Der Rächer - Tony Kent - E-Book

Der Rächer E-Book

Tony Kent

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Beschreibung

Ein tödliches Geheimnis. Ein eiskalter Plan. Eine Vergangeheit, der du nicht entkommen kannst.

Der grausame Mord an einem pensionierten Richter, der in seinem Schlafzimmer gefoltert und gekreuzigt wurde, erschüttert London. Detective Chief Inspector Joelle Levy steht vor einer Vielzahl von Verdächtigen aus der langen Karriere des Richters — bis plötzlich ein Ex-Anwalt auf ähnliche Weise getötet wird. Was genau verbindet die beiden Opfer? Gleichzeitig beginnt die ambitionierte Reporterin Sarah Truman zu ermitteln und stellt mit Entsetzen fest, dass die Spur direkt zu ihrem Verlobten, dem Staranwalt Michael Devlin, führt. Liegt der Schlüssel zur Lösung des Falls in seiner Vergangenheit? Ein Wettlauf gegen die Zeit beginnt: Zusammen mit DCI Levy und Sarah versucht Michael, einen geisteskranken Serienkiller zu stoppen, bevor es zu spät ist ...

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Seitenzahl: 702

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DASBUCH

Ihr Beobachter hatte nie an Schicksal oder an irgendeine andere lenkende Macht geglaubt als an die seines Willens. Diese Gewissheit war nie erschüttert worden, und das wurde sie auch jetzt nicht, als der Blick seiner hellen, blassen Augen so unerwartet auf Michael Devlin fiel. Er hatte sich immer gefragt, ob er Michael Devlin jemals wiedersehen würde. Nun, die Frage war beantwortet. Doch würde Michael Devlin ihn jemals sehen? Er hatte sich noch nicht entschieden.

Wie auch die Polizei vermutet die Journalistin Sarah Truman, dass die Ermordung des Richters Longman mit einem in der Vergangenheit liegenden Prozess zu tun haben muss. Aber hat der Täter damit sein Ziel erreicht, oder könnte er noch andere Opfer im Visier haben? Sarah ahnt nicht, wie nah er ihr bereits gekommen ist. Ihr und ihrem Verlobten, dem Strafverteidiger Michael Devlin …

DERAUTOR

Tony Kent studierte Jura in Schottland und arbeitet heute als Anwalt in London. Er ist regelmäßig im Old Bailey tätig und war Verteidiger und Ankläger in einigen spektakulären Strafprozessen. Nebenbei ist Kent erfolgreich als Autor und Boxer.

TONY KENT

DER

RÄCHER

THRILLER

Aus dem Englischen von

Wolfgang Thon

WILHELMHEYNEVERLAG

MÜNCHEN

Die Originalausgabe MARKEDFORDEATH erschien erstmals 2019 bei Elliot & Thompson, London

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

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Deutsche Erstausgabe 08/2021

Copyright © 2019 by Tony Kent

Copyright © 2021 der deutschsprachigen Ausgabe

by Wilhelm Heyne Verlag, München,

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Str. 28, 81673 München

Redaktion: Lars Zwickies

Umschlaggestaltung: Cornelia Niere, München,

unter Verwendung eines Motivs von

© Arcangel Images (Collaboration JS),

Shutterstock (Evannovostro, kenopictures, S. Borisov)

und Gettyimages (David Cabrera)

Satz: Leingärtner, Nabburg

e-ISBN: 978-3-641-24208-4V001

www.heyne.de

Für Victoria und Joseph

Ihr habt alles vollkommen gemacht

1

Phillip Longman wurde von dem Geräusch des splitternden Glases nicht geweckt, denn dafür hätte er schlafen müssen. Schlaf jedoch schien sein alter Körper nicht mehr zu benötigen.

Von einem verstärkten Abschnitt der Decke über seinem Bett hing eine Metallstange herab. Longman packte sie und klammerte sich mit seinen schwachen Händen daran fest, so gut er konnte. Mit aller Kraft gelang es ihm, sich hochzuziehen. Die Matratze folgte ihm, da das Bett so konstruiert war, dass sie ihn stützte, sobald seine Kraft ihn verließ. Longman war ein stolzer Mann. Viel zu stolz, um sich von einem mechanischen Bett hochheben zu lassen. Und auch zu stolz, um den Panikknopf zu drücken. Aber Stolz allein würde ihn nicht in die Senkrechte bringen. Das Bett war Longmans Konzession an den Verfall seines Körpers.

Sein angestrengtes Keuchen erfüllte den Raum. Grunzen. Stöhnen. Früher war Longman ein aktiver Mann gewesen. Selbst bis in seine Sechziger hinein hatte er sich aufgrund seiner Fitness von allen Altersgenossen unterschieden. Doch seine Sechziger hatte er schon lange hinter sich. Jetzt konnte er kaum noch aus dem Bett steigen.

Schließlich holte die Matratze ihn ein und drückte sich in Longmans Rücken, stützte den größten Teil seines Gewichts. Er ließ die Metallstange los, und Stille breitete sich wieder in dem Raum aus.

Longman lauschte angestrengt.

Das Geräusch war unverkennbar gewesen. Zerberstendes Glas erzeugte einen besonderen Klang, den er selbst mit seinem schlechten Gehör noch wahrnehmen konnte. Es war jedoch erheblich schwieriger, die Quelle genau zu identifizieren. War es das Geräusch eines heruntergefallenen Aschenbechers? Eines Weinglases? Oder eines zerbrochenen Fensters, das von einem ungebetenen Gast eingeschlagen worden war? Nicht, dass die eine Möglichkeit besser oder schlechter gewesen wäre als die andere. In einem Haus, das bis auf einen fünfundachtzigjährigen Witwer völlig leer war, stellte jedes dieser Geräusche einen Grund zur Sorge dar.

Longman lauschte weiter. Zunächst war da nichts. Jedenfalls nichts, was er hören konnte.

Das Haus war groß. Viel zu groß, jetzt, nachdem seine Frau gestorben und seine Kinder ausgezogen waren. Aber Longman hatte es nicht über sich gebracht, das Heim der Familie nach fünfzig Jahren zu verlassen. Er kannte es in- und auswendig.

Durch diese Vertrautheit wirkte das nächste Geräusch wie ein Alarmsignal. Das Knarren der ersten Stufe auf der Haupttreppe.

Dieses besondere Merkmal hatte das Haus schon seit Jahrzehnten. Tagsüber, wenn die Haushälterin da war, handelte es sich um das natürlichste Geräusch der Welt. Aber um drei Uhr nachts? Um diese Zeit war es Furcht einflößend.

Dem ersten Knarren folgte der Klang von Schritten, doch dieser wurde von den Lauten überdeckt, die entstanden, als Longman die Decke von seinen dürren Beinen zurückwarf. Die schlimme Arthritis zwang ihn dazu, seine Beine mit einer einzigen ruckartigen Bewegung aus dem Bett zu schwingen. Der Schmerz war entsetzlich. Er hatte sich seit fünf Jahren nicht mehr so schnell bewegt, und damals hatten seine Hüften noch ihren Dienst erfüllt. Er ignorierte jedoch die Qualen, stand auf und hielt sich mit einer Hand an dem Bettpfosten fest.

Er atmete schnell, und sein Herz pumpte wie verrückt. Doch Longman kämpfte sich weiter, stolperte zu dem eingebauten Wandschrank in der gegenüberliegenden Ecke des Zimmers. Zum ersten Mal seit Jahren bewältigte er diese Entfernung ohne Stock oder Gehhilfe. Als er die Tür erreichte, taumelte er vor Erschöpfung. Nur das Adrenalin hielt ihn aufrecht.

Er gewann sein Gleichgewicht zurück, packte den Griff der Schranktür, hielt inne und versuchte erneut zu lauschen. Nichts konnte den lauten Pulsschlag in seinem Ohr zum Schweigen bringen, ebenso wenig wie die Furcht, dass sein überlastetes Herz dieses Tempo nicht länger aushalten würde. Trotzdem war es ruhig genug, dass er die Schritte hörte.

Der Schrank öffnete sich problemlos. Longman verlagerte sein Gewicht vom Griff an den Rahmen, um die Tür an sich vorbeischwingen zu lassen. Sobald sie offen war, ging er in den Schrank. Er tastete im Dunkeln herum und fand den Lichtschalter. Er drückte ihn in dem Moment, als die Schritte vor dem Schlafzimmer verstummten.

Das Licht blendete ihn zuerst, aber Longmans Augen stellten sich rasch darauf ein. Doch was er sah, war all die Mühe nicht wert, und seine Hoffnung, die ihn bis hierher gebracht hatte, verpuffte mit einem einzigen Atemzug.

Was wollte ich hier auch finden?, fragte sich Longman. Was für eine verdammte Waffe wäre überhaupt nützlich?

Longman hörte nicht, wie die Tür geöffnet wurde, aber dieser ganz besondere sechste Sinn – das Gefühl, wenn sich jemand ungesehen nähert – war mit dem Alter nicht schwächer geworden. Er war nicht mehr allein im Schlafzimmer. Das wusste Longman, noch bevor er sich umdrehte.

»Sie?« Longmans Ausruf war mehr eine Anklage als ein Ausdruck des Schocks.

Es waren die Augen. Die kältesten Augen, die Longman jemals gesehen hatte. Er würde sie überall und jederzeit erkennen.

»Sie erinnern sich an mich.«

Die Antwort war eine schlichte Feststellung und wirkte ebenso bedrohlich wie der Sprecher. Ein geborenes, gefährliches Raubtier.

»Einige Dinge vergisst man nie.« Alles an dem Mann war immer noch genau so, wie Longman sich erinnerte. »Ebenso wenig wie manche Menschen.«

Das Raubtier verzog die Lippen zu einem Lächeln, aber seine hellen, blassen Augen blieben kalt. Es war ein triumphierendes Lächeln, kein freundliches.

»Das stimmt wohl.«

Der Mann kam näher. Langsam. Zielstrebig. Eine Viper, die die Entfernung zu ihrem Opfer verkürzte, um anzugreifen.

»Gut, dass Sie noch bei klarem Verstand sind«, sagte er. »Trotz Ihres Alters.«

»Was spielt das für eine Rolle?«

Der alte Mann klang trotzig. Diese hellen, mitleidslosen Augen hatten ihm verraten, welches Schicksal ihn erwartete. Aber er würde nicht auf die Knie gehen.

»Oh, das spielt durchaus eine Rolle.«

Zum ersten Mal kam Leben in die Stimme. Es war eine Reaktion auf Longmans trotzige Haltung. Aber sie klang dadurch kein bisschen wärmer.

»Denn es bedeutet, dass Sie jede Sekunde von dem, was Sie erwartet, fühlen werden.«

2

Michael Devlin stand mit freiem Oberkörper im Bad und wischte mit der Hand über den beschlagenen Spiegel. Eine Ansammlung von Narben überzog seine Haut. Erinnerungen an Verletzungen, die für Männer seines sogenannten »zivilisierten« Berufs selten waren. Es waren bleibende Erinnerungen an ein weit ereignisreicheres Leben, als er es hätte führen wollen.

Michael hielt seine Hände unter das heiße Wasser und spritzte es sich ins Gesicht. Die Narbe unter seiner linken Augenbraue brannte. Es war ein vertrautes Gefühl. Noch eine alte Wunde.

Einige Minuten später hatte er sich fertig rasiert. Er tauchte seinen Kopf in eiskaltes Wasser und beendete damit die Prozedur. Dieses wichtige Morgenritual machte ihn hellwach für den Tag, der vor ihm lag.

Nachdem er seine morgendliche Schläfrigkeit erfolgreich vertrieben hatte, trocknete er sich ab und zog sich an. Er entschied sich für einen maßgeschneiderten Nadelstreifenanzug mit Weste, der seinen durchtrainierten Körper betonte.

Michael war nicht eitel, aber er wusste um die Bedeutung der äußeren Erscheinung. Der erste Eindruck zählte.

Als er fertig war, ging er nach unten.

Das Schlafzimmer und das Bad seines Stadthauses in Chelsea lagen im zweiten Stock. Von dort führte eine Treppe nach oben zu den drei Gästezimmern und zu Michaels Büro im dritten Stock. Über eine weitere Treppe gelangte man nach unten zur großen Schlafzimmer-Suite im ersten Stock. Im Erdgeschoss lagen der Eingangsbereich sowie ein großes Wohnzimmer, das allerdings kaum bewohnt wurde, und eine luxuriös eingerichtete Küche.

In der Küche herrschte gerade rege Betriebsamkeit. Kaum war Michael durch die Tür getreten, hüllte ihn eine Dampfwolke ein, die sich von dem gusseisernen Herd am anderen Ende in der ganzen Küche verbreitete.

Michael ging rückwärts wieder hinaus und schüttelte lächelnd den Kopf, während er sein Jackett aufknöpfte und es dann abstreifte. Er hängte es auf einen Bügel im Flur, wo es vor den Küchengerüchen sicher war.

»Ich weiß, dass du da draußen bist, Michael Devlin!«

Sarah Trumans amerikanischer Akzent übertönte die britischen Stimmen aus dem Küchenradio.

»Schieb deinen Hintern hier rüber, und hol dir dein Frühstück ab.«

Michael betrat die Küche erneut, und sein Grinsen wurde breiter, als er das Chaos sah. Rauch quoll aus einer schweren Bratpfanne, in der schwarze Reste von etwas lagen, das wohl einmal Frühstücksschinken gewesen war. Etwas weniger dramatisch sah das Rührei aus, das bereits auf einem Teller lag. Und was brutzelte da so verdächtig in dem Topf mit den Baked Beans?

Ich frage wohl besser nicht nach, dachte Michael.

»Ein Kinderspiel wie immer, Schatz?«, scherzte er, trat hinter Sarah und schlang ihr einen Arm um die Taille.

»Ich habe heute Morgen keinen Sinn für Albernheiten, Michael.«

Sarah antwortete, ohne sich umzudrehen, und ignorierte Michael, der ihren Nacken küsste. Stattdessen griff sie nach dem Teller mit den Rühreiern, um den Rest des Frühstücks darauf zu schaufeln.

»Und jetzt setz dich an den Tisch.«

»Wie könnte ich das tun?« Michael nahm Sarah mit einer Hand den Teller ab, während er sprach. Dann hielt er ihn hoch, außerhalb ihrer Reichweite. Den anderen Arm hatte er immer noch um ihre Taille gelegt und zog sie an sich.

»Wo ich doch die schönste Frau von London direkt vor meiner Nase habe?«

»Ich lasse die Pfanne fallen!« Sarah lachte, als Michael ihren Rücken an seinen Körper presste. Dann drückte er seine frisch rasierte Haut in ihr Haar und küsste sanft ihren Nacken. Diesmal bekam er die Reaktion, die er gewollt hatte; Sarah drehte den Kopf und küsste ihn.

»Zufrieden?«, fragte sie, während sie den Kopf so weit zurückbog, wie sie konnte.

»So glücklich, wie ein Mann nur sein kann, während sein Haus brennt«, antwortete Michael lachend und ließ Sarah los.

»Du kannst mich mal, Devlin!« Sarahs Zorn war gut gespielt, aber Michael kaufte ihr die Verärgerung keine Sekunde lang ab. »So schlimm ist es überhaupt nicht!«

»Ist es nicht?« Michael lachte erneut, während er über ihre Schulter griff und die Abzugshaube über dem Herd auf Maximum stellte. »Ich war kurz davor, unsere Feuerdecke rauszukramen.«

»Willst du jetzt Frühstück oder nicht?«

Ehrliche Antwort? dachte Michael. Ein Blick in Sarahs strahlend grüne Augen hielt ihn davon ab, die Frage laut zu stellen.

»Ja, ja bitte«, sagte er stattdessen. »Entschuldigung.«

»Es gibt keinen Grund, sich zu entschuldigen.« Sarah klang, als wäre sie von ihrer eigenen Ungeduld enttäuscht. »Kochen ist eben nicht meine Stärke, und das ist frustrierend.«

»Das verstehe ich«, erwiderte Michael und stellte zwei Gläser mit frischem Orangensaft auf den Küchentisch, bevor er sich setzte. »Aber niemand ist in allem gut. Manchmal muss man seine Grenzen einfach akzeptieren.«

»Und das sagt der ehrgeizigste Mann auf diesem Planeten.« Sarah lachte, während sie die Teller füllte, auf den Tisch stellte und sich ebenfalls hinsetzte.

Michael beobachtete sie dabei und wunderte sich erneut darüber, in welche Richtung sich sein Leben entwickelt hatte. Er konnte kaum fassen, dass er seine perfekte Frau gefunden hatte – und dass sie ihn gefunden hatte.

Sie hatten sich vor knapp zwei Jahren unter extremen Umständen kennengelernt. Damals hatten sie eine Verbindung zueinander geknüpft, die seither immer stärker geworden war. Und aus einer anfänglichen Verliebtheit war etwas viel Größeres geworden. Hier war er nun, siebenunddreißig Jahre alt, mit einer achtundzwanzigjährigen Verlobten, die er anbetete.

Das war mehr, als Michael sich jemals erhofft hatte.

»Also, was liegt heute an?« Sarah spritzte Tabascosoße über ihr Frühstück.

»Das Wandsworth-Gefängnis«, antwortete Michael. Er nahm die Flasche und schüttelte etwas von der scharfen Soße auf seinen verkohlten Schinken. »Mein erstes Treffen mit Simon Kash.«

»Ist das dieser Junge von dem Mordprozess?«

»Ja.« Michael trank die Hälfte seines Orangensafts. »Eine üble Geschichte. Wann musst du los?«

»Nicht vor zehn, und ich bin erst am frühen Abend wieder zurück. Kümmerst du dich um das Abendessen?«

»Aber klar. Ich denke, ich komme gegen Mittag aus dem Gefängnis heraus, dann muss ich noch in die Kammer, aber ich werde wohl nicht allzu spät nach Hause kommen. Ich will allerdings noch mit Anne reden. Wenn ich mich recht erinnere, hat sie erwähnt, dass sie heute Abend kochen wollte.«

Keiner von beiden sprach, während sie ihr Frühstück beendeten. Michael schob verstohlen die am schlimmsten verkohlten Schinkenstücke zur Seite, und Sarah tat so, als bemerke sie es nicht.

»Sorgst du dafür, dass Anne aufsteht, bevor du gehst?«, fragte Michael, als ihre Teller leer waren. Er warf einen vielsagenden Blick zur Decke.

»Ich gehe zu ihr hoch, sobald du verschwunden bist«, antwortete Sarah.

»Danke. Und es tut mir leid, dass ich dir das zumute, ich …«

»Sie gehört zur Familie«, unterbrach Sarah ihn. »Das ist kein Problem.«

Michael ergriff sanft Sarahs Hand. Sie meinte, was sie sagte. Das wusste er. Und es machte ihre Antwort umso willkommener.

»Trotzdem danke.«

Sie sahen einander einige Augenblicke lang an, bis Michael schließlich auf seine Armbanduhr schaute. Als er sah, wie spät es war, stand er auf und drückte Sarah einen Kuss auf die Stirn.

»Es wird Zeit«, sagte er und schob seinen Stuhl wieder unter den Küchentisch. »Ich kann doch den jungen Mr. Kash nicht warten lassen, stimmt’s?«

3

Kathy Gray konnte sich aus vielerlei Gründen glücklich schätzen. Ihr Ehemann, mit dem sie seit dreißig Jahren verheiratet war, war einer davon. Sie hatten eine lange, glückliche und sehr komfortable Ehe geführt. Sie waren niemals reich gewesen, aber immer gut zurechtgekommen. Gemeinsam hatten sie weit mehr erreicht, als sich nur irgendwie über Wasser zu halten.

Ein weiterer Grund waren ihre Kinder. Vier davon, und alle waren höchst unterschiedlich. Der älteste Sohn, John, war Zimmermann wie sein Vater. Ein starker, moralischer Mensch mit einer eigenen, langsam wachsenden Familie. Dann kam Eric, ebenfalls ein Handwerker. Er hatte keine Frau und keine Kinder, aber er war glücklich und führte ein erfolgreiches Unternehmen. Katie war die dritte. Sie hatte jung geheiratet und ihr Leben ihren fünf Kindern gewidmet. Blieb noch Chris. Er war ihr Baby – ein Baby, aus dem ein exzellenter Chirurg geworden war. Der ganze Stolz seiner Mutter.

Und natürlich war da auch noch Kathys Arbeit, ihr anderes Leben. Sie stand jetzt seit fast vier Jahrzehnten im Dienst der Familie Longman. Mit Stolz hatte sie verfolgt, wie Phillip Longman in seinem Beruf unaufhaltsam aufstieg und sich im Ruhm sonnte, wenn sein Name in den Medien genannt wurde. Er war ein wichtiger Mann, ein großer Mann, und doch hatte er immer wieder die Zeit gefunden, seiner Haushälterin das Gefühl zu geben, gebraucht zu werden.

Für den Rest der Longman-Familie empfand Kathy dieselbe Zuneigung. Zum Beispiel für Phillips Frau Carol. Sie war ein wunderbarer Mensch gewesen, liebevoll und großzügig. Im stolzen Alter von achtzig Jahren war sie verstorben, und trotzdem schien sie viel zu früh gegangen zu sein. Und ebenso mochte sie die Longman-Kinder, Matthew, Russell und Peter. Sie alle waren schon fast erwachsen gewesen, als Kathy ihre Stellung in ihrem Haushalt angetreten hatte, aber jeder von ihnen hatte ihr so viel Respekt und Freundlichkeit entgegengebracht, dass sie ihr fast genauso ans Herz gewachsen waren wie ihre eigenen Kinder.

Es hatte sie sehr traurig gemacht zu sehen, wie sich die drei Jungen nach dem Tod ihrer Mutter von ihrem Vater entfremdet hatten. Manchmal hatte sie überlegt, ob sie nicht mit ihnen darüber sprechen, ihnen ihre Meinung dazu sagen sollte. Doch dazu war es nie gekommen. Ganz gleich, wie nah sie sich allen fühlte, sie gehörte eben nicht wirklich zur Familie.

Noch stärker als das hatte sie jedoch der körperliche und geistige Verfall von Longman in den letzten fünf Jahren mitgenommen. Kathy hatte miterlebt, wie seine frühere Willenskraft immer weiter nachließ, während er um seine verstorbene Frau trauerte. Es hatte sie geschmerzt, das mit anzusehen, und doch hatte Kathy nicht ein einziges Mal mit dem Gedanken gespielt zu kündigen, obwohl sie selbst ebenfalls in die Jahre kam. Das Gefühl der Verpflichtung, das sie der Familie Longman gegenüber empfand, war ihr fast ebenso wichtig wie die Verpflichtung, die sie vor Gott am Tag ihrer Hochzeit eingegangen war. Sie würde ihre Arbeit zu Ende führen.

Ihre morgendliche Routine hatte sich im Laufe der Jahre kaum verändert. Das Haus war jetzt zwar ruhiger, da es nur noch einen Bewohner gab, aber das machte keinen großen Unterschied. Wie an den meisten Tagen seit über drei Jahrzehnten schloss Kathy die schwere Eingangstür hinter sich und ging zunächst in die Küche. Sie füllte einen Kessel mit Wasser und stellte ihn auf den Ofen. Phillips Weigerung, einen elektrischen Herd zu installieren, mochte wie eine Schrulle wirken, aber tief in ihrem Inneren hing Kathy ebenfalls an den alten Gewohnheiten.

Sie drehte den Schalter des Gasofens auf und drückte ihn, um einen Funken zu erzeugen.

Nichts.

Kathy versuchte es erneut. Und noch einmal. Immer noch nichts.

Sie streckte die Hand aus, um zu überprüfen, ob Gas strömte und erkannte sofort das Problem; ein Luftstrom streifte ihre ausgestreckte Hand. Sie hatte ihn bis jetzt nicht bemerkt. Draußen war es kalt gewesen, als sie zur Arbeit gekommen war, und sie hatte sich noch nicht genug aufgewärmt, um den kalten Luftzug zu spüren, der an ihr vorbeiwehte.

Kathy drehte sich um und folgte der kühlen Strömung zu ihrer Quelle, der offenen Tür der Speisekammer. Eigentlich hätte sie geschlossen sein sollen. Ihr Herz schlug ein wenig schneller, als sie einen Blick in den kleinen Raum warf. Auf dem Boden lagen Glasscherben, und im Fenster befand sich ein kleines Loch. Es war in etwa so groß, als wäre ein Kricketball hindurchgeflogen; es hätte also durchaus das Ergebnis eines kleinen sportlichen Missgeschicks sein können. Wenn das Fenster nicht offen gestanden hätte.

Kathy fuhr auf dem Absatz herum, und ihr Herz raste. Sie wusste, dass Phillip auf keinen Fall dafür verantwortlich sein konnte. Die Speisekammer konnte er schon seit Jahren nicht mehr ohne Hilfe erreichen.

Jemand war eingebrochen.

Aber wer? Und warum?

*

Nur ein Mensch auf der ganzen Welt kannte die Antwort auf diese Frage.

Seine blassen Augen beobachteten sie unbemerkt, suchten in ihrem Gesicht nach einem Hinweis darauf, was sie als Nächstes tun würde. Weglaufen? Oder nach dem Mann suchen, der ihr seit Ewigkeiten Arbeit gab?

Kathy würde niemals erfahren, wie wichtig diese Entscheidung für ihre weitere Existenz war. Und wie glücklich sie sich schätzen konnte, dass ihre Loyalität siegte.

Er lächelte, als er sah, wie die Haushälterin ihren Mut zusammennahm, um das Richtige zu tun. Das war seine einzige Regung. Seine hellen Augen blieben starr auf sie fixiert, während er beobachtete, wie sie noch einmal tief einatmete, um ihre Nerven zu beruhigen, bevor sie zur Treppe ging.

Die erste Stufe knarrte, als sie stockend einen Schritt ins Unbekannte tat. Das Geräusch erklang zum zweiten Mal in den letzten sechs Stunden. Als ihr Beobachter nach ihr die Treppe hinaufging, ließ er diese Stufe aus.

Was auch immer er in den nächsten Minuten tun würde, er wollte ihr auf keinen Fall seine Anwesenheit verraten und sie dadurch vorwarnen.

Er blieb hinter ihr und sah schweigend zu. Er hatte sich entschlossen. Es kam allein auf ihre Reaktion an. Der richtige Entsetzensschrei, die angemessene Hysterie. Das wollte er. Das würde ihn befriedigen. Wenn sie ihm all das gab, würde sie leben. Wenn nicht … Nun, ihr Schicksal lag in ihren eigenen Händen.

Kathy Gray konnte sich aus vielerlei Gründen glücklich schätzen. Sie würde jedoch niemals erfahren, dass es der glücklichste Moment in ihrem Leben war, als sie in Phillip Longmans Schlafzimmer ging und aus voller Kehle schrie.

4

Die beiden ersten Polizeibeamten waren in weniger als zehn Minuten eingetroffen und direkt in Phillip Longmans Schlafzimmer gegangen. Einer von ihnen hatte sich augenblicklich übergeben, und der andere hatte das Massaker gemeldet.

Das gleiche Entsetzen überkam auch alle anderen Polizisten, die innerhalb der nächsten halben Stunde dort eintrafen. Allesamt abgebrühte Profis, aber trotzdem machte eine überraschend große Zahl von ihnen bei dem Anblick erneut Bekanntschaft mit ihrem Frühstück.

Dies war kein normaler Tatort.

»Wer hat hier sauber gemacht?« Detective Chief Inspector Joelle Levy konnte das Bleichmittel bereits riechen, als sie die Treppe zu Longmans Schlafzimmer hinaufstieg. »Jemand hat hier etwas desinfiziert.«

»Nein, Ma’am.« Police Constable David Wright war einer der beiden ersten Beamten am Tatort gewesen. Derjenige mit dem stärkeren Magen. »Es stank schon danach, als wir hier eingetroffen sind.«

Levy sah Wright fragend an.

»Sind Sie sicher?«

»Ja, Ma’am. Das ist mir als Erstes aufgefallen, ich meine, bevor wir überhaupt ins Schlafzimmer gegangen sind.«

Könnte die ganze Sache interessant machen, sagte sich Levy.

Sie gingen weiter die Treppe hinauf und durch den Flur, vorbei an zwei offenen Türen. Hinter jeder befand sich ein makellos sauberes und anscheinend unberührtes Schlafzimmer. Diese Räume sprachen für eine pflichtbewusste Haushaltsführung und wenige Übernachtungsgäste.

Im dritten Zimmer sah es vollkommen anders aus. Hier herrschte Betriebsamkeit wie in einem Bienenkorb, und die Luft schien elektrisch aufgeladen zu sein. Der scharfe Geruch von Bleichmittel, der sich jetzt mit dem unverkennbar säuerlichen Gestank von Erbrochenem vermischte, wurde stärker.

Deshalb sind wir hier, wusste Levy.

Sie betrat das Zimmer. Ihr Blick glitt langsam von der einen Wand zur anderen und registrierte alles, was sich dazwischen befand. Levy war ein erfahrener Detective und auf das Schlimmste vorbereitet gewesen. Und das Schlimmste war auch genau das, was sie hier vorfand.

In seinen besten Zeiten hatte Phillip Longman allein mit seiner Präsenz einen ganzen Raum beherrscht. Noch nie jedoch hatte er einen Raum so dominiert wie jetzt im Tod. Der Anblick seines hageren Körpers bannte Levys Blick. Seine Nacktheit war schockierend, aber die Verstümmelungen, die einem sofort ins Auge fielen, waren noch schlimmer. Am entsetzlichsten jedoch wirkte die Art und Weise, wie er gestorben war. Longman war an der Wand seines Schlafzimmers gekreuzigt worden. Die Nägel in seinen Gelenken hielten ihn etliche Fuß über dem Boden fest.

»Jesus Christus.«

Levy sagte das ohne jede Ironie. Sie hatte in ihrem Berufsleben schon schreckliche Dinge gesehen, viele grauenvolle Anblicke ertragen. Doch die rituelle Natur dieses Mordes war auffallend. Das hier war genau geplant und ausgeführt worden. Levy hatte oft genug gesehen, welchen Schaden eine Pistolenkugel anrichten konnte. Oder die Verletzungen durch eine Bombe. Sogar die schrecklichen Folgen einer Landmine. Aber das hier? Noch nie hatte sie erlebt, dass jemandem so sorgfältig so furchtbare Wunden zugefügt worden waren.

Levy wandte sich von der Leiche an der Wand ab und betrachtete den Rest des Zimmers. Vor ihren Füßen lag eine Pfütze aus Erbrochenem. Dadurch hatten sie hier keine idealen forensischen Bedingungen, aber das Erbrochene war immerhin weit genug von der Leiche entfernt, um das Risiko einer Kontamination auszuschließen. Die anderen empfindlichen Mägen hatten offenbar lange genug durchgehalten, bis ihre Besitzer den Flur wieder erreicht hatten. Ansonsten wirkte das Zimmer unberührt.

Aber nicht mehr lange, dachte Levy. Leute von der Spurensicherung in weißen Overalls untersuchten bereits jeden Zentimeter des Schauplatzes von Phillip Longmans letzten Momenten.

»Was halten Sie davon, Steve?« Levy erkannte Detective Inspector Steven Hale trotz seines Overalls und der Kapuze.

»Eine eklige Sache, Ma’am.« Hale schüttelte den Kopf und stand auf. »Wer auch immer das war, er war ein perverser Mistkerl. Man hat dem alten Knacker die Zunge herausgeschnitten und ihm seine eigenen Eier in den Mund gesteckt. Die wenigen Zähne, die er noch hatte, hat man ihm einen nach dem anderen gezogen. Dann wurde er ausgeblutet, und zwar langsam. Man hat ihm eine Ader nach der anderen geöffnet, an Armen und Beinen.«

»Irgendeine Idee, an welcher Verletzung er gestorben ist?«

»Ich glaube, da haben wir freie Auswahl, Ma’am. Vielleicht war es das Ausbluten, obwohl das nur langsam vor sich ging. Wenn nicht das, dann auf jeden Fall die Kreuzigung. Die hätte er in seinem Zustand auf keinen Fall überlebt.«

»Ich bin nicht sicher, ob Sie oder ich viel länger durchgehalten hätten«, erwiderte Levy, die den Blick nicht von Longmans Leichnam abgewandt hatte. »Informieren Sie mich, wenn die Todesursache eindeutig feststeht.«

»Ma’am.«

Hale ging wieder an die Arbeit, während Levy näher an Longman herantrat und seine Verletzungen genauer betrachtete. Schließlich beugte sie sich zu einer der Schnittwunden auf Longmans rechtem Bein vor und schnupperte daran.

»Ja, genau dort scheint das Bleichmittel benutzt worden zu sein«, merkte Hale an. »Aber es gibt keine Anzeichen an der Rückseite des Beins oder seinem Rücken, dass er sich vor Schmerz gewunden hätte. Lässt vermuten, dass er schon tot war, als man es ihm in die Wunden geschüttet hat. Dafür kann er wohl dankbar sein. Es wäre die reinste Qual gewesen, wenn er noch geatmet hätte.«

Levy antwortete nicht. Stattdessen ging sie zur anderen Seite des Raumes und holte sich einen Stuhl aus der Ecke. Sie stellte ihn neben die herabhängenden Beine des Leichnams und stieg auf die Sitzfläche. Levy war nicht besonders groß, etwas mehr als einen Meter sechzig, aber Longman war auch kein besonders großer Mann gewesen. Die Sitzfläche des Stuhls befand sich etwa in Höhe seiner gekreuzigten Füße.

»Geben Sie mir einen Handschuh.«

Levy blickte nicht hinab, während sie von Hale den Latexhandschuh entgegennahm. Sie zog ihn über und öffnete vorsichtig Longmans Lippen. Seine Hoden waren bereits aus der Mundhöhle entfernt worden. Zähne und Zunge fehlten ebenfalls, und das ganze Innere war eine einzige schwarzbraune Schweinerei.

Levy beugte sich vor und schob ihre Nase so dicht heran, wie sie konnte, ohne eine Kontaminierung der Beweise zu riskieren. Dann holte sie erneut tief Luft.

»Was ist das?« Hale war fasziniert. »Was riechen Sie?«

»Bleichmittel.« Levy schloss Longmans Mund sorgfältig wieder und stieg von dem Stuhl herunter. »Man hat es auch in seinen Mund gefüllt.«

»Nachdem er schon tot war? Warum denn? Zu welchem Zweck?«

Levy antwortete nicht sofort. Stattdessen sah sie sich um und entdeckte Police Constable David Wright, der sich etwas aufrichtete, als er ihren Blick bemerkte.

»Wurde eine Flasche mit Bleichmittel aus diesem Raum entfernt?«, fragte sie.

»Nein, Ma’am. Alles ist genau so, wie wir es vorgefunden haben. Abgesehen natürlich von den Folgen der Untersuchung an der Leiche.«

»Und im Erdgeschoss? Oder in den Badezimmern? Fehlen dort Flaschen mit Bleichmittel?«

»Ich habe keine Ahnung, Ma’am.«

»Die Leiche wurde von der Haushälterin entdeckt, stimmt’s?«

»Richtig.«

»Dann fragen Sie sie. Wir müssen das in Erfahrung bringen.«

PC Wright verließ das Schlafzimmer ohne einen weiteren Kommentar.

Hale war verwirrt.

»Wieso ist eine verschwundene Flasche Bleichmittel wichtig?«

»Bleichmittel zerstört DNA, Steve, deshalb.« Levy kannte die Theorie, hatte sie aber noch nie in der Praxis erlebt. »Man hat das Bleichmittel nicht verwendet, um ihn zu quälen. Sondern um alle DNA-Beweise zu vernichten. Deshalb wurde die Leiche quasi mit dem Zeug getränkt. Wer auch immer das gemacht hat, war verdammt skrupellos. Vielleicht war das auch das Ziel, eine Art Kick. Aber trotzdem wollte diese Person vor allem nicht erwischt werden. Da wusste jemand sehr genau, was er tut, Steve. Wir werden an der Leiche keine Spuren finden. Und dem Geruch nach zu urteilen, finden wir die einzige DNA in diesem ganzen verfluchten Schlafzimmer in dem Erbrochenen neben der Tür.«

Hale warf einen Blick auf die Pfütze und sah dann wieder zu Levy zurück.

»Trotzdem verstehe ich nicht, welche Rolle es spielt, ob das Bleichmittel mitgenommen wurde. Natürlich hätten sie keine leere Flasche mit ihren Fingerabdrücken zurückgelassen. Nicht, wenn sie so sorgfältig waren.«

»Das spielt deshalb eine Rolle«, erklärte Levy, »weil es ein reiner Impuls gewesen wäre, wenn das Bleichmittel von hier stammte. Ungeplant und spontan. Wenn der Killer das Zeug aber mitgebracht hat, haben wir es mit einem Profi zu tun. Jemand, der genau wusste, was er hier tun würde. Und wie er seine Spuren verwischen konnte. Das zu wissen ist wichtig, finden Sie nicht?«

Hale nickte.

»Aber welchen Sinn hat es dann, das Schlafzimmer zu untersuchen?«, fragte er. »Wo Sie doch sicher sind, dass wir weder DNA oder Fingerabdrücke noch irgendetwas anderes finden werden?«

»Weil dieser Tatort im Moment unsere einzige Spur ist. Möglicherweise hat der Mistkerl ja eine Stelle übersehen.« Levy sah sich noch einmal in dem Raum um. »Wir müssen diesen Fall unbedingt aufklären.«

»Was ist denn so wichtig daran?«, erkundigte sich Hale. »Die Tatsache, dass er gekreuzigt wurde? Ermitteln wir in religiöser Richtung?«

»Vielleicht«, antwortete Levy.

Dann wandte sie sich an alle im Raum und hob ihre Stimme.

»Ich will das hier übrigens vor der Presse geheim halten. Niemand erwähnt auch nur mit einem Sterbenswörtchen, wie dieser Mann gestorben ist. Niemand!«

Levy drehte sich wieder zu Hale um, packte seinen Arm und führte ihn aus dem Zimmer in den Flur. Sie war dankbar, dass er mit ihr zusammen an diesem Fall arbeitete. Hale war jetzt seit drei Jahren in ihrem Team, und es gab niemanden bei der Polizei, dem sie mehr vertraute.

»Nein, Steve, es geht nicht um die Kreuzigung.« Levy flüsterte fast. »Sondern darum, wer dieser Kerl ist. Ich meine, wer er war.«

»Sie kennen ihn? Wer ist er?«

»Das ist Phillip Longman. Der ehemalige Lord Oberrichter.«

Levy sah, wie Hale blass wurde. Er kannte den Namen ebenso wie sie, das hatte sie gewusst.

Das Amt des Lord Oberrichters verlieh dem Inhaber nahezu unbeschränkte Macht, und Phillip Longman hatte sich nicht gerade zurückgehalten. In den acht Jahren seiner Amtszeit war er für viele kontroverse juristische Entscheidungen der jüngsten Vergangenheit verantwortlich gewesen. Entscheidungen, die sowohl kriminelle als auch terroristische Organisationen zu Fall gebracht hatten. Der verstümmelte Leichnam, der an die Schlafzimmerwand genagelt worden war, hatte einmal einem der einflussreichsten Männer der britischen Gesellschaft gehört.

»Der politische Druck bei diesem Fall wird ein Albtraum sein«, fuhr Levy fort. »Genau wie die Liste der Verdächtigen. Longman hat sich zu seiner Zeit verdammt viele Feinde gemacht, und ein ganzer Haufen dieser Mistkerle hat ein verflucht gutes Gedächtnis.«

Hale nickte, sagte aber nichts, als Levy einen Blick durch die offene Tür zurück auf Longmans Leichnam warf.

Nichts an dem blassen, bedauernswerten Körper ließ auf den Status schließen, den der Mann einmal gehabt hatte. Ein Mann, dessen schockierender Tod Schlagzeilen machen und sämtliche Titelseiten füllen würde. Ein Tod, dessen Umstände Levy aufklären musste.

Sie hatte keine Zeit zu verlieren.

5

Das Gefängnis von Wandsworth hatte sich in den siebzehn Jahren seit Michael Devlins erstem Besuch dort kaum verändert. Das Gebäude selbst stammte aus der Mitte des 19. Jahrhunderts, und jeder einzelne Tag der folgenden hundertsiebzig Jahre schien in seine imposante Fassade eingeätzt zu sein.

Das Innere wirkte etwas weniger grimmig und dafür ein bisschen moderner. Der Empfangsbereich, der sowohl von Anwälten als auch von Besuchern genutzt wurde, war gleichsam nüchtern und heruntergekommen, eine höchst unvorteilhafte Mischung. Metallbänke mit harten Stahlsitzen boten den unglücklichen Seelen, die darauf Platz nehmen mussten, keinerlei Komfort, und den bestimmt schon zehn Jahre alten gelben Anstrich der Wände schien man immer noch für »gut genug« zu halten.

Dieselbe Genügsamkeit galt auch für die Stahlschränke, in denen die Anwälte ihre Wertsachen einschließen konnten. Sie waren zu klein, zu unsicher und zum größten Teil defekt, wurden aber weder ersetzt noch repariert.

Eine Steintreppe führte von der ruhigen Straße draußen zum Gebäude hinauf. Jeder, der einen der tausendneunhundert Gefangenen besuchen wollte, musste diese Stufen hinaufsteigen und die Sicherheitsschleusen durchlaufen, welche die Insassen von der Freiheit außerhalb der Mauern trennten.

Michaels kürzliche Beförderung in den Rang eines QC, eines Kronanwalts – ein Titel, der die besten Barrister der Obergerichte von den anderen trennte – verschaffte ihm da keine Sonderstellung. Sein erster Besuch in Wandsworth schien schon eine Ewigkeit her zu sein. Damals war er zweiundzwanzig und frisch qualifiziert gewesen. Es hatte Michael damals sehr überrascht, dass man ihn ebenso genau durchsuchte wie die anderen Besucher. Es gab keinerlei Sonderbehandlung, wie er erwartet hatte, kein Zeichen guten Willens, der es Anwälten erlaubte, mit einem Nicken und einem Winken die Schleusen zu passieren.

Daran hatte sich nichts geändert.

»Zu wem wollen Sie?«

Der Gefängnisbeamte hinter dem erhöhten Empfangstisch, ein Mann mittleren Alters, gab sich vollkommen sachlich. Keine Begrüßung. Kein Small Talk.

»Simon Kash.«

Andrew Ross war Simon Kashs Anwalt und antwortete für sie beide. Er gab dem Wachmann ein formelles Schreiben, das an den Direktor von HMP Wandsworth adressiert war. Darin wurden Ross und Michael als Solicitor und Barrister von Simon Kash aufgeführt, und es bestätigte den Termin mit ihrem Klienten um 9.30 Uhr.

»Ausweise?«

Sowohl Michael als auch Ross nahmen ihre Personalausweise aus den Brieftaschen und reichten sie wortlos zur Inspektion hoch. Sie bekamen sie nach wenigen Sekunden wieder zurück, dann wurden beide Männer mit einem Nicken durchgelassen.

»Telefone, Münzen, Schlüssel. Das Übliche.« Diese Aufforderung kam von einer Beamtin. Die Frau war jünger als der Schreibtischhengst und stand. Sie war die nächste Station auf dem Parcours der Sicherheitsmaßnahmen.

Während sie das sagte, schob sie ein kleines schwarzes Tablett über den Tresen, das sich rasch füllte. Mit ihren Brieftaschen, Schlüsseln und Münzen, dazu noch Michaels Zigarillos und Feuerzeug. Jeder behielt nur eine Aktenmappe mit den spärlichen Unterlagen über die Beweise der Anklage gegen Simon Kash, zusammen mit einem Notizblock und einem Stift.

Das schwarze Tablett verschwand in einem dünnen Blechschrank neben dem Empfangstresen. Der Schlüssel dafür wurde Ross übergeben. Das war der einzige andere Gegenstand, den die beiden Männer mit hineinnehmen durften.

Die dritte Sicherheitsschleuse lag auf der anderen Seite des Empfangsbereichs. Die große Schleuse, bedient von zwei weiteren Gefängnisbeamten, war verbeult, ziemlich mitgenommen und längst veraltet. Zweifellos war sie einmal Hightech-Equipment gewesen und hatte den Neid aller Flughäfen weit und breit erregt. Aber die staatlichen Fördergelder wurden schon seit Jahrzehnten immer weiter zusammengestrichen. Die Sicherheitsmaßnahmen am Flughafen hatten sie inzwischen überholt und lagen in ihrer Qualität weit über dem, was sich die Gefängnisverwaltung leisten konnte. Veraltete Personenschleusen und gelegentlich ein Metalldetektor waren alles, was die Strafvollzugsbehörden jetzt noch bekamen.

Eine lange Metallbank versperrte ihnen den Weg zu der Schleuse. Sie bot zusätzliche Sitzplätze, falls es in dem Empfangsbereich zu betriebsam wurde, wirkte jedoch unangenehm deplatziert, wenn es so ruhig war wie heute. Michael war mit einem Meter fünfundachtzig groß genug, um nicht um das Hindernis herumgehen zu müssen. Stattdessen stieg er einfach darüber. Ross war kleiner und musste den längeren Weg nehmen.

»Legen Sie alles auf das Tablett, dann kommen Sie bitte hierher.« Ein dritter Gefängnisbeamter betete sein Mantra herunter.

Dieser Job macht einen kaputt, dachte Michael. Sie haben diese armen Teufel in Automaten verwandelt.

Das schwarze Tablett war diesmal größer. Und es gab eins pro Person. Michael legte die wenigen erlaubten Gegenstände in eine Ecke, dann folgten sein Anzugjackett, seine Armbanduhr und sein Gürtel. Dann schob er das Tablett in die Maschine und wartete darauf, dass das ziemlich ausgefranste Laufband sich in Bewegung setzte.

Michael stand mit dem Rücken zu Ross, und das langsame Tempo der Maschine gab ihm Zeit nachzudenken. Zu überlegen, und das nicht zum ersten Mal, warum er überhaupt hier war.

Die offizielle Antwort auf diese Frage war einfach. Es gab gewisse Fälle, für die nur ein Kronanwalt qualifiziert genug war. Manchmal arbeiteten sie allein, manchmal mit einem Junior-Barrister als Assistenten. Simon Kashs Fall war einer davon: eine komplizierte Mordanklage, in der Rache ein Motiv war, eine untere Stufe des organisierten Verbrechens eine Rolle spielte und in dem mehr als nur ein Angeklagter vor Gericht stand. Das barg das Risiko einer sogenannten Cut-Throat-Defense, bei der sich dieAngeklagten in der Hoffnung auf Strafminderung gegenseitig beschuldigten.

Nein, es war klar, warum der Kash-Prozess einen QC, einen Kronanwalt erforderte. Michael beschäftigte vor allem die Tatsache, dass er diese Position überhaupt innehatte.

Er hinterfragte seine Beförderung nicht wegen seines Alters. Mit siebenunddreißig war er zwar sicherlich einer der jüngsten Barrister, die zum Kronanwalt befördert worden waren, aber das war auch schon vorher vorgekommen. Einzigartig war jedoch, dass er ohne Bewerbung oder Anhörung befördert worden war.

Die Beförderung war zwar unerwartet gekommen, aber Michael hatte keine Erklärung gebraucht, als er die Neuigkeiten vor sechs Monaten erfahren hatte. Ganz sicher beruhte seine Ernennung nicht auf seinen Verdiensten, das war klar. Er hatte sich nicht beworben, also konnte seine Leistung auch nicht eingeschätzt worden sein. Sie repräsentierte vielmehr das Dankeschön einer zufriedenen Regierung. Eine Belohnung für sein Schweigen nach den Ereignissen in London und Belfast vor zwanzig Monaten. Sarah hatte eine ganz ähnliche Reaktion auf ihre Story erlebt, die sie statt der Wahrheit an die Nachrichtensender geschickt hatte. Ihre Karriere war förmlich explodiert, von einer unerfahrenen CNN-Reporterin war sie zu einer leitenden Korrespondentin von ITN geworden, einem großen Nachrichtensender in Großbritannien.

Keiner von ihnen hatte um einen Karriereschub gebeten, aber zumindest in Sarahs Fall war er verdient. Michael jedoch hätte seinen neuen Status lieber auf die richtige Art und Weise erreicht: durch Anerkennung der harten Arbeit, der Hingabe und der Fähigkeiten, die er in seinem Berufsleben vor Gericht bislang gezeigt hatte. Und nicht als Belohnung für sein Schweigen. Ohne diese Anerkennung hegte er Zweifel, ob er sich überhaupt rechtmäßig Kronanwalt nennen durfte, dabei war es schon immer sein Traum gewesen, diese Position zu erreichen.

So aber werde ich mich mein ganzes Leben lang fragen, ob ich wirklich gut genug bin, hatte er gedacht.

Michael hatte sich deswegen sechs Monate lang das Gehirn zermartert. Aber jetzt? Jetzt kam zu seinem angegriffenen Selbstbewusstsein auch noch ein schlechtes Gewissen hinzu. Denn der Hintergrund des Simon-Kash-Falls, die Art und Weise, wie Michael da hineinmanövriert worden war, hatte alles noch schlimmer gemacht.

»Kommen Sie bitte hierher, Sir.«

Die Stimme der vierten Gefängnisbeamtin unterbrach Michaels Gedanken.

Er blickte hoch, als die Sprecherin auf ein kleines Treppchen deutete. Michael kannte den Ablauf. Er betrat das kleine Podest, stellte seine Füße etwa schulterbreit auseinander und hob die Arme an. Die Frau tastete ihn dann zwanzig Sekunden lang ab. Sie untersuchte seinen Kragen, seine Manschetten, den Hosenbund und den Saum seiner Hosenbeine. Sie warf sogar einen Blick in Michaels Mund. Nachdem sie sich überzeugt hatte, dass er nichts in das Gefängnis schmuggelte, erlaubte sie ihm, seine Habseligkeiten wieder vom Fließband zu holen.

Michael zog sein Jackett wieder an und stellte sich ans Ende der Besuchergruppe. Ross leistete ihm eine Minute späterGesellschaft, nachdem er dieselbe unwürdige Behandlung über sich hatte ergehen lassen müssen. Sie warteten schweigend, während Michael sich an seinen ersten Besuch zurückerinnerte.

Vor siebzehn Jahren.

Damals war er von den strikten Sicherheitsmaßnahmen überrascht gewesen. Und jetzt, fast zwanzig Jahre später, überraschte ihn nur noch, wie wenig sich die Dinge doch änderten.

6

Simon Kash schaffte es, einen unbequemen Stuhl wie ein Folterinstrument aussehen zu lassen. Er wirkte jünger als einundzwanzig, sehr viel jünger. Sein Gefängnis-Overall änderte daran auch nicht viel. Er schien Kashs zierlichen Körper förmlich zu verschlingen, während dieser unruhig auf seinem Stuhl hin und her rutschte.

Michael musterte die Gestalt vor sich von Kopf bis Fuß. Zumindest das, was davon zu sehen war. Kash war eines extrem brutalen Verbrechens angeklagt – eines Doppelmordes. Aber schon jetzt kam Michael das unwahrscheinlich vor, und zwar nicht nur wegen Kashs Größe.

Sicher, der dürre Bursche sah nicht mal kräftig genug aus, um auch nur einen weiblichen Teenager überwältigen zu können, geschweige denn zwei Brüder, die für ihre Gewalttätigkeit berüchtigt waren. Aber so ein äußerer Eindruck bedeutete für sich genommen gar nichts. Michael hatte Männer getroffen, die halb so groß waren wie er selbst, dafür aber doppelt so stark. Nein. Auch alles andere an Kash gab Michael zu denken. Seine Nervosität. Seine gehetzte Miene. Michael konnte dieses furchtsame Kind einfach nicht mit der Bestie zusammenbringen, welche die Galloway-Zwillinge massakriert hatte.

»Erzählen Sie mir etwas über Darren O’Driscoll, Simon.«

Kash schien bei der Erwähnung dieses Namens zusammenzuschrumpfen. Michael hatte nichts anderes erwartet. Darren O’Driscoll war Kashs Mit-Angeklagter. Aber in den dreißig Minuten, die sie jetzt schon in dem kleinen schmutzigen Raum in HMP Wandsworths Besucherbereich für Anwälte zusammensaßen, hatte Kash weder O’Driscolls Namen erwähnt noch auch nur ein Wort über die Beteiligung dieses Mannes an dem Fall gesagt.

Michael glaubte den Grund zu kennen.

Kash und O’Driscoll wurden beschuldigt, zwei Brüder in South East London ermordet zu haben. Die Galloway-Zwillinge waren Anfang dreißig, sehr kräftig, weil sie ihr Leben lang körperlich gearbeitet hatten, und fielen deshalb nicht unbedingt unter die Kategorie »leichte Opfer«. Trotzdem waren sie jetzt tot. Ermordet, weil sie, laut Anklage, das schwerwiegende Verbrechen begangen hatten, Darren O’Driscolls Onkel auf einer Baustelle in der City respektlos behandelt zu haben.

Das Motiv für den Mord an ihnen war nicht sonderlich überraschend. Michael hatte gesehen, dass Menschen schon für weniger ermordet worden waren. Doch die Art und Weise, wie diese beiden ihr Ende gefunden hatten? Nun, das war eine ganz andere Geschichte.

London kann eine sehr brutale Stadt sein, und Michael hatte mehr als genug Gerichtsverfahren erlebt, die Folge dieser Gewalt gewesen waren. Es gab nicht viel, was er noch nicht gesehen hatte. Und doch hatte der Mord an den Galloway-Zwillingen sogar ihn schockiert.

Die Geschworenen würden die Fotos von der Autopsie niemals zu sehen bekommen.

Und dafür sollten sie Gott danken, dachte Michael.

Denn die grausigen Einzelheiten würden sie zweifellos in ihren Träumen verfolgen. Schon der Anblick von Martin Galloway war grauenvoll. Er war so übel zusammengeschlagen worden, dass jeder Knochen in seinem Oberkörper entweder gebrochen oder vollkommen zerschmettert worden war. Man hatte ihm die Hände abgehackt, die Knie zertrümmert und den Schädel seitlich eingeschlagen. Und die Verstümmelungen, die sein Bruder Marc Galloway davongetragen hatte, waren noch schlimmer.

Laut Anklage war es Marc Galloway gewesen, der Darren O’Driscolls Onkel respektlos behandelt hatte. Wenn das stimmte, hatte der Mann für dieses »Verbrechen« mehr als nur gebüßt. Der zweite Galloway hatte zwar dieselbe Behandlung erfahren wie sein Bruder, aber vor allem nach seinem Tod erheblich mehr Aufmerksamkeit genossen. Die Macheten, mit denen die Mörder die beiden Männer getötet hatten, waren bei Marc Galloway besonders fleißig gewesen, nachdem die Zwillinge ihren letzten Atemzug getan hatten. Ihm wurden Kopf, Arme und Beine abgehackt, bevor man seinen ohnehin schon verstümmelten Körper aus bloßer Rohheit schlichtweg zerfetzt hatte.

Bei den Bildern musste man unwillkürlich an eine mittelalterliche Exekution denken. Eine Exekution, die Michaels Verstand nicht mit dem nervösen, ungewöhnlichen jungen Mann vor ihm in Verbindung bringen konnte.

»Erzählen Sie mir von ihm, Simon. Erzählen Sie mir etwas über Darren.«

»Was wollen Sie denn wissen?« Kash blickte nicht auf, als er sprach. Er nuschelte die Worte mit dem Kinn an seiner Brust.

»Alles«, erwiderte Michael. »Fangen wir damit an, ob Sie glauben, dass er zu dem fähig war, was den Galloways widerfahren ist.«

»Damit hat Darren nichts zu tun.«

Kashs Antwort war ruhig, fast unhörbar und so kurz, wie sie nur sein konnte. Damit passte sie zu seinem Verhalten während der letzten dreißig Minuten.

»Ich habe nicht gefragt, ob er es gewesen ist. Ich fragte, ob er dazu fähig wäre. Ob er so brutal sein kann.«

Kash gab keine Antwort und stellte auch keinen Blickkontakt her. Er sah nicht vom Boden hoch.

Michael schob den Stuhl zurück und atmete zischend aus. Dann fuhr er sich mit den Fingern durch sein dichtes blondes Haar.

Das kratzende Geräusch, mit dem Michaels Stuhl über den Boden schrammte, ließ Kash zusammenzucken. Aber es brachte ihn nicht zum Sprechen.

»Sehen Sie sich um, Simon.« Michael versuchte es erneut und deutete in den Raum.

Der kleine, wacklige Tisch und die drei Plastikstühle füllten ihn vollkommen aus. Es war heiß und schmutzig hier drin. Die Wände waren von laminierten Plakaten bedeckt, auf denen Regeln standen, die das Leben der Gefangenen bestimmten.

»Das ist Ihre Zukunft, mein Junge. Wenn Sie nicht aufpassen, werden Sie die nächsten fünfundzwanzig Jahre in solchen Räumen verbringen, mindestens. Das hier ist kein Spiel, Simon. Entweder helfen Sie uns – und das bedeutet, Sie erlauben uns, Ihnen zu helfen –, oder Sie schmoren hier drin, bis Sie fünfzig sind.«

Kash sah auf und folgte mit seinem Blick Michaels Geste. Es dauerte ein paar Sekunden, bis er die Worte zu begreifen schien.

»Ich war es nicht.« Als Kash endlich sprach, redete er sehr leise. Wie ein Schuljunge, der einer ungerechten Bestrafung widersprach. »Ich sollte gar nicht hier sein.«

»Das wissen wir, Simon«, warf Andrew Ross ein. Seine Stimme klang mitfühlender als die von Michael. »Deshalb sind wir hier. Deshalb ist Mr. Devlin hier …«

»Aber ohne Sie schaffen wir das nicht«, unterbrach Michael ihn. Es war wichtig, dass Kash ihn verstand. »Wir können uns nicht einfach irgendetwas ausdenken. Sie müssen ehrlich zu uns sein. Wenn Sie uns die Waffen geben, dann ziehen wir für Sie in den Krieg. Aber wenn Sie uns Dinge verheimlichen, wenn Sie weiter schweigen, um Darren O’Driscoll zu schützen, dann kämpfen wir auf verlorenem Posten.«

»Wenn wir verlieren, zahlen Sie den Preis dafür.« Ross nahm den Faden auf und klang nicht mehr ganz so mitfühlend, als er Michaels Vorgabe folgte. »Und wir beide? Wir gehen nach Hause. Wir werden enttäuscht sein, aber wir machen einfach weiter. Doch Sie bekommen lebenslänglich. Das heißt fünfundzwanzig Jahre im Bau. Vielleicht länger. Ganz sicher länger, als Sie bisher gelebt haben.«

Kash antwortete nicht. Er sank nur noch mehr auf seinem Stuhl zusammen und schien kleiner zu werden, während Ross’ Worte in sein Bewusstsein sickerten.

Wenn Kash zu viel Angst vor Darren O’Driscoll hatte, um sich selbst zu helfen – und davon war Michael überzeugt –, dann würde diese Furcht schon bald nicht mehr seine größte Sorge sein.

7

Es war Mittag, als Michael in Begleitung von Ross die Stufen des Gefängnisses hinabstieg. Mittlerweile brannte die Sonne bereits vom Himmel. Es war schon sehr heiß für die Mittagszeit. In ein paar Stunden würde der Asphalt unter ihren Füßen weich werden.

Michael zog sein Jackett aus und lockerte seine Krawatte, als sie auf die Straße traten.

»Wo haben Sie geparkt?«

Michael sah zu, wie Ross mit dem Autoschlüssel herumspielte.

»Vor dem Gartencenter«, erwiderte Ross und deutete nach links.

Michael musste nach rechts, zum Bahnhof Earlsfield. Das bedeutete, dass sie hier besprechen mussten, was es noch zu klären gab.

»Wie sehen Sie die Sache?«, wollte Ross wissen.

»Der Junge ist vollkommen fertig.«

Michael lehnte sich an eine Ziegelwand, während er antwortete. Die beiden letzten Stunden hatten ihn sehr erschöpft. Manchmal war es härter, wenn ein Klient nichts sagte, als wenn er unaufhörlich quatschte.

»Er weiß, was passiert ist. Und er weiß auch, wer es getan hat. Er hat nur zu viel Angst, es uns zu sagen.«

»Glauben Sie, dass er vor Darren O’Driscoll Angst hat?«, fragte Ross.

»Zweifellos.«

Michael hatte eine Theorie zu dem Fall formuliert, nachdem er die Beweise gesichtet hatte. Dieser Morgen mit Kash hatte daran nichts geändert. Aber er hatte seine Entschlossenheit verstärkt, den Jungen vor sich selbst zu schützen.

»Darren O’Driscoll hat die Galloways getötet«, meinte Michael. »Er und noch jemand anders; ich glaube nicht, dass er das allein geschafft hätte. Aber ich glaube absolut nicht, dass Simon dabei gewesen ist. Jedenfalls nicht aktiv. Nicht in der Rolle, die Colliver ihm anhängen will.«

Terry Colliver war der Zeuge der Anklage und Simon Kashs größtes Problem.

»Sie glauben ihm also?« Ross klang erfreut. »Ich meine Simon. Sie glauben wirklich, dass er unschuldig sein könnte?«

Michael antwortete nicht sofort. Stattdessen dachte er ein paar Sekunden lang nach. Hier durfte er keinen Fehler machen, das war wichtig.

»Jedenfalls hat Derek das geglaubt«, antwortete Michael schließlich. »Er hat viel Zeit mit dem Jungen verbracht, und er kann den Charakter eines Menschen besser einschätzen, als ich es jemals könnte. Ich vertraue seinem Gefühl.«

Derek Reid war bis vor zwei Tagen Kashs Barrister gewesen. Das hatte sich geändert, als der zuständige Richter verfügt hatte, dass dieser Fall einen Kronanwalt gebrauchen könnte. Reid hatte diesen Status niemals erreicht, also hatte man ihm den Fall weggenommen und ihn Michael übergeben. Das alles wäre nicht weiter ungewöhnlich gewesen, wären die beiden nicht enge Freunde. Reid war Michaels ehemaliger Pupil-Master, sein Tutor, und zudem der Mann, den Michael nach wie vor für den besten Anwalt hielt, den er je gesehen hatte.

Das war ein weiterer Grund, warum Michael seine frühe Beförderung nicht nur Unbehagen, sondern auch ein gewisses Schuldgefühl bereitete. Denn damit erklärte man ihn – und zwar zu Unrecht, wie Michael fand – für eine bessere Wahl als Derek Reid.

Er fragte sich, ob Ross das vielleicht genauso sah.

»Was Derek angeht …«, begann Ross. »Sie wissen, dass ich ihn nicht verlieren wollte, stimmt’s? Das war nicht meine Entscheidung.«

»Das weiß ich.« Michael brauchte keine Erklärung. »Denn in dem Fall wäre Simon besser dran. Ich meine, wenn Sie die Entscheidung hätten treffen können.«

»Aber jetzt hat er Sie, Michael.«

»Aber ihm wäre mit Derek trotzdem besser gedient gewesen. Es gibt keinen besseren Anwalt als ihn.«

»Nicht einmal Sie?«

»Nicht einmal mich. Vor allem, weil ich nicht mal eine Woche Zeit hatte, um mich auf dieses Verfahren vorzubereiten.«

Ein mechanisches Klappern hinderte Ross daran zu antworten. Michael und er drehten sich zu der Geräuschquelle um.

Das automatische Metalltor des Gefängnisses öffnete sich langsam. Es war der einzige ebenerdige Weg in und aus dem Gebäudekomplex. Als das Tor zu Seite glitt, ertönte aggressive Rapmusik.

Einen Moment lang dachte Michael, sie käme aus dem Inneren des Gefängnisses. Er bemerkte seinen Irrtum jedoch schnell, als er die Quelle der Musik bemerkte.

Ein schwarzer BMW M760Li stand kaum zehn Meter von ihm entfernt in einer langen Reihe von parkenden Fahrzeugen am Bordstein. Bis jetzt hatten die getönten Fenster die Insassen vor neugierigen Blicken geschützt und den Sound der Stereoanlage unterdrückt. Aber jetzt waren die Türen geöffnet worden.

Drei junge schwarze Männer von höchstens Anfang zwanzig stiegen aus.

»Im Ernst? Die hocken in einem Hunderttausend-Pfund-Auto? Vor einem verfluchten Gefängnis?« Ross konnte die Ungläubigkeit in seiner Stimme nicht unterdrücken. »Sie tauchen ausgerechnet hier auf, in diesem Schlitten, dröhnen die Umgebung mit Musik voll, in der es um Knarren und Gangs geht. Und dann wundern sie sich, dass die Polizei sie aufgreift?«

»Sie kennen die?«

»Diese drei nicht, aber genug Typen wie sie.« Ross deutete mit einem Nicken auf den Wagen. »Ich kann mich noch an Zeiten erinnern, in denen Schurken schlau sein mussten, um so viel Kohle zu scheffeln.«

»Vielleicht ist ja jemand anders schlau.« Michael deutete so subtil auf das Gefängnistor, dass nur Ross es bemerkte.

Das Tor war jetzt ganz offen. Es war breit und hoch genug, um einen Gefängnisbus durchzulassen. Doch stattdessen kam eine einzelne Gestalt heraus, als das Tor sich gerade wieder zu schließen begann. Der Mann war deutlich älter als die Insassen des BMW. Groß, breitschultrig und mit einem transparenten Plastikbeutel in der Hand, in dem er ein paar Habseligkeiten mit sich trug, die er offenbar im Gefängnis angesammelt hatte.

Einer der jungen Männer aus dem BMW näherte sich ihm. Der Ältere drückte ihm ohne zu grüßen den Beutel in die Hand. Ein klares Anzeichen für seine gehobene Stellung in der Hierarchie. Er ignorierte die anderen, als er auf der Beifahrerseite einstieg und die Tür schloss. Die Musik, die über die ruhige Straße gedröhnt war, verstummte einen Moment später schlagartig.

Der frisch entlassene Ex-Gefangene hatte seine Autorität bekräftigt.

»Himmel«, murmelte Ross.

Sie beobachteten, wie die anderen drei Männer wieder in den Wagen stiegen. Die bedrohliche Aura, die sie noch vor wenigen Minuten ausgestrahlt hatten, war verflogen und durch Unterwürfigkeit ersetzt worden.

»Haben Sie so etwas schon mal gesehen?«, fragte Ross.

»Ein paarmal.«

Michael redete fast mit sich selbst. Ross hatte keine Ahnung, dass Michael diese kriminellen Hierarchien ganz genau verstand. Was sie gerade gesehen hatten, war die Realität seiner Kindheit gewesen und rief ihm unwillkommene Erinnerungen an seinen Vater ins Gedächtnis. Und an seinen Bruder.

»Ich fahre am besten zurück in die Kammer«, verkündete Michael abrupt, während er versuchte, diese Erinnerungen zu unterdrücken. »Ich habe noch einen Haufen Arbeit vor mir, wenn ich für den Prozess vorbereitet sein will.«

»Verstehe. Wenn Sie etwas von uns brauchen, ich bin telefonisch immer erreichbar.«

Das Geräusch des BMW-Motors unterbrach Ross’ Antwort. Die Maschine brüllte auf, als der Wagen aus der Parklücke schoss. Das Tempolimit von zwanzig Meilen pro Stunde war in knapp einer Sekunde überschritten.

»Ich werde wahrscheinlich morgen anrufen, denke ich.« Michael hatte gewartet, bis das Motorengeräusch verklungen war. »Aber zuerst muss ich den Rest der Aussagen und die Beweise durcharbeiten, um herauszufinden, wo genau wir stehen.«

»Dann warte ich.«

»Gut zu wissen.« Michael streckte seine große Hand aus und schüttelte die von Ross. »Wir hören bald voneinander.«

*

Ihr Beobachter hatte nie an Schicksal oder an irgendeine andere lenkende Macht geglaubt, als an die seines Willens. Diese Gewissheit war nie erschüttert worden, und das wurde sie auch jetzt nicht, als der Blick seiner hellen, blassen Augen so unerwartet auf Michael Devlin fiel.

Es konnte niemand anders sein. Devlin war immer noch eine so markante Gestalt wie damals. Jetzt vielleicht sogar noch mehr. Er war älter, gewiss, und hatte ein paar Pfund mehr auf den Rippen. Und ein paar Falten mehr im Gesicht. Der Unterschied zwischen einem Mann und einem Jungen. Aber er hatte immer noch sein dichtes blondes Haar und seine schlanke, kräftige Statur.

Er hatte sich immer gefragt, ob er Michael Devlin jemals wiedersehen würde. Nun, die Frage war beantwortet. Doch würde Michael Devlin ihn jemals sehen?

Er hatte sich noch nicht entschieden. Aber wie die Antwort auch lauten würde, Devlin war heute nicht sein Problem, und auch sein unerwartetes Auftauchen vor dem Wandsworth-Gefängnis würde das nicht ändern. Er hatte andere Prioritäten. Es gab andere Leute, die seine Aufmerksamkeit mehr verdienten.

Es gab kein Schicksal, sondern nur Zufälle. Er würde seinem eigenen Weg folgen. Und heute führte dieser Weg an einen anderen Ort.

8

Sarah Truman spürte die ersten Schweißtropfen, die ihr über den Nacken liefen.

Juni in London. Es sollte eigentlich nicht so heiß sein. Die City hielt sich für gewöhnlich ans Mittelmaß. Ein Hauch von Schnee im Winter. Regen, wenn er am wenigsten erwünscht war. Und ein so schwacher Sonnenschein, dass die Engländer warmes Bier erfunden hatten, statt kaltes Lager zu trinken.

Dieser Mangel an Extremen war ein echter Pluspunkt für Sarah gewesen. Zu viele strenge Winter in Boston hatten die Vorhersagbarkeit des britischen Wetters attraktiv für sie gemacht.

Aber in den letzten drei Wochen hatte das Klima verrücktgespielt. Kalte Morgenstunden führten regelmäßig zu extrem heißen Tagen. Und auch heute gab es keine Erleichterung. Es war noch nicht einmal Mittag, und die Hitze nahm mit jeder weiteren Stunde zu.

Sarah warf einen sehnsüchtigen Blick auf den Übertragungswagen, mit dem sie hergekommen war, und erinnerte sich liebevoll an die Wirkung der Klimaanlage.

Das war weniger als fünf Minuten her.

»Wie lange dauert das noch, was glauben Sie?«

Sarah drehte sich zu dem Fragenden um. Nathan Benson. Er gehörte zu der neuen Generation von Kameraleuten des Netzwerks. Technologische Wunderkinder, ohne jeden Hauch von Erfahrung oder einen Funken gesunden Menschenverstand. Sarah vermisste die alte Garde, vor allem einen von ihnen. Wie immer, wenn sie an ihn dachte, empfand sie einen Anflug von Traurigkeit. Dan Maguire. Er war bei einer Explosion vor weniger als zwei Jahren getötet worden, unmittelbar bevor Sarah angefangen hatte, um ihr Leben zu laufen. Zur selben Zeit, als sie Michael getroffen hatte.

»Wie lange dauert was?«, erkundigte sie sich und schüttelte den unwillkommenen Gedanken ab.

»Wie lange müssen wir noch hier herumhocken? Es passiert nichts.«

»Es dauert so lange, wie es dauert.« Diesen Rat hatte sie vor vielen Jahren bekommen, von einem Kameramann, dem Benson niemals das Wasser würde reichen können. »Wir warten, bis sie bereit sind, uns irgendetwas zu erzählen.«

Benson nickte. Sarahs Tonfall war unmissverständlich: Sie wünschte keine weiteren Fragen. Also konzentrierte er sich auf seine supermoderne Ausrüstung. Er nahm ein paar digitale Anpassungen vor, die niemandem außer seinen Berufsgenossen auffallen würden.

Sarah sah ihm ein paar Sekunden leicht irritiert zu, doch seine Frickelei langweilte sie schon bald, und sie ging zu dem Van zurück. Er parkte am Bordstein. Fünf andere, bis auf die Sender-Logos identische Fahrzeuge parkten in der Nähe.

Sarah ging an allen vorbei und überquerte dann die Straße. Als sie weit genug entfernt war, drehte sie sich um und warf einen Blick zurück auf den Schauplatz, den sie gerade verlassen hatte.

Das Haus war ziemlich beeindruckend. Und sehr groß, selbst für dieses Viertel. Sarah vermutete, dass es vielleicht sechs bis sieben Schlafzimmer hatte, und alle nicht gerade klein. Die große Auffahrt war von der Straße aus zu sehen und lag hinter einem automatischen schmiedeeisernen Tor. Sie war in einem komplizierten Muster gepflastert worden, dessen Vollendung zweifellos sehr viel Geduld und Rückenschmerzen gekostet hatte. Alles an diesem Anwesen verkündete: Familienbesitz.

Sarah wusste, dass es das nicht war. Nicht mehr, jedenfalls.

Sie wischte sich den Schweiß von der Stirn und sah sich um. Die Nachbarhäuser wirkten ruhig. Kein einziges Gesicht zeigte sich an einem der Fenster. Sarah hatte nichts anderes erwartet. Wenn Scotland Yards Mordkommission, das Major Investigation Team, in einer solchen Nachbarschaft auftauchte, zeigte sich kein Kopf über den Zinnen. Freunde wurden zu Bekannten, Bekannte wurden zu Fremden. Wenn das MIT sich irgendwo zeigte, wollten selbst die besten Nachbarn lieber in Ruhe gelassen werden.

Es wurde heißer. Sarah fühlte es. Erneut überquerte sie die Straße und ging diesmal direkt zu einer kleinen Gruppe von drei Reportern, einem Mann und zwei Frauen. Ihrer Kleidung war anzusehen, dass sie bereits eine Weile in der Hitze herumgestanden hatten.

»Miss Truman.« Der Reporter begrüßte sie. Er war etwa so alt wie Sarah, ganz sicher jedenfalls unter dreißig. Wie die anderen war er auf einer erheblich niedrigeren Sprosse der Karriereleiter als Sarah. »Normalerweise sieht man Sie bei so einer Sache nicht.«

»Was soll ich sagen? Ich dachte mir, ich könnte ein bisschen Sonne tanken.« Sarah lächelte, während sie sprach, in der Hoffnung, dass ihre Freundlichkeit die Tatsache kaschieren konnte, dass sie die Namen der drei nicht kannte. »Hat jemand schon irgendetwas von drinnen gehört?«

»Nur was Joanne aufgeschnappt hat«, sagte die CNN-Reporterin, eine große, hübsche Amerikanerin, vielleicht zwanzig Jahre alt. Sie erinnerte Sarah an sich selbst, als sie noch eine junge Reporterin bei CNN gewesen war, nur musste diese Frau hier noch früher angefangen haben. »Hat man Sie deshalb geschickt?«

»Was meinen Sie mit deshalb?«

»Ich meine, wenn Joanne recht hat und das Opfer wirklich ein Richter ist … Ihr Ehemann ist doch ein superwichtiger Strafverteidiger, stimmt’s?«

»Mein Verlobter ist ein Barrister, allerdings. Ob ich ihn superwichtig nennen würde, weiß ich allerdings nicht«, antwortete Sarah. »Und außerdem wüsste ich auch nicht, was das eine mit dem anderen zu tun hätte. Es gibt jede Menge Richter und noch mehr Strafverteidiger. Sie kennen sich nicht alle gegenseitig. Und außerdem können wir nicht wissen, ob das, was Joanne gehört hat, auch stimmt.«

Sarah war nicht ehrlich zu ihnen, denn die Jung-Reporterin hatte es tatsächlich auf den Punkt gebracht. Michaels Stellung war tatsächlich der Grund, warum man sie geschickt hatte. Und Sarah hatte keinerlei Zweifel an der Identität des Opfers. Sie wusste seit knapp zehn Uhr früh, dass dieser Tatort die Adresse des ehemaligen Lord Oberrichters Phillip Longman war. Es gab einige positive Aspekte an dem Marathon der geschäftlichen Dinner, die sie um Michaels willen zu erdulden hatte. Kontakte zum Justizministerium waren einer davon.

»Joanne hat gehört, was sie gehört hat«, erklärte der Mann hartnäckig. »Ihr entgeht nicht viel. Dann meldet sie das bei ITV, und plötzlich ist sie weg. Ausgetauscht von den großen Tieren. Das sieht für mich eindeutig nach einem abgekarteten Spiel aus.«