3  2  1 - Im Kreis der Verschwörer - Tony Kent - E-Book
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3 2 1 - Im Kreis der Verschwörer E-Book

Tony Kent

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Beschreibung

3

London: Der hochrangige Politiker Mathewson wird bei einem Attentat vor einer großen Menschenmenge erschossen. Der Attentäter kann festgenommen werden, doch die Drahtzieher bleiben unerkannt.

2

Sicherheitschef Joe Dempsey, der spezialisiert darauf ist, Bedrohungen zu identifizieren und auszuschalten, erlebt das Undenkbare: Das politische Gefüge wankt, die britische Regierung scheint die Kontrolle zu verlieren.

1

Die junge Journalistin Sarah, die das Attentat live verfolgt hat, und der Anwalt Michael Devlin versuchen, die Wahrheit hinter den Toren der Macht aufzudecken … auf Leben und Tod

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Das Buch

London, Gegenwart: Die Metropole befindet sich im Ausnahmezustand. Der britische Premierminister und der amerikanische Präsident eröffnen eine Großveranstaltung am Trafalger Square. Für die Geheimdienste und Sicherheitskräfte gilt höchste Bereitschaftsstufe. Alles scheint perfekt zu laufen.Doch dann peitschen Schüsse durch die Luft, und der hochrangige Politiker Matthewson bricht tödlich getroffen zusammen. Wie konnte das geschehen?

Der Attentäter wird verhaftet – doch dies ist erst der Anfang!

Der Attentäter wird in seiner Zelle erhängt aufgefunden – angeblich Selbstmord. Der Mann, der ihn verhört hat, stirbt bei einem Autounfall.

Für Staranwalt Michael Devlin entbrennt ein Wettlauf um Leben und Tod: Zusammen mit der jungen Reporterin Sarah kommt er einer Intrige ungeheuren Ausmaßes auf die Spur und fordert den Kreis der Verschwörer heraus … bis zum bitteren Ende!

Der Autor

Tony Kent studierte Jura in Schottland und arbeitet heute als Anwalt in London. Er ist regelmäßig im Old Bailey tätig und war Verteidiger und Ankläger in einigen spektakulären Strafprozessen. Nebenbei ist Kent erfolgreich als Boxer. »3  2  1 – Im Kreis der Verschwörer« ist sein erster Roman.

TONY KENT

321

IM KREIS DER

VERSCHWÖRER

THRILLER

Aus dem Englischen von Martin Ruf

und Wolfgang Thon

WILHELMHEYNE VERLAG

MÜNCHEN

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.
Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.
Die Originalausgabe KILLER INTENT erschien 2018 bei Elliott & Thompson, London
Copyright © 2018 by Tony Kent Copyright © 2019 der deutschsprachigen Ausgabe by Wilhelm Heyne Verlag, München, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 MünchenRedaktion: Lars ZwickiesUmschlaggestaltung: Cornelia Niere, MünchenBildmotive: © Arcangel Images: Silas Manhood/Tim RobinsonSatz: Leingärtner, NabburgISBN: 978-3-641-24043-1V002
www.heyne.de

Für Mum und Dad,

für alles …

Und für Victoria,

für alles andere …

1

Joshua spürte, wie das Adrenalin durch seinen Körper strömte, als er auf den Platz hinabsah. Er befand sich in sechzig Metern Höhe hinter der Balustrade eines Kirchturms aus der Regency-Zeit. Von hier aus hatte er freie Sicht auf die Menschenmenge. Er empfand den kontrollierten Anstieg des Adrenalins in jeder Faser seines Körpers. Ein vertrautes Gefühl. Der Höhepunkt der Anspannung bei jedem Auftrag. Der Augenblick, in dem es ihm unmöglich wurde, einfach wieder wegzugehen. Genau das war es, wofür er lebte.

Jede Einzelheit war deutlich durch das Zielfernrohr seines Gewehrs zu erkennen. Joshua saugte die Informationen in sich auf, und es dauerte nur wenige Augenblicke, bis er alle Hindernisse ausgemacht hatte, die ihm jetzt noch Probleme bereiten konnten. Jemand, der nicht so geschickt war wie er, hätte länger gebraucht, um die einzelnen Aspekte abzuwägen. Doch Joshua war vor allem eins: effizient.

Er rückte vom Zielfernrohr weg. Vorerst hatte es ihm genug verraten. Nun musterte er die Menge mit bloßem Auge. Der Besucherstrom war immens. Nicht zum ersten Mal wunderte er sich darüber, wie ungeeignet der Ort war. Aber Joshua verstand, dass es sich um eine politische Entscheidung handelte. Wo sonst hätte man eine Feier zu Ehren der britischen Helden in den jüngsten Nahostkriegen veranstalten sollen, wenn nicht auf dem Trafalgar Square? Schließlich war dies der Ort, an dem London seinen militärischen Großtaten ein Denkmal gesetzt hatte. Aber es blieb dennoch ein sicherheitstechnischer Albtraum.

Ein grimmiges Lächeln erschien in Joshuas Gesicht, ausgelöst durch das Chaos unter ihm. Das Gebiet mochte zwar von den besten Sicherheitsabteilungen der Welt überwacht werden, doch alle Probleme, mit denen sich die Beamten konfrontiert sahen, waren ein Vorteil für Joshua. Und im Augenblick waren diese Probleme Legion.

Joshuas Hände legten sich wieder um seine Waffe.

Mit einer fast unmerklichen Bewegung hob sich der Lauf, und sein Auge kehrte hinter das Zielfernrohr zurück. Er ließ seinen Blick über die ihn umgebenden Dächer schweifen und benötigte weniger als eine Minute, um neunzehn Scharfschützen zu entdecken. Nur selten gelang ihm das so schnell. Vielleicht würde es sogar das einzige Mal bleiben, aber dies war ja auch ein einzigartiger Auftrag. Alle anderen in Joshuas langer Karriere hatten eine Gemeinsamkeit. Sie lautete: Halte dich versteckt, damit du deinen Schuss anbringen kannst. Heute nicht. Heute musste Joshua dafür sorgen, dass er sichtbar blieb. Sollte er das nicht tun, würde sich jeder der neunzehn Scharfschützen fragen, wohin ihr zwanzigster Mann verschwunden war.

2

Joe Dempsey stand in weniger als vierhundert Metern Entfernung am Fenster. Sein Ausblick war in jeder Hinsicht genauso gut wie der von Joshua. Seine Stimmung nicht.

Dempsey hatte sein halbes Leben damit verbracht, Bedrohungen zu identifizieren und auszuschalten. Das Unerwartete zu erwarten. Das Undenkbare. Über achtzehn Jahre hinweg eine solche Aufgabe zu erledigen würde bei jedem Menschen Spuren hinterlassen, und Dempsey war keine Ausnahme. Er sah überall Gefahren. Dempsey fragte sich manchmal, ob das an seiner Ausbildung lag oder ob er schlicht paranoid war. Aber derlei Zweifel bereiteten ihm heute keine Sorgen. Heute war die Bedrohung überaus real.

»Ich vermute, da unten sieht es inzwischen nicht besser aus?«

Eine sanfte Stimme mit unverkennbarem Edinburgh-Akzent riss Dempsey aus seinen Gedanken. Er drehte sich zu dem Sprecher um.

Callum McGregor saß am einzigen Schreibtisch in dem Zimmer. Der Direktor des Department of Domestic Security war ein Koloss von einem Mann. Eins achtundneunzig groß und einhundertzwanzig Kilo schwer. Er überragte seinen leeren Schreibtisch um Längen.

Wortlos ging Dempsey auf den Direktor zu. Dempsey war selbst ein großer Mann, doch er bewegte sich leichtfüßig. Er zog einen Stuhl an die andere Seite des Schreibtischs heran und setzte sich, ohne eine Aufforderung abzuwarten.

Er sah McGregor in die Augen.

»Es wird nicht besser werden, Callum. Einen so weitläufigen, offenen Platz können wir nicht kontrollieren.«

Dempseys Stimme war rauer als die McGregors. Sie war weniger elegant, aber dafür eindringlicher. Das war zu erwarten. McGregor hatte die Stimme eines Diplomaten.

»Du weißt, dass du bei mir offene Türen einrennst, Joe. Aber das ändert nichts an den Tatsachen. Wir werden das Beste aus dem machen, was wir haben.«

»Aber wir haben nicht genug.«

Dempseys Antwort war unverblümt, aber nicht respektlos. McGregor war der Ranghöhere der beiden, aber gegenseitiger Respekt ließ diesen Unterschied fast verschwinden. Dempsey fuhr fort.

»Es geht nicht nur um die Menge der Gäste. Da draußen gibt es sieben verschiedene Dienste, Callum. Und alle arbeiten unabhängig voneinander. Nur der Himmel weiß, warum wir angeblich so viele brauchen. Wenn wir es einer einzigen Abteilung übertragen hätten, hätten wir die ganze Sache ordentlich koordinieren können.«

»Die Amerikaner würden uns niemals den Schutz von Präsident Knowles übertragen, Joe. Das war schon vor der Drohung gegen Thompson klar.«

McGregors Worte teilten Dempsey nichts Neues mit.

»Und wir würden niemals zulassen, dass sie die Aufgabe alleine übernehmen. Wir würden niemals riskieren, einen der beiden Ultra-VIPs – den Präsidenten oder den ehemaligen Präsidenten – auf britischem Boden zu verlieren. Was bedeutet, dass sich schon zu viele Köche in der Küche herumgedrückt haben, bevor unsere eigenen Dienste anfingen, sich untereinander in die Haare zu kriegen. Trotzdem könnte das Chaos natürlich noch größer sein.«

Dempsey lehnte sich zurück. Es ärgerte ihn, wenn McGregor recht hatte. Und das war meistens der Fall. Aber den Grund zu kennen machte es nicht einfacher, die Situation zu akzeptieren. Eine öffentliche Veranstaltung, an der gleichzeitig der gegenwärtige und ein ehemaliger amerikanischer Präsident teilnahmen? Sogar ohne die anwesenden britischen Politiker – und die würden angesichts der Publicity, welche die Veranstaltung mit sich brachte, unübersehbar sein – war dies ein absoluter Albtraum.

Wenn es heute einen terroristischen Angriff gibt, dachte Dempsey, dann brauchen wir schon ein Wunder, um eine Katastrophe zu verhindern.

Ein Knacken in seinem Ohrhörer wischte seine Überlegungen beiseite.

»POTUS hat das Musikzimmer verlassen. Bamboo startet in neun Minuten. Beginn auf mein Zeichen. Drei, zwei, eins, los.«

Schon seit mehr als einem Jahrhundert war der United States Secret Service für den Schutz des Präsidenten zuständig. Und der ehemaligen Präsidenten ebenso. In dieser langen Zeit hatte der Dienst seine Abläufe bis zur Perfektion weiterentwickelt. Vier kurze Sätze genügten, um jeden Agenten in Bereitschaft zu versetzen.

Der Countdown hatte begonnen.

Dempsey stellte seine Uhr ein, als die Stimme in seinem Ohr »los« sagte. McGregor tat dasselbe. Die beiden Männer hatten mehr gemeinsame Einsätze hinter sich als eine durchschnittliche Infanterieeinheit. Überall auf der Welt hatten sie verdeckte Missionen geleitet. Im Vergleich dazu war der heutige Tag ein Spaziergang. Und doch schlug Dempseys Instinkt Alarm.

Dempsey stand auf. Er hielt sich kerzengerade und streckte sich zu seiner vollen Körpergröße von einem Meter achtundachtzig. Zusammen mit seinem mächtigen Körperbau, der sogar noch durch seinen Anzug hindurch erkennbar war, verlieh ihm das eine einschüchternde Erscheinung. Der durchdringende Blick aus seinen dunklen, tief liegenden Augen und ein Gesicht, das die Spuren eines Lebens voller Gefahren verriet, vervollständigten das Bild. Er war keineswegs unattraktiv. Aber wenn er wollte, konnte Joe Dempsey wirklich furchterregend sein.

Sein Blick richtete sich direkt auf McGregor. Es waren keine Worte mehr nötig. Die besorgte Miene des Direktors sagte bereits alles.

Vielleicht war Dempsey also doch nicht der Einzige, der ein schlechtes Gefühl hatte.

3

»POTUS hat das Musikzimmer verlassen. Bamboo startet in neun Minuten. Beginn auf mein Zeichen. Drei, zwei, eins, los.«

Joshua konnte den amerikanischen Akzent in seinem Ohr nicht eindeutig bestimmen. Es war ein Ostküstenakzent, aber woher genau kam der Sprecher? Dass es ihm nicht gelang, ärgerte Joshua mehr, als ihm guttat. Joshua war besessen von Details – von Kontrolle, von Ritualen –, und er teilte diesen Zwang mit Millionen Menschen auf der Welt. Für die meisten war diese Zwangsstörung eine dramatische Einschränkung, die ihnen das Leben zur Hölle machen konnte. Für Joshua war es etwas anderes. Bei dem, was er tat, konnte die Aufmerksamkeit für Details den Unterschied zwischen Leben und Tod ausmachen. In dieser Welt hatte Joshuas Störung aus ihm einen perfekten Killer gemacht.

Joshua stellte seine Uhr, als der Sprecher »los« sagte. Er spürte das Feuer in seinen Synapsen, angeregt durch eine neue Woge Adrenalin. Die Meldung war von der Presidential Protective Division gekommen und sorgte dafür, dass Joshua sich noch mehr als zuvor konzentrierte. In genau neun Minuten würde die Wagenkolonne des Präsidenten den Buckingham Palace verlassen. Dann würde sie sich über The Mall bewegen und in etwas weniger als dreizehn Minuten den Trafalgar Square erreichen. Wie immer liefen die Aktionen des Secret Service präzise wie ein Uhrwerk.

Was auch für Joshua galt. Adrenalin wirkt bei verschiedenen Menschen unterschiedlich. Bei den meisten verursacht es eine Kampf- oder Fluchtreaktion. Bei deutlich weniger Menschen führt es zu lähmendem Entsetzen. Und noch weniger Menschen erleben dadurch eine eisige Klarheit in ihren Gedanken. Die Zeit läuft langsamer. Jede Handlung wird genau abgewogen. Berechnend. Tödlich. Die meisten würden das als soziopathisch bezeichnen – oder noch schlimmer. Joshua nannte es Professionalität.

Seine Professionalität war es auch, die jetzt die Führung übernahm. In einer einzigen fließenden Bewegung ließ er seinen Blick zum siebten und damit letzten Mal über die Dächer schweifen. Schon seit Langem fühlte sich Joshua mit dieser Zahl wohl. Sieben Überprüfungen seiner Umgebung. Sieben Bestätigungen, dass das Team an Ort und Stelle war, dass sich jeder einzelne Scharfschütze genau dort befand, wo er sein sollte. Gemeinsam nahmen sie den Trafalgar Square von jedem möglichen Winkel aus ins Visier. Aber die Blickwinkel seiner Kollegen zählten heute nicht. Heute kam es nur auf eine einzige Schussposition an.

Und das war diejenige, die Joshua bereits eingenommen hatte.

Es war ein weiteres perfekt geplantes Detail seines Auftraggebers. Inzwischen erwartete Joshua auch nichts Geringeres. Die zwanzig Männer und Frauen waren in einem politischen Tauziehen zusammengestellt worden. Die Hälfte kam von der Counter Sniper Support Unit des US Secret Service, was bedeutete, dass für die Briten noch ein Kontingent von zehn Mann blieb. Fünf vom Protection Command. Fünf vom Counter Terrorism Command. Wenigstens war das der Plan gewesen.

Joshua hatte den leitenden CTC-Scharfschützen im letzten Augenblick ersetzt. Er hatte nicht gefragt, wie das möglich geworden war. Natürlich war er neugierig. Und vielleicht würde er es auch eines Tages erfahren. Aber heute genügte es, dass er – irgendwie – zu dem Team gehörte, das ihn eigentlich hätte aufhalten sollen. Über Jahrzehnte hinweg hatte Joshua viele verschiedene Wege gefunden, sich seinen Zielen zu nähern. Aber noch nie unter solch ironischen Umständen.

Er richtete sein Zielfernrohr wieder auf den Platz. Es war dreißig Minuten her, seit er zum ersten Mal nach unten geblickt hatte. Die Menge innerhalb der Absperrung, jener vorübergehenden Barriere zwischen den geladenen Gästen und den Besuchermassen, hatte sich inzwischen verdreifacht und ihre volle Größe erreicht. Über zweitausend Männer, Frauen und Kinder. Und sie alle schwitzten in der ungewöhnlich heißen Oktobersonne.

Wäre es nach Joshua gegangen, hätten es genauso gut zehntausend sein können. Oder auch bloß zehn. Denn er interessierte sich nur für einen einzigen Gast.

Es war ein kleiner, drahtiger Mann in einem unmodischen Tweedanzug, der dreiundzwanzig Reihen von der Bühne entfernt auf einem Platz an einem der Gänge saß. Genau wie Joshua erklärt worden war, als er seine Anweisungen erhalten hatte. Es dauerte zwar noch einige Minuten, bis die Wagenkolonne eintreffen würde, doch Joshuas Ziel war bereits an Ort und Stelle. Von diesem Moment an würde das Ziel seine Schusslinie nicht mehr verlassen.

4

»Bist du sicher, dass wir von hier aus genug zu sehen bekommen?«

Sarah Truman stellte diese Frage ungefähr zum zehnten Mal in genauso vielen Minuten.

»So viel wie jeder andere innerhalb der Absperrung«, erwiderte Jack Maguire. »Wenn du eine bessere Position willst, musst du höher rauf. Und das heißt: runter vom Platz.«

Maguire nickte in Richtung der Dächer. Sarah folgte seiner Geste. Einen kurzen Moment lang schien sie über ihre Möglichkeiten nachzudenken. Dann sah sie einen Scharfschützen auf einem nahe gelegenen Kirchturm. Sein Anblick erinnerte sie daran, dass alle hohen Gebäude vorübergehend gesperrt waren.

Sarah wandte sich wieder an Maguire.

»Es kommt mir nur so vor, als seien wir etwas zu weit auf der Seite. Würden wir nicht bessere Aufnahmen bekommen, wenn wir direkt vor der Bühne wären?«

»Aber sicher. Vor allem von den Hinterköpfen der Leute.«

Maguires Bemerkung wurde von einem Lächeln begleitet. Er konnte ihre Sorgen verstehen. Viel mehr als für ihn war das für Sarah heute eine ganz große Sache. Maguire hätte sich Sorgen gemacht, wenn Sarah nicht ein wenig neurotisch gewesen wäre.

»Bist du bereit für den ersten Durchgang?«, fragte Maguire und stellte seine Linse ein.

»Ich könnte nicht bereiter sein.«

Maguire sah, wie gezwungen Sarahs Grinsen war. Und dass sie ihre Besorgnis überspielte. Ich bin sicher, ihr Magen rebelliert, dachte er. Aber sie wird damit zurechtkommen.

Sofort lieferte ihm Sarah die Bestätigung, dass er recht hatte. Sie löste das Band, das ihr langes braunes Haar zu einem hübschen Pferdeschwanz gebunden hatte, und lockerte die einzelnen Strähnen mit den Fingern. Sarah tat das vor jeder Aufnahme. Es war die Verwandlung von »hinter der Bühne« zu »direkt im Rampenlicht«. Ein abergläubisches Ritual, fast so wirkungslos wie eine Hasenpfote oder ein vierblättriges Kleeblatt.

Sarah nahm ihre Position vor Maguires Kamera ein.

»Fangen wir an.«

Maguires Lächeln wurde breiter. Schon seit vielen Jahren arbeitete er mit Fernsehreportern und Schauspielern zusammen. Er war an ihren Narzissmus gewöhnt und hatte längst aufgehört mitzuzählen, wie viele Aufnahmen verschwendet wurden, weil ihr Make-up erneuert werden musste. Doch die letzten beiden Jahre waren anders. Nicht weil Sarah unansehnlich gewesen wäre. Auf ihre Weise war die große, schlanke Amerikanerin so attraktiv wie jede andere Frau, mit der Maguire gedreht hatte. Gewiss, Sarah war zwar keine klassische Schönheit, aber vielleicht gerade deshalb etwas noch Besseres. Und im Gegensatz zu den anderen war sie absolut nicht eitel. Zumindest soweit Maguire das beurteilen konnte.

Nachdem sie ihr Ritual abgeschlossen hatte, schien Sarah wie von neuer Energie erfüllt, und ihre Nervosität verschwand hinter einem aufrichtigen Lächeln und funkelnden grünen Augen. Maguire strahlte vor Stolz.

»Weshalb grinst du?«

»Wegen gar nichts. Los, gehen wir’s an.«

Maguire stellte ein letztes Mal seine Linse ein, bevor er den Daumen hob. Es war das Zeichen für Sarah anzufangen.

»Wir befinden uns hier auf dem Trafalgar Square in London, wo schon bald führende Vertreter der Nation eintreffen werden, um Tausende britischer Männer und Frauen zu ehren, die ihrem Land seit über einem Jahrzehnt in den Konflikten in Afghanistan und im Irak gedient haben. Während die Streitkräfte Großbritanniens und der Alliierten ihre Prioritäten und die Entsendung weiterer Truppen neu überdenken, haben wir uns heute hier versammelt, um all jenen zu danken, die bereits wieder nach Hause zurückgekehrt sind. Und ebenso jenen, die bei der Verteidigung unserer Art zu leben das höchstmögliche Opfer gebracht haben.

Nachdem sich im Nahen Osten der Schwerpunkt des Kriegs gegen den Terror verlagert hat, ist die Zeit gekommen, Bilanz zu ziehen und sich zu fragen, was in den Jahren des brutalen Konflikts erreicht wurde. Und jenen tapferen Soldatinnen und Soldaten die Ehre zu erweisen, die so hart und so lange gekämpft haben. Während wir im Augenblick darauf warten, dass …«

Sarah beendete ihren Satz nicht, denn sie wurde von lauten Jubelrufen unterbrochen, die am Südostende des Trafalgar Square erklangen. Das konnte nur eins bedeuten: Die Wagenkolonne des Präsidenten war eingetroffen.

5

»Bamboo hat den Torbogen durchquert. Stagecoach auf drei, Maverick, Mercenary, Footprint und Falcon an Bord. Snapshot und Snow auf vier in Half Back, zusammen mit Wallflower und Warrior.«

Dempsey warf einen Blick auf seine Uhr. Zwölf Minuten waren seit der Übertragung in McGregors Büro vergangen. Jene erste Nachricht hatte die zeitlichen Abläufe festgelegt. Bisher lief alles nach Plan, fast bis auf die Sekunde genau. Dempsey schüttelte bewundernd den Kopf.

Die Amerikaner sind verdammt effizient.

Doch Dempsey konnte sich nicht erlauben, nur wegen der Effizienz des Secret Service nachlässig oder gar selbstgefällig zu werden. Bis jetzt hatten ihn diese Leute beeindruckt, doch er würde wachsam bleiben müssen. Sich anders zu verhalten konnte Menschenleben kosten. Das wusste er aus bitterer Erfahrung.

Dempsey sah zu seinen eigenen neun Agenten, der DDS-Einheit. Handverlesene Männer und Frauen, die sich allesamt bei ihren früheren Einsätzen als herausragend erwiesen hatten. Sie waren die Besten der Besten. So außergewöhnlich, dass sie Callum McGregor aufgefallen waren. Hart genug, um die Auswahlprozedur des DDS erfolgreich hinter sich zu bringen. Dempsey schenkte niemandem leichtfertig sein Vertrauen, doch jedes Mitglied seines Teams hatte es verdient.

Die neun Agentinnen und Agenten waren genau dort, wo sie sein sollten. Einsame Gestalten am Ende jedes Ganges, im Niemandsland zwischen den Gästen und der Bühne. Sie alle trugen makellose schwarze Zweireiher, schimmernd weiße Hemden und schmale schwarze Krawatten. Die offiziellen schwarzen Sonnenbrillen vervollständigten das Bild. Jeder Einzelne von ihnen hätte als Komparse in einem Hollywoodfilm auftreten können. Nur die unübersehbare Ausbuchtung zwischen der linken Brust und der Achselhöhle unter ihren Jacketts sprach eine andere Sprache. Diese Männer und Frauen waren tatsächlich das, wonach sie aussahen.

Nicht dass Dempsey jemals daran gezweifelt hätte. Er vertraute vollkommen darauf, dass sie alle ihre Pflicht tun würden. Und dass sie genauso handeln würden, wie sie es in den letzten achtundvierzig Stunden immer wieder geübt hatten. Heute waren auf dem Platz zehn Gänge eingerichtet worden; sie bildeten die einzigen offenen Routen durch das Meer der Stühle, das heute einen gewaltigen Platz füllte, der üblicherweise der Öffentlichkeit frei zur Verfügung stand. Neun dieser Gänge wurden von Dempseys Agenten überwacht. Der zehnte und einzige, in dem sich im Augenblick kein Agent befand, war anders. Ihn würden die VIPs nehmen. Auf diesem Weg würden sie zur Bühne gelangen. Sollte es zu irgendeinem Zwischenfall kommen, würde er sich wahrscheinlich genau hier abspielen. Und eben deswegen war dies Dempseys Gang.

Damit wurde von Dempsey selbst mehr erwartet als von seinen Agenten. Deren Aufgabe war einfach. Sie mussten nur auf dem ihnen zugeteilten Fleck verharren. Regungslos, aber wachsam. Ihre Blicke mussten überall sein. Dempseys Aufgabe war komplexer. Zwar würde er am Ende genau dasselbe tun wie seine Leute, doch zunächst musste er die VIPs von der Absperrung zur Bühne begleiten.

Es hörte sich einfach an. Solche Dinge hören sich immer einfach an.

Wieder erklang ein Summen in Dempseys Ohrhörer – als gleichsam ständiger Kommentar zu jeder Bewegung der Wagenkolonne, entsprechend dem amerikanischen Motto: »Nachrichtendienstliche Informationen sind alles.« Wenn man jedes Detail und jede Bewegung kennt, dann kann einfach nichts schiefgehen. Dempsey dachte anders. So simpel war es nie.

Dempsey ging zum Eingang an der nordwestlichen Ecke des Platzes und nahm seine Position ein. Von hier aus verfügte er nur über eine eingeschränkte Sicht, wegen der Absperrung, die den Platz umgab. Diese Absperrung war eine notwendige Sicherheitsmaßnahme. Doch in der Politik wird manchmal sogar das Notwendige verborgen. Zweitausend Gäste hatten das Glück, sich heute auf dem Platz aufhalten zu dürfen. Millionen andere nicht. Die Absperrung diente dazu, sie auf Distanz zu halten. Andererseits war fast jeder, der dieser unerwünschten Masse angehörte, ein registrierter Wähler, weshalb eine Art Tarnung nötig war. Zu diesem Zweck hatte man die Absperrung mit Hunderten Metern von Stoffbahnen aus blauem Samt drapiert. Zusammen mit dem besonders strapazierfähigen Teppich, der den Boden bedeckte, sowie der Bühne am Nordende und den zweitausend Stühlen, die ihr gegenüberstanden, wirkte der Trafalgar Square wie der größte Konferenzraum, den Dempsey jemals gesehen hatte. Alles diente ausschließlich dazu, die Öffentlichkeit zu täuschen. Und die Tatsache zu verschleiern, dass nur Prominente Zugang zum inneren Bereich des Platzes bekamen.

Die Täuschung funktionierte. Das lag auf der Hand, wenn man den Lärm hörte. Als Dempsey durch den magnetischen Sicherheitstorbogen spähte, der den Zugang zum inneren Bereich markierte, konnte er die Ankunft der Wagenkolonne des Präsidenten sehen. Ironischerweise war das die einzige Sache, die er nicht erst zu sehen brauchte. Der Jubel der Menge war ohrenbetäubend, ihre Begeisterung war echt. Dempsey kannte nur zwei Politiker, die dermaßen bewundert wurden, und ob sie nun zu sehen waren oder nicht: Der Lärm genügte bereits, um ihn wissen zu lassen, dass die beiden eingetroffen waren.

Dempsey konzentrierte sich auf die Szene, die durch den Torbogen gleichsam eingerahmt war. Seine Sicht war eingeschränkt, aber ausreichend. Es schien unmöglich, dass der Jubel der Menge noch lauter werden würde, doch irgendwie geschah genau das in jenem Moment, in dem die Wagenkolonne – vom Secret Service auf den Codenamen »Bamboo« getauft – langsam zum Stehen kam.

»Bamboo« hatte die kurze Strecke vom Buckingham Palace im Schritttempo zurückgelegt. Jeweils acht Agenten der Presidential Protection Division hatten die einzelnen Fahrzeuge im Laufschritt begleitet. Kein Einziger von ihnen war in Schweiß ausgebrochen, ein Zeichen für die hervorragende Kondition der Männer. Alleine deswegen hätte Dempsey sich sicherer fühlen sollen. Eigentlich. Aber so war es nicht.

Die Stimme in Dempseys Ohr teilte ihm mit, dass es sich bei dem Wagen des Präsidenten – Codename »Stagecoach« – um das dritte Fahrzeug der Kolonne handelte. Das wusste Dempsey bereits. Er hatte beobachtet, wie dieser Wagen genau an der Stelle anhielt, die dem Eingang am nächsten war. Das Fahrzeug war gerade zum Stehen gekommen, als die Passagiere auch schon ausstiegen.

Nur das offensichtliche Gewicht der hinteren Türen des 2009er Cadillacs deutete darauf hin, wie sehr man die Limousine des Präsidenten modifiziert hatte. Es war das erste Mal, dass Dempsey dem legendären Gefährt so nahe kam. Nichts daran schien besonders ungewöhnlich. Hätte Dempsey es nicht besser gewusst, hätte er niemals erraten können, wie sehr der Wagen seinem Spitznamen – »Die Bestie« – gerecht wurde. Die Limousine wog mehr als ein durchschnittlicher Kipplaster und verfügte über eine zwölfeinhalb Zentimeter dicke militärische Panzerung, die dem direkten Treffer eines einfachen Raketenwerfers standhalten konnte. Ultra-High-Performance-Reifen, die es dem Fahrer erlaubten, sich unabhängig vom Zustand der Räder mit Höchstgeschwindigkeit fortzubewegen. So dickes Panzerglas, dass kaum natürliches Licht in das Wageninnere drang. Die Limousine war fast ein Atombunker auf Rädern. Ein Ort, an dem der Präsident vollkommen sicher war. Hätte man das nur auch vom Trafalgar Square behaupten können.

Das Team des Secret Service umstellte »Stagecoach«, noch bevor die Räder aufgehört hatten, sich zu drehen. Wieder wurde Dempsey die Sicht versperrt. Doch auch diesmal kam es nicht darauf an, dass er etwas sah. Der Lärm der Menge verriet ihm, dass das Publikum in diesem Augenblick US-Präsident Knowles und First Lady Veronica – Codenamen »Marverick« und »Mercenary« – tatsächlich zu Gesicht bekam. Dempsey wusste, dass der britische Premierminister William Davies und seine Frau Elizabeth bei ihnen sein würden: »Footprint« und »Falcon«, wie der Secret Service sie nannte.

Das Schicksal aller vier Personen lag nun in den Händen der besten Agenten der Presidential Protection Division. So würde es bleiben, bis sie die Schwelle des Platzes überquert hätten. Erst dann war Dempsey für sie verantwortlich.

Und das geschah keineswegs sofort, denn zunächst vergingen mehrere Minuten, in denen Knowles die Beifallsstürme genoss. Während Davies, der als Politiker lange nicht so beliebt war, sich in dem Glanz sonnte, der dabei auf ihn abstrahlte, konnte Dempsey nur abwarten und zusehen, wie der Secret Service seine Aufgabe erledigte.

Die Amerikaner zeigten eindrucksvoll, wie die Dinge gemacht werden sollten. Anders als jene riesenhaften Gorillas, von denen sich gewisse Berühmtheiten beschützen ließen und die dabei unablässig den Star im Auge behielten, der ihr Gehalt bezahlte, waren Präsident Knowles’ Leute unauffällig und effizient. Ihre Blicke waren dort, wo sie sein sollten. Unablässig taxierten sie die Menge, nie wandten sie sich Knowles zu. Ihre Aufgabe bestand darin, jede Bedrohung des Präsidenten frühzeitig zu erkennen. Und wenn Knowles nicht gerade Selbstmord begehen wollte, würde diese Bedrohung wohl kaum vom Präsidenten selbst ausgehen.

Minuten verstrichen ohne ein Anzeichen dafür, dass der Jubel der Menge nachlassen würde. Genau das machte Dempsey Sorgen. Es machte ihm sogar jede Menge Sorgen. Solange die VIPs den Platz noch nicht betreten hatten, standen sie auch nicht unter seinem Schutz, und das bedeutete, dass Dempsey vorerst nichts für sie tun konnte. Für einen Mann, der sein Leben darauf aufgebaut hatte, sich nur auf sich selbst zu verlassen und immer alles unter Kontrolle zu haben, war das Gefühl der Machtlosigkeit schon unter normalen Umständen schwer erträglich. Und die Umstände heute waren überhaupt nicht normal. Die gezackte, fünfzehn Zentimeter lange Narbe, die sich über Dempseys linke Wange zog, begann zu pochen. Ein Zeichen dafür, dass sein Blutdruck neue Höhen erreicht hatte.

Dempseys Moment kam ohne Vorwarnung. Während die Menge noch immer jubelte, machte Präsident Knowles auf dem Absatz kehrt und betrat den Platz. Dempsey ging einen Schritt nach hinten. Er hielt sich kerzengerade und salutierte. Knowles, ein ehemaliger US-Marine und nun Oberbefehlshaber der Streitkräfte, erwiderte den Gruß. William Davies, Großbritanniens unpopulärer Premierminister, tat das nicht.

Dempsey drehte sich um und begann, in Richtung Bühne zu gehen. Sekundenlang war er geradezu erstarrt gewesen, als er Knowles Auge in Auge gegenübergestanden hatte. Er bewunderte den amerikanischen Präsidenten schon lange, und doch hatte ihn nichts darauf vorbereitet, wie die direkte Begegnung mit Knowles auf ihn wirken würde. Doch die Ablenkung dauerte nicht länger als einen Herzschlag. Dempsey wandte den Blick vom berühmtesten Gesicht der Welt ab. Er hatte eine Aufgabe zu erledigen, und dazu musste er sich an der Spitze der kleinen Gruppe halten, die ihm folgte.

Die Entfernung zur Bühne betrug nur etwas weniger als hundert Meter, doch es dauerte volle drei Minuten, sie zurückzulegen. Die Gäste waren von ihren Stühlen gesprungen. Drängten nach vorn. Streckten die Arme aus. Applaudierten. Zweitausend von ihnen. Dempsey blieb nichts anderes übrig, als sie mühsam zurückzudrängen, während die Gruppe sich Meter für Meter weiterschob. Die Eskorte des Secret Service, die Knowles in die Mitte nahm, half ihm dabei. Knowles selbst nicht. Er schien jede Hand schütteln zu wollen, die ihm gereicht wurde. Das machte jeden Schritt zum Problem und jeden geschafften Meter zu einem Sieg. Die peinigende Prüfung war erst zu Ende, als sie die Treppe erreicht hatten, die zur Bühne führte. Erst jetzt konnte Dempsey beiseitetreten.

Dempsey sah zu, wie die VIPs die acht niedrigen Stufen hinaufstiegen und auf die Bühne gingen. Alle ließen sich von der Menge feiern, und keiner schien einen Gedanken an die Gefahren zu verschwenden, die es da draußen geben mochte. Das galt sogar für den ehemaligen Präsidenten Howard Thompson, der, wie Dempsey sich klarmachte, von den besonderen Drohungen, die es gegen sein Leben gegeben hatte, einfach wissen musste.

Aber Politiker scheinen wegen derlei Dingen nie besorgt zu sein. Für ihre Sicherheit waren andere verantwortlich. Männer wie Dempsey.

Dempsey nahm seine Position an der Spitze des Ganges ein. Seine erste Aufgabe hatte er erfolgreich gemeistert. Er hätte sich besser fühlen müssen. Hätte zuversichtlicher sein müssen. Doch aus irgendeinem Grund wuchs seine Beklemmung immer weiter. Etwas stimmte nicht. Aber Dempsey konnte nicht genau sagen, was das war.

6

Joshuas Armbanduhr lag vor ihm in seinem unmittelbaren Blickfeld neben dem Lauf seines Gewehrs. Das Zifferblatt zeigte in einem bestimmten Winkel nach oben, sodass er die Zeit mit einem kurzen Blick ablesen konnte. Bequem, aber unnötig. Seit der ersten Übertragung des Secret Service hatte Joshua die Sekunden im Kopf mitgezählt. Noch ein Symptom seiner Zwanghaftigkeit. Eintausendsiebenhundertundvierzig davon waren vergangen.

Seine teure Rolex Submariner bestätigte die Zahl. Neunundzwanzig Minuten.

Joshua hatte die Zeit genutzt. Er verbrachte sie damit, seine Rituale durchzugehen, die er sich vor jedem Schuss angewöhnt hatte. Sie waren ihm inzwischen in Fleisch und Blut übergegangen, sodass er nicht mehr bewusst darüber nachdenken musste. Gewisse Umstände seines Auftrags mochten merkwürdig sein, doch die grundlegenden Bedingungen waren immer dieselben. Das Magazin laden. Eine Patrone in die Kammer befördern. Die Schusslinie festlegen. Die Hindernisse identifizieren. Und zwar siebenmal, um seinen Zwang zu befriedigen. Jedes einzelne Mal mit absoluter Präzision.

Joshua kannte den Namen seines Ziels. Er kannte das Gesicht des Mannes. Und er wusste, wo Eamon McGale zu finden war. Seit McGale sich auf seinen Stuhl gesetzt hatte, befand er sich in Joshuas Fadenkreuz. Wenn alles nach Plan lief, würde er nie mehr lebend daraus verschwinden.

So etwas war leicht zu behaupten, aber manchmal schwer in die Tat umzusetzen. Nur nicht für Joshua. Seit er denken konnte, war Joshua von Gewalt umgeben gewesen. Zweifellos gab es andere Männer, die ebenfalls das tun konnten, was er tat. Doch kaum einer war darin so gut wie er. Dazu musste man die tödliche Kombination aus körperlicher Fitness, kalter Besessenheit, professioneller Ausbildung und einem absoluten Mangel an Reue in sich vereinen. Auf Joshua trafen all diese Kriterien im Übermaß zu, weshalb er dem älteren, ein wenig abgerissen aussehenden Mann, den er durch sein Zielfernrohr fixierte, mehr als nur gewachsen war.

Von Anfang an wirkte McGale fehl am Platz. Nicht in körperlicher Hinsicht. Zwar war seine Kleidung schon etwas älter, und es schien, als würde ihm eine ordentliche Mahlzeit guttun, doch eigentlich war seine Erscheinung nicht besonders ungewöhnlich. Nein. Was Joshua auffiel, waren eher seine Gefühle, oder genauer gesagt: der völlige Mangel an irgendwelchen Emotionen.

Selbst aus einer Höhe von sechzig und einer Entfernung von hundert Metern bis zum Platz konnte Joshua spüren, welche Wirkung die Ankunft von Präsident Knowles hatte. Einen so begeisterten Empfang hatte Joshua noch nie erlebt. Und doch war McGale wie angewurzelt auf seinem Stuhl sitzen geblieben. Eine Oase der Ruhe inmitten eines Sturms der Hysterie.

Auch auf das, was danach gekommen war, hatte McGale nicht reagiert. William Davies hatte hinter einer fünf Zentimeter dicken Glasscheibe – einer Mischung aus Teleprompter und kugelsicherem Bildschirm – eine Ansprache gehalten. Davies war ein kleiner, unattraktiver und unpopulärer Mann. An euphorischen Applaus war er nicht gewöhnt. Doch heute hatte sogar er ihn bekommen – von zweitausend handverlesenen Gästen, die sich von der Begeisterung des Augenblicks hinreißen ließen.

Davies hatte die Feier mit einem kurzen Dank an die britischen Streitkräfte eröffnet. Tobend bekräftigte die Menge seine Worte. Nur McGale nicht. Wieder war McGale vollkommen regungslos geblieben. Lediglich die Schweißtropfen, die sich auf seiner Stirn bildeten und seinen Hals hinabrannen, bewiesen, dass der Mensch unter dem Tweed noch am Leben war.

All das änderte sich, als Präsident Knowles zur Bühnenmitte trat. Jetzt plötzlich reagierte McGale. Unruhe erfüllte ihn. Mehrmals tastete er die Unterseite der Sitzfläche seines Stuhls ab. Für einen unerfahrenen Beobachter mochte es wirken, als litte er unter einem nervösen Tick. Für Joshua hingegen war es das Startsignal. Er wusste, wie es war, wenn jemand Nerven zeigte. Und er wusste, was nun folgen würde.

7

Sarah Truman hatte jedes Wort ihres Präsidenten mitgeschrieben. Seit zwei Jahren lebte sie in London, und in dieser Zeit hatte sie den britischen Premierminister weitaus häufiger beobachten können als den Anführer ihres eigenen Landes. Es war unvermeidlich, dass sie die beiden miteinander verglich, obwohl man diesen Vergleich kaum als fair bezeichnen konnte. Im Gegensatz zu William Davies war der Führer der freien Welt ein wirklich beeindruckender Mann.

John Knowles faszinierte Sarah. Er schien einfach alles zu besitzen, worauf es ankam. Er war groß, sportlich und gut aussehend. Ein Hollywood-Präsident. Und genau deswegen wurde er manchmal unterschätzt, was ein Fehler war, den niemand zweimal machte. Knowles’ Intellekt war sogar noch beeindruckender als sein gutes Aussehen und befähigte ihn dazu, es mit jedem politischen Herausforderer aufzunehmen.

Sarah sah hinüber zu Maguire. Sie war sicher, dass ihr Kameramann seine Aufnahme bekommen hatte. Ihr Vertrauen war absolut gerechtfertigt. Maguire hatte einen freien Blick auf die Bühne, ohne irgendwelche Hindernisse. Andere Kamerateams hatten weniger Glück. Oder vielleicht waren sie auch einfach nicht so gut. Aber wie auch immer: Die besten Aufnahmen würden heute durch Jack Maguires Linse gehen.

Daran zweifelte sie nicht. Sie wusste es zu schätzen, dass sie zu einem so frühen Zeitpunkt in ihrer Karriere einen Mitarbeiter bekommen hatte, dessen Talent allgemein respektiert wurde, und sie war aufrichtig dankbar für die Unterstützung, die sie von Maguire erhielt. Aber die beiden waren Freunde, also musste sie es nicht explizit erwähnen. Stattdessen konzentrierte sich Sarah auf die Bühne. Auf das Ende von Knowles’ Rede. Wie immer waren seine Ausführungen ebenso makellos wie die Art und Weise, in der er sie vortrug.

»… keinen größeren Freund und keinen engeren Verbündeten als Großbritannien. Es ist eine Verbindung, die die Prüfungen der Geschichte bestanden und so manche Gegnerschaft überwunden hat, und ich kann mir nichts Würdigeres vorstellen, als diejenigen Männer und Frauen zu ehren, die meiner eigenen Nation in diesen schweren Zeiten beigestanden haben. Ladies und Gentlemen, wir haben uns heute hier versammelt, um all jenen zu danken – mögen sie nun in dieser Stunde unter uns oder auf tragische Weise von uns gegangen sein –, die einen Heroismus bewiesen haben, wie er seit der Zeit der Größten Generation ohne Beispiel ist. Gemeinsam mit Ihnen allen heiße ich eine Gruppe von Männern und Frauen willkommen, die zu beschreiben ein einziges Wort genügt: Ich begrüße unsere Helden.«

Das letzte Wort ließ die Menge toben. Knowles hatte sein Publikum richtig eingeschätzt. Das tat er immer. Die Gäste reagierten genauso, wie er es beabsichtigt hatte. Wieder wurde der Lärm des Jubels ohrenbetäubend laut. Und geradezu desorientierend.

Sarah spürte, wie sich ihr Kopf drehte, während sie eifrig weiter auf ihrem Notizblock schrieb.

Der Lärm schien volle zehn Minuten lang anzuhalten. Nur mühsam konnte sich Sarah ihren Notizen widmen. Erst als der Jubel ein wenig nachließ, gewann sie ihre volle Konzentration wieder. Doch die Erleichterung war nur vorübergehend.

Schon wenige Augenblicke erfüllte ein neuer Energieschub die Gäste, der genauso plötzlich kam wie der erste. Sarah blickte von ihrem Block auf und in Richtung Bühne, um nach dem Grund Ausschau zu halten.

Präsident Knowles hatte sich hingesetzt und die Bühne frei gemacht, doch sie blieb nicht lange leer. Sarah sah, wie der frühere US-Präsident Howard Thompson zu Sir Neil Matthewson, dem Außenminister für Nordirland und populärsten Politiker Großbritanniens, trat und gemeinsam mit ihm zur Bühnenmitte ging.

Die Gäste bereiteten den beiden Männern einen ebenso begeisterten Empfang wie Knowles. Thompsons Zeit im Weißen Haus lag fast vier Jahre zurück, doch irgendwie war es ihm gelungen, so beliebt zu bleiben wie damals. Matthewson mochten die Menschen ebenfalls. Deshalb war es keine Überraschung, dass die beiden so herzlich empfangen wurden. Oder dass niemand die Reaktion eines einzelnen Mannes mit toten Augen inmitten der Menge bemerkte, bis es zu spät war.

8

Der ohrenbetäubende Jubel bedeutete für verschiedene Menschen verschiedene Dinge. Für Thompson und Matthewson war es der verdiente Dank nach Jahren des Dienstes an der Gemeinschaft. Für William Davies war es der Beweis, dass die Veranstaltung ein PR-Erfolg sein würde. Gewissermaßen eine neue Schicht Farbe auf den Rissen in seiner Regierung. Und für Dempsey war es die Bestätigung seiner schlimmsten Befürchtungen. Eine so große Menge ließ sich einfach nicht überwachen.

Dempseys Augen hinter der dunklen Sonnenbrille waren unablässig in Bewegung. Ständig wanderte sein Blick hin und her. Er hielt Ausschau. Aber wonach? Einer Schusswaffe? Einem Messer? Einer Bombe? Wie sollte er in diesem Meer aus Körpern überhaupt etwas erkennen? Sein Unbehagen war lähmend, und doch konnte er es nicht erklären. Dempsey hatte sich schon viel größeren Problemen stellen müssen. Er wusste nicht mehr, wie oft sein Leben in Gefahr gewesen war. Aber der heutige Tag war irgendwie anders.

Er war dankbar dafür, dass McGregors Stimme in seinem Ohrhörer ihn aus seinen Gedanken riss.

»Wir hinken dem Zeitplan hinterher. Inzwischen müsste der erste Soldat längst auf der Bühne sein, um seine Auszeichnung in Empfang zu nehmen. Diese Bastarde versuchen, auch noch das Letzte aus ihrem Applaus rauszuholen.«

»Dann musst du ihnen eine Nachricht schicken. Sorg dafür, dass die Gäste sich auf ihren Arsch setzen!«

Dempsey blaffte die Worte in das Mikrofon an seinem Handgelenk. Sein starker Londoner Akzent brach durch und verriet, wie verärgert er war.

»Ist das ein Befehl, Major?« McGregor klang amüsiert.

»Es ist einer, wenn du das sagst! Wir müssen dafür sorgen, dass die Menge sich setzt, Callum.«

»Einverstanden.«

Keine weiteren Worte mehr. Dempsey nahm das Mikrofon von den Lippen und ließ seine Hand sinken. Wieder wanderte sein Blick über die Menge.

Dempsey wusste, dass McGregor sein Bestes tun würde. Wenn überhaupt irgendjemand dafür sorgen konnte, dass die Politiker mit der Veranstaltung fortfuhren, dann war es der Direktor des DDS. Aber dieses Wissen linderte seine Befürchtungen nicht. Diesmal nicht. Dempsey hatte so lange überlebt, weil er seinen Instinkten vertraute. Und als er an einer entfernten Stelle in der Menge eine ungewöhnliche Bewegung und einen metallischen Gegenstand wahrnahm, hatten seine Instinkte eine Botschaft für ihn: Was immer McGregor tun oder auch nicht tun würde, es war bereits zu spät.

9

Joshua war bereit. Auf den Punkt. McGales Körpersprache hatte ihn vorgewarnt. Das plötzliche Erstarren des Kiefers. Das Steifwerden der alternden Muskeln unter der unauffälligen Kleidung. Das tiefe Einatmen. Unmissverständliche Anzeichen dafür, dass dieser Mensch gleich handeln würde.

Joshuas Auge war nur Millimeter vom Zielfernrohr entfernt. Er konnte jedes Detail sehen. Jede Bewegung. Und doch wurde er von McGales Schnelligkeit überrascht. Joshua hatte sorgfältig beobachtet, wie McGale die Hände unter die Sitzfläche seines Stuhls schob. Dort hatten sie ein paar Sekunden lang verharrt, als seien sie auf Widerstand gestoßen. Dann, genauso plötzlich, waren sie frei. Jetzt lag in der rechten Hand eine Pistole. Das Klebeband, das zuvor unter dem Stuhl befestigt gewesen war, verbarg Marke und Modell der Waffe.

Explosionsartig hatte McGale zu handeln begonnen, und dabei bewegte er sich so schnell wie jemand, der nur halb so alt und doppelt so fit war wie er. Joshua hatte Mühe, McGale zu folgen, während dieser durch die noch immer jubelnde Menge rannte, doch das beunruhigte ihn nicht. Es gab nur einen Ort, an den McGale gehen würde, und es gab nur einen Weg dorthin. Anstatt dem schwankenden Sprint seines Ziels zu folgen, richtete Joshua sein Zielfernrohr auf den Bühnenteil am Ende des Ganges. Den McGale in wenigen Augenblicken erreichen würde.

Sarah öffnete bereits ihren dritten Notizblock an diesem Tag. Sie schrieb alle Worte und Gefühle auf, die ihr in den Sinn kamen. Nicht zum ersten Mal notierte sie »Beatlemania«. Sie wusste, warum. Noch nie hatte Sarah eine Menschenmenge erlebt, die sich so verhielt. Die Hysterie hielt ununterbrochen an, und sie musste unwillkürlich an Filmaufnahmen denken, die kreischende Fans der Beatles in den Sechzigerjahren zeigten.

Sie verstand diese Reaktion nicht. Sarah wusste zwar, dass Thompson und Matthewson großen Respekt bei der britischen Bevölkerung genossen. Gemeinsam hatten sie die Verhandlungen über Nordirland geführt, die – bis zu den jüngsten terroristischen Gräueltaten – den stockenden Friedensprozess wieder in Schwung gebracht hatten. Aber das allein konnte die geradezu maßlose Verehrung durch die Menge nicht erklären. Als Amerikanerin, die in London lebte, fand Sarah diese extreme Zurschaustellung von Gefühlen ein wenig unbritisch.

Hochkonzentriert fixierte Sarah das Blatt. Sie sah nichts anderes mehr, während sie sich darum bemühte, ihre Gedanken in Worte zu fassen. Der ohrenbetäubende Lärm um sie herum erschwerte diese Aufgabe. Sarah schloss die Augen und versuchte, jegliche Ablenkung auszuschalten. Also sah sie nicht, wie ein Mann mittleren Alters an ihr vorbei auf die Bühne zu rannte. Doch Maguire hatte aufgepasst.

Er zögerte kaum einen Herzschlag lang, bevor er die Verfolgung aufnahm. Obwohl es ihn einige Mühe kostete, die Linse konstant auf McGale zu richten, und er dadurch etwas langsamer vorankam, spielte das keine große Rolle, denn die Strecke war kurz. Was immer geschehen würde, wäre auf Film gebannt. Und Sarah, die von Maguires plötzlicher Bewegung aus ihrer Konzentration gerissen worden war, folgte ihm nur wenige Schritte entfernt.

Joshua beobachtete McGales Lauf mit bloßem Auge. Das Fadenkreuz seines Zielfernrohrs war längst perfekt ausgerichtet. Alles war genau justiert. Für einen kurzen Moment fragte er sich, ob McGale tatsächlich die Bühne erreichen würde, bevor jemand ihn bemerkte.

Nur Sekundenbruchteile später hatte er seine Antwort. Joshua spürte einen Stich der Enttäuschung, als McGale das Ende des Ganges erreichte und direkt auf den Pistolenlauf einer dort stehenden Agentin zu rannte. Die Frau war bereit, ihre Waffe war auf McGales Herz gerichtet. Nur eine winzige Bewegung ihres Fingers, und sein Weg wäre zu Ende.

Genau darauf hatte Joshua gewartet. Man hatte ihm gesagt, dass er mit so etwas würde rechnen müssen. Er zögerte nicht. Joshua drückte den Abzug nur einmal und sah ohne besondere Befriedigung zu, wie seine Kugel den Kopf der Agentin von vorn durchbohrte. Der Schuss riss sie zu Boden, womit das einzige Hindernis auf McGales Weg beseitigt war. Nicht dass McGale das überhaupt bemerkt hätte. Es war ihm anscheinend nicht klar, wie knapp er dem Tod entgangen war.

Nur noch drei Schritte, dann hatte McGale die Bühne erreicht. Zu wenig Zeit, als dass irgendjemand sonst reagieren konnte.

Sechs Schüsse. Das gesamte Magazin der Waffe, die McGale unter seinem Stuhl hervorgezogen hatte. Abgefeuert auf Matthewson und Thompson aus einer fast frontalen Position. Die Zahl war von entscheidender Bedeutung für Joshua; seine Anweisungen waren unmissverständlich. Phase eins: Dafür sorgen, dass McGale die Bühne erreicht und sämtliche Schüsse abgeben kann. Joshua sollte die Aktion unterstützen, indem er alle Hindernisse auf McGales Weg beseitigte. Erst dann würde McGale selbst zum Ziel werden. Phase zwei.

Joshua richtete sein Fadenkreuz wieder auf den Punkt zwischen McGales Augen. Bereit, jenen leichten Druck auszuüben, der die neue Kugel in der Kammer abfeuern würde. Joshuas Bewegung war schnell, egal, welchen Maßstab man anlegte. Aber nicht schnell genug.

Sowohl Sarah als auch Maguire hatten McGale verfolgt, ohne darüber nachzudenken. Keiner schien um seine Sicherheit besorgt, bis sie Joshuas Schuss hörten. Es war ein Weckruf, der dafür sorgte, dass die beiden abrupt stehen blieben. Entsetzt sahen sie, wie der Kopf der jungen Agentin aufgerissen wurde.

Maguire war ein Veteran, der fünfundzwanzig Jahre Videojournalismus hinter sich hatte. Er hatte so viele gewaltsame Tode miterlebt, dass er sich längst nicht mehr an alle erinnern konnte oder wollte. Zwar musste er sich fragen, welche Wirkungen das auf seine Psyche gehabt hatte, doch heute war er einfach nur dankbar dafür, dass er gelernt hatte, seinen Würgereflex zu unterdrücken. Sarah war geradezu erstarrt, als sie sah, wie die Agentin zu Boden ging, doch Maguire hielt nur für einen kurzen Augenblick inne. Danach war er sofort wieder in Bewegung. Er richtete die Linse auf die Szene, die sich auf der Bühne abspielte. Maguires Kamera war perfekt positioniert und nahm auf, wie sich jede einzelne Kugel in Matthewson und Thompson bohrte.

Genau wie Maguires Linse war seine ganze Aufmerksamkeit auf die Bühne gerichtet, sodass er nicht sah, was sich davor abspielte: Ein DDS-Agent rannte an ihm vorbei und riss den Schützen zu Boden.

Sarah hatte Dempsey kommen sehen. Ihr Blick war auf die tote Agentin fixiert, und sie bemühte sich, ihren Schock in den Griff zu bekommen. Sie wusste, dass Maguire schon oft Zeuge dieser Art von Gewalt geworden war. Sie selbst war es nicht. Sarah war in einer reichen Bostoner Familie aufgewachsen. Der Tod, sogar unter natürlichen Umständen, hatte in ihrem Leben bisher keine Rolle gespielt. Und deshalb wusste Sarah nicht, wie sie mit dem umgehen sollte, was sie gerade erlebt hatte. Glücklicherweise bot ihr Dempsey eine dramatische Ablenkung. Der Agent bewegte sich wie ein olympischer Sprinter. So schnell, dass Sarah sich zur Seite werfen musste, als er über die Leiche der Agentin hinwegsprang. Sarahs Blick folgte Dempsey, als er an ihr vorbeistürmte, und voller Bewunderung sah sie, wie er in einer einzigen flüssigen Bewegung den Schützen umriss, entwaffnete und festhielt.

Mehrere Sekunden vergingen, bis Joshua sich selbst daran erinnerte, wieder zu atmen.

McGale befand sich nach wie vor in seinem Fadenkreuz, doch er hätte genauso gut hinter kugelsicherem Glas stecken können. Jetzt, da sein Ziel zu Boden gedrückt wurde, konnte Joshua nicht mehr feuern, wenn seine Tarnung nicht auffliegen sollte.

McGale war ungewöhnlich schnell umgerissen worden. Das hatte niemand erwarten können. Die Überraschung hatte Joshua zögern lassen. Nur einen Augenblick. Aber selbst Sekundenbruchteile können ein Leben ändern.

Zum ersten Mal in seiner Karriere hatte Joshua versagt. Als der Rauch sich verzogen hatte und mehrere Rettungseinheiten um das Leben der Männer kämpften, die blutend auf der Bühne lagen, musste Joshua sich fragen, welche Folgen dieses Versagen wohl haben würde.

10

Das Herz von Daniel Lawrence raste, als Michael Devlin den letzten und verheerendsten Zeugen ins Kreuzverhör nahm, der gegen seinen Klienten aussagen würde: Richard Dove.

Nathan Campbell, der Mann, den Daniel und Michael verteidigten, war wegen Aktienbetrugs angeklagt. Ihm wurde vorgeworfen, den Kursverlust der Costins Group in Höhe von mehreren Milliarden Pfund verursacht zu haben. Er hatte bei der Investmentbank als Derivatehändler gearbeitet.

Richard Dove war Campbells direkter Vorgesetzter gewesen, ein Mann, den, so behauptete die Staatsanwaltschaft, Campbell unmittelbar getäuscht hatte, während er seine Verbrechen beging.

Dies war die Gelegenheit für Dove, es seinem ehemaligen Untergebenen heimzuzahlen und der Welt von Campbells Schuld zu berichten. Und es war seine Chance, vor den Augen der Öffentlichkeit jeglichen Schaden wiedergutzumachen, der ihm selbst durch seine Nähe zu Campbells Aktionen entstanden war.

Bisher hatte er es verstanden, in beiderlei Hinsicht das Beste für sich herauszuholen.

Daniels Notizen hielten jede Frage fest, die Michael in den letzten dreißig Minuten gestellt hatte. Er wusste, dass sein Freund alles tat, was er konnte. Das tat der charismatische Anwalt immer.

Die einzige Chance auf Erfolg – die einzige Chance, die Nathan Campbell hatte, das Gericht als freier Mann zu verlassen – bestand darin, Doves Glaubwürdigkeit zu unterminieren. Mögliche Lügen aufzuspüren und bloßzustellen, die dieser Mann erzählte. Und jegliche Vorurteile, die er haben mochte.

Doch Daniel war nicht naiv. Er war lange genug im Geschäft, um zu wissen, wie die Öffentlichkeit auf Banker reagierte, die das Geld anderer riskierten. Er und Michael verstanden durchaus die allgemeine Überzeugung, dass es genau diese Männer waren – Männer wie Nathan Campbell –, welche die Schuld an Rezessionen trugen, die anscheinend immer die einfachen Bürger ausbaden mussten. Und deshalb wusste Daniel auch, dass der Anwalt zunächst das scheinbar selbstverständliche Vorurteil überwinden musste, wenn Nathan Campbell freigesprochen werden sollte.

Es war keine Überraschung, dass die Geschworenen den Mann auf der Anklagebank bereits hassten. Sie hatten die Eröffnungsrede des Staatsanwalts gehört. Sie war vernichtend. Es war die Geschichte eines Menschen, der mit Hunderten Millionen Pfund gespielt hatte, als handle es sich um Monopoly-Geld. Der die Mittel der Bank – also die Ersparnisse und Investitionen ihrer Kunden – dazu benutzt hatte, um immer größere Risiken auf ausländischen Märkten einzugehen. Und der auf betrügerische Weise die Sicherungsrücklagen der Bank, also jenes Geld, das die Kunden vor unerwarteten Verlusten schützen sollte, dazu benutzt hatte, um seine eigenen, immer größeren Fehler zu verschleiern.

Am Ende der Rede betrachteten mehrere Geschworene Campbell mit beinahe hasserfülltem Blick. Daniel hatte nichts Besseres erwartet, denn es war nur natürlich, dass der eine oder andere diese Art von Verbrechen persönlich nahm. Sparer und Investoren überall auf der Welt waren geschädigt worden – und zwar, so sahen sie es, durch risikofreudige Männer wie Campbell. Höchstwahrscheinlich hatten einige Geschworene ganz direkt einen Schaden erlitten.

Doch es war noch schlimmer gekommen. Unabhängig davon, wie vernichtend die Eröffnungsrede gewesen sein mochte, beruhte jeder Prozess in Wahrheit auf Beweismitteln und Zeugenaussagen. Bisher hatten die Zeugen ihre Rolle perfekt erfüllt, und jeder bestätigte über allen Zweifel hinaus, dass Nathan Campbell genau das getan hatte, was die Anklage ihm zur Last legte.

Es war eine frustrierende Erfahrung für Daniel, mitanzusehen, wie ein Zeuge nach dem anderen gleichsam einen Nagel in Campbells Verteidigung trieb. Aber auch das war wohl unvermeidlich, denn Campbell hatte Daniel und Michael gegenüber bereits zugegeben, dass alles, was ihm vorgeworfen wurde, stimmte.

Der zentrale Gerichtshof von London, auf der ganzen Welt bekannt als Old Bailey, war über die Jahre hinweg mehrfach erweitert worden. Man hatte neue Gerichtssäle errichtet und alte renoviert. Gericht Nummer zwei war allerdings noch eines der ursprünglichen. Ein höhlenartiger, holzverkleideter Tempel.

Der Richter und der Angeklagte saßen einander auf einem Podium in der Mitte des Saals gegenüber. Die Geschworenen und der Zeugenstand befanden sich neben dem Podium auf der einen Seite, Anklage und Verteidigung auf der anderen des Saals. Diese Anordnung gewährte Daniel einen klaren Blick auf die Geschworenen, welche sich die Aussagen anhörten.

Und von seinem Platz aus wirkten sie unerschütterlich von Campbells Schuld überzeugt.

So jedenfalls lautete die Vorverurteilung, der sich Campbell gegenübersah, als Richard Dove, der letzte Zeuge der Anklage, aufgerufen wurde. Daniel wusste, dass Michael größte Schwierigkeiten haben würde, dagegen anzugehen.

Und er wusste auch, dass Michael das gar nicht erst versuchen würde.

In England gibt es zwei Arten von Anwälten: Ein Barrister stellt die Fragen vor Gericht. Die Tätigkeit eines Solicitors, der seinen Mandanten juristisch berät, ist dagegen weniger offensichtlich. Er erledigt alle möglichen Laufarbeiten, was ihm deutlich weniger Ruhm einbringt. Aber das bedeutete nicht, dass Daniel an der Vorbereitung von Campbells Verteidigung nicht beteiligt gewesen war, im Gegenteil. Er und Michael hatten jeden taktischen Schritt diskutiert und waren sich in mindestens zwei Punkten einig: dass jeder Versuch abzustreiten, was Campbell getan hatte, in einer Katastrophe enden würde. Und dass es bei dieser Anklage in Wahrheit ohnehin nicht um Campbell ging.

Michael hatte seine Fragen sorgfältig begonnen. Er sprach in vertraulichem Ton. Ein alter Anwaltstrick, wie Daniel wusste. Freunde dich mit dem Zeugen an. Sei geradezu herzlich. Und voller Verständnis. Warte, bis sich eine Lücke in seiner Deckung ergibt.

Das war immer wirkungsvoller, als mit einer direkten Konfrontation anzufangen. Und so auch diesmal. Michael hatte gewissermaßen einen Punkt nach dem anderen gemacht. Hatte Dove ermutigt zuzugeben, dass er Campbell nicht besonders gemocht hatte. Dass Campbell aufgrund seiner Herkunft aus der Arbeiterklasse in Birmingham Doves Ansicht nach für eine solche Position in einer angesehenen Bank ungeeignet war. Und dass er während Campbells gesamter Laufbahn alles Mögliche getan hatte, um ihn bei seinen Vorgesetzten zu diskreditieren.

Das alles waren kleine Erfolge. Sie schwächten Doves Glaubwürdigkeit. Doch angesichts der übrigen Zeugenaussagen, die, wie Campbell eingestanden hatte, allesamt der Wahrheit entsprachen, reichte das bei Weitem nicht aus.

Daniel wusste das. Ihm war klar, dass es nicht genügte, den einen oder anderen Punkt zu machen, um die Wucht dessen, was die Anklage vorgetragen hatte, abzumildern. Es sah eher so aus, als versuchten zwei gerissene Anwälte, irgendwelche schäbigen Spielchen zu spielen, weil sie sonst nichts in der Hand hatten. Es war für Daniel offensichtlich, dass Michael weitergehen musste. Er musste angreifen.

Das war eine gefährliche Taktik, bei der es um alles oder nichts gehen würde. Aber es war Nathan Campbells einzige Chance auf Freiheit.

»Gut, Mr. Dove, lassen wir Ihre persönliche Abneigung gegen Mr. Campbell für einen Augenblick beiseite. Denn da gibt es noch etwas anderes, zu dem ich Sie befragen möchte.«

Michaels irischer Akzent war jetzt deutlicher zu hören. Es war ein nervöser Tick, den Daniel schon früher bemerkt hatte. Er zeigte sich immer dann, wenn Michaels Fragen eine gefährliche Wendung nahmen.

»Schießen Sie los.«

Dove wirkte zuversichtlich. Als hätten Michaels Fragen dem Anwalt bisher überhaupt nichts eingebracht, weshalb Daniel den Eindruck hatte, dass sich der Zeuge für intelligenter hielt, als er war.

»Das werde ich, Mr. Dove.« Michael lächelte, als er sprach, aber sein Ton war sarkastisch. »Vielen Dank für Ihre Erlaubnis.«

Dove wirkte verwirrt. Möglicherweise fragte er sich, wohin Michaels kumpelhafter Ton verschwunden war.

Michael fuhr fort.

»Ich möchte Sie Folgendes fragen. Sie haben uns erklärt, dass Sie in Ihrer Position der unmittelbare Vorgesetzte von Mr. Campbell waren. Ist das korrekt?«

»Ja.«

»Und natürlich wissen wir, dass Sie ihn nicht einmal ansatzweise für geeignet hielten, die Aufgabe zu übernehmen, die ihm übertragen worden war.«

»Ich dachte, wir wollten die Tatsache beiseitelassen, dass ich ihn nicht mochte?«

»Oh, das tun wir durchaus. Im Augenblick sprechen wir über Ihre fachliche Einschätzung. Ich bin sicher, Sie verstehen, dass das ein Unterschied ist, oder?«

»Natürlich verstehe ich, dass das ein Unterschied ist.«

Daniel lächelte. Schritt für Schritt hatte Michael den Zeugen dorthin geführt, wo er ihn haben wollte. Ihnen beiden war klar, dass ihnen gar nichts anderes übrig blieb.

»Und wir sind uns einig, dass Sie ihn für ziemlich inkompetent hielten, nicht wahr?«

»Genau.«

»Würde es Ihnen dann etwas ausmachen, Mr. Dove, mir zu verraten, warum Sie Mr. Campbell – dem inkompetenten Mr. Campbell – dann gestattet haben, eigenständig Trades abzuschließen?«

»Was? Warum sollte das eine Rolle spielen?«

»Muss ich Ihnen das wirklich erklären, Mr. Dove? Denn Mr. Campbell weiß sehr wohl, warum das eine Rolle spielt – und Mr. Campbell ist immerhin inkompetent. Dann wissen Sie das doch ganz sicher?«

»Natürlich weiß ich das.«

»Nun, dann können Sie vielleicht dafür sorgen, dass die Geschworenen es ebenfalls wissen. Denn es trifft doch zu, oder etwa nicht, dass ein Trader wie Mr. Campbell seine Trades von einem anderen Mitglied seines Teams bestätigen lassen muss?«

»Seines Teams?«

»Sie wissen, was ich meine, Mr. Dove. Von einem anderen Trader Ihrer Bank. Es ist eine Sicherheitsmaßnahme, nicht wahr? Sie soll verhindern, dass ein Trader, der sich an einer schlechten Transaktion beteiligt hat – also an etwas, das zu einem Verlust geführt hat –, diese vertuschen kann. Weil der andere Trader, der den Abschluss bestätigen musste, darüber Bescheid weiß. Ich denke, so kann man die Sache im Kern erklären. Es geht um gegenseitige Kontrolle durch gleichrangige Mitarbeiter.«

»Das ist korrekt.«

»Aber aus irgendeinem Grund hat man Mr. Campbell gestattet, seine Trades selbst abzuschließen, oder?«

»So, wie Sie das sagen, klingt das, als ginge es hier um irgendetwas Zwielichtiges.«

»Das ist Ihre Meinung, Mr. Dove. Ich bemühe mich nur darum, zur Wahrheit vorzudringen. Also bitte, sagen Sie uns, ob Mr. Campbell gestattet wurde, seine eigenen Trades abzuzeichnen.«

Dove zögerte.

»Mr. Dove?«

Keine Antwort.

»Mr. Dove, bitte beantworten Sie die Frage.«

Die Aufforderung kam von dem Ehrenwerten Richter Peter Kennedy, QC, einem der erfahrensten Richter am Central Criminal Court.

Sie hatte die erwünschte Wirkung.

»Ja«, antwortete Dove schließlich. »Campbell hat seine eigenen Trades abgeschlossen.«

Michael fuhr fort, ohne auch nur einen Augenblick zu zögern.

»Und können Sie bestätigen, dass dies überaus ungewöhnlich war, Mr. Dove?«

»Was soll das denn heißen?«

»Genau das, wonach es sich anhört. Es war überaus ungewöhnlich – und zwar aus Gründen, die vollkommen offensichtlich sein dürften, nach allem, was wir bisher besprochen haben –, dass Mr. Campbell seine eigenen Trades abschließen durfte. So verhält es sich doch, nicht wahr?«

»Es war nicht ›überaus ungewöhnlich‹, nein.«

»Das war es nicht?«

»Nein.«

»Gut. Dann erklären Sie mir bitte Folgendes, Mr. Dove. Wie viele Trader arbeiten unter Ihnen bei Costins?«

»Wie viele?«

»Wie viele unterstehen Ihnen direkt, ja. Wie viele?«

»Ich … ich kann wirklich nicht ohne …«

»Ohne einen Blick in die Unterlagen der Bank zu werfen. Na schön, ich habe sie hier, Mr. Dove. Sollen wir sie uns ansehen?«

»Ich muss sie mir nicht ansehen.«

»Wie bitte? Sie sprechen ein wenig leise. Könnten Sie das wiederholen?«

»Ich sagte, ich muss sie mir nicht ansehen!«

Diesmal überhörte niemand die Antwort. Sie wurde fast geschrien.

Daniel lächelte. Der Plan funktionierte. Dove war beunruhigt.

Michael fuhr fort.

»Dann erinnern Sie sich also jetzt daran, wie viele es sind?«

»Ja.«

»Und?«

»Es sind sechsundfünfzig. Ungefähr.«

»Es sind sogar genau sechsundfünfzig, nicht wahr, Mr. Dove? Wenigstens laut Ihren Unterlagen.«

»Ja.«

»Das ist eine ziemlich spezielle Zahl. Und dann erinnern Sie sich zunächst ohne Ihre Unterlagen nicht an sie, und plötzlich, fünf Sekunden später, können Sie sich doch wieder an sie erinnern, nicht wahr?«

»Mylord, mit solchen Fragen verirrt sich Mr. Devlin ins Reich bloßer Kommentare.« Die Anwältin der Anklage hatte sich erhoben. »Könnte man ihn daran erinnern, sich Bemerkungen wie diese für sein Schlussplädoyer aufzusparen?«

»Sie haben gehört, was vorgetragen wurde, Mr. Devlin. Sorgen Sie bitte dafür, dass Ihre Fragen genau das bleiben – nämlich Fragen.«

»Mylord.«

Michael wandte sich nicht von Dove ab, während er antwortete. Und er zögerte auch nicht, bevor er zu seiner nächsten Frage überging.

»Also, sechsundfünfzig Trader. Würden Sie mir nun, Mr. Dove, bitte sagen, wie viele dieser Ihnen direkt unterstellten Trader ihre Geschäfte eigenständig abschließen können?«

Keine Antwort.

»Mr. Dove, ich werde Ihnen diese Frage noch einmal stellen. Vielleicht hätten Sie dann die Güte, sie zu beantworten. Würden Sie mir nun also angesichts der Tatsache, dass ich die Bankunterlagen hier neben mir liegen habe, bitte mitteilen, wie viele der Ihnen augenblicklich direkt unterstellten Trader das Recht haben, ihre Geschäfte eigenständig abzuschließen?«

»Keiner.«

Dove spuckte die Antwort geradezu aus.

»Und wie viele waren es, als Mr. Campbell unter Ihnen gearbeitet hat? Wobei wir wiederum daran denken wollen, dass ich die Unterlagen griffbereit habe?«

»Nur er.«

Daniels Lächeln wurde immer breiter. Er musste den Kopf senken und sein Notebook ansehen, um es vor den Geschworenen zu verbergen.

Es funktioniert, dachte er. Michael hat ihn.

»Dann war Mr. Campbell damals also der einzige Trader, der das Recht hatte, seine eigenen Trades abzuschließen. Und im Augenblick hat niemand so weitreichende Befugnisse. Und trotzdem wollen Sie den Geschworenen weismachen, dass eine solche Freiheit nicht ›überaus ungewöhnlich‹ war? Das ist also ganz einfach eine Lüge, nicht wahr, Mr. Dove?«

»Warum sollte ich lügen?«, rief Dove wütend. »Was hätte es denn für einen Sinn, wenn ich lüge? Ihr Mandant ist der Verbrecher. Ihr Mandant ist es, der Hunderte Millionen an Bankgeldern verloren und diese Tatsache dann verheimlicht hat. Warum sollte ich lügen?«

»Vielleicht werden wir das noch herausfinden«, erwiderte Michael vollkommen ruhig. »Aber bevor wir das tun: Wer wäre befugt gewesen, Mr. Campbell zu gestatten, seine eigenen Trades abzuschließen? Wer hätte so etwas ermöglichen können?«

Keine Antwort. Dove starrte Michael wütend an.

»Wollen Sie nicht antworten, Mr. Dove?«

Keine Reaktion.

»Liegt es daran, dass die Antwort lauten würde: Sie?«

Keine Reaktion.

»Denn das wäre zutreffend, nicht wahr? Tatsache ist, dass Sie als Mr. Campbells unmittelbarer Vorgesetzter und der Mann, der für ihn und jeden anderen Mitarbeiter der Abteilung verantwortlich war, ein solches Vorgehen, bei dem Mr. Campbell seine eigenen Trades abschließt, hätten autorisieren müssen. Wodurch er praktisch sich selbst beaufsichtigt hätte. Das ist korrekt, nicht wahr?«

Keine Reaktion.

»Mr. Dove, Sie werden diese Frage beantworten.« Es war Richter Kennedy, der ein weiteres Mal eingriff.

Dove sah zum Richter auf und antwortete ihm direkt.

»Ja, Euer Ehren. So etwas hätte ich autorisieren müssen.«

»Und genau das haben Sie getan, nicht wahr?« Michael blieb hartnäckig.

Dove wandte sich wieder an den Barrister, bevor er antwortete.

»Ja. Ja, das habe ich getan.«

»Könnten Sie uns vielleicht erklären, warum? Warum wurde gerade bei diesem Mitarbeiter eine Ausnahme gemacht?«

»Weil er Erfolg hatte«, erwiderte Dove. »Er machte mehr Geld als die Hälfte der ganzen Abteilung zusammen. Deshalb dachte ich, dass ihn das zusätzlich anspornen würde, als er mich um diese Freiheit bat. Dass es meiner Abteilung also noch mehr Geld einbringen würde.«

»Aber, Mr. Dove, Sie haben uns doch ausführlich darüber informiert, dass Mr. Campbell dieser Aufgabe überhaupt nicht gewachsen war und Ihrer Ansicht nach nicht einmal einen Platz in Ihrer Abteilung verdient hatte. Und jetzt ist er plötzlich Ihr bester Trader?«

»Ich habe nicht gesagt, dass er mein bester war.« Dove schien einigermaßen Mühe mit seiner Antwort zu haben. »Ich sagte, er war der erfolgreichste. Dafür könnte es alle möglichen Gründe gegeben haben.«

»Ja, allerdings. Aber nur ein einziger dieser möglichen Gründe hätte dafür gesprochen, ihn nicht