zeigen, werde ich eurem Gebiet einen hervorragenden Kommandeur unter mir zuteilen.“
In Sari schnellte die Wut hoch: wie konnte dieser Mann mit dem Erfolg der Informationen prahlen, die eigentlich von ihr stammten? Noch dazu, wo Lyze die ganze Arbeit hatte? Sie pustete Luft durch ihre Nasenlöcher, als wäre sie ein wütender Stier, kurz vor dem Angriff. Als sie zusätzlich ihre Backen aufblähte, hielt sie sich anschließend ihre schmerzende Wunde unterhalb des Pflasters. Eigentlich müsste Lyze noch viel wütender sein. Sari war sowieso der Meinung, dass er an der Stelle stehen sollte, wo Kommandeur Viturin stand. Doch zeigte dieser Vorfall dem Halbengel auch, was weitere Informationen von Sari, dem azamuthischen Prinzen und dem Krieg bewirkten: eine rasant aufsteigende Karriere seines Vorgesetzten. So ballte er zwar eine Faust, lächelte aber freundlich: „Ich gratuliere Euch. Ihr werdet Eure neue Aufgabe mit Sicherheit meistern.“ „Selbstverständlich werde ich das.“, musternd blickte er erneut zwischen Sari und Lyze hin und her. „Nun, wohin führt der Weg?“ „Ich bringe sie auf den Boden zurück.“, Lyze konnte richtig ernst und kalt aussehen, „Sie besitzt keinerlei weiteren Informationen.“ So wirklich konnte ihm Viturin dennoch nicht glauben: „Nosheiru?“, er deutete mit dem Kopf in eine Richtung, „Könnte ich Euch kurz unter vier Augen sprechen?“ – wohlgemerkt, was wie eine Frage klang, war ein Befehl. So nickte der Halbengel und folgte seinem Vorgesetzten. Dabei drehte er sich während des Gehens zu Sari um: „Bleib wo du bist – rühr' dich nicht vom Fleck.“ „Eh-“, sie hob die Schultern. Wusste sie doch nicht im Geringsten, wohin sie hätte gehen sollen. „Klar, mach ich.“
Weiter abseits der Hauptstraße waren beide Engel stehen geblieben. Kommandeur Viturin ergriff Lyze am Oberarm, ehe er zu sprechen begann: „Soldat... meine Anweisungen an Euch waren hoffentlich klar: Überwachung der mit den Dämonen aufgefundenen Frau.“ „Exakt. Solange, bis alles über sie in Erfahrung gebracht wurde.“ „Und... habt Ihr alles über sie in Erfahrung gebracht?“ Er nickte: „Gewiss.“
Mit einer Handbewegung deutete der Ranghöhere an, dass er weitersprechen soll. Lyze verschwieg, dass Sari jegliche Erinnerungen verloren hatte, da er befürchtete, dass dem Kommandeur die hervorragende Idee kommen könnte, sie so lange fest zu halten, bis ihre Erinnerungen wiedergekehrt waren.