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»Ein Satz kann ein Leben verändern« – das haben schon viele Menschen erfahren. Aber wie gelingt es, das richtige Wort oder die passende Sentenz, die ein anderer gerade braucht, parat zu haben? Ernste und wichtige Anliegen werden im Hospiz, Krankenhaus oder Altenheim häufig nebenbei, »zwischen Tür und Angel« mitgeteilt. Oft hat ein Mensch unter diesen Umständen nicht mehr so viel Lebenszeit, um seine Probleme zu bearbeiten. Es gilt, diese Situation zu erkennen und ihr im behutsam konzentrierten Zuhören gerecht zu werden. Hier setzt Heiderose Gärtner-Schultz mit ihrer Kompaktberatung an. Was muss man über Menschen wissen und wie kann man diese begleitende Intention entwickeln? Dieses Konzept für eine Kurzzeitberatung weckt Sensibilität und bietet Praxishilfen für ein im guten Sinne des Wortes leichtfüßiges Umgehen mit scheinbar schwer zu Lösendem. Beratungskonzepte aus der Kurzzeittherapie, der systemischen Beratung und der paradoxen Intention aus der Logotherapie bieten Anregungen, wie eine Begleitung in der Kürze der Zeit gelingen kann.
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Seitenzahl: 165
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Die Buchreihe Edition Leidfaden ist Teil des Programmschwerpunkts »Trauerbegleitung« bei Vandenhoeck & Ruprecht, in dessen Zentrum seit 2012 die Zeitschrift »Leidfaden – Fachmagazin für Krisen, Leid, Trauer« steht. Die Edition bietet Grundlagen zu wichtigen Einzelthemen und Fragestellungen im (semi-)professionellen Umgang mit Trauernden.
Heiderose Gärtner-Schultz
Der richtige Satz zur richtigen Zeit
Kurzzeitberatung in der Trauerbegleitung
Mit einem Vorwort von Monika Müller
Mit 3 Abbildungen
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
ISBN 978-3-647-99828-2
Weitere Ausgaben und Online-Angebote sind erhältlich unter: www.v-r.de
Umschlagabbildung: gerhardp, pearl/Shutterstock.com
© 2017, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG,
Theaterstraße 13, D-37073 Göttingen /
Vandenhoeck & Ruprecht LLC, Bristol, CT, U.S.A.
www.v-r.de
Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages.
Satz: SchwabScantechnik, GöttingenEPUB-Erstellung: Lumina Datamatics, Griesheim
Inhalt
Vorwort
Zu Beginn
Teil 1
Was ist Kompaktberatung?
Menschenbild
Dezentrierung
Die Macht der Worte
Die Wirkmächtigkeit des Wortes in der Bibel
Das Wort in der Poesie
Die Bedeutung von Worten im Märchen
Segen und Fluch
Serendipität
Erlösung vom Machbarkeitswahn
Hirnphysiologische Erkenntnisse
Der Geistesblitz
Der Aha-Effekt
Kompaktberatung als Modell der Zukunft
Der Hintergrund: Apophthegmata der Wüstenmönche
Bedingungen der Entstehungszeit der Apophthegmata
Herzens- und Seelenbildung als Vorbereitung der Apophthegmata-Begleitung
Die seelsorgliche Begleitung der Wüstenmönche und -nonnen als Vorbild für eine Beratungsarbeit von heute
Wie funktioniert Kompaktberatung?
Teil 2
Wenige Worte nützen
Schlüsselmomente
Leid und Tod sind Teil des Lebens
Umgang mit der Vergänglichkeit des Daseins bei Frankl
Hilflosigkeits- und Sinnlosigkeitsgefühle
Trauer als Neuanfang
Sterben als Aufgabe betrachten
Suizid als gesellschaftlicher Unfall?
Leben gelingt im »Dazwischen«
Zwischen Versöhnung und Verzweiflung
Zwischen Annahme und Auflehnung
Zwischen Weisheit und Besserwisserei
Zwischen Gelassenheit und Gleichgültigkeit
Zwischen Liebesfähigkeit und Hartherzigkeit
Teil 3
Wie finde ich die richtigen Sätze zur richtigen Zeit?
Geistesgegenwart
Auftragsklärung
Antennen auf Empfang
Wie Wahrnehmung funktioniert
Intuition
Kreativität
Bildliches Denken
Differenzierte Wahrnehmung
Spielen
Achtsamkeit
Versöhnung
Humor
Gebet/Meditation
Staunen
Das richtige Wort zur richtigen Zeit – wie kann das gehen?
Die richtige Gelegenheit – Kairos
Zuhören
Agieren
Loslassen auf Zukunft hin
Zum Mitnehmen
Literatur
Vorwort
Gerade in der Begleitung trauernder Menschen gibt es oft lang andauernde Prozesse, die irgendwann nicht mehr mit der Verlustbearbeitung zu tun haben. Manchmal gibt es das Problem, dass Klientinnen sich nicht von der Beraterin trennen möchten, weil sie ihnen treue Gesamtlebensbegleiterin wurde oder sogar ansatzweise Ersatzperson für den verlorenen Menschen. Gerade hier ist meines Erachtens die Kompaktberatung angebracht, um nicht ausschließlich in Endlosschleifen auf den erlittenen Verlust zu schauen, sondern auf ein mögliches und ein möglichst gutes Leben mit dem Verlust.
Bei der Kompaktberatung wird besonders die Expertinnenschaft der Klientin (»die immer schon ihre Lösungen mitbringt«) für ihre eigenen Probleme in den Vordergrund gestellt. Nach vorn gerichtet geht es darum, eine Atmosphäre zu schaffen, in der ausreichend Raum für die Trauer ist, in dem kreative Lösungen und positive Zukunftsbilder erschaffen werden können. Es geht um den Ausdruck und Fortschritt eines Problems, nicht so sehr um seine Entstehung.
»Es gibt im Leben immer Augenblicke, wo man überrascht wird […] Nicht von einem Ereignis, dem Gang der Dinge, sondern von einem Satz. Von einem einzigen Satz, den man dann nicht vergessen kann«, so der große Literaturkritiker Marcel Reich-Ranicki in einem Interview im Oktober 2008 mit der FAZ. Auch Klienten sagen so etwas nicht selten zu ihren Beraterinnen und Begleiterinnen: »Damals haben Sie mal das und das zu mir gesagt, das war ein Wendepunkt …« Oder: »Verstanden habe ich es nicht direkt, aber gewirkt hat es irgendwie …« Solche »Zauberworte« haben das Ziel, andere Sichtweisen und ungenutzte Ressourcen der Klientinnen hervorzulocken und zu aktivieren. Nicht zuletzt die paradoxe Intention ist dafür ein einleuchtendes Beispiel.
In der Kompaktberatung geht es vor allem um Intuition, um zu gegebener Zeit beim richtigen Menschen das passende Wort zu finden. Dazu bietet das Buch viel Hintergrundwissen und eine Fülle anschaulicher Beispiele und Möglichkeiten.
Den Leserinnen wird es überlassen sein, sich in dieser Intuition zu üben und sie nicht mit spontanem Bauchgefühl und dem Geben von Ratschlägen zu verwechseln.
Monika Müller
Zu Beginn
»Ein Satz kann ein Leben verändern« – das ist eine Erfahrung, die Menschen immer wieder machen. Sie vergessen dieses Erlebnis in ihrem ganzen Leben nicht. »Es geht einem ein Licht auf«, sagen wir, wenn eine neue Erkenntnis uns trifft. Diesem Phänomen wird in diesem Buch nachgespürt. Kann man und wie kann man durch einen Satz, eine Geschichte im Anderen etwas auslösen, was ihm weiterhilft? Allein die »Kraft des Staunens, des Erwartens, des Wunderns löst wundersame Dinge in uns aus, in alle Richtungen« (von Hirschhausen, 2016, S. 25).
Mein Beratungsansatz, ich habe ihn Kompaktberatung genannt, geht davon aus, dass vieles im zwischenmenschlichen Bereich möglich ist, was wir manchmal nicht zu hoffen wagen oder nicht glauben. Mithilfe von kurzen verbalen Eingriffen gilt es, Menschen in ihrem Leben auf die Sprünge zu helfen; vorausgesetzt ist, dass sie das auch wollen. Die Erkenntnisse der Neuroplastizität zeigen, dass Verhaltensänderungen durch verblüffende Interventionen hervorgerufen werden können (Hüther, 2005). Deshalb lohnt es sich, für die Situationen gerüstet zu sein, in denen ein Satz oder eine Geschichte gefragt ist, die den Anderen voranbringt. Worte können heilen und somit als »ohrale Medizin« (von Hirschhausen, 2016, S. 411) betrachtet und eingesetzt werden.
Heiderose Gärtner-Schultz
Teil 1
Was ist Kompaktberatung?
Dieses Beratungsmodell zählt zu den Kurztherapien, die Ende der 1960er und Anfang der 1970er Jahre größere Beachtung fanden. In einer Kurztherapie, einer begrenzten Begleitung, werden die Probleme, Konflikte und Störungen nicht vertieft, sondern es werden die vorhandenen Kompetenzen und Ressourcen genutzt. Bei dieser Beratungsform werden keine Interpretationen des Gesagten durch Beratende vorgenommen, sondern es wird phänomenologisch vorgegangen. Daher werden zum Beispiel keine Warum-Fragen gestellt.
Eine Kurztherapie bzw. die Kompaktberatung kann auch deswegen kurz sein, weil sie von der Annahme ausgeht, dass innerhalb der Beratungszeit nur Anregungen und Anstöße für die eigentlichen Entwicklungs- und Veränderungsprozesse gegeben werden, die im konkreten Alltag des Menschen umgesetzt bzw. vollzogen werden müssen.
Die lösungsorientierte Kurzzeitberatung wurde vor allem im Beratungsformat nach Steve de Shazer (2004) entwickelt. Die Welt der Probleme und Herausforderungen wird verlassen und man konzentriert sich auf Lösungen, Wünsche, Ziele und Ressourcen. Die Suche nach den eigenen Quellen und das Extrahieren von im Leben Gelungenem werden geübt, anstatt auf die Analyse der Probleme und deren Entstehung zu schauen. Um diesen Ansatz zu verwirklichen, wird zum Beispiel zu Beginn des Gesprächs gefragt, was der Klient in der vergangenen Woche an Positivem erlebt und getan hat, wie etwa Sport oder andere Hobbys. Dadurch wird auf Bejahendes eingestimmt.
Lösungsfokussiertes Arbeiten hat zum Ziel, mit dem Rat- und Trostsuchenden gemeinsam Perspektiven zu entwickeln, die ermutigen, die selbst gefundenen Schritte in Richtung der angestrebten Ziele zu gehen. Die angewandte Kommunikation verzichtet auf Festlegungen, die sich aus Diagnosestellungen ergeben, weil diese sich vorwiegend an den Defiziten des Individuums ausrichten.
Menschenbild
Die Überlegungen zur hier dargestellten Begleitung basieren auf den Grundüberlegungen zum Menschenbild der sinnorientierten Psychotherapie, die der Wiener Psychiater Viktor E. Frankl entwickelt hat. Der Begründer der Logotherapie war dem jüdischen Glauben und Menschenbild verpflichtet. Dementsprechend ist die Logotherapie keine Therapieform, die sich mit Religion und Glauben als einem pathologischen Phänomen auseinandersetzt. Sie legt den Menschen nicht auf eine psychologische Theorie fest, sondern bezieht vielmehr das logotherapeutische Menschenbild und den Geist als anthropologische Grundkonstante in die Überlegungen vom Menschsein mit ein. Das Geistige ist die in jedem Menschen angenommene Größe, die nicht erkranken kann und immer ansprechbar ist. Gleichzeitig ist das Geistige stets unverfügbar und lässt sich nicht hervorzwingen. Das Postulat der Unverfügbarkeit des Geistes bedingt, dass ein Mensch nicht eingeordnet oder festgelegt werden kann nach dem Motto: »Die bipolare Störung von Zimmer 2.«
Viktor E. Frankl wurde 1905 in Wien geboren. 1939 erlitt seine Karriere einen schweren Einbruch durch seine Internierung in das Konzentrationslager Auschwitz. In der Zeit der Inhaftierung legte er gedanklich den Grundstein für seine weiteren Überlegungen zur Anthropologie, als deren Konsequenz er die Existenzanalyse und Logotherapie entwickelte (Frankl, 1996). Frankl wurde später Professor für Neurologie und Psychiatrie an der Universität Wien, zugleich unter anderem Professor für Logotherapie an der United States International University von Kalifornien.
Als Jude, der sich der alttestamentlichen Tradition verpflichtet weiß, zitiert Frankl immer wieder Bibelstellen und gebraucht diese für seine Argumentation. Gerade seine Ausführungen über das Menschenbild können für ein Gespräch mit Theologen, Philosophen und Psychologen wesentlich sein, zumal er auch den Grenzbereich zwischen Theologie und Psychotherapie ausdrücklich beleuchtet (vgl. Frankl, 1974).
»Der Mensch ist nichts weiter als …« – gegen diesen stereotypen Halbsatz des Reduktionismus hat Frankl sein Leben lang gekämpft. Mit Sigmund Freud, der in seinem Ansatz der Psychoanalyse zu verstehen gab, der Mensch sei nicht »Herr im eigenen Hause«, sondern von seinen Trieben dominiert, wandte man sich dem Determinismus zu: Der Mensch war durch das ihm innewohnende »Es« vom »Unbewussten« gesteuert. Alfred Adler hob danach das Einmalige des Menschen hervor und begründete die Individualpsychologie als sogenannte zweite Wiener Schule. Viktor E. Frankl vertrat hingegen innerhalb seiner Existenzanalyse ein Bild des Menschen, das wesentlich von seiner Personalität geprägt ist und der damit verbundenen Geistigkeit, die sich in Freiheit und Verantwortlichkeit zeigt. Nach Frankl besitzt der Mensch die Fähigkeit, die Frage nach dem Sinn von Handeln und Leben zu stellen und beantworten zu können. Als sprachbegabtem Vernunft- und Verstandeswesen sind dem Menschen die Voraussetzungen für eine selbstbezogene Sinnreflexion gegeben. Frankl sieht den Menschen nicht einseitig biologisch, psychologisch oder soziologisch vorherbestimmt. Menschliche Ganzheit ist vielmehr eine psycho-physische und geistig-personale Einheit, die mehrdimensional ist, wobei sich die geistige Ebene der Verfügbarkeit entzieht (Dimensionalontologie). Frankl erläutert zum Verständnis des Geistbegriffs, dass, wenn ein dreidimensionaler Gegenstand (zum Beispiel ein Zylinder, ein Kegel oder eine Kugel) auf eine Fläche projiziert wird und wenn man nur die Projektion sieht, ein wichtiger Bereich vernachlässigt wird, weil man nur das zweidimensionale Abbild sieht (Frankl, 1984). Es gilt daher, die geistige Ebene in die Behandlung einzubeziehen. Man muss laut Frankl dem Menschen wieder Mut zum Geist machen und den »Willen zum Sinn« anregen (Frankl, 1982). Denn der Mensch hat Geist und ist ein geistiges Wesen. Als Mensch, hineingeboren in eine bestimmte Zeit und versehen mit individuellen Anlagen, ist er einerseits dem Schicksal ausgeliefert, kann aber andererseits eine Haltung dem Vorfindlichen gegenüber einnehmen, die ihn dann nicht mehr ausgeliefert sein lässt. Er kann sich seinen Bedingungen biologischer, psychologischer und sozialer Natur gegenüber verhalten. Er ist nicht machtlos preisgegeben. Der Mensch ist zur Selbstbestimmung fähig. Seine Bedingungen konditionieren ihn zwar, aber er hat die Freiheit, damit umzugehen. Der Geist ist Trotzmacht bei Schicksalsschlägen, wie bei Arbeitsverlust, Verfolgung oder schwerer Krankheit. Der Mensch fängt dort an zu sein, wo er sich seinen Bedingungen gegenüberstellt. Frankl benutzt den Begriff der Selbsttranszendenz für die Möglichkeit des Von-sich-selbst-Absehens und des Über-sich-hinaus-Gehens.
Ein sinnvolles Leben ist jedem Menschen möglich. Es gilt, den Sinn des jeweiligen Momentes aufzuspüren. Er ist da und kann gefunden werden (Gärtner, 1997). Wie das richtige Handeln aussieht, vermittelt das Gewissen (Frankl, 1984). Auch ein Todkranker kann seinem Lebensrest Sinn abgewinnen und sich zum Beispiel dem Tod in gelassener Hingabe stellen.
Mag durch die kurze Beschreibung des Frankl’schen Ansatzes dem Lesenden der Gedanke eines eingeforderten Heroismus durch den Kopf gehen, so ist das durchaus ein Vorwurf, mit dem sich Frankl auseinandersetzen musste. Allerdings muss man sagen, dass das Postulat der Kraft des Geistes und die Tatsache, dass seine Überlegungen und Hilfsmethoden aus Erfahrung gewonnen und weiterverarbeitet wurden, dieses schnelle Urteil entkräften. Er verbrachte vier Jahre im Konzentrationslager und war sich sicher, dass die »Trotzmacht des Geistes«, wie ein Buch von ihm heißt, ihm sein Überleben trotz widriger Umstände sicherte. Das, was er für sich in dieser Zeit erfahren hatte, wollte er an alle Menschen weitergeben. Diesen Lebensplan hat er nach der Befreiung aus dem Lager auch verwirklicht.
Die Kompaktberatung beruht auf den Frankl’schen Überlegungen, dass der Mensch auf Sinn ausgerichtet und bestrebt ist, in allen Lebenslagen und Problemsituationen Sinn zu erkennen. Er wird in einer für ihn schwierigen Lage versuchen, Antworten auf die Frage nach dem Sinn zu bekommen, und er wird bemüht sein, für ihn unsinnige Situationen und Erlebnisse zu klären.
Der Geist als virtuelle Größe garantiert einen Erfolg des Miteinander-in-Beziehung-Tretens. Er ist auch in aussichtslos erscheinenden Fällen vorhanden und bietet die Möglichkeit, Schlüssel für scheinbar Unlösbares zu finden. Das Geistige ist sozusagen als etwas Weiteres und Drittes zu denken, eine Ebene, die sich dazwischenschiebt und vorhanden, aber nicht beeinflussbar ist. »In diesem Dazwischen entsteht jedoch noch etwas, das sich dem Mittelbaren und dem Unmittelbaren entzieht, das sozusagen als Drittes zu den zwei sich Begegnenden hinzutritt. Es ist an sich unvermittelbar. – Das Unvermittelbare: Alle jene Ereignisse im Dazwischen der beratenden und therapeutischen Beziehung, welche nicht vorhersehbar, nicht einsetzbar oder machbar, nicht reproduzierbar sind und deshalb auch unvermittelbar bleiben, haben die Charakteristik von etwas überraschend Eintreffendem. Dieses Eintreffende im Zwei der Begegnung wird nun zum ›Dritten‹. Das Dritte selbst ist kaum definierbar. Im Nachhinein hingegen ist das Ereignis des Dritten beschreibbar und vergleichbar. Gewisse Randbedingungen, welche zum Ereignis führen können, sind ebenfalls bestimmbar, niemals jedoch die Logik des zwingenden Eintretens des Dritten. Ähnliche Phänomene der Unsicherheit und der Unschärfe in Bezug auf die Erfassung von erscheinenden und eintretenden Ereignissen kennen wir in der Naturwissenschaft« (vgl. Eberhart u. Knill, 2009, S. 54 f.). In der Begegnung, im Gespräch von zwei Menschen nimmt ein »Drittes« in Gestalt einer Geschichte, eines Wortes teil und erweitert den Dialog, sodass er zum Trialog wird. Aus dem Gesagten wird Geschehendes, es ereignet sich etwas. Die Unterbrechung von Problemfokussierung wird mithilfe von Dezentrierungsübungen, seien sie aus dem Bereich der Musik, der bildenden Kunst oder des Tanzes, angeleitet. Bewusst wird ein Drittes als Medium eingeführt, das eingeschliffenes und gewohntes Denken unterbricht. Dieses »ganz Andere« eröffnet Freiräume und lässt dem menschlichen Geist (vgl. Frankl, 1984) Spielräume, die nach dieser Aktion zur Problemlösung genutzt werden können. Die Angebote zur Dezentrierung sind absichtsfrei und ihre Wirkung ist nicht planbar.
Als Möglichkeiten, das Geistige zu stimulieren, hat Frankl unter anderem die Nutzung des Humors und die paradoxe Intention entwickelt. Mithilfe des Unerwarteten werden Reize ausgesendet, die Verblüffung, in der heutigen Diktion einen Aha-Effekt, auslösen. Dieses Geschehen ist ungewöhnlich und lenkt von der Problemfokussierung ab. Die Dezentrierung schafft weite »Spiel«räume zum Denken, Tun und Schaffen. Eine neue Sicht auf das Geschehen entsteht. Was den Blick verstellte, ist wie weggezogen. Ein Stück »frei werden« ist entstanden. Etwas ist dazwischengetreten, die Verblüffung, ein Drittes, das Distanz schafft.
Dezentrierung
Der Begriff »Dezentrierung« kann aus der Entwicklungspsychologie hergeleitet werden. Er bezieht sich auf die Phase der Beziehungsaufnahme des Kindes zu anderen und das Verlassen der Selbstbezogenheit (vgl. Eberhart u. Knill, 2009). Das Wort »dezentrieren« beschreibt also den Schritt eines Kindes zu einer neuen Form der Wahrnehmung. War zuerst nur ein Gegenstand für das Kind wahrnehmbar, wird mit zunehmendem Alter auch die Konzentration auf etwas Zweites möglich (Piaget, 1983).
Abbildung 1: Mehrdeutig, Heiderose Gärtner-Schultz, 2017
Dezentrierung, das heißt kurze Interventionen, die neue Assoziations- und Denkmuster provozieren, meint in der Beratung und Begleitung, den in und mit seinem Problem verstrickten Menschen die Chance zu geben, sich aus der eigenen Problemumklammerung zu lösen. Dies kann in unterschiedlichen Weisen erfolgen, wie etwa durch Humor, paradoxe Intention, Kunstinstallation oder Ähnliches. Vertreter des Konstruktivismus wenden zum Beispiel paradoxe Aufgaben zum konsequenten Wechsel von Wahrnehmungspositionen an. Ziel ist, die verfügbaren Handlungsoptionen zu erweitern. Es geht um Vergrößerung von Möglichkeiten, die sich eine Person durch dieses Vorgehen eröffnen kann. Dies ist im Beratungskontext von entscheidender Relevanz. Es werden festsitzende und oft negative Überzeugungen destabilisiert und überraschende Perspektiven eröffnet.
Bei einem Vexierbild sind verschiedene Formen oder Gesichter zu erkennen, je nachdem, wie ein Mensch darauf schaut. Ich sehe, was ich aufgrund meiner Geschichte und Herkunft sehen kann und will. Mithilfe der Sichtweise eines anderen kann ich im Bild und eventuell auch im Leben etwas sehen und erkennen, was ich bisher nicht wahrgenommen habe. Eine andere Perspektive kann sich eröffnen.
Neues und anderes in einer scheinbar ausweglosen Situation erkennen zu können wird durch eine Dezentrierung möglich, einer gezielten Wegwendung vom Problem. Aber wie kommt es, dass zum Beispiel eine nachdenkliche Anekdote, etwas zum Schmunzeln oder die Beschäftigung mit ganz anderen Dingen bewirkt, dass der Knoten sich löst und ein Problem den Menschen nicht mehr vollständig im Griff hat?
Es ist das Mehr, der Geist, dem durch gezielte Ablenkung Raum verschafft wird. Es geschieht etwas, das die Aufmerksamkeit auf sich zieht. Ein kurzer Satz führt die Gedanken auf andere Bahnen. Durch die Beschäftigung mit etwas anderem geschieht ein Stück Befreiung. Etwas tritt dazwischen. Aus einem Dialog wird ein Trialog. Als Zweites weitet diese Interaktion den Blick nicht nur durch das andere Tun einer Sache, sondern eine neue Dimension nimmt im Interaktionsgeschehen Platz. Der Trialog öffnet sich in einen anderen Bereich. Das Gehirn reagiert auf die anderen Reize, kreative Areale werden angesprochen, spirituelle Dimensionen tun sich auf und die Atmosphäre wird frei und offen für Ungedachtes, Unbewusstes und Unverfügbares.
Wenn in dieser Arbeit davon gesprochen wird, dass dem Dritten Raum gegeben wird und konkrete Anleitung dafür angeboten wird, meint dieses Bild einen inneren, virtuellen Bereich, nämlich die Öffnung von eingefahren Haltungen hin zu etwas Neuem und die Erweiterung der mentalen Einstellungen auf unvorhergesehene Geschehnisse. Wenn vom »third space« (Bhabha, 2000) die Rede ist, kann zum Beispiel auch an etwas Konkretes, wie eine Bühne, gedacht werden. Es kann nach Paulo Freire (1971) zudem die Zeit gemeint sein, die zwischen Vision und Verwirklichung eines Zieles liegt, oder ein virtueller Übungsplatz, in dem neue Verhaltensmuster erprobt werden.
Die Macht der Worte
Eine groß angelegte Studie zeigte, wie wichtig ausgetauschte Worte sein können. Die eine Gruppe hatte die Aufgabe, während ihrer täglichen Fahrt zur Arbeit mit öffentlichen Verkehrsmitteln ein Gespräch mit jemandem anzufangen. Die andere war mit Walkman etc. »bewaffnet« und sollte jeden sprachlichen Kontakt vermeiden. Diejenigen Teilnehmer, die mit anderen reden mussten, empfanden erstaunlicherweise und unabhängig davon, ob sie introvertiert oder extrovertiert waren, die Fahrt als angenehmer. »Die Erkenntnisse der Neurowissenschaft bestätigen die Wirkung von Worten. Sie wirken sich positiv auf den gesamten menschlichen Organismus aus« (von Hirschhausen, 2016, S. 272).
Worte tun gut, sie wirken und haben Macht. »Jemanden mit gereimten oder verdichteten Worten zu beruhigen und zu beschwören, gehört zu den ältesten Heilungsritualen« (von Hirschhausen, 2016, S. 411). In Begleitung und Beratung »berühren« wir Menschen mit Worten und »rühren« im besten Fall ihr Herz an. Mit dem Begriff »berühren« wird deutlich gemacht, dass miteinander zu sprechen mehr ist als ein Gedankenaustausch. Worte »machen etwas« mit dem Anderen, wie Wilhelm Willms in seinem Gedicht sagt:
Wußten sie schon
Wußten sie schon
daß die nähe eines menschen
gesund machen
krank machen
tot und lebendig machen kann
wußten sie schon
daß die nähe eines menschen
gut machen
böse machen
traurig und froh machen kann
wußten sie schon
daß das wegbleiben eines menschen
sterben lassen kann
daß das kommen eines menschen
wieder leben läßt
wußten sie schon
daß die stimme eines menschen
einen anderen menschen
wieder aufhorchen läßt
der für alles taub war
wußten sie schon
daß das wort
oder das tun eines menschen
wieder sehend machen kann
einen
der für alles blind war
der nichts mehr sah
der keinen sinn mehr sah in dieser welt
und in seinem leben
wußten sie schon
daß das zeithaben für einen menschen
mehr ist als geld
mehr als medikamente
unter umständen mehr
als eine geniale operation
wußten sie schon
daß das anhören eines menschen
wunder wirkt
daß das wohlwollen zinsen trägt
daß ein vorschuß an vertrauen
hundertfach auf uns zurückkommt
wußten sie schon
daß tun mehr ist als reden
wußten sie das alles schon
wußten sie auch schon
daß der weg vom wissen über das reden
zum tun
… interplanetarisch weit ist.
(Wilhelm Willms, aus: ders., der geerdete himmel © 1974 Butzon & Bercker GmbH, Kevelaer, 7. Aufl. 1986, 5.5, www.bube.de)