Der Rat der Gerechten - Katarzyna Bonda - E-Book

Der Rat der Gerechten E-Book

Katarzyna Bonda

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Beschreibung

Die Einwohner von Hajnówka, einer Kleinstadt an der polnisch-weißrussischen Grenze, bereiten sich auf die Hochzeit des Jahres vor: Iwona Bejnar heiratet Piotr Bondaruk. Die junge Iwona stammt aus einer armen polnischen Familie, während der wesentlich ältere Bondaruk, Weißrusse und Besitzer einer Holzfirma, zu den reichsten Geschäftsleuten der Stadt gehört. Während der Hochzeit verschwindet Iwona plötzlich und bleibt wie vom Erdboden verschluckt. Besteht ein Zusammenhang mit dem Verschwinden früherer Partnerinnen von Piotr Bondaruk? Die Profilerin Sasza Załuska, die zu den Ermittlungen hinzugezogen wird, gräbt tief in der Vergangenheit des Ortes und stößt auf ein ungesühntes Verbrechen, über dem jahrzehntelang ein Mantel des Schweigens lag. Als sie Bondaruk als einen der Drahtzieher identifiziert, kommt sie der erschütternden Wahrheit gefährlich nah.

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Seitenzahl: 886

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Zum Buch

Die Einwohner von Hajnówka, einer Kleinstadt an der polnisch-weißrussischen Grenze, bereiten sich auf die Hochzeit des Jahres vor: Iwona Bejnar heiratet Piotr Bondaruk. Die junge Iwona stammt aus einer armen polnischen Familie, während der wesentlich ältere Bondaruk, Weißrusse und Besitzer einer Holzfirma, zu den reichsten Geschäftsleuten der Stadt gehört. Während der Hochzeit verschwindet Iwona plötzlich und bleibt wie vom Erdboden verschluckt. Besteht ein Zusammenhang mit dem Verschwinden früherer Partnerinnen von Piotr Bondaruk? Die Profilerin Sasza Załuska, die zu den Ermittlungen hinzugezogen wird, gräbt tief in der Vergangenheit des Ortes und stößt auf ein ungesühntes Verbrechen, über dem jahrzehntelang ein Mantel des Schweigens lag. Als sie Bondaruk als einen der Drahtzieher identifiziert, kommt sie der erschütternden Wahrheit gefährlich nah.

Zum Autor

Katarzyna Bonda, 1977 in Białystok geboren, arbeitete nach ihrem Studium der Publizistik an der Universität Warschau mehrere Jahre als Journalistin und Dokumentarfilmerin, bevor sie sich dem Schreiben zuwandte. 2007 debütierte sie mit dem Roman Sprawa Niny Frank (Der Fall Nina Frank), für den sie mehrfach ausgezeichnet wurde. Weitere Romane sowie zwei Sachbücher folgten. Katarzyna Bonda zählt heute zu den meist verkauften Autorinnen Polens. Sie lebt mit ihrem Mann und ihrer Tochter in Warschau. Nach Das Mädchen aus dem Norden legt sie mit Der Rat der Gerechten den zweiten Roman um Profilerin Sasza Załuska vor.

K  A  T  A  R  Z  Y  N  A

B O N D A

DER RAT DER

GERECHTEN

ROMAN

Aus dem Polnischen

von Saskia Herklotz und Andreas Volk

Die Originalausgabe erschien unter dem Titel

Okularnik bei Muza, Warschau

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.

Die Arbeit des Übersetzers am vorliegenden Text wurde

vom Deutschen Übersetzerfonds gefördert.

Copyright © 2015 by Katarzyna Bonda

Copyright © 2019 der deutschen Ausgabe

by Wilhelm Heyne Verlag, München,

in der Verlagsgruppe Random House GmbH,

Neumarkter Str. 28, 81673 München

Redaktion: Loel Zwecker

Umschlaggestaltung: Nele Schütz Design, München

Umschlagabbildung: Nele Schütz unter Verwendung von Motiven

von shutterstock (Mongkol Rujitham, hbpro, Songquan Deng)

Satz: Leingärtner, Nabburg

e-ISBN 978-3-641-19079-8V001

www.heyne.de

In Erinnerung an meine Großmutter Katarzyna,

die 1946 bei dem »Pogrom in den orthodoxen Dörfern«

in Podlachien ermordet wurde.

Meiner Mama Nina gewidmet,

die mit sechs Jahren zum Waisenkind wurde.

Als Ausdruck meiner Bewunderung

für ihre innere Stärke, die ich von ihr geerbt habe.

IN LIEBE

Nach Empedokles besteht die Schöpfung aus vier Wurzeln aller Dinge, auch Urstoffe, Grundsubstanzen oder Elemente genannt: Feuer, Wasser, Erde, Luft.

Diese Elemente sind ewig existierend, unentstanden und unveränderlich, denn das, was ist, vergeht nicht. Andererseits existiert die Wandlung, der ewige Kreislauf, denn es entsteht nichts, das anfangs sterblich wäre, und der Tod ist kein Ende aller Dinge. Es gibt lediglich das Vermischen und den Austausch dessen, was vermischt ist. Durch die Mischung entsteht die Vielfalt der Stoffe.

In Indien sind die Brillenschlangen die Ernährer der berühmten Schlangenbeschwörer. Das gefürchtete Reptil wird hier zur Volksbelustigung als ein gehorsames, von der magischen Kunst des Zauberers beherrschtes Geschöpf vorgeführt. Manchmal handelt es sich dabei um einen bloßen Trick, da dem Tier rücksichtslos die Giftzähne ausgebrochen oder das Maul zugenäht wurde. Im besseren Fall ist der »Zauberer« durch wiederholte Impfungen gegen die Wirkungen des Schlangengifts gefeit, woraus sich sein kaltblütiger Umgang mit der giftigsten aller Schlangen erklärt. Mitunter überschätzt er, scheinbar Herr über die Schlange, sich selbst und bezahlt diese Fehleinschätzung teuer – und zwar mit dem eigenen Leben.

V.J. STANEK, DER GROSSE BILDATLAS DER TIERE

Du bist »von hier«, wenn die Gebeine deiner Vorfahren in dieser Erde ruhen.

Personenverzeichnis

ABRAMS, TOM: Professor an der Universität Huddersfield, >> Sasza Załuskas Doktorvater.

BEJNAR, BOŻENA: Mutter von >> Iwona Bejnar und den drei >> Żubr-Brüdern Władysław, Ireneusz und Ryszard Bejnar, Exfrau von >> Dawid Sobczyk, kurzzeitig Schwiegermutter von >> Piotr Bondaruk.

BEJNAR, IWONA/IWEK:>> Bożena Bejnars und >> Dawid Sobczyks Tochter, Halbschwester der >> Żubr-Brüder Władysław Bejnar, Ireneusz Bejnar und Ryszard Bejnar, Verlobte von >> Jurek Orzechowski und kurzzeitig Ehefrau von >> Piotr Bondaruk.

BONDARUK, ALINA/ANIELA: >> Stanisław Gałczyńskis Ehefrau, >> Piotr Bondaruks Mutter.

BONDARUK, FIONIK: >> Łarysa Szafrans Sohn, einer von >> Piotr Bondaruks drei Adoptivsöhnen.

BONDARUK, PIOTR/PIECIA, GENANNT »VIERAUGE«: >> Stanisław Gałczyńskis und >> Alina Bondaruks Sohn; Adoptivvater der Söhne von >> Mariola Nesteruk, >> Łarysa Szafran, >> Monika Zakrzewska; Ehemann von >> Iwona Bejnar; Besitzer des Sägewerks in Hajnówka und einer der einflussreichsten Einwohner der Stadt; Besitzer eines E-Klasse-Mercedes vom Typ »Vierauge«.

BONDARUK, TOMASZ/TOMIK: >> Monika Zakrzewskas Sohn, einer von >> Piotr Bondaruks drei Adoptivsöhnen.

BURY >> Romuald Rajs

CZUBAJS, ANTON: Psychotherapeut, Supervisor von >> Magdalena Prus.

DOMAŃSKI, TOMASZ, GENANNT »DOMAN«: Polizist der Woiwodschaftspolizei in Białystok, befreundet mit >> Krystyna Romanowska, wird zu den »Vierauge«-Ermittlungen in Hajnówka hinzugezogen.

DUCHNOWSKI, ROBERT, GENANNT »DUCHNO«: Kriminalkommissar der Woiwodschaftspolizei in Danzig, Freund und Kollege von >> Sasza Załuska.

FRANKOWSKI, BŁAŻEJ: Sohn von >> Przemysław Frankowski und >> Krystyna Romanowska, wie seine Eltern Polizist in der Kommandantur von Hajnówka.

FRANKOWSKI, PRZEMYSŁAW/PRZEMEK, GENANNT »JAHJAH«: >> Krystyna Romanowskas Exmann, >> Błażej Frankowskis Vater, Polizeikommissar in Hajnówka, wollte eigentlich Jura studieren.

GAŁCZYŃSKI, STANISŁAW/STACH/STASZEK: >> Alina Bondaruks Ehemann, >> Piotr Bondaruks Vater; spielt eine unrühmliche Rolle beim Pogrom der orthodoxen Bewohner des Dorfes Załuskie durch >> Romuald Rajs und seine Einheit.

GAWEŁ, ADAM: ältester Sohn von >> Michaił Gaweł und >> Olga Gaweł,d >> Ałła Gawełs Bruder und >> Dunia Orzechowskas Stiefbruder, vor 1989 Chef der Staatssicherheit in Hajnówka, nach 1989 Landrat.

GAWEŁ, AŁŁA: >> Michaił Gawełs und >> Olga Gawełs jüngste Tochter, Schwester von >> Adam Gaweł, Stiefschwester und enge Vertraute von >> Dunia Orzechowska.

GAWEŁ, MICHAIŁ: >> Olga Gawełs Ehemann, Vater von >> Adam Gaweł und >> Ałła Gaweł, Stiefvater von >> Dunia Orzechowska.

GAWEŁ, OLGA, GEB. ZAŁUSKA: >> Katarzyna Załuskas jüngere Schwester, Ehefrau von >> Michaił Gaweł, Mutter von >> Adam Gaweł und >> Ałła Gaweł, Tante und Stiefmutter von >> Dunia Orzechowska.

JOWITA >> Monika Zakrzewska

KOSIEK, KINGA: Freundin von >> Iwona Bejnar, Nichte von >> Ałła Gaweł, Opfer des »Menschenfressers von Hanówka«.

KOŹMIŃSKA, MARZENA, GENANNT »DIE WESPE«: eine der gefährlichsten Straftäterinnen Polens, der Morde, Erpressungen und Raubüberfälle zur Last gelegt werden; Arbeitskollegin von >> Monika Zakrzewska, zeitweilig mit >> Piotr Bondaruk und >> Jarosław Sokołowski liiert.

KRAJNÓW, LESZEK: katholischer Religionslehrer in Hajnówka; befreundet mit >> Artur Mackiewicz und gemeinsam mit ihm beim Aufbau einer nationalistischen polnischen Jugendorganisation aktiv.

KRAWCZYK, ANITA: Staatsanwältin aus Białystok, die mit den »Vierauge«-Ermittlungen betraut wird.

MACKIEWICZ, ARTUR: Rechtsanwalt, Sohn von >> Marianna Mackiewicz; Exmann von >> Magdalena Prus, Schulfreund von >> Przemysław Frankowski, überzeugter polnischer Nationalist; vertritt im Erbstreit nach Bondaruks Tod dessen Adoptivsöhne.

MACKIEWICZ, MARIANNA: >> Piotr Bondaruks langjährige Haushälterin, Mutter von >> Artur Mackiewicz.

MEYER, HUBERT: Kriminalpsychologe aus Kattowitz, berühmter Profiler und >> Sasza Załuskas Kollege vom Fach.

MIKOŁAJUK, SIERIOŻA/SERGIUSZ: Redakteur der Lokalzeitung, von >> Piotr Bondaruk als Erbe eingesetzt.

NESTERUK, JAN/WASYL: >> Mariola Nesteruks Sohn, einer von >> Piotr Bondaruks drei Adoptivsöhnen.

NESTERUK, MARIOLA: Tochter von >> Mikołaj Nesteruk, zeitweilig mit >> Piotr Bondaruk liiert, spurlos verschwunden.

NESTERUK, MIKOŁAJ/KOLA: Besitzer des Fleischereibetriebs Nesteruk in Hajnówka, >> Mariola Nesteruks Vater, Cousin von >> Katarzyna Załuska, langjähriger Freund von >> Piotr Bondaruk.

ORZECHOWSKA, EUDOKIA/DUNIA, GEB. ZAŁUSKA: Heilerin, >> Katarzyna Załuskas Tochter, >> Stepan Orzechowskis Ehefrau, >> Jurek Orzechowskis Mutter; große Liebe von >> Piotr Bondaruk.

ORZECHOWSKA, IRMA: >> Stepan Orzechowskis Tochter aus erster Ehe, verschwindet im Alter von siebzehn Jahren spurlos.

ORZECHOWSKI, JUREK, GENANNT »QUAKU«: >> Dunia Orzechowskas Sohn, Kleinkrimineller und erster Verlobter von >> Iwona Bejnar.

ORZECHOWSKI, STEPAN: >> Dunia Orzechowskas Ehemann und >> Irma Orzechowskas Vater, Direktor der Staatlichen Holzverarbeitungsbetriebe in Hajnówka; Ende der 1970er-Jahre zusammen mit dem Priester >> Jerzy Świerczewski spurlos verschwunden.

PIETRASIK, DANUTA/DANKA/PIETRASIKÓWNA: zusammen mit ihrem Bruder Jacek Patientin der Ciszynia-Klinik.

PIRES, ANATOL: ehemaliger Direktor des Weißrussischen Gymnasiums in Hajnówka, Mitarbeiter der Staatssicherheit, später erfolgloser Geschäftsmann und stadtbekannter Alkoholiker; stets in Begleitung eines alten Kampfhundes anzutreffen.

POLAK, ŁUKASZ: Maler und Fotograf, >> Sasza Załuskas Ex und Vater ihrer Tochter >> Karolina Załuska, mehrere Jahre Patient von >> Magdalena Prus in der Ciszynia-Klinik, mehrerer Morde verdächtigt, aber nie verurteilt; gilt inzwischen als geheilt, wohnt zur Untermiete bei >> Eugenia Rączka.

PRUS, JAKUB/KUBA: Bruder von >> Magdalena Prus, Angestellter der Ciszynia-Klinik in Hajnówka, Mitbewohner von >> Jarosław Sokołowski, freiberuflicher Messerschleifer und Computer-Spezialist.

PRUS, MAGDALENA: Exfrau von >> Artur Mackiewicz, Adoptivschwester von >> Jakub Prus, stellvertretende Direktorin der Ciszynia-Klinik in Hajnówka, behandelnde Ärztin von >> Łukasz Polak und >> Piotr Bondaruk.

QUAKU >> Jurek Orzechowski

RAJS, ROMUALD, DECKNAME »BURY« (1913–1949): polnischer Soldat und Partisan, Mitglied der Heimatarmee und der Nationalen Militärvereinigung; nach Kriegsende im antikommunistischen Widerstand aktiv; Anfang 1946 verantwortlich für die Pogrome an den orthodoxen, weißrussischen Bewohnern mehrerer Dörfer in der Gegend von Białystok (darunter die im Buch erwähnten Dörfer Zanie, Zaleszany, Puchały Stare); 1949 zum Tode verurteilt und hingerichtet, das Urteil wurde 1995 aufgehoben.

RĄCZKA, EUGENIA: pensionierte Musiklehrerin, bei ihr wohnt >> Łukasz Polak zur Untermiete, in ihrer Wohnung wird >> Danuta Pietrasik ermordet.

ROMANOWSKA, KRYSTYNA: Exfrau von >> Przemysław Frankowski und Mutter von Błażej Frankowski; eine Zugezogene, geschäftsführende Kommandantin der Polizei-Kreiskommandantur in Hajnówka.

SACZKO, KRZYSZTOF, GENANNT »DOKTOR TOD«: Direktor der Ciszynia-Klinik, Vorgesetzter von >> Magdalena Prus, Freund und Arzt von >> Piotr Bondaruk.

SOBCZYK, DAWID, DECKNAME »SMUTNY«: >> Bożena Bejnars Exmann und >> Iwona Bejnars Vater, Mitarbeiter der Staatssicherheit und Führungsoffizier von >> Piotr Bondaruk, Saufkumpan von >> Anatol Pires.

SOKOŁOWSKI, JAROSŁAW, GENANNT »DER HAARIGE«: Mitbewohner von >> Jakub Prus; Archivar beim Institut für Nationales Gedenken und zwischenzeitlich mit >> Marzena Koźmińska liiert.

ŚWIERCZEWSKI, JERZY, GENANNT »ŚWIERCZEK« »FICHTE«: katholischer Priester; Ende der 1970er-Jahre zusammen mit >> Stepan Orzechowski spurlos verschwunden.

SZAFRAN, ŁARYSA: überzeugte weißrussische Aktivistin, zeitweilig mit >> Piotr Bondaruk liiert; spurlos verschwunden.

TERLIKOWSKI, TOMASZ, GENANNT »DER ALTE«: ehemaliger Polizeikommandant von Hajnówka, Vorgänger von >> Krystyna Romanowska.

WASYL >> Jan Nesteruk

WEREMIUK, KRZYSZTOF: Lokalhistoriker, der zur Nachkriegsgeschichte in der Region forscht, begeht Selbstmord.

WRONA, LIDKA: Opfer der »Roten Spinne«.

ZAKRZEWSKA, MONIKA, GENANNT »JOWITA«: Arbeitskollegin von >> Marzena Koźmińska; spurlos verschwunden.

ZAŁUSKA, ALEKSANDRA/SASZA: freiberufliche Profilerin und Kriminalpsychologin, ehemalige Mitarbeiterin des Zentralen Ermittlungsbüros, nach einer verpatzten Aktion aufgrund ihrer Alkoholabhängigkeit aus dem Polizeidienst entlassen, kehrt nach einem längeren Forschungsaufenthalt in England nach Polen zurück, auf der Suche nach dem Vater ihrer Tochter >> Karolina.

ZAŁUSKA, KAROLINA: Tochter von >> Sasza Załuska und >> Łukasz Polak.

ZAŁUSKA, KATARZYNA/KASIA/KATIUSZA: Ehefrau von >> Bazyli Załuska, >> Dunia Orzechowskas Mutter, >> Olga Gawełs Schwester, kommt beim Pogrom 1946 durch Romuald Rajs’ Soldaten ums Leben.

ZAŁUSKA, LAURA: >> Sasza Załuskas Mutter.

ZAŁUSKI, BAZYLI: Ehemann von >> Katarzyna Załuska, von Burys Leuten ermordet.

ZAŁUSKI, KAROL: >> Sasza Załuskas Bruder.

ŻUBR-BRÜDER: Władysław Bejnar, Ireneusz Bejnar und Ryszard Bejnar, >> Bożena Bejnars Söhne aus erster Ehe und >> Iwona Bejnars Halbbrüder, überzeugte polnische Nationalisten und Hooligans.

Prolog

Zopott, Mai 2014

Sie hatte nach Zofia fragen sollen, doch als er nach dem dritten Klingeln abhob, sagte sie nichts.

Im Hintergrund waren ein Fernseher und das Lachen von Kindern zu hören. Sie stellte sich ein Familientreffen vor: auf dem Tisch eine Suppenterrine mit Fleischbrühe, auf kleinen Porzellantellern selbst gebackener Kuchen. Enkel, die nicht ahnten, was ihr Opa, der jedes Jahr den Weihnachtsmann mimte, beruflich trieb, verwandelten die Wohnung in einen Hindernisparcours. Aus den Lautsprechern dröhnte Tom und Jerry. Die Erwachsenen tranken hausgemachten Birnenschnaps und versuchten, die Zeichentrickfiguren zu übertönen. Die Dienstwaffe lag neben dem herausgenommenen Magazin und der Ersatzmunition in einem Tresor.

»Zofia ist nicht da«, sagte er. »Sie ist schon im Kreißsaal.«

Sasza atmete erleichtert auf. Ihr Führungsoffizier hatte schon einundvierzig Dienstjahre auf dem Buckel gehabt, als sie ausgeschieden war, trotzdem stand er noch immer seinen Mann. Als er sie angeworben hatte, war gerade sein erster Enkel zur Welt gekommen. Damals war ihr das Babyfoto auf seinem Desktop aufgefallen. »Marcel«, hatte er stolz erklärt, und hinzugefügt: »Das Schwesterchen ist bereits unterwegs.« Von da an hatte sie ihn nur noch »Opa« genannt. Der Spitzname hatte sich schnell durchgesetzt. Jahrelang hatte sie nicht gewusst, wie er wirklich hieß. Bis gestern. Sie hoffte, Opa würde noch nicht spitzbekommen haben, dass sie ihm wenigstens dieses eine Mal einen Schritt voraus war.

»Im Krankenhaus?« Sasza lächelte. Jetzt würde er nicht mehr auflegen. Er war viel zu neugierig zu erfahren, was sein ehemaliger Schützling von ihm wollte. »Was fehlt ihr denn?«

»Keine Ahnung«, grummelte er gemäß den alten Instruktionen.

Sie hörte seinen pfeifenden Atem, ein Räuspern und ein Knacken in der Leitung. Er entschuldigte sich bei den Gästen und zog sich in ein anderes Zimmer zurück. Als er die Tür geschlossen hatte, wollte sie gerade etwas zu ihrer Verteidigung vorbringen, doch er kam ihr zuvor.

»Telefonbücher gibt es nicht mehr, und auf Facebook bin ich auch nicht zu finden.«

»Und woher hattest du damals meine Nummer, als du mich in die Sache mit der Nadel reingezogen hast?«, entgegnete sie.

»So gewieft bist du dann doch wieder nicht.«

»Stimmt«, gab sie zu. »Aber auch ich habe meine Methoden.«

»Noch zwei Sekunden, bis das Gespräch aufgezeichnet wird«, warnte er sie. »Dann bekommen wir beide Schwierigkeiten.«

Sie legte auf, setzte sich im Schneidersitz auf den Boden und steckte sich eine Zigarette an.

Der Bildschirm flackerte auf und wechselte in den Stand-by-Modus. Bevor er schwarz wurde, sah sie einen Augenblick lang Professor Abrams’ Gesicht im Computer. Er wollte mit ihr über die überfällige Präsentation im Doktorandenkolloquium sprechen. Seit mehreren Tagen hatte er versucht, sie auf Skype zu erreichen, und ihr auch ein Dutzend Mails geschrieben. Sie nahm sich fest vor, ihn gleich am nächsten Morgen, wenn er ins Institut kommen würde, zu kontaktieren. Als sie aufstand, um die aufgerauchte Zigarette unter den Wasserhahn zu halten, ertönte der Song »Jism« von den Tindersticks. Sie warf einen Blick auf das Display, das eine unterdrückte Nummer anzeigte. Sie hob ab.

»Eine Frage«, begann sie, »was war meine Rolle in der ganzen Geschichte? Und hat Łukasz für uns gearbeitet? Ich habe ein Recht, das zu erfahren.«

»Ich habe dich nie getäuscht«, erwiderte Opa. Seine Stimme klang ruhig. Es war fast kein Pfeifen mehr zu hören. Er musste, bevor er ihre Nummer gewählt hatte, sein Asthmaspray benutzt haben. »Ich hatte meine Befehle. Und außerdem sind das zwei Fragen.«

Sie holte tief Luft.

»Weiß es Łukasz?«

»Nicht einmal ich weiß alles«, hob er an, unterbrach sich dann jedoch selbst. »Aber warst du nicht die Femme fatale?«

Sasza lief zum Kühlschrank, goss sich ein Glas kalte Milch ein, nahm einen Schluck und wartete.

»Die ›Rote Spinne‹ existiert also gar nicht.«

»Das habe ich zuerst auch gedacht, aber später, du warst schon weg, stellte sich heraus, dass die Sache nicht ganz so klar war. Polaks Tante ist mit einem bekannten Regisseur verheiratet … Ein Anruf genügte. Du weißt ja, wie das läuft. Die Anweisungen kamen von oben. Am Ende sorgte ein Ermittler für saubere Papiere. Ich wurde nicht mal gefragt.«

»Hat er also für uns gearbeitet?«

»Das tut nichts zur Sache.«

»Also doch«, seufzte sie. »Du hast mich ganz schön in die Scheiße geritten.«

»So würde ich das nicht sagen«, gab er zurück. »Aber wenn du es unbedingt wissen willst: Ich glaube nicht.«

»Er macht damit weiter.«

Sasza angelte nach einer Zeitung. Auf der ersten Seite fiel ihr ein Titel in gelben Lettern auf: »Der Horrorburger«. Das Bild neben dem Artikel zeigte eine wenig attraktive Frau, die mit weit aufgerissenen Augen einen monströsen Hamburger anstarrte. Sasza blätterte hastig weiter. Auf Seite sieben, in der Spalte mit den Polizeimeldungen, hatte sie heute früh von Lidka Wronas Verschwinden erfahren. Der Fall der Touristikstudentin aus Tarnów lag drei Jahre zurück und war nie aufgeklärt worden. Für die Medien war das Schnee von gestern, weder einen Aufmacher noch ein Bild wert, für Sasza war die Information neu. Der kurzen Meldung zufolge hatte Lidka am Tag ihres Verschwindens ein künstlerisch ambitioniert anmutendes Foto als Profilbild gepostet. Das Bild konnte nun jeder finden, man musste nur »Lidka Wrona vermisst« googeln. Als Sasza das getan hatte, war sie vor Schreck erstarrt. Sie hatte seine Handschrift sofort erkannt. Das Bild wirkte wie gemalt, von oben aufgenommen, es konnte nur aus dem Album der »Roten Spinne« stammen. Die nachträglich mit Photoshop verstärkten Farbkontraste schienen hier fast eine wichtigere Rolle als das eigentliche Motiv zu spielen. Lidka sah in ihrem roten Kleid auf dem grünen Grasteppich aus, als läge sie in einer Blutlache. Laut dem Autor der Meldung war die Polizei bereits sämtlichen Spuren nachgegangen. Da der Täter nicht ausfindig gemacht werden konnte, hatte man die Ermittlungen vorläufig eingestellt. Sie könnten, so der Polizeisprecher, allerdings jederzeit wieder aufgenommen werden.

»Das wissen wir nicht«, sagte Opa nach einer langen Pause. »Ich weiß nur, dass die Spinne nicht allein gehandelt hat. Sie ist weder ein Sexualstraftäter noch ein Psychopath, wie wir anfangs geglaubt haben. Wegen der Medienhetze wurden bestimmte Informationen zurückgehalten. Die Verbindungen reichten bis in die höchsten Kreise.«

»In die Politik?«

»Nicht nur. In den Ermittlungsakten tauchen die Namen bekannter Unternehmer auf. Auch die zweier Parteien. Wenn auch nur im Zusammenhang mit ein paar einfachen Parteimitgliedern. Sie kamen glimpflich davon, offiziell gab es keine Verhaftungen. Es geht nicht um Kindesmissbrauch, eher«, er überlegte kurz, »um so etwas wie eine große Idee.«

»Blut und Ehre?«

»So was Ähnliches.«

»Geld?«

»Geld ist immer im Spiel, Schätzchen.«

Sasza wusste nicht so recht, was sie davon halten sollte. Mit »großer Idee« konnte alles Mögliche gemeint sein. Ihr war klar, dass das Zentrale Ermittlungsbüro trotz aller offiziellen Verlautbarungen, den Fall im Auge behalten und sofort wieder ermitteln würde, sobald sich etwas Neues ergäbe.

»Gib mir den Job.«

»Das geht nicht«, erwiderte er eine Spur zu heftig. »Nicht weil ich das nicht will.«

»Ich bin trocken.«

»Das weiß ich, Sasza.«

Der Klang ihres Namens versetzte ihr einen Stich. Sonst hatte er immer ihren Decknamen, »Milena« alias »Däumelinchen«, oder ihre Dienstnummer, das unpersönliche »1189«, benutzt. Sie überlegte, ob sie ihren Trumpf jetzt schon ausspielen sollte. Aber vielleicht würde Opa, wenn er merkte, dass sie ihn enttarnt hatte, kalte Füße bekommen. Sie nahm ein Blatt und begann, ein Blumenmandala zu zeichnen. Sie hätte hinterher selbst nicht sagen können, wann die Initialen »K.W.« auf das Papier gekommen waren.

»Neulich musste ich einen Techniker bitten, von seinem eigenen Gehalt eine externe Festplatte zu kaufen, damit wir die Daten von einem beschlagnahmten Computer überspielen konnten«, hörte sie Opa sagen. »Wir brauchten die Kopie, um uns abzusichern, sonst hätte unser Freund behaupten können, wir hätten ihn gelinkt. Die Firma wollte keinen Cent dafür lockermachen.«

»Das kann doch nicht wahr sein«, rief Sasza.

»Das habe ich auch gesagt«, pflichtete Opa ihr bei. »Und dann war das Ganze auch noch ein Schuss in den Ofen. Es stellte sich heraus, dass der Computer sauber war. Dafür hat der Techniker jetzt eine freie Festplatte für ein paar Hundert Złoty. Ich habe ihm einen Whisky gekauft. Das dürfte die siebte Aktion dieser Art in den letzten fünf Monaten gewesen sein. Man könnte glatt meinen, dass sie uns immer einen Schritt voraus sind. Zwei Jahre Arbeit für die Katz. Keine Ahnung, ob jemand unseren Freund gewarnt hat. Ich war mir sicher, diesmal sind wir am Ziel. Aber vielleicht wurden wir auch von Anfang an verarscht. Einen Haufen Verdächtigungen und eine Menge bekannter und sehr bekannter Namen – mehr habe ich nicht in der Hand. Niemand will reden. Wie du dir ja denken kannst. Einige kleine Fische, die auspacken wollten, sind plötzlich im Knast abgekratzt. Selbstmorde, klar.«

»Und Unfälle«, ergänzte sie.

»Wie du siehst, alles nicht gerade Argumente dafür, das Team zu erweitern.«

»Ich arbeite auch umsonst«, bot sie an. »Ich will dieses Profil erstellen.«

»Man sagt, du seist richtig gut«, fuhr er dazwischen, »aber Dienstgeheimnis ist Dienstgeheimnis. Außerdem haben wir keine Leiche, und …«

»Ex nihilo nihil fit: Aus nichts entsteht nichts«, führte sie seinen Gedanken zu Ende. »Es gibt Präzedenzfälle, Verurteilungen, obwohl die Leiche nie gefunden wurde.«

»Kommt Zeit, kommt Rat. Das heißt nicht, dass ich dir nicht vertraue.«

Sie glaubte ihm nicht. Dennoch musste es einen Grund dafür geben, dass er sich überhaupt mit ihr unterhielt. Er hatte ihr auch so schon eine Menge verraten – zwischen den Zeilen –, und beide wussten das. Ihr war klar, dass er einiges riskierte. Sie ahnte, dass Opa in der Klemme steckte. Vielleicht hatte er Angst um seine Stelle. Oder er wusste, dass er den Fall in Kürze würde abgeben müssen, möglicherweise an jemand, der alles unter den Teppich kehren würde. Aber aus irgendeinem Grund sprach er weiter. Ihr Gefühl sagte ihr, er würde sie schon bald brauchen und sich schon bald mit ihr treffen wollen.

»Mir kannst du es doch sagen«, bohrte sie nach.

»Ich habe bereits zu viel gesagt.«

»Ich weiß das zu schätzen«, versicherte sie. »Aber ich muss es wissen, privat.«

»Das ist kein privater Plausch.« Auf einmal hatte er es eilig. Hatte er Schiss bekommen? Wurden sie abgehört? Davon war auszugehen.

»Ist dir schon mal in den Sinn gekommen, dass Łukasz Polak unschuldig sein könnte?«

»Das solltest du besser wissen. Ich habe nicht mit ihm geschlafen und auch kein Kind von ihm.«

Sie biss sich auf die Lippe.

»Vielleicht haben wir uns getäuscht.«

»Ich weiß nicht.«

»Und was glaubst du?«, hakte sie nach. »Ich habe Karolina, und wenn er zu Unrecht verdächtigt wurde …«

Sie stockte und warf den Zigarettenstummel in den Müll. Blieb am Fenster stehen und betrachtete ihr Spiegelbild.

»Die Information ist sehr wichtig für mich. Davon hängt alles ab. Nicht für mein Leben, aber für das meiner Tochter. Sie fragt bereits nach ihrem Vater. Was soll ich ihr sagen? Ich weiß, du kannst das verstehen. Du hast selbst Kinder und Enkel.«

»Er ist es nicht«, stieß er heiser hervor. Sie hörte sein Asthmaspray. Ihr Herz begann, schneller zu schlagen. Die Pause schien ihr eine Ewigkeit zu dauern.

»Oder sagen wir, er war bestimmt nicht der Kopf des Ganzen. Aber irgendwie war er an der Sache beteiligt. Mein Bauchgefühl sagt mir, dass er weiß, wer dahintersteckt.«

»Steckt?«, fragte sie. »Ich hatte also recht, es ist nicht vorbei.«

Das grüne Gras erinnerte farblich an unreife Avocados. Das rote Kleid, Lidkas weiße wohlgeformte Brüste, die lockigen roten Haare und die toten Augen. Das Mädchen hätte Saszas jüngere Schwester sein können. Die Ähnlichkeit war frappierend. Warum fiel ihr das erst jetzt auf? Die Hypothese war sicherlich etwas gewagt, aber Sasza war Profilerin, sie musste jede Möglichkeit in Betracht ziehen. Dass die »Rote Spinne« sie entführt hatte, weil sie in das Opferschema passte, war eine davon. Es konnte kein Zufall gewesen sein.

»Wer?« Ihre Stimme klang hart. »Du weißt, wer die ›Rote Spinne‹ ist, du kannst es nur nicht beweisen, oder?«

Seltsamerweise empfand sie Erleichterung. Aber konnte sie Opa nach all dem noch trauen?

»Frag Polak«, antwortete er. Er gab den Schwarzen Peter weiter. »Vielleicht schaffst du es, bevor sie ihn aus dem Verkehr ziehen. Ich weiß nicht, wie es dir geht, aber ich werde ihm keine Träne nachweinen.«

Er legte auf.

Sie wählte die Nummer, von der aus er angerufen hatte. »Der Teilnehmer ist im Moment nicht erreichbar«, teilte ihr wie erwartet eine Stimme mit. Trotzdem tippte sie die Nummer in ihre Kontaktliste ein: Kajetan Wróblewski – Opa.

Kola 2000

Das Ferkel lag mit den Klauen nach oben auf einem Metalltisch. Sein Gesicht mit dem kleinen Rüssel hatte sich zu einem Grinsen verzerrt. Es sah aus, als würde es sich posthum über den aufgeschlitzten Bauch amüsieren. Mikołaj Nesteruk war gerade mit dem Ausweiden fertig, die Gedärme landeten in dem Eimer, der neben ihm stand. Er schob das Gefäß mit dem Fuß zur Seite, es schwankte bedenklich, kippte aber zum Glück nicht um. Mit dem Ärmel wischte er sich den Schweiß von der Stirn – noch mehr zum Putzen hätte ihm gerade noch gefehlt. Auch so würde sich seine Frau darüber beklagen, dass er in der Garage ein Schwein schlachtete, über den Blutgeruch, der einem beim Betreten des Raumes entgegenschlug. So empfindlich war sie geworden, seit sie in der Stadt wohnten – kaum zu glauben. Fleisch essen wollten sie alle, aber töten, ausweiden und braten, das musste jemand anders machen.

»Es gibt keine echten Männer mehr«, brummte Mikołaj vor sich hin. Aber wer käme auch auf die Idee, dem Fleischer die Arbeit abzunehmen, wenn das »Bio-Ferkel für das Festessen« aus dem nahe gelegenen Schlachthof, vakuumverpackt und mit bunt gestalteter Gebrauchsanweisung, genauso viel kostete wie ein Schlachttier, dessen Eingeweide man selbst entfernen musste. Für Mikołaj stand jedoch fest: Ein gekauftes Schwein war nicht das Gleiche wie ein mit Kartoffeln gemästetes Hausschwein. Außerdem war Mikołaj das Aussehen völlig wurst.

In einer Viertelstunde würde es zu dämmern beginnen. Bis dahin war es schwierig, die Arbeit im Licht der 100-Watt-Birne präzise zu Ende zu bringen. Er hatte keinen Gehilfen. Früher hatte man ein Schwein zu zweit geschlachtet. Der eine bohrte einen langen, spitzen Stab ins Herz, während der andere dem Tier die Kehle durchschnitt. Ein kurzes Quieken, und das war’s. Verstand der Schlachter sein Handwerk, musste das Tier nicht leiden. Das Waschen, Abflammen und Verarbeiten des Fleisches übernahmen die Frauen. Je schneller das Fleisch verarbeitet wurde, desto besser schmeckte es. Er selbst mochte am liebsten Palcówka, mit erhitztem Schmalz übergossene Rohwurst vom Schwein. Sie lagerte den ganzen Winter bis Ostern in der Vorratskammer. Die Wurst verfärbte sich nicht grün wie der Schinken, den man heute überall bekam. Jede Hausfrau hatte ihr eigenes Rezept, das sie an ihre Töchter weitergab. Seine Tochter war für solche Arbeiten jedoch nicht geschaffen. Beim Anblick von Blut verfiel Mariola in eine Art Schockstarre.

Zum Glück war das Schwein nicht allzu groß, und Mikołaj kam allein zurecht. Er wusste nur nicht, ob die Bestellung pünktlich fertig würde. Bis er das Ferkel mit Buchweizengrütze, Speck und Innereien gefüllt, in die Röhre geschoben und gebraten hatte, würden noch einige Stunden vergehen. Wie immer musste er sich um alles selbst kümmern.

Ein Knall.

Mikołaj erstarrte und horchte in die Stille hinein. Bestimmt war auf der Landstraße jemandem ein Reifen geplatzt, dachte er und widmete sich wieder seiner Arbeit. Doch als sich kurz darauf das Geräusch noch drei Mal wiederholte, war er sich sicher, dass es nur Schüsse sein konnten. Die Entfernung zum Wald war zu groß, ein Wilderer konnte es nicht sein.

Er tauchte seine Hände in den Eimer mit dem sauberen Wasser, wusch sie gründlich und verließ die Garage. Das Dämmerlicht schränkte die Sicht stark ein. Mikołaj nahm die Abkürzung über das Feld zur Landstraße. Er blickte sich um. Es war nichts zu sehen. Allerdings war er nicht der Einzige, der das Knallen gehört hatte. In einigen Häusern war Licht angegangen. Gerade als er verärgert über die verlorene Zeit wieder umkehren wollte, bemerkte er die Umrisse einer gebeugt laufenden Gestalt.

»Hilfe!«, rief sie mit letzter Kraft, bevor sie auf die Knie fiel.

Mikołaj lief auf die schwarze Silhouette zu.

»Wer ist da?«, japste er außer Atem. »Was ist passiert?«

»Mörder«, presste der Mann mühsam hervor. Er hob seinen Kopf.

»Piecia?«, flüsterte Mikołaj geschockt.

Er ging in die Hocke und öffnete das Jackett des nicht mehr jungen Mannes. An der Kleidung des Verletzten klebte eine dickflüssige rote Schmiere.

»Wer hat das getan?«

»Das konnte ich nicht sehen.«

Vermutlich ein Bauchschuss, der Mann blutete wie ein abgestochenes Schwein. Ein recht großes Kaliber. Vielleicht eine Jagdwaffe, ein Gewehr für Hirsche oder Wisente. Eine Kugel hatte das Schlüsselbein durchschlagen. Das Loch war zwei Fingerbreit. Die restlichen Geschosse steckten bestimmt noch im Körper. Mikołaj wusste, was er tun musste. Im Krieg hatte er häufiger mit Schussverletzungen zu tun gehabt. Er zog das Hemd über den Kopf, riss es in Fetzen und versuchte, die Blutung zu stillen. Als er die Wunde provisorisch versorgt hatte, färbten die ersten Sonnenstrahlen den Himmel rosarot. Ein neuer wunderschöner Tag brach an.

Mikołaj stand auf, um so schnell wie möglich zu den nächstgelegenen Häusern zu laufen. Er wusste, dass es in der alten Mühle ein Telefon gab. Sollte der Mann überleben, musste er sofort Hilfe holen. In diesem Moment streckte der Verletzte die Hand aus.

»Rette sie, Kola«, flüsterte er auf Weißrussisch. »Da drüben steht das Auto. Łarysa sitzt drinnen. Tot.«

Mikołaj blickte sich um. Auf der Landstraße war weit und breit kein Auto zu sehen.

Danzig, 2014

Die Zielscheibe fuhr ratternd heran und trieb im Luftzug nach oben wie ein Drachen im Wind. Sasza ergriff sie an der rechten unteren Ecke, zog sie gerade und zählte die Einschusslöcher. Sie lächelte, verkniff sich aber eine Bemerkung. Nicht ein Schuss war danebengegangen. Alle sechs Kugeln hatten den unteren Teil der Figur getroffen – der Angreifer war außer Gefecht gesetzt, aber noch am Leben. Sie legte den Revolver auf dem filzbedeckten Beistelltisch ab und nahm die leeren Patronenhülsen heraus. Eine davon musste sie unbedingt als Glücksbringer mitnehmen. Acht Jahre lang war sie nicht mehr am Schießstand gewesen. »Ein gutes Trefferbild«, lobte der Trainer. »Jetzt die Glock? Oder gleich die Kalaschnikow?«

Sasza setzte die Brille ab. Ihre Ohren schmerzten unter dem Gehörschutz. Vor dem Plakat »Wie mache ich einen Angreifer unschädlich?« stand Oberkommissar Robert Duchnowski, genannt Duchno, und lächelte anerkennend. Mit Holzfällerhemd und Cowboystiefeln, die Daumen in die Taschen seiner Jeans gesteckt, sah er aus wie ein Westernheld. Wenigstens hatte er sich diesen furchtbaren Zopf abgeschnitten, dachte Sasza. Sein kurzes, strubbliges Haar war grau wie Edelstahl, trotzdem wirkte er viel jünger als bei ihrem letzten Treffen. Damals hatten sie gemeinsam im Mordfall Nadel ermittelt. Er griff nach dem Katalog mit den Waffen, die für das Training zur Verfügung standen, und schnalzte mit der Zunge.

»Ich hätte gerne was Damenhaftes«, murmelte Sasza. »Einen Handtaschenrevolver.«

»Eine Beretta?«, schlug Duchno vor.

»In Ordnung. Und ich versuche es auf eine größere Distanz.«

Sasza drehte sich um und maß die Entfernung ab. Sie konnte die Scheibe kaum noch erkennen, von den Markierungen darauf ganz zu schweigen. »Ich habe nichts anderes erwartet«, hörte sie Duchno hinter ihrem Rücken sagen.

Sie schüttelte den Kopf wie die Mutter eines verzogenen Kindes, dessen vorlaute Kommentare sie aus Gründen, die ihr selbst unverständlich waren, immer wieder durchgehen ließ.

»Du bist echt leicht zufriedenzustellen«, entgegnete sie, um etwas zu sagen.

»Da irrst du dich gewaltig, du willst es bloß nicht wahrhaben«, erwiderte Duchno und lachte herausfordernd.

Der Ausbilder schaute missbilligend von der Zielscheibe herüber.

»Zehn Meter ist die Standardentfernung«, belehrte er Sasza und markierte mit einem Filzstift die alten Einschusslöcher. »Fünfundzwanzig Meter ist olympische Distanz.«

»Der Kunde ist König«, fiel Duchno dem Trainer ins Wort und drückte den grünen Knopf. Die Zielscheibe fuhr zurück an die Wand. Der Ausbilder verschwand in seinem Kabuff.

Im Schießstand neben ihnen feuerte ein Typ in Cargohose und Designer-T-Shirt im Vintage-Destroyed-Look ein ums andere Mal eine Kalaschnikow ab. Sein höchstens dreizehnjähriger Sohn wartete nur darauf, endlich auch schießen zu dürfen. Seine Ehefrau, mit blauen Wolldreads, äußerst knapp bekleidet und mit bunten Tattoos übersät, lauschte vollkommen unbeeindruckt den metallischen Kaskadenklängen der zu Boden fallenden Patronenhülsen. Immer wieder holte die Frau ihr Lipgloss aus der Tasche und fuhr sich damit fast schon zwanghaft über die Lippen. Zwischendurch starrte sie auf die Spitzen ihrer violetten hochhackigen Schuhe. Sasza beobachtete die Szene. Für einen Moment verlor sie den Kontakt zur Realität.

Als sie wieder zu sich kam, lagen bereits eine Beretta 950 und ein Plastikbehälter mit Patronen auf dem Tisch. Die kleine Pistole, schwarz, an den Rändern ein wenig abgenutzt, lag wunderbar in der Hand. Was für eine schöne Waffe, dachte Sasza unwillkürlich. Einen Moment lang wünschte sie, die Beretta gehörte ihr.

»Die stünde dir ausgezeichnet.« Duchno hatte ihre Gedanken gelesen.

Sasza schüttelte den Kopf, ihre Entscheidung stand fest. Ja, sie würde wieder bei der Polizei anheuern – aber nur als Profilerin. Das Schießtraining war eine Voraussetzung, so wie gültige Impfungen bei einem Job in der Lebensmittelbranche. Aber ansonsten würde auch bei der Arbeit scharfer Verstand ihre einzige Waffe sein. Sasza stand jetzt breitbeinig da, mit entspanntem Oberkörper, die Arme kraftvoll nach vorn gestreckt, und visierte das Ziel an.

»Du hast deinen Spaß gehabt, jetzt zeig, was du draufhast«, stachelte Duchno sie an. »Drei Kugeln in den linken Kreis, die anderen in den rechten«, bestimmte er.

Sasza nahm die Vorgaben wortlos zur Kenntnis. Schon nach dem ersten Schuss merkte sie, dass etwas nicht stimmte. Die wunderbar leichte Beretta war außerordentlich instabil. Und je mehr sich Sasza konzentrierte, desto schwerer fiel es ihr, das Ziel zu treffen. Sie wollte die Prüfung so schnell wie möglich hinter sich bringen. Endlich war das Magazin leer. Diesmal schaute sich Duchno als Erster die Ergebnisse an.

»Könnte schlimmer sein«, munterte er sie auf. »Jetzt noch das Gewehr, und dann sind wir fertig.«

Sasza begutachtete die Scheibe aus der Nähe und stellte verwundert fest, dass nur zwei Schüsse das Ziel verfehlt hatten. Beide Kugeln hatten den Angreifer in die Stirn getroffen, alle anderen waren dort gelandet, wo Duchno sie hinhaben wollte.

»Ich habe ihn erschossen«, seufzte sie.

»Wo gehobelt wird, fallen Späne.« Robert zuckte mit den Schultern. »Ich wusste nicht, dass du so gut bist.«

»Ich habe seit Jahren nicht mehr geschossen«, gab sie bescheiden zurück, obwohl sie vor Stolz platzen wollte.

»So etwas verlernt man nicht, wenn man das Kämpfen im Blut hat.« Er grinste sie breit an. »Und das ist bei dir der Fall. Genau wie ich vermutet hatte.«

»Allwissend wie immer.«

Sasza griff nach der Kalaschnikow. Das Magazin lud sich schwerfällig, sie brach sich beim Einlegen der letzten Patronen einen Fingernagel ab. Aber ihre Unsicherheit war verflogen. Nur ein absoluter Idiot schießt mit einem Gewehr daneben, pflegte ihr früherer Chef zu sagen, und Sasza teilte seine Ansicht. Es lief außerordentlich gut. Erleichtert nahm sie den Gehörschutz ab, rieb sich die Haut hinter den Ohren und warf die Brille achtlos in die Handtasche.

»Ohne die bist du also blind?«, stichelte Duchno. Dass sie nicht antwortete, wertete er als Bestätigung seiner Vermutung.

»Lass mich mal ziehen«, bat sie, als sie draußen standen.

Schweigend teilten sie sich die Zigarette.

»Das lief richtig gut!«, platzte Sasza plötzlich heraus. »Das musst du doch zugeben.«

Robert zog eine Grimasse, in seinen Augen blitzte der Schalk.

»Wenn du dir am Montag genauso viel Mühe gibst … Ich werde allerdings nicht dabei sein …« Er trat die Zigarette aus. »Hast du Hunger?«

»Glaubst du etwa, ich komme ohne dich nicht klar?« Sasza runzelte die Stirn und ging zum Angriff über: »Mit mir bei den Jungs zu trainieren, das war dir zu peinlich.«

Sie befanden sich auf dem Gelände eines Freizeit-Schießstandes, mitten in einem Kiefernwäldchen. An einer der Holzwände hing ein Plakat: »Hochzeit, Kommunion, Festessen – immer ein Volltreffer«. Erst ballern und sich dann die Kante geben. Oder umgekehrt, dachte sie.

»Der Schießstand lag auf dem Weg«, log Duchno. »Am Montag zeigst du, was du kannst, und dann wird niemand mehr sagen können, du hättest es nicht verdient, zu meinem Team zu gehören.«

Duchno schaute jetzt nicht mehr in ihre Richtung.

»Das ist also noch gar nicht sicher?« Sie witterte Verrat. »Und wozu dann die ganzen Schreiben, Anträge und Formulare? Ich werde mich bei niemandem einschleimen.«

»Natürlich nicht.« Duchno war bemüht, die Wogen zu glätten. »Obwohl ich zu gern sehen würde, wie Sasza Załuska sich bei jemandem einschleimt. Das wäre sicher ganz großes Kino.«

Sasza musste lachen. Sie begruben das Kriegsbeil.

Duchno war der erste Mann seit Langem, der sie zum Lachen brachte. Er hatte sie überredet, zur Polizei zurückzukommen, hatte ihr die Sache schmackhaft gemacht. Als er zum Chef der Kriminalpolizei befördert wurde, blieb seine alte Stelle unbesetzt. Sasza sollte den Posten übernehmen.

Duchno wäre nicht Duchno gewesen, hätte er nicht eine Bedingung gestellt. Wenn sie die Stelle wollte, musste sie tun, was sie hasste: den Diensttauglichkeitstest und die Schießausbildung absolvieren. Die psychologischen Untersuchungen hatte sie natürlich mit links bestanden. Umso größer war der Druck, den sie nun verspürte. Sie durfte das in sie gesetzte Vertrauen auf keinen Fall enttäuschen.

Was Sasza sich vor ihrer Rückkehr nach Polen ausgemalt hatte – lukrative Aufträge, Unabhängigkeit, Gerichtsgutachten –, hatte in der Praxis nicht funktioniert. Ohne das Geld ihrer Familie wäre sie kaum über die Runden gekommen. In Polen wurden selbst bei größeren Ermittlungen fast nie Profiler hinzugezogen, es sei denn, sie waren bei der Polizei angestellt. Sie merkte, wie sie fachlich abbaute, ihre Leidenschaft verlor, und wenn sie ehrlich war, sehnte sie sich nach dem regelmäßigen Dienst. Sasza wollte endlich mit beiden Beinen im Leben stehen, festen Boden unter den Füßen spüren und ohne Angst in die Zukunft schauen. Sie gestand sich zu, Fehler zu machen – schließlich war niemand perfekt. Aber sie musste ihre Ehre zurückgewinnen, und das konnte sie nur dort, wo sie sie verloren hatte.

»Lass uns gehen.« Sasza warf sich ihre Tasche über die Schulter. »Du wirst es nicht erleben, dass ich mich bei jemandem einschleime. Nie.«

»Sag niemals nie.«

»Schon geschehen«, gab Sasza zurück. »Und, hat es mir geschadet?«

Duchno parkte im Halteverbot und legte einen Behindertenausweis hinter die Windschutzscheibe. Sasza schaute ungläubig zu.

»Wenn du wenigstens einen Stock hättest«, fauchte sie.

»Ich habe doch dich dabei.«

»Diesen Quatsch kannst du alleine machen«, entgegnete sie. »Irgendwann erwischen sie dich.«

»Hier, nimm«, als Antwort drückte Duchno ihr einen Ausweis der »Freunde des Zentralen Ermittlungsbüros« mit der Nummer 0184/2013 in die Hand. Sasza musterte belustigt das Stück Plastik. Das Dokument beruhte zu einhundert Prozent auf einer Fiktion. Sasza war nirgends Mitglied, sie war nicht einmal der Polnischen Kriminologischen Gesellschaft beigetreten.

»Woher hattest du mein Foto?«

»Aus dem Fahndungsregister«, log er.

»Ich hoffe, da haben sie auch deine DNA!«

»Sogar in mehreren Varianten.«

Sasza lachte auf und schaute Duchno so lange in die Augen, bis dieser mit einer ehrlichen Antwort rausrückte.

»Na, aus den Unterlagen, die du eingereicht hast, woher sonst. Ich habe sie der Sekretärin zum Einscannen gegeben und ihr gesagt, sie soll dir einen Ausweis machen. Das ist nicht illegal. An und für sich.«

»An und für sich danke.« Załuska ließ die Plastikkarte in ihre Tasche gleiten. »Bestimmt nützlich, wenn ich vor dem Präsidium parken will.«

Sie standen an einer Ampel. Es war kaum Verkehr, und Sasza wollte schon bei Rot über die Straße, aber Duchno hielt sie am Arm fest.

»Also doch ein gesetzestreuer Bürger«, spottete sie. »Ich glaube es nicht.«

»Der Mensch braucht Prinzipien.«

»Nenn mir eins?«

»Ich habe nur eins: Ich bin unverbesserlich monogam.«

Die Ampel sprang auf Grün.

Sonnabend war Besuchstag. Vor dem Tor des Danziger Gefängnisses in der ulica Kurkowa hatte sich eine lange Schlange von Frauen mit vorschriftsmäßig geschnürten Paketen und herausgeputzten Kindern gebildet. Sasza und Duchno hatten hier unterschiedliche Anliegen: Er wollte zu einem seiner Informanten im Männertrakt, sie zu einer Verurteilten bei den Frauen. Vergangene Woche war eine der bekanntesten polnischen Mörderinnen – Marzena Koźmińska, genannt »die Wespe« – nach Danzig verlegt worden. Diesen Umstand wollte Sasza nutzen, um mit ihr zu sprechen. Während ihrer Haft in Graudenz hatte Koźmińska Saszas Anfragen für ein Treffen abgelehnt. Nun sollte sie im Verfahren eines ehemaligen Komplizen aussagen. Sasza ging davon aus, dass die Wespe am Boden zerstört wäre, denn Rafał Gromek hatte bereits Freigang; in Kürze würde sein Antrag auf vorzeitige Entlassung verhandelt werden. Alles deutete auf eine Bewährungsstrafe hin, dann wäre er bald draußen.

Marzena hatte nicht einmal Aussicht auf Hafterleichterungen. Nach wie vor galt sie als eine der gefährlichsten Insassinnen. Sasza wollte die Gelegenheit nutzen und die Mörderin zur Teilnahme an ihrem Forschungsprojekt überreden. Zwar war ihre Doktorarbeit schon fast fertig, aber mit dem Fall »Marzena Koźmińska« als Sahnehäubchen auf ihrer Arbeit wäre ihr ein Stipendium so gut wie sicher.

Sie wurden in die Schleuse geführt, einen kameraüberwachten Raum. Die Besucher der Gefängnisinsassen in der Warteschlange fluchten laut, als Sasza und Duchno sich an der Gruppe vorbeidrängelten.

Jetzt saßen sie auf Plastikstühlen und warteten schweigend darauf, dass der Wärter Zeit für sie finden würde. Duchno knackte mit den Fingerknochen, wohl wissend, dass es Sasza bei dem Geräusch schüttelte. Prompt wandte sie ihm den Kopf zu. Der Hauptkommissar erwiderte ihren Blick mit hochgezogenen Augenbrauen.

»Hast du Hunger?«

»Das hast du schon mal gefragt.« Sasza zuckte mit den Schultern. »Ich weiß noch nicht. Warum?«

»Vielleicht gehen wir nachher eine Pizza essen?« Duchno zögerte. »Oder so was?«

»Oder so was?« Sie legte belustigt den Kopf in den Nacken. »Willst du dich einschleimen?«

»Jep.« Er strahlte jetzt über das ganze Gesicht. »Und wie gefällt dir das?«

Sasza schluckte, blinzelte und merkte zu ihrer eigenen Überraschung, dass sie rot wurde.

»Ich muss nachher gleich weiter«, flüsterte sie. »Es gibt da eine Sache, die ich klären muss, bevor ich mich so richtig in die Arbeit stürzen kann. Das muss ich sofort machen. Beziehungsweise morgen früh um zehn.«

»Um zehn?«, wiederholte Duchno und verbarg nur mühsam seine Enttäuschung. »Morgen um diese Zeit kriegen mich keine zehn Pferde aus der Kiste. Ich kann zum ersten Mal seit Monaten mal wieder richtig ausschlafen. Ich habe ein bequemes Bett, das vorrangig mein roter Kater nutzt, weil ich ständig arbeite. Dafür habe ich es nicht gekauft. Ein Bett ist weder ein Kratzbaum noch ein Katzenklo.«

Diesmal gelang es ihm nicht, Sasza zum Lachen zu bringen.

»Karolina ist mit ihrer Oma nach Kreta gefahren«, erklärte sie. »Ich will reinen Tisch machen. Jetzt oder nie.«

Duchno spielte mit den Autoschlüsseln. Seine gute Laune war dahin, das konnte Sasza deutlich erkennen. Sie wollte ihn nicht zurückweisen, aber genau so fasste er ihre Antwort offenbar auf.

»Das ist was Persönliches. Heute Nacht muss ich durch halb Polen fahren, nach Hajnówka. In zwei Tagen bin ich zurück. Und wenn ich dann noch diese verdammte Prüfung hinter mir habe, immer gerne. Vielleicht. Aber ohne Bett.«

Sie schauten sich schweigend in die Augen, dann mussten beide gleichzeitig lächeln.

»Und wieder hat es nicht geklappt«, seufzte Duchno und mimte tapfer den Enttäuschten.

Er streckte die Hand nach ihr aus. Sie versteifte sich und versuchte, ihren schnell gehenden Atem zu beruhigen. Aber als er seine große, knochige Hand auf ihre legte, spürte sie erneut, wie ihr das Blut bis in die Ohren schoss. Er berührte sie nur einen Moment lang, ganz leicht. Als er seine Hand zurückzog, sah sie die abgegriffene Beretta, Kaliber 9,5 mm, aus dem Freizeit-Schießstand. Es verschlug ihr die Sprache.

»Ich habe sie nicht geklaut.« Duchno lachte. Dieser grau melierte Fünfundvierzigjährige hatte etwas von einem übermütigen Jungen an sich, dachte Sasza. Früher war sein Charme gänzlich an ihr abgeprallt. War er ein anderer geworden? Oder hatte vielmehr sie sich verändert? »Die hat meinem Vater gehört. Ein Familienerbstück«, erklärte er. »Ich habe sie dir mitgebracht.«

»Aber ich trage keine Waffe«, protestierte Sasza ohne große Überzeugung.

»Das ist ein Geschenk, ein verspätetes Weihnachtsgeschenk. Sozusagen.«

»Und der Waffenschein?«

»Liegt fein säuberlich gefaltet auf meinem Schreibtisch.« Er zwinkerte ihr zu. »Aber es gibt noch keine Patronen.«

Sasza wog die Beretta in der Hand, legte sie dann auf ihren Knien ab und betrachtete sie versonnen. »Als ich mir eine Spülmaschine gekauft habe, habe ich sie zwei Wochen lang nur angeschaut, bevor ich sie das erste Mal eingeschaltet habe. Gut, dass du keine Munition hast. Ich werde sie vorerst nicht benutzen.«

»Gar nicht?«

Sie lächelte und wiederholte seine Worte, wobei sie seine Stimme imitierte: »Sozusagen gar nicht.«

Daraufhin öffnete Duchno die andere Hand und ließ eine Handvoll Patronen leichthin in ihre Tasche gleiten, als wären es Bonbons.

»Das war nur ein Scherz. In mir steckt eben doch ein Kleptomane.« Er beugte sich zu ihrem Ohr, Sasza konnte sein Rasierwasser, seine Haut und Zigaretten riechen. Sofort drehte sich alles in ihrem Kopf. Als Duchno anfing zu sprechen, spürte sie eine angenehme Wärme an ihrem Ohr. »Keine Sorge, ich habe die Spuren des Verbrechens beseitigt. Sie kriegen uns nicht.«

Sasza prustete los und konnte sich nur mit Mühe davon abhalten, den ausladenden Baum zu umarmen, der Duchno in seinem vorherigen Leben gewesen sein musste.

»Sie ist wunderschön«, brachte sie heraus.

»Ich weiß«, erwiderte Duchno voller Stolz. »Deshalb passt ihr ja auch so gut zueinander.«

Jetzt waren beide verlegen. Sasza rückte etwas von Duchno ab und steckte die Beretta in ihre Hosentasche. Sie atmeten erleichtert auf, als der Wärter den Schalter öffnete und sie zur Pforte gerufen wurden.

Sie erhielten Passierscheine und Besucherausweise, und gleich darauf wurden sie von einer Frau in Uniform abgeholt, die sich als Major vorstellte. Leider bekam Sasza ihren Namen nicht mit, sie war immer noch verwirrt. Duchno hatte ganz offensichtlich mit ihr geflirtet, und – schlimmer noch – es hatte ihr gefallen. Sie senkte den Kopf und versuchte, sich zusammenzunehmen.

Die Leiterin des weiblichen Sicherheitspersonals trug weiße Strümpfe und sah mit ihren blond gelockten Haaren aus wie Kim Hartman in der Serie ’Allo ’Allo!. Sasza konnte sie sich problemlos mit Peitsche und in Latex vorstellen und taufte sie vorläufig auf den Namen Helga. Der Name passte hervorragend. In ihrer Jugend musste Helga wie eine nordische Königin ausgesehen haben. Inzwischen hatte sie ein paar Pfund zugenommen, und vom Glanz früherer Tage war ihr nur der strenge Blick geblieben. Routiniert holte sie jetzt zwei Plastikbehälter hervor und stellte sie vor Sasza und Duchno auf den Tresen.

»Waffen, CS-Gas, Mobiltelefone«, ordnete Helga an.

Sasza legte die Beretta in das Kästchen und kramte sorgfältig sämtliche Patronen aus ihrer Hosentasche hervor. Duchno hatte seine Dienstwaffe, die Glock, schon abgegeben. Die Wärter der Männerabteilung waren offenbar weniger pedantisch; Sasza musste sogar ihre Nagelfeile abgeben.

Während Duchno bereits in Begleitung seines Aufpassers im Männertrakt verschwand, untersuchte Helga immer noch die Sohlen von Saszas Bikerstiefeln.

»Da ist kein Messer drin versteckt!«, protestierte Sasza.

»Und komm bloß nicht zu spät!«, rief Duchno ihr noch zu. »Montag, acht Uhr. Die nächste Möglichkeit, die Prüfung zu machen, gibt es frühestens wieder im Herbst. Es wird schon schiefgehen. Am Nachmittag begießen wir dann deine Aufnahme in die Familie.«

»Mal schauen.« Sasza wackelte mit den Zehen. Sie stand immer noch barfuß da. Sie versuchte, mit Helga zu scherzen: »Ich gehe doch nicht etwa zu Hannibal Lecter?«

»Eben doch, meine Teuerste«, erwiderte Helga trocken und durchleuchtete weiter Saszas Handtasche.

»Alkohol, Drogen?«

Sasza lächelte ironisch, aber Helga war nicht in der Lage, Emotionen aus der Mimik anderer Menschen zu lesen, und verhielt sich weiterhin wie ein Roboter. Jetzt nahm sie den Trageriemen der Handtasche ab und prüfte ihn auf seine Eignung zum Würgen. Sasza hörte nur, wie die Plastikschnalle zersprang. Von da an wunderte sie gar nichts mehr. Sie kannte alle polnischen Gefängnisse mit Schwerverbrechern, aber nirgendwo waren die Kontrollen derart penibel gewesen. »Und das?« Helga zeigte auf dem Bildschirm auf einen langen, spitzen Gegenstand.

»Ein ganz gewöhnlicher Bleistift. Und falls es Sie interessiert, die Mine ist kaputt.«

»Damit lass ich Sie bestimmt nicht rein.«

Der Bleistift wanderte in das Plastikbehältnis, es folgten ein Feuerzeug, Deospray, Tesafilm, Kaugummi und ein Notizbuch.

»Der Notizblock auch?!« Jetzt wurde es Sasza doch zu bunt. Doch Helga zeigte auf die Gegenstände, die sich im Behälter angesammelt hatten, und erklärte ernst: »Mit einem Gürtel hat Marzena Koźmińska versucht, eine Mitgefangene zu erwürgen. Aus einem Feuerzeug, Deo, Tesafilm und Kaugummi hat sie einen Flammenwerfer gebastelt. Meine Schichtablösung ist immer noch krankgeschrieben. Mit einem Bleistift und einem Notizbuch hat sie versucht, jemandem das Sehvermögen zu nehmen.«

Belustigt griff Sasza nach dem Bleistift und mimte einen Stoß in die Augenhöhle.

»Etwa so?«

Helga spitzte den Bleistift, verteilte das Bleipulver im Notizbuch, klopfte das restliche Pulver ab und tat so, als wollte sie es sich in die Augen reiben.

»Dreizehn Personen, seit sie hierherverlegt wurde. Sie tigert in der Zelle herum, spielt den Clown, und greift dann urplötzlich irgendwen an.« Sie fuhr sich mit dem Finger über die Kehle.

Das Grinsen auf Saszas Gesicht erstarb.

»Soll ich Sie begleiten?«

»Ich komme schon klar.«

»Ich bringe Sie in den Besucherraum für die gefährlichen Häftlinge«, entschied Helga.

Sie wollte den Plastikbehälter schon wegräumen, änderte dann aber ihre Meinung, nahm Sasza die ganze Handtasche ab und gab ihr nur ihre Stiefel zurück. Da piepte das Walkie-Talkie. Die Wärterin gab ihren Standort durch.

»Unfall in der Näherei«, ertönte eine Stimme aus dem Gerät. »Abteilungsleiterin P2 zum Ausgang dreiundzwanzig. Es gibt Verletzte.«

»Ich begleite noch die Besucherin und hole die Verwundeten dann dort ab.«

Sie liefen zur Gittertür.

Auf der anderen Seite der Plexiglasscheibe saß bereits Marzena Koźmińska, die Mörderin, um die sich Sasza bisher erfolglos bemüht hatte. Auf den ersten Blick wirkte sie völlig harmlos. Ihr Alter war schwierig zu schätzen, Koźmińska hätte eine Tante, Großmutter oder Mutter sein können – und wahrscheinlich war sie das alles auch. Sie war schlank, hatte eine wohlproportionierte Figur und trug die braunen Haare in einem braven Pagenschnitt. Abgesehen von einem durchaus charmanten Silberblick, hatte sie ein Allerweltsgesicht. Ein Bügel ihrer billigen Brille war mit Klebeband repariert. Ihre Füße steckten in schneeweißen Socken mit Löchern an den Fersen, ihre Schlappen waren ausgetreten. Die Beine der orangenen Uniform, die besonders gefährliche Häftlinge trugen, waren bis zu den Knien hochgekrempelt und entblößten magere weiße Waden.

Auf der Straße hätte Sasza die Mörderin nie erkannt. Sie ähnelte in keiner Weise der blonden Frau im Jogginganzug auf den Fahndungsfotos, die sie nach dem Mord an einem Warschauer Abiturienten betrachtet hatte. Aber es war die Wespe. Die erste und bisher einzige Frau in Polen, die zu lebenslanger Haft verurteilt worden war, ohne die Möglichkeit, nach dreißig Jahren auf Bewährung freizukommen. Die Schule hatte sie bereits nach acht Jahren geschmissen, aber die Untersuchungen während des Verfahrens hatten einen IQ von 178 ergeben. Sie war eine ausgezeichnete Strategin, hatte kommunikative Fähigkeiten und war eine Führungspersönlichkeit. Koźmińska war der androgyne Typ, der inzwischen typischerweise Konzerne managte, und sie war eine diagnostizierte Psychopathin.

Koźmińska stammte aus einer Problemfamilie. Sie war von klein auf an Aggressivität gewöhnt, hatte nie etwas anderes kennengelernt. Bis zu ihrer Festnahme hatte sie im kriminellen Milieu ihren Lebensunterhalt verdient. Allerdings hatte sie nie selbst eine Tatwaffe berührt oder zugeschlagen. Bei Morden war sie nie unmittelbar zugegen gewesen und bei den vorherigen Folterungen nur als Zuschauerin. Als Vollstrecker diente ihr gegenwärtiger Liebhaber oder ein Anwärter auf die Position. Mit welcher Art von Reizen sie diese Männer verführte, blieb ein Rätsel. Sie war gerissen. Die Ermittler waren überzeugt, dass sie den Tod mehrerer Menschen zu verantworten hatte, doch nur ein einziger Mord konnte ihr nachgewiesen werden. Ein Geständnis hatte sie nie abgelegt.

»Ich gebe kein Einverständnis«, sagte Koźmińska zur Begrüßung. Ihr breites Lächeln entblößte die fehlenden Eckzähne.

Sasza setzte sich auf den bereitstehenden Hocker, wusste aber nichts mit ihren Händen anzufangen und steckte sie daher in die Jackentaschen. Das Feuerzeug hatte ihr die Wärterin abgenommen, aber in diesem Aquarium war Rauchen ohnehin verboten. Eine Kamera war ständig auf sie gerichtet.

»Einverständnis wozu?« Sasza spürte vor Aufregung ein Kribbeln im Nacken, hatte aber nicht vor, freundlich zu sein.

Sie war nicht hergekommen, um irgendetwas zu erbitten. Sie setzte darauf, Koźmińska einzulullen und sie dann unerwartet aus der Deckung zu locken. Zuerst musste sie aber wissen, dass sich die Mühe lohnte.

»Ich bin mit überhaupt nichts einverstanden«, ertönte es hinter der Scheibe. »Ich bin unschuldig.«

»Wir vergeuden also beide nur unsere Zeit?« Sasza nahm die Hände aus den Taschen. An ihrem Handgelenk entdeckte sie einen schwarzen Streifen, wischte ihn ab und zeigte auf die kugelsichere Plexiglasscheibe, die sie trennte. »Und warum bist du dann hier drinnen?«

Überheblich schob Koźmińska das Kinn vor. Doch als sie zu sprechen begann, spürte Sasza, dass ihre Weichheit nur Fassade war. Bei diesem Typ Mensch gab es nichts for free. Die Gefangene wollte etwas von ihr, und Sasza hatte nicht vor, sie billig davonkommen zu lassen.

»Du hast Szymon interviewt«, sagte Koźmińska. »Eine gute Bekannte und Zellengenossin von mir.«

»Sie hat ordentlich abgeschnitten.«

»Zahlst du was?«

Sasza schüttelte den Kopf.

»Aber ich bringe dir Kaffee und Zigaretten mit. Ich kann Filme und Bücher organisieren. Keine Ahnung, was du brauchst. Ich bin Wissenschaftlerin.«

»Bullshit. Du bist ein Bulle, das rieche ich.« Sasza wurde rot.

»Ist das wichtig?«

Koźmińska machte es sich auf dem Stuhl bequem und knöpfte ihren Overall auf. Darunter trug sie ein grünes, mit Brokatblumen besticktes Unterhemd, das einen üppigen, wohlgeformten Busen umspannte. Vielleicht war das ihr Geheimnis. Ihr Dekolleté zeigte Spuren von Selbstverletzung. Die nässende Wunde sah ekelerregend aus.

Koźmińska zog eine zerknitterte Fotografie aus der Tasche und drückte sie an die Scheibe. Das Bild zeigte zwei junge Frauen, die eine hübsch, die andere nicht, beide schlank, sonnengebräunt und lächelnd. Ein gut aussehender, schon etwas älterer Mann hielt sie im Arm. An seinem Handgelenk prangte eine goldene Omega oder zumindest eine nicht ganz billige Fälschung. Vor ihnen befanden sich eine Flasche Krimsekt, Kristallgläser und eine geräucherte Makrele auf Zeitungspapier.

»Das bin ich.« Koźmińska zeigte auf das hässliche Entlein. Dann wanderte ihr Finger zur Schönheitskönigin. »Und das ist Monika. Bei der Arbeit nannte sie sich Jowita. Monika Zakrzewska. Sagt dir der Name was?«

Sasza kannte die Ermittlungsakten. Es war nicht schwer zu erraten, wer diese Schönheit war. Sie hatte mit Koźmińska in einem Bordell im Warschauer Stadtteil Bródno angeschafft. Sie galten als Freundinnen. Eines Sonntags war Monika Zakrzewska mit ihrem Kind in einen weißen Mercedes W210 gestiegen, der sie vor dem Haus ihrer Mutter abgeholt hatte, danach war sie wie vom Erdboden verschluckt. Jahre später, bei den Ermittlungen zum Mord des Abiturienten, war auch der Fall ihres Verschwindens neu aufgerollt worden. Einer von Koźmińskas Komplizen hatte als Kronzeuge ausgesagt. Ihm zufolge hatte Koźmińska den Mord an ihrer Freundin in Auftrag gegeben, nachdem diese ihr den Freund ausgespannt hatte. Zwar war Zakrzewskas Leiche nie gefunden worden, doch hatte es für eine Verurteilung gereicht.

»Und wer ist das?« Sasza deutete auf den Pierce-Brosnan-Verschnitt auf dem Foto.

»Keine Ahnung, wie er heißt. Aber ich lege meine Hand ins Feuer, dass er weiß, wer Zakrzewska auf dem Gewissen hat. Ich will, dass du den Typen findest und ihm schöne Grüße von mir ausrichtest.«

Es entstand eine Pause.

»Drei Ermittlungsteams haben sich an diesem Fall bereits die Zähne ausgebissen«, sagte Sasza schließlich. »Jetzt willst du, dass ich das im Alleingang erledige, und das nach so vielen Jahren? Wie stellst du dir das vor?«

»Du bist ein Bulle. Du hilfst mir, und ich gebe dir Material für den Nobelpreis oder was auch immer sie euch Psychiatern verleihen.«

Sasza erhob sich.

»So läuft das nicht. Außerdem bin ich Psychologin. Das ist ein großer Unterschied.«

Auf Koźmińskas Gesicht zeichnete sich Enttäuschung ab, die aber schon Sekunden später in Wut umschlug.

»Ich weiß Dinge, die ich noch niemandem erzählt habe«, schnaubte sie. »Damals hatte ich dieses Foto noch nicht. Ich habe viel Geld ausgegeben, um es zu bekommen. Um mich mache ich mir keine Sorgen, ich kann hier drinnen abkratzen. Aber ich habe Kinder, draußen. Monikas Mutter, die alte Zakrzewska, ist ständig hinter ihnen her. Sie will sie vernichten, und ich kann nichts dagegen tun. Ich will, dass sie meine Kinder in Ruhe lässt, denn ich habe die Hure nicht getötet. Dabei hätte ich schon viel früher Gelegenheit dazu gehabt.«

Sasza hob die Hand und unterbrach Koźmińskas Wortschwall. Beide hielten einen Moment inne.

»Ich helfe dir, ihn zu finden«, erklärte Sasza. »Aber warum liegt dir so viel daran?«

»Weil ich unschuldig bin.« Koźmińska hatte sich schnell wieder unter Kontrolle. »Mit Jowitas Verschwinden habe ich ausnahmsweise nichts zu tun. Über die anderen Fälle können wir reden.«

Sasza setzte sich wieder.

»Hör auf zu labern, dann mache ich vielleicht mit.« Sie lächelte. »Also, worum geht’s?«

Koźmińska überlegte, ob sie die Wahrheit sagen oder weiterhin die Unschuldige spielen sollte.

»Es geht mir nicht um Gerechtigkeit«, sagte sie schließlich. »Ich will bloß, dass der Kerl mich besuchen kommt. Es muss ihm nur jemand sagen, dass ich das Foto habe und mich mit ihm unterhalten will. Dann kommt er schon von alleine.«

Sasza konnte es kaum glauben, aber sie hatte den Eindruck, dass die Wespe die Wahrheit sagte.

»Und ich soll die Nachricht überbringen?«

Die Wespe zuckte mit den Schultern.

»Dafür bekommst du ›Die Geständnisse einer Bestie‹.« Sie grinste. »Das ist doch ein guter Deal, oder?«

»Von Versprechungen kann ich mir nichts kaufen. Und was für eine Sicherheit habe ich, dass ich wirklich ein Interview kriege?«

»Keine«, gab die Wespe offen zu. »Aber du hast mein Ehrenwort.«

Sasza lachte, was Koźmińska augenscheinlich kränkte.

»Ich habe noch nie etwas versprochen, was ich nicht gehalten habe. Ich habe Prinzipien.«

»Da bin ich mir sicher«, erwiderte Sasza unbeeindruckt. »Aber irgendwie fällt es mir schwer, dir zu glauben. Und ich sehe auch nicht, wie sich das ändern könnte.«

Koźmińska holte tief Luft.

»Hör gut zu, meine Liebe, denn ich sage das nur ein Mal. Wenn du ihn nicht herbringst, finde ich einen anderen Weg. Du bist nicht die Einzige, die mich ausweiden, mir die Seele rauben und daran verdienen will.«

»Ich mache das nicht wegen des Geldes«, widersprach Sasza.

»Nein?« Die Wespe verzog das Gesicht. »Und Ruhm und Ehre? Stipendien? Ein Schulterklopfen? Du willst mir doch nicht weismachen, dass ein Doktortitel sich nicht auf dein Gehalt auswirkt. Nichts im Leben macht freier und unabhängiger als das nötige Kleingeld. Wenn du reich bist, kannst du ein Spinner, ein Arschloch oder ein Mörder sein, und niemand kann dir etwas anhaben.«

»Was du von mir erwartest, ist ein Ding der Unmöglichkeit.« Sasza knöpfte ihre Jacke auf, und eine Zigarettenschachtel fiel auf den Boden. Koźmińska verschlang die R1 förmlich mit den Augen. Sasza nahm eine Zigarette aus der Schachtel und spielte einen Moment lang damit. Aus den Augenwinkeln beobachtete sie Koźmińskas Reaktion, dann steckte sie die Kippe zurück in die Packung und sagte: »Manche Fälle werden nie aufgeklärt. Keine Leiche, kein Verbrechen. Ich bin keine Hellseherin. Du weißt ja nicht einmal, wie der Typ heißt, den du suchst, und in welchem Verhältnis er zu Zakrzewska oder zu dir stand. Zumindest willst du es mir nicht sagen.«

»Wenn ich hier rauskönnte, würde ich dieses Arschloch finden. Er weiß, wer es war. Vielleicht hat er es sogar selbst getan.«

»Woher hast du das Bild?«, fragte Sasza mit Blick auf das Foto, das Koźmińska ihr gezeigt hatte. »Wer hat es dir verkauft? Ich brauche den Namen.«

Koźmińska war sich zu gut, um auf diese Frage zu antworten. Auf die Rückseite des Fotos schrieb sie die Signatur der Prozessakten. Dann schob sie es unter der Plexiglasscheibe durch.

»Lies das«, bat sie freundlich, »und komm dann wieder. Ich habe Zeit. Aber meine Kinder können nicht warten. Hilf mir, wenn du kannst.«

Sasza betrachtete die Rückseite der Fotografie. Die Aktensignatur war leicht zu merken. Der Fall war 2001 vor Gericht gekommen. Sie drehte das Bild um und betrachtete noch einmal den Mann und die beiden Frauen. Er war schon weit über vierzig, der Typ Mann, der sogar in einem abgerissenen T-Shirt noch gut aussah. Zakrzewska klebte an ihm, doch er hatte seinen Blick auf Koźmińska gerichtet, genauer auf ihr ausladendes Dekolleté. Koźmińska war keine Schönheit, aber sie hatte das Charisma jener vom Leben gezeichneten Latinas, wie man sie aus Almodóvar-Filmen kennt. Ihre Salamanderaugen leuchteten bedrohlich. Die beiden konnten einander nicht vertrauen, aber es verband sie etwas viel Stärkeres als den Gigolo und die verschwundene Prinzessin zu seiner Linken. Zakrzewska war vertrauensselig, niedlich, die ideale Beute für die beiden Raubtiere. Als sie das Foto betrachtete, fiel Sasza ein altes Sprichwort ein: Drei Menschen können ein Geheimnis bewahren, wenn zwei von ihnen tot sind. Was für ein Geheimnis verband diese drei? Sie war sich nicht sicher, ob sie es herausfinden wollte.

»Verlier es nicht«, warnte Koźmińska. »Ich habe keine Kopie. Wir nannten ihn Vierauge, weil er diesen Mercedes fuhr, E-Klasse, Modell W210, das mit den Doppelscheinwerfern. Weiß wie eine Hochzeitslimousine. Der Kerl tauchte auf und verschwand wieder. Manchmal war er monatelang weg, und dann kam er wieder mehrmals die Woche, als hätte er Heimweh. Damals hatten nur wenige so ein Auto.«

Sasza überlegte kurz. Wenn Koźmińska die Wahrheit sagte, dann hatte sie ihr gerade die einzige Spur verraten, die sie besaß. Bluffte sie? Wozu wollte sie Sasza wirklich benutzen? Inzwischen war sie sich sicher, dass die Gefangene einer Untersuchung zustimmen würde. Aber sie musste ihr noch einen Köder hinwerfen. Die Akten würde sie lesen, warum auch nicht. Wahrscheinlich waren sie sogar interessant.

»Ich kann nichts versprechen.« Sasza stand auf.

Der Haken für Koźmińska war ausgeworfen, nun blieb abzuwarten, ob der Fisch anbiss. Man konnte nie ganz sicher sein. Doch man musste wissen, wann die Schnur fest genug gespannt war, dass man Leine geben musste. Genau dieser Moment war jetzt gekommen. Es gab keinen größeren Fehler, als eine Sache zu zerreden.

»Lässt du mir ein paar Kippen da?«, fragte Koźmińska.