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Köln im Mittelalter – aufregend, abwechslungsreich und gefährlich. Ein extrem spannender und hervorragend recherchierter Roman über eine starke Frau und schmutzige Geldgeschäfte im 15. Jahrhundert. Köln, 1423. Der Tod ihres Mannes, des Lombarden Nicolai Golatti, hat Aleydis de Bruinker zu einer sehr jungen und sehr reichen Witwe gemacht. Und zu einer Frau mit vielen Feinden: Konkurrenten, die sie als unfähig verleumden, die geerbte Wechselstube zu führen. Angeblich ehrenwerte Männer, die an die Mitgift ihrer Mündel wollen. Und eine unsichtbare Bedrohung aus der Schattenwelt, dem Netz aus Intrigen und Erpressung, das ihr Mann zu Lebzeiten gewoben hat. Als ein Brandanschlag auf Nicolais Mörderin die Stadt erschüttert, muss Aleydis etwas tun, das ihr überhaupt nicht behagt: Gewaltrichter Vinzenz van Cleve um Hilfe bitten, den Mann, der ohnehin schon zu viel Platz in ihren Gedanken einnimmt … Nach «Das Gold des Lombarden» der zweite in sich abgeschlossene Roman über die Lombardenwitwe Aleydis de Bruinker.
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Seitenzahl: 527
Petra Schier
Historischer Roman
Gold und Schatten
Köln, 1423. Der Tod ihres Mannes, des Lombarden Nicolai Golatti, hat Aleydis de Bruinker zu einer sehr jungen und sehr reichen Witwe gemacht. Und zu einer Frau mit vielen Feinden: Konkurrenten, die sie als unfähig verleumden, die geerbte Wechselstube zu führen. Angeblich ehrenwerte Männer, die an die Mitgift ihrer Mündel wollen. Und eine unsichtbare Bedrohung aus der Schattenwelt, dem Netz aus Intrigen und Erpressung, das ihr Mann zu Lebzeiten gewoben hat. Als ein Brandanschlag auf Nicolais Mörderin die Stadt erschüttert, muss Aleydis etwas tun, das ihr überhaupt nicht behagt: Gewaltrichter Vinzenz van Cleve um Hilfe bitten, den Mann, der ohnehin schon zu viel Platz in ihren Gedanken einnimmt …
Nach «Das Gold des Lombarden» der zweite in sich abgeschlossene Roman über die Lombardenwitwe Aleydis de Bruinker.
Petra Schier, Jahrgang 1978, lebt mit ihrem Mann und einem Schäferhund in einer kleinen Gemeinde in der Eifel. Sie studierte Geschichte und Literatur und arbeitet seit 2005 als freie Autorin. Ihre historischen Romane, darunter die Reihe um die Apothekerin Adelina, vereinen spannende Fiktion mit genau recherchierten Fakten. Petra Schier ist Mitglied des Vorstands der Autorenvereinigung DELIA.
Mehr Informationen sind unter www.petra-schier.de zu finden.
Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Hamburg, Februar 2020
Copyright © 2020 by Rowohlt Verlag GmbH, Hamburg
Redaktion Elisabeth Mahler
Karte Copyright © Peter Palm, Berlin
Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt, jede Verwertung bedarf der Genehmigung des Verlages.
Covergestaltung any.way, Barbara Hanke/Cordula Schmidt
Coverabbildung akg-images/Cameraphoto; Lee Avison,Dorota Gorecka/Trevillion Images; Bjanka Kadic/Arcangel; pavels/Shutterstock
Schrift Droid Serif Copyright © 2007 by Google Corporation
Schrift Open Sans Copyright © by Steve Matteson, Ascender Corp
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ISBN 978-3-644-40470-0
www.rowohlt.de
Alle angegebenen Seitenzahlen beziehen sich auf die Printausgabe.
Aleydis Golatti Witwe des Lombarden Nicolai Golatti, Jorg de Bruinkers Tochter
Alessandro Venetto Nicolais und Andreas Halbbruder, Geldwechsler in Frankfurt
Andrea Nicolais Bruder, Eisenwarenhändler
Arnold Hürth Griseldas Bruder, Cathreins Onkel
Augustin Wachknecht, ehemaliger Söldner
Cathrein Golatti Nicolais Tochter, Jacob de Piacenzas Witwe, ehemalige Begine, Ursels und Marleins Mutter
Edelgard Andreas Gemahlin
Ells Köchin
Franco Golatti Vater von Nicolai, Andrea und Alessandro, verstorben
Gerlin Magd
Gilles Wachknecht, ehemaliger Stadtsoldat
Griselda Nicolais verstorbene Gemahlin, Cathreins Mutter
Hartlieb de Piacenza jüngerer Bruder von Cathreins verstorbenem Gemahl Jakob
Irmel Magd
Jacob de Piacenza Geldwechsler aus Bonn, Marleins und Ursels Vater, verstorben
Jorg de Bruinker Aleydis’ Vater, Tuchhändler
Krista Jorg de Bruinkers Gemahlin
lutz Knecht
Marlein Cathreins Tochter, Ursels ältere Schwester
Matteo Andreas Sohn
Nicolai Golatti Aleydis’ Gemahl, Lombarde, Geldwechsler und -verleiher, Cathreins Vater, Andreas Bruder, Alessandros Halbbruder, verstorben
Robert de Piacenza Vetter von Cathreins verstorbenem Gemahl Jacob aus Bonn
Symon Knecht
Ursel Cathreins Tochter, Marleins jüngere Schwester
Wardo Knecht
Kristan Reese einer der drei Kölner Gewaltrichter
Georg Hardefust einer der drei Kölner Gewaltrichter
Richwin van Kneyart Schöffe, Thonnes’ Vater
Tilmann Greverode Hauptmann der Stadtsoldaten, Ratsherr
Vinzenz van Cleve einer der drei Kölner Gewaltrichter, Albas Bruder, Gregor van Cleves Sohn, Geldwechsler und -verleiher
Adelheid Langhölm Tochter eines reisenden Topf- und Pfannenhändlers
Alba Vinzenz van Cleves ältere Schwester, verwitwet
Änne ehemalige Dirne, jetzt Magd im Haus Zur schönen Frau
Annelin Vinzenz van Cleves verstorbene Gemahlin
Birgel Hafenarbeiter, Clentz’ älterer Bruder
Britti junge Bademagd und Hübschlerin im Haus Zur schönen Frau
Brunhild Albas Tochter
Clentz Hafenarbeiter, Birgels jüngerer Bruder
Clewin Knecht in Vinzenz van Cleves Haushalt
Ebert schengeler Gewürzhändler
Elsbeth Vorsteherin der Dirnen im Haus Zur schönen Frau in der Schwalbengasse auf dem Berlich
Emilio Venetto Alessandros Ziehvater, Geldwechsler, verstorben
Gero Ännes Sohn, Knecht im Haus Zur schönen Frau
Giselle Hübschlerin im Dirnenhaus Zur schönen Frau
Gregor van Cleve Vinzenz van Cleves und Albas Vater, Geldwechsler und -verleiher
Hardwin Wardos Neffe
Hedrich van Theynen Edelgards Schwager, Eisenhändler in Bonn
Illa Begine in der Glockengasse
Jan Starkenberg Aleydis’ Nachbar, Weinhändler
Jonata Hirzelin Beginenmeisterin in der Glockengasse
Lentz Gassenjunge, Gerlins kleiner Bruder
Meister claiws Nikolaus van Bueren, 1380–1445, ab 1424/25 Dombaumeister in Köln (historisch verbriefte Person)
Meister Hans Scharfrichter
Mettel Begine in der Glockengasse
Richard van Thürne Kaufmann
Suse Begine in der Glockengasse
Thomas van der Burghe junger Patrizier aus Sinzig
Thonnes van Kneyart Lehrling bei Vinzenz van Cleve
Trin ehemalige Dirne, jetzt Magd im Haus Zur schönen Frau
Tringen Begine in der Glockengasse
Köln, 22. Oktober, Anno Domini 1423
Aufgeregtes Gackern der Hennen im Hof drang zum Fenster von Aleydis’ Schlafkammer herein. Die Hausherrin, die gerade vor dem polierten, aufstellbaren Silberspiegel saß und ihr goldblondes Haar geflochten und hochgesteckt hatte, hielt erschrocken inne. Als gleich darauf das lautstarke Gezeter der Magd Irmel losbrach und augenblicklich auch noch der Altknecht Lutz zu fluchen begann, fasste sie sich seufzend an den Kopf. Offenbar war schon wieder am helllichten Tag der Fuchs auf die Hühner losgegangen.
Nun beeilte sie sich, eine silberdurchwirkte Kappenhaube samt zartem Seidenschleier auf ihrem Haar zu befestigen, in die Schuhe zu schlüpfen und den zur Kappe passenden schwarzen, mit Silberstickereien verzierten Mantel überzuwerfen. Während sie bereits die Stiege ins Erdgeschoss hinabeilte, nestelte sie noch hektisch an den beiden Fibeln am Mantel herum und wäre auf Höhe der Küchentür beinahe mit der dicken Köchin Ells zusammengestoßen, die ebenfalls auf den Aufruhr im Hof aufmerksam geworden war.
«Ah, Herrin, verzeiht.» So gut es ihre behäbige Gestalt zuließ, wich Ells zur Seite. «Ihr seid aber geschwind die Treppe runter. Eilt Euch nicht so. Ist doch bloß wieder der Fuchs im Hühnerhof. Eines Tages kriegt den der Lutz schon noch, dann ist endlich Ruhe.»
«Das ist ihm allerdings seit zwei Monaten nicht geglückt.» Aleydis stemmte die Hände in die Hüften. «Was bringt dich auf den Gedanken, er könne bald mehr Glück haben? Reynke Fuchs hat eine große Familie zu versorgen, wie es scheint, und wird immer flinker und dreister.» Entschlossen ging sie der Köchin voraus nach draußen in den Hof, wo ihr Lutz entgegenkam.
Der etwa fünfzigjährige Altknecht, dessen kahler Schädel nur noch von einem dünnen Haarkranz umgeben war, hielt ein totes Huhn an den Füßen und seufzte überlaut, als er seine Herrin erblickte.
«Frau Aleydis, seht Euch das an – schon wieder eine unserer Hennen! Diesmal konnte ich sie dem Mistvieh abjagen.»
«Und eine unserer besten Legehennen noch dazu!», zeterte Irmel. Die knochige Magd zupfte sichtlich verzweifelt an ihrem Kopftuch herum, sodass ihr struppiger, mausbrauner Zopf sich darunter fast auflöste. «Was für ein Unglück! Wir müssen Fallen aufstellen, sonst haben wir bald kein einziges Huhn mehr im Stall.»
«Das hier war bestimmt keine gute Legehenne mehr.» Lutz musterte den toten Vogel skeptisch.
«Doch, doch, der Fuchs sucht sich immer die guten raus!»
«So ein Blödsinn, Irmel. Schau dir das Huhn doch mal an. Das wäre wahrscheinlich bald von selbst von der Stange gefallen.» Verärgert hielt Lutz der Magd den Vogel unter die Nase, woraufhin die erschrocken kreischte und zurückwich.
«Liebe Zeit, Irmel.» Kopfschüttelnd nahm Aleydis dem Knecht das Huhn ab und reichte es an Ells weiter. «Hier, koch für morgen eine Suppe daraus.» Sie runzelte die Stirn. «Das war wirklich eine von den ganz alten. Ich schätze, ich muss mich darum kümmern, dass wir ein paar neue junge Hennen bekommen.»
«Und einen neuen Hahn, nachdem den unseren ja der Schlag getroffen hat», fügte Lutz hinzu. «Dann haben wir bald selbst wieder neue Küken.»
«Aber nur, wenn wir vorher den Fuchs unschädlich gemacht haben.» Ells wog die Henne prüfend in der Hand. «Wird ein hübsches Süppchen geben, die hier. Hab noch Lauch im Garten und Wirsing und Weißkohl. Ein paar Möhren und Pastinaken dazu … Gut, dass der Herbst bisher so mild war und es nur wenig Frost gegeben hat. Das deutet auf einen nicht allzu harten Winter hin. Außerdem mausern sich ein paar unserer Hennen, also wird es von November bis März keinen strengen Frost geben.»
Lutz winkte ab. «Diese Wetterregel hat noch selten gestimmt. Ich erinnere mich an Jahre mit einem milden Oktober, auf den dann richtig eisige Winter mit massenhaft Schnee gefolgt sind.»
«Aber heute ist der Tag der heiligen Ewalde, und wenn der mild ist, wird es den ganzen Winter über genauso werden», beharrte die Köchin.
Aleydis hüstelte. «Ganz gleich, wie das Wetter werden wird – wir müssen neue Hühner anschaffen und den Hof besser gegen den Fuchs absichern.»
«Ich sag ja, wir müssen Fallen aufstellen!», greinte Irmel, die sich von allen am meisten über den Tod der Henne grämte. Sie wischte sich sogar über die Augen.
«Das habe ich doch schon versucht. In die Fallen laufen höchstens die Katzen der Nachbarn, und das ist nicht Sinn der Sache», widersprach Lutz. «Der Fuchs ist viel zu schlau. Wir brauchen einen neuen Hofhund. Soll ich nicht doch eines von den Viechern holen, die bei meinem Bruder auf dem Kappeshof am Eigelstein rumlaufen? Er hat nämlich zu viele davon.»
«Nein.» Rigoros wehrte Aleydis ab. «Ich habe die Biester gesehen, die sind bissig und gefährlich. Solche Köter will ich nicht auf meinem Grund und Boden.»
«Aber sie sind darauf abgerichtet, Füchse und anderes Getier unschädlich zu machen.» Lutz zuckte mit den Achseln. «Bloß die Mädchen sollten dann aufpassen, wenn sie draußen herumlaufen und spielen.»
«Genau deshalb will ich keinen von diesen Hunden haben, Lutz.» Aleydis’ Blick fiel auf die Gestalt eines jungen Mädchens, das hinten am Rand des Gemüsegartens still auf der steinernen Bank saß und sich von der Unruhe im Hof offenbar gar nicht stören ließ. «Am Ende fällt so ein Biest noch eins der Mädchen an und verletzt es. Gegen einen neuen Hofhund habe ich nichts, und wachsam darf er auch sein, aber nicht gefährlich.»
«Na gut.» Der Knecht nickte. «Ich höre mich mal um, ob jemand einen Wurf Hunde hat und ein Tier abgeben will.»
«Tu das», stimmte Aleydis ihm zu, war aber mit den Gedanken schon bei dem Mädchen. Rasch ging sie auf die Gartenbank zu und blieb kopfschüttelnd stehen. «Brunhild?» Als immer noch keine Reaktion kam, räusperte sie sich energisch. «Brunhild!»
Das ein wenig zur Molligkeit neigende schwarzhaarige Mädchen zuckte zusammen und richtete den Blick, der zuvor in die Ferne gerichtet gewesen war, auf Aleydis. «Oh.» Hastig erhob Brunhild sich. «Verzeiht, Frau Aleydis, ich habe Euch gar nicht kommen hören.»
«Wo warst du denn schon wieder mit deinen Gedanken?» Aleydis bemühte sich, einen nicht allzu ungehaltenen Ton anzuschlagen, weil sie wusste, dass das nichts bringen würde. Brunhild war die Tochter von Alba, der verwitweten Schwester des Gewaltrichters Vinzenz van Cleve. Der hatte Aleydis vor kurzem mit Rat und sehr tatkräftig beigestanden, als ihr Gemahl, der reiche Lombarde Nicolai Golatti, ermordet worden war. Zum Dank dafür, und weil sie darauf bedacht war, den Zwist beizulegen, der zwischen den Familien Golatti und van Cleve einst geherrscht hatte, hatte Aleydis sich bereit erklärt, sich für ein oder zwei Jahre um die Betreuung und Ausbildung von Albas Tochter zu kümmern, bis diese an einen geeigneten Mann verheiratet werden konnte. Alba selbst, obwohl sehr klug und selbstbewusst, kam mit dem schwärmerischen und verträumten Wesen ihrer Tochter nicht gerade gut zurecht, deshalb hatte sie Anfang September Aleydis darum gebeten, sich des Mädchens anzunehmen. Bei der Gelegenheit hatte sie Aleydis auch ihre Freundschaft angeboten.
Aleydis hatte zugestimmt, sich um Brunhild zu kümmern, während Alba nun zwei- bis dreimal die Woche herkam, um die beiden Enkelinnen von Nicolai, Marlein und Ursel, in der Kunst der Handarbeit zu unterrichten. Aleydis selbst besaß darin kein großes Geschick, weil sie immer schon mehr mit Zahlen als mit Nadel und Faden hatte anfangen können. Ihr Vater hatte sie in seinem Tuchhandel mitarbeiten lassen, und später, als er zugestimmt hatte, sie mit seinem guten, wenn auch um etliche Jahre älteren Freund Nicolai zu verheiraten, hatte dieser ihr ebenfalls erlaubt, ihm in seiner Wechselstube zur Hand zu gehen und seine Rechnungsbücher zu führen.
Das Arrangement zwischen Aleydis und Alba funktionierte gut – was die Freundschaft anging, so blieb Aleydis jedoch zurückhaltend. Die noch nicht lange zurückliegenden Ereignisse um Nicolai und seine Tochter, die ihn zwar geliebt aber dennoch hatte ermorden lassen, waren noch zu frisch, und die Wunden, die Aleydis an ihrer Seele davongetragen hatte, heilten nur langsam.
Noch immer überkam sie eine Welle von Wehmut, wenn der Gedanke an ihren verstorbenen Gemahl sie streifte. Sie vermisste ihn sehr, seine stets ruhige, heitere und weltgewandte Art. Auch wenn er sechsunddreißig Jahre älter als sie gewesen war, hatten sie doch eine glückliche, von Liebe und gegenseitiger Wertschätzung geprägte Ehe geführt – die leider nur ein halbes Jahr lang gewährt hatte. Sein gewaltsamer Tod hatte Aleydis’ gesamte Welt auf den Kopf gestellt, denn sie hatte nicht gewusst, was für ein Mann Nicolai wirklich gewesen war. Und nun musste sie sich nicht nur ganz allein um einen großen Haushalt, die Wechselstube und seine Kreditgeschäfte kümmern, sondern auch mit seiner dunklen Seite zurechtkommen – jener Schattenwelt, die er sich in dreißig Jahren aufgebaut hatte und deren Ausmaß ihr auch jetzt noch, zwei Monate nach seinem Tod, nicht zur Gänze bekannt war.
Nicolai war ein einflussreicher Mann gewesen, vielleicht gar der mächtigste Mann Kölns, sah man einmal vom Erzbischof ab. Und selbst ihn hatte Nicolai möglicherweise mithilfe von Krediten oder Bestechung beeinflusst. Wie er es geschafft hatte, jene dunklen Geschäfte – Erpressung von Schutzgeldern und unlautere, zum Teil durch Androhung von Gewalt eingeleitete Kreditvergaben sowie Bestechung in vielfältiger Form gehörten hauptsächlich dazu – vor ihr und ihrer Familie geheim zu halten, begriff sie nach wie vor nicht. Er hatte zwei Gesichter gehabt – nur dass außer ihr und ihren Eltern offenbar ganz Köln beide Seiten gekannt hatte. Zumindest kam es ihr so vor, und es stand zu befürchten, dass jene Schattenwelt ihr noch einige Schwierigkeiten bereiten würde.
Nichtsdestotrotz fehlte Nicolai ihr schmerzlich, denn sie hatte ihn geliebt. Natürlich nur jene Seite, die er ihr offenbart hatte, doch was tat das zur Sache? Sie hatte ihn als liebevollen, gutherzigen, großzügigen und wohltätigen Mann gekannt, der allseits beliebt und geachtet gewesen war. Dass jene Achtung vermutlich vielerorts auf Furcht vor seiner Macht gefußt hatte, darüber dachte sie lieber nicht nach.
Entgegen jeglicher Tradition hatte er sie zur alleinigen Erbin seines Vermögens und all seiner Liegenschaften eingesetzt. Eine Tatsache, die in der Stadt für zusätzlichen Gesprächsstoff gesorgt hatte, weil sich nun jeder Mensch mit einem Funken Verstand fragte, wie die junge, vergleichsweise unbedarfte und puppenhaft hübsche Witwe wohl jemals mit dem gewaltigen Vermächtnis ihres Gemahls zurechtkommen würde.
All diese Gedanken schossen ihr in jedem ruhigen Augenblick, den sie sich gönnte, durch den Kopf, aber auch zu ungebetenen Zeiten, wie gerade jetzt, da sie die junge Brunhild anblickte und auf eine Antwort wartete. Als keine kam, das Mädchen jedoch tief errötete, seufzte sie.
«Du hast wieder einmal geträumt, nicht wahr? Was war es diesmal? Ein stattlicher Ritter hoch zu Ross, der dich auf seine Burg entführt? Lass dir gesagt sein, dass die meisten Burgen alles andere als heimelige Orte sind. Schon gar nicht für ein junges hübsches Mädchen, das so wenig von der Welt weiß und noch weniger bereit ist, etwas darüber zu lernen.»
«Aber Frau Aleydis, ich lerne doch sehr gerne!», protestierte Brunhild erschrocken. «Ich studiere die Bücher, die Mutter und Ihr mir gebt, lerne fremde Zungen und übe mich in allen Bereichen der Haushaltsführung.»
«Und welcher Art war das Studium, das du hier draußen auf der Gartenbank betrieben hast?»
Brunhild hielt inne, so als müsse sie überlegen, dann schlug sie die Hände vor den Mund. «Ach, herrje, ich sollte Ells Kräuter für die Pastete bringen.»
«Und was in aller Welt hat dich davon abgehalten?»
Das Mädchen hob die Schultern. «Ich weiß nicht … Oh doch, wartet, da war ein später Schmetterling …»
«Ein Schmetterling.» Aleydis verdrehte innerlich die Augen.
«Ja, der war so hübsch, und da dachte ich, was, wenn ich ein Kleid haben könnte, das genauso farbenfroh leuchtet – in Braun und Rot und ein wenig Gelb und Gold …»
«Und dabei hast du alles um dich herum vergessen und nicht einmal bemerkt, dass der Fuchs im Hühnerhof geräubert hat.»
«Oh.» Brunhilds Augen weiteten sich erschrocken. «Was? Der Fuchs hat schon wieder eine Henne gestohlen?»
«Gerade eben», bestätigte Aleydis. «Lutz konnte sie ihm noch abjagen. Ells kocht uns für morgen daraus eine schmackhafte Suppe.»
«Wie schrecklich! Ich habe wirklich gar nichts mitbekommen.» Schuldbewusst senkte Brunhild den Kopf. «Es tut mir leid. Wenn ich nicht geträumt hätte, wäre ich vielleicht schnell genug zur Stelle gewesen, um den Fuchs zu verjagen.»
Daran zweifelte Aleydis allerdings sehr, denn wenn Brunhild eines nicht war, dann sonderlich flink. «Nun schneide schon die benötigten Kräuter ab.» Sie deutete auf das Messerchen, das Brunhild zu diesem Zweck mitgebracht und auf der Bank abgelegt hatte. «Und danach wäschst du dir die Hände, holst deinen Mantel und begleitest uns zur Messe in St. Kunibert.»
«Ja, Frau Aleydis.» Eifrig schnappte Brunhild sich das Messerchen und schnitt eine Handvoll Petersilie, Schnittlauch, Bärlauch und Melisse ab.
«Brunhild?» Aleydis musste ein Lachen unterdrücken. «Wozu, glaubst du, braucht man Melisse, wenn man eine Kräuterpastete backt?»
«Äh …» Leicht verblüfft blickte das Mädchen auf die Kräuter. «Oh.»
«Nimm sie trotzdem mit hinein, vielleicht kann Ells sie für etwas anderes gebrauchen. Und nun komm.» Ohne Brunhild noch weiter zu beachten, kehrte Aleydis zum Haus zurück und rief nach der elfjährigen Marlein und der neunjährigen Ursel, die sie ebenfalls zur Kirche begleiten sollten. Auch Symon gab sie Bescheid, dass sie ausgehen wollte. Der bullige Eunuch stand schon seit seinen Kindertagen im Dienst ihres Gemahls, als dieser ihn einem brutalen Dienstherren weggenommen hatte. Ohne seine Begleitung oder die des zweiten kräftigen Knechts Wardo verließ sie dieser Tage kaum mehr das Haus. Die beiden waren hauptsächlich dazu da, Aleydis’ Besitztümer sowie die wertvollen Waagen und sonstigen Gerätschaften der Wechselstube zu bewachen – und selbstverständlich die hohen Münzwerte, die sich meistens im Haus befanden –, doch gleichzeitig dienten sie Aleydis auch als Leibwächter. Schon als Nicolai noch gelebt hatte, war sie meistens in Gesellschaft eines der Knechte ausgegangen, seit seinem Tod indes hatte sie erst begriffen, wie gefährlich es für sie sein konnte, ohne Schutz in Köln herumzulaufen. Auch wenn die meisten Menschen ihr nach wie vor mit Achtung und Höflichkeit begegneten, hatte sie doch auch schon verbale und sogar tätliche Angriffe erleben müssen. Bei den Angreifern hatte es sich einmal um einen verzweifelten Weber gehandelt, der dank der verachtenswerten Umtriebe Nicolais sein gesamtes Hab und Gut verloren hatte, ein andermal hatten ein Fleischer- und ein Küfermeister gemeinsam einen wütenden Mob aufgehetzt, der sie überfallen hatte und dem sie nur glimpflich entkommen war, weil der Gewaltrichter Vinzenz van Cleve ihr mit dem Kurzschwert beigestanden hatte.
Nachdem sich alle drei Mädchen endlich eingefunden hatten und Aleydis sie einer eingehenden Musterung unterzogen hatte, machten sie sich auf den Weg von der Glockengasse, in der das Anwesen der Familie Golatti lag, in Richtung Hohe Straße. Dieser folgten sie links hinauf in nördlicher Richtung, an der Dombaustelle vorbei bis zum Eigelstein, und dort ging es dann in östlicher Richtung auf St. Kunibert zu.
Die Straßen und Gassen Kölns waren an diesem milden Oktobertag dicht bevölkert. Handwerker aller möglichen Gewerke gingen ihren Tätigkeiten nach, nicht nur an der Dombaustelle. Überall wurde gebaut oder renoviert, hier wurden an einem Haus Fensterrahmen und Türen erneuert, dort ein Dach neu gedeckt. Knechte mit Holz- oder Mistkarren kreuzten die Wege von Mägden mit Wassereimern, Besen oder Körben voller Wäsche. Kaufleute gingen ihren Geschäften nach, Hausfrauen eilten mit ihrem Gesinde und großen Einkaufskörben zu einem der vielen Marktplätze oder schleppten ihre Einkäufe zurück nach Hause. Tagelöhner boten allerlei Dienste feil, Bettler, einer von bedauernswerterer Erscheinung als der andere, lungerten am Rande der Straßen und Plätze und rund um die Kirchen herum, um den vorbeieilenden Bürgern ein Almosen zu entlocken. Kinder tobten kreischend mit struppigen Hunden durch die Gassen, hier und da suhlte sich ein Schwein in einer letzten Pfütze oder pickten Hühner nach Leckerbissen im Straßenstaub. Eine Gänsemagd, vielleicht fünf Jahre alt und kaum größer als die Vogelschar, die sie vor sich hertrieb, ließ Aleydis und die Mädchen kurz in ihrem Schritt innehalten, bis sie samt den ihr anvertrauten Gänsen vorübergezogen war.
Hochbeladene Ochsen- und Pferdefuhrwerke wechselten sich mit kleineren Wagen und Karren ab, die die viel befahrenen Hauptstraßen Kölns in unebene, von unzähligen Radspuren durchzogene Fahrrinnen verwandelt hatten. Da es seit einiger Zeit nicht geregnet hatte, musste man zumindest nicht durch knöcheltiefen Matsch waten.
Immer wieder mischte sich auch ein Reiter unter die Menge, Soldaten, erzbischöfliche Gesandte, Reisende. Pilger mit ihren von unzähligen Messingabzeichen übersäten Mänteln waren ebenso an der Tagesordnung wie auf Latein disputierende Scholaren der Universität, Mönche in den unterschiedlichen Kutten ihrer jeweiligen Orden und Beginen in ihrer strengen, grauen Tracht. Bei ihrem Anblick musste Aleydis stets an das Schicksal von Nicolais Tochter – und Mörderin – Cathrein denken. Marleins und Ursels Mutter lebte seit ihrer Verurteilung eingemauert in einer kleinen Zelle hinter dem Beginenhof in der Glockengasse, dem sie einst angehört hatte. Für die Welt war sie so gut wie tot, wurde nur mit Essen und Wasser sowie wärmenden Decken versorgt und durfte ansonsten bis an ihr Lebensende nicht mehr aus diesem Gefängnis heraus.
Erst vor gut zwei Wochen hatten sie Andrea, Nicolais jüngeren Bruder, zu Grabe getragen, nachdem dieser bei dem Versuch, Cathrein vom Selbstmord abzuhalten, schwer an Kopf und Auge verletzt worden war. Bis zuletzt hatten sie gehofft, er möge sich trotz des Verlustes seines Auges wieder erholen, aber dann war die Wunde doch noch brandig geworden, und der arme Andrea hatte langsam und qualvoll sterben müssen. Dieser zweite Todesfall hatte die Familie erneut erschüttert und natürlich den Klaaf in der Stadt über Cathreins ungeheuerliche Tat aufs Neue entfacht.
Entschlossen schob Aleydis den Gedanken an diese unerfreulichen Ereignisse beiseite. Heute, am Tag der beiden heiligen Ewalde, die in Köln besonders verehrt wurden, wollte sie nicht wieder von den Erinnerungen an die schrecklichen Ereignisse übermannt werden. Es war schwer genug, den Alltag so schlicht und gewöhnlich wie nur möglich zu gestalten, um wenigstens den Kindern und dem Gesinde eine gewisse Sicherheit zu vermitteln.
Je näher sie dem Eigelstein kamen, desto lichter wurde die Bebauung, Kappes- und Rübenfelder nahmen überhand. Doch auch hier herrschte auf den Wegen und Straßen buntes Treiben, denn viele Handelsreisende und Bauern nutzten das Eigelsteintor, um die Stadt zu betreten oder zu verlassen – und zudem waren außer Aleydis und ihren Mädchen noch viele andere auf dem Weg zur Kirche St. Kunibert, in der heute zu Ehren der Ewalde eine besondere Messe gelesen werden sollte. Sie hätte auch die Messe in St. Kolumba hören können, zu deren Kirchspiel die Glockengasse gehörte, aber ihr war heute nach ein wenig mehr Prunk und Abwechslung. Sosehr sie Pater Ecarius, den Gemeindepfarrer, auch schätzte, ab und zu wollte sie auch einmal einen anderen Geistlichen predigen hören.
Die Wechselstube hatte sie für den Vormittag ausnahmsweise geschlossen. Viel Kundschaft erwartete sie dank der Feierlichkeiten am heutigen Vormittag sowieso nicht. Falls sich doch jemand zur Wechselstube verirren sollte oder einer der Kreditnehmer ein Gespräch suchte, würde er sich entweder bis zu ihrer Rückkehr gedulden oder ein andermal wiederkommen müssen. Seitdem Thonnes und Sigbert, die beiden Lehrlinge ihres Gemahls, von ihren Eltern andernorts zur Beendigung ihrer Ausbildung untergebracht worden waren, hatte Aleydis Mühe, den regulären Betrieb der Wechselstube aufrechtzuerhalten. Sie hatte sich zwar das Siegelrecht eintragen lassen, das ihr nach dem Tod ihres Gemahls zustand, und bediente zumeist tagsüber alle Kundschaft selbst, aber ganz ohne Hilfe fiel es ihr doch schwer, das Geschäft so zu betreiben, wie es einmal gewesen war.
Zumindest hatte sie nun begonnen, Ursel und Marlein auszubilden. Die Zunft der Geldwechsler, die der Gaffel Eysenmarkt angehörte, hatte vor kurzem ihr Einverständnis dazu gegeben. Allerdings waren die Kinder noch viel zu jung, um mehr als kleine Handreichungen auszuführen. Früher oder später musste Aleydis sich nach einem Gehilfen umsehen – oder sich wieder verheiraten.
Allein der Gedanke an eine neue Ehe jagte ihr einen unangenehmen Schauder über den Rücken. Nicht weil sie schlechte Erfahrungen mit der Ehe gemacht hätte – das hatte sie ganz gewiss nicht. Doch seltsamerweise kam ihr, wenn sie darüber nachdachte, stets ebenso zuverlässig wie unwillkommen Vinzenz van Cleve in den Sinn. Jener düster dreinblickende, einer wandelnden Gewitterwolke ähnelnde Gewaltrichter, ohne den sie vielleicht niemals den Tod ihres Gemahls aufgeklärt hätte. Er war ebenfalls Geldwechsler und Kreditverleiher, genau wie sein Vater Gregor, und beide waren Nicolais größte und erbittertste Konkurrenten gewesen.
Dass sie inzwischen Frieden zwischen den Familien anstrebte, lag hauptsächlich daran, dass sie sich einer offenen Rivalität mit den van Cleves nicht gewachsen fühlte. Außerdem zollte sie dem Gewaltrichter großen Respekt, weil er die Vorbehalte ihr und Nicolai gegenüber zur Seite geschoben hatte, um ihrem Gemahl zu Gerechtigkeit zu verhelfen.
Während sie hinter Symon, der ihnen den Weg bahnte, die Mädchen in die bereits von vielen Gläubigen gefüllte Kirche führte und sich einen Platz etwas seitlich mit einigermaßen gutem Blick auf den Altar suchte, breitete sich Vinzenz van Cleve wieder einmal in ihren Gedanken aus. Er war ein scharfsinniger und gerechter Gewaltrichter und ein höchst erfolgreicher Kaufmann. Einige von Nicolais Kreditkunden waren inzwischen zu ihm abgewandert, was einerseits dem Misstrauen gegenüber Aleydis’ Fähigkeiten geschuldet war, andererseits jedoch sicherlich auch van Cleves klugem Taktieren. Er hatte von Beginn an keinen Hehl daraus gemacht, was er von der hübschen und ausgesprochen unbedarft wirkenden jungen Witwe seines Konkurrenten hielt. Zwar hatte sie ihm mittlerweile bewiesen, dass sie den wachen Verstand einer kompetenten Händlerin besaß. Dennoch hatte sie stets den Eindruck, er nähre Vorbehalte ihr gegenüber mit voller Absicht. Worauf diese Absicht gründete, wollte sie lieber nicht wissen. Mittlerweile hatte sie in Erfahrung gebracht, dass Gregor van Cleve einst versucht hatte, ihren Vater dazu zu bringen, sie mit Vinzenz zu verheiraten. Jorg de Bruinker hatte jedoch abgelehnt und Nicolai den Vorzug gegeben.
Bei Gregor van Cleves Ansinnen hatte sicherlich kaum mehr als ihre beachtliche Mitgift eine Rolle gespielt, doch die ablehnende Haltung seines Sohnes ihr gegenüber hatte damit wohl nichts zu tun. Vielmehr schien er der Ehe grundsätzlich unwillig gegenüberzustehen und aus unerfindlichen Gründen ihrer Person im Besonderen.
Sie versuchte, diese Überlegungen beiseitezuschieben, während sie den Worten des Priesters lauschte, denn sie verursachten ein merkwürdig flaues Gefühl tief in ihrer Magengrube. Doch entgegen all ihren Bemühungen schob sich das Gesicht des Gewaltrichters vor ihr inneres Auge. Jenes dunkle Antlitz mit den hohen, ausgeprägten Wangenknochen, dem stets säuberlich gestutzten Kinn- und Oberlippenbart und den ungebärdigen tiefschwarzen Locken, die ihm bis zu den Schultern reichten. Er war ein ansehnlicher Mann, das stand außer Frage. Da er nebenher schon seit vielen Jahren als Fechtmeister der Universität und der Gaffel Eysenmarkt fungierte und in dieser Eigenschaft sowohl die städtischen Soldaten als auch die Scholaren und die Söhne von Bürgern und Patriziern in der Fechtkunst unterwies, besaß er zudem eine äußerst imposante Gestalt, die dem weiblichen Auge zwar schmeicheln mochte, zusammen mit seiner dunklen Ausstrahlung jedoch ein diffuses Gefühl von Hilflosigkeit, vielleicht gar Furcht in Aleydis auslöste. Auf jeden Fall war er eine äußerst respekteinflößende Erscheinung und ein Mann, den man nicht unterschätzen durfte.
Vor einigen Wochen hatte er ihr sogar ein paar Handgriffe gezeigt, mit deren Hilfe sie sich gegen einen möglichen Angreifer verteidigen konnte. Bei der Gelegenheit war sie ihm beinahe schon unschicklich nahe gekommen, und die Erinnerung daran versuchte sie seither mit allen Mitteln zu unterdrücken.
Glücklicherweise hatte inzwischen Alba die Unterweisung in Selbstverteidigung übernommen und Aleydis im Umgang mit einem einfachen Dolch geschult. Der Gewaltrichter hatte seiner zwei Jahre älteren Schwester vieles beigebracht und sie gebeten, Aleydis’ Unterricht fortzuführen. Angeblich weil ihm die Zeit dazu fehlte, doch Aleydis war sich inzwischen einigermaßen sicher, dass er ihr einfach nur aus dem Weg ging. Einerseits war sie darüber irritiert, weil sie zuletzt doch zumindest so etwas wie einen annehmbaren Umgangston miteinander gefunden hatten, andererseits war sie froh, sich diesem Mann nicht länger stellen zu müssen, der eine permanente Herausforderung darstellte. Selbst hier und jetzt in der überfüllten und im Augenblick von Gesängen des Augustinerchores erfüllten Kirche konnte sie sich eines heftigen Schauders nicht erwehren, als sie an van Cleves eindringliche, fast schwarze Augen dachte, die stets bis tief in ihre Seele zu blicken schienen.
Vielleicht war es, so sann sie nach, nicht der Gedanke an eine neue Ehe an sich, der sie quälte, sondern die Einsicht, dass sie mit Nicolai geradezu unverschämtes Glück gehabt hatte. Sah man einmal davon ab, dass er einen großen und entsetzlichen Teil seines Lebens und Wirkens vor ihr geheim gehalten hatte, so war er doch ein sanftmütiger, liebenswürdiger Ehemann gewesen, der seine junge Gemahlin auf Händen getragen und stets mit Achtung und Wertschätzung behandelt hatte. Leidenschaft hatte es zwischen ihnen nie gegeben, aber Aleydis hatte sie nicht vermisst. Ihr Temperament, wenn auch durchaus aufgeweckt, hatte sich spielend leicht dem älteren, erfahrenen Mann und seiner ruhigen, zärtlichen Art angepasst.
Was sie hingegen bei einem anderen Gemahl erwarten würde, darüber mochte sie nicht gerne nachdenken. Möglicherweise weil sie so kurz nach Nicolais Tod ausgerechnet einem Mann wie Vinzenz van Cleve gegenübergestanden hatte. An ihm war nichts sanft und ruhig. Zwar galt er als besonnen und umsichtig und war als Gewaltrichter wie auch als Kaufmann allseits geachtet und bewundert, doch unter der gepflegten Oberfläche und verborgen hinter einem ehernen Schutzwall verbarg sich ein teuflisches Temperament. Sie hatte bisher nur winzige Fünkchen davon zu spüren bekommen, doch diese reichten schon vollkommen, um sie in Angst und Schrecken zu versetzen. Aber nicht nur vor ihm, sondern auch vor sich selbst und ihrer unwillkürlichen Reaktion auf ihn. Nahm man dann noch die Gerüchte um seine verstorbene Gemahlin hinzu, die sich angeblich aus Gram das Leben genommen hatte, dann war es wohl nur allzu verständlich, dass er einen bleibenden und beängstigenden Eindruck hinterlassen hatte.
«Pater Ägidius hat die Legende über die beiden Ewalde sehr anschaulich erzählt, nicht wahr?», flüsterte Brunhild Aleydis zu. «Und die Predigt war wirklich beeindruckend. Ganz anders als die von Pater Ecarius, obwohl ich ihm auch sehr gerne lausche.»
Erschrocken riss Aleydis sich von ihren verwirrenden Gedanken los und stellte fest, dass bereits die Hostie erhoben wurde. Sie hatte nicht ein Wort dessen mitbekommen, was der Priester gesagt hatte. Verlegen hüstelte sie. «Ja, das stimmt, Pater Ägidius hat eine sehr wortgewandte Art zu predigen.»
Aufmerksam blickte Brunhild sie von der Seite an. «Ihr wart mit den Gedanken ganz woanders, nicht wahr?» Um die Mundwinkel des Mädchens zuckte es belustigt. «Verratet Ihr mir, wovon Ihr geträumt habt?»
Eine Wärme der Verärgerung stieg in Aleydis’ Wangen und mischte sich mit einem Gefühl des Unbehagens, weil der tiefdunkle Blick des Gewaltrichters ihr noch immer vor Augen stand und spöttisch-amüsiert zu funkeln schien. «Ich habe nicht geträumt, sondern mir Gedanken gemacht.»
«Worüber denn? Ihr habt ganz entrückt gewirkt.»
Entschlossen vertrieb sie die dunklen Augen aus ihrem Kopf. «Besorgt wohl eher. Es gibt vieles zu bedenken, wenn man einem großen Haushalt vorsteht und eine Wechselstube zu führen hat.»
In Brunhilds Miene trat Mitgefühl. «Ohne Euren Gemahl ist das schwierig, nicht wahr? Und jetzt, wo auch Thonnes und Sigbert nicht mehr da sind. Ich würde Euch ja so gerne helfen, aber ich tue mich furchtbar schwer mit Zahlen, und wenn ich an die ganzen verschiedenen Münzen und Wechselkurse und all das denke, wird mir ganz schwindelig.»
«Pst.» Aleydis hob mahnend den Zeigefinger an die Lippen. «Für alles wird sich ein Weg und eine Lösung finden.»
Brunhild nickte und neigte andächtig den Kopf, dann hob sie ihn jedoch gleich wieder. «Mein Onkel Vinzenz könnte Euch helfen. Vielleicht weiß er jemanden, der Euch zur Hand gehen könnte. Einen Gehilfen oder so.»
Erneut legte Aleydis den Finger an die Lippen und bemühte sich um eine gleichmütige Miene. «Ich komme auch zurecht, ohne ihn zu behelligen, Brunhild. Da bin ich ganz sicher.»
Ein leichter Wind war aufgekommen, als Aleydis und die Mädchen St. Kunibert verließen. Er trieb die wenigen Wolken am Himmel zügig Richtung Nordosten, sodass ein rascher Wechsel von Licht und Schatten entstand, der die Augen anstrengte. Aleydis blinzelte ein paarmal, bevor sie, Symon diesmal in ihrem Rücken, den Weg zurück nach Hause einschlug. Die Mädchen plauderten und kicherten hinter ihr über das, was sie in der Kirche gehört und gesehen hatten, und sie lauschte ihnen für eine Weile amüsiert.
An der Dombaustelle schließlich machte sich ihr Magen mit einem deutlich vernehmbaren Knurren bemerkbar, wohl ausgelöst durch die mannigfaltigen Düfte, die von den offenen Feuern der Garküchen und den fahrbaren Öfen der Pastetenbäcker ringsum zu ihnen herüberwehten. Die Arbeiter auf der riesigen ewigen Baustelle konnten auf eine beachtliche Auswahl an Gebäck und Gebratenem oder Gegrilltem – am heutigen Freitag ausnahmslos fleischlos oder mit Fisch – zurückgreifen, um in den Pausen oder nach Feierabend ihren Hunger zu stillen.
«Frau Aleydis, hat da gerade Euer Magen geknurrt?» Die kleine Ursel, hellblond und grauäugig, schob sich neben sie und ihre Hand in die von Aleydis. «Er war fast so laut wie mein eigener vorhin in der Kirche. Marlein hat mich gescholten, aber ich konnte gar nichts dafür.»
«Das war schon peinlich, so laut, wie dein Magen geknurrt hat.» Marlein tauchte auf Aleydis’ anderer Seite auf. «Die Leute haben ganz böse geguckt.»
«Haben sie gar nicht.»
«Dabei hast du doch zum Frühstück eine ganze Schale Hirsebrei gegessen. Mit Honig und Dickmilch.»
«Na und? Du doch auch!»
«Kinder!» Mahnend blickte Aleydis erst Ursel, dann Marlein an. «Kein Streit bitte. Wahrscheinlich hat uns der weite Weg von zu Hause bis St. Kunibert hungrig gemacht. Dann die lange Messe …» Pater Ägidius hatte zu Ehren der Ewalde den Gottesdienst fast doppelt so lange wie gewöhnlich zelebriert. «Was haltet ihr davon, wenn wir uns mit frischen süßen Pasteten eindecken und uns auch ein paar Pfannkuchen und Gemüsefladen fürs Abendessen mitnehmen?»
«Aber Ells hat doch schon Kräuterpasteten vorbereitet.» Ursels Augen strahlten. Obwohl sie zierlich und dünn war, konnte sie essen wie ein Steinmetz, der den ganzen Tag auf der Dombaustelle schuftete.
«Na, das wird dich wohl kaum davon abhalten, die Pasteten zu kosten, oder doch?» Aleydis zwinkerte ihr zu. «Ells wird schon nichts dagegen haben, wenn wir zu ihren Kräuterpasteten noch ein wenig Abwechslung auf den Tisch bringen. Und wie ich euch kenne, bleibt nach dem Mittagessen sowieso nicht mehr viel für den Abend übrig.» Zielstrebig steuerte sie den Stand eines Pastetenbäckers an, bei dem sie früher schon eingekauft hatte und dessen Krapfen, gefüllt mit klebrigem Honigseim und Äpfeln, ihr besonders gut mundeten.
Sie waren um diese Zeit nicht die einzigen Kunden, und sie mussten sich in einer beachtlichen Schlange einreihen. Brunhild bot sich an, sich schon am Nachbarstand für die Gemüsefladen anzustellen, doch nach einem Blick auf das derbe Jungvolk, das sich dort herumtrieb, verbot es Aleydis. Auch wenn Symon sehr wachsam war, konnte er doch nicht seine Augen überall gleichzeitig haben. Das Letzte, was sie brauchen konnte, waren junge Burschen, die die hübsche Brunhild aus Langeweile oder Übermut foppten. Insbesondere weil das Mädchen sich nur allzu leicht von Komplimenten beeindrucken ließ und nicht unterscheiden konnte, ob diese ernst gemeint waren oder im Scherz ausgesprochen wurden.
Brunhild schien enttäuscht zu sein. Ihr Blick wanderte immer wieder zu einem Grüppchen junger Männer von vielleicht sechzehn, siebzehn Jahren, die viel lachten und einander verulkten und dabei auch häufig in ihre Richtung schauten, so als wollten sie die Aufmerksamkeit des Mädchens erlangen. Als Aleydis die Burschen streng musterte, zogen sie sich jedoch rasch zurück.
Zufrieden wandte sie sich wieder dem Pastetenstand zu. Da sie endlich an der Reihe waren, kaufte sie gleich ein ganzes Dutzend der herrlich duftenden Krapfen. Noch während die Frau das Gebäck in ein einfaches Weidenkörbchen packte, wurde hinter ihnen wütendes Gebrüll laut.
«Lasst mich in Ruhe», schrie ein Junge im Stimmbruch.
«Hau ab, Bettelknabe!», gab eine wütende Männerstimme zurück. «Solche wie dich können wir hier nicht gebrauchen. Ich melde dich bei der Zunft der Bettler, wenn du nicht sofort von hier verschwindest.»
«Ich bin kein Bettler!» Die Stimme verursachte Aleydis eine Gänsehaut, weil sie ihr bekannt vorkam.
«Dann hast du erst recht nichts hier zu suchen!» Diesmal zeterte eine brüchige Frauenstimme. «Mach dich weg von hier, sonst setzt’s was!»
«Ich wollte nur hier sitzen und nachdenken.»
«Und versperrst uns damit den besten Platz, du Sauhund. Weg da, sage ich!» Diesmal war es wieder der Mann, der inzwischen klang, als würde er gleich gewalttätig werden.
«Herrin?» Symon trat neben sie und zupfte sie aufgeregt am Kleid. «Herrin, das müsst Ihr Euch ansehen. Der Junge hat Ärger, fürchte ich. Soll ich ihm helfen?»
«Welcher Junge?» Verwundert drehte Aleydis sich um. «Was haben wir mit irgendeinem …» Sie erstarrte, als sie den halbwüchsigen braunhaarigen Jungen erkannte, der nicht weit vom Eingang zur Dombauhütte stand und, ein Kleiderbündel an die Brust gepresst, vor einer Schar zorniger Bettler zurückwich. «Matteo!»
«Was geht denn hier vor, Bettlergesindel, verdammichtes!» Aus dem Eingang der Dombauhütte trat Meister Claiws, der kommissarische Dombaumeister und gute Freund von Aleydis’ Vater. «Verschwindet gefälligst von hier, sonst mache ich euch Beine!» Seine kräftige, breitschultrige Gestalt und die wütende Donnerstimme veranlassten die Bettler tatsächlich, das Weite zu suchen. Der Junge hingegen, obwohl ebenfalls recht kräftig gebaut, duckte sich verschreckt gegen die Wand der Hütte. «Was ist denn? Du auch, du Nichtsnutz!» Meister Claiws näherte sich dem Jungen mit in die Seiten gestemmten Händen. Dann stutzte er. «Was ist denn das? Matteo, bist du das?»
«Um Himmels willen.» Aleydis schob der verdutzten Bäckerin eine Münze hin, riss ihr praktisch den Korb aus der Hand und eilte mit großen Schritten auf Meister Claiws und den verschreckten Jungen zu.
«Frau Aleydis, so wartet doch!» Symon fluchte und folgte seiner Herrin, woraufhin die Mädchen ihr ebenfalls erschrocken nachliefen.
«Matteo, du lieber Himmel. Was ist denn passiert?» Als Aleydis den Jungen erreicht hatte, sah sie erst, dass seine Kleider ganz verschmutzt und an einigen Stellen beschädigt waren. Matteo war der Sohn ihres kürzlich verstorbenen Schwagers Andrea; mit ihm hätte sie hier am allerwenigsten gerechnet, noch dazu in einem solchen Aufzug und verwickelt in Ärger mit dem Bettelvolk. Der Junge war gerade einmal sechzehn Jahre alt und von eher sanftmütiger Natur. «Was machst du hier?» Aleydis berührte den Jungen besorgt am Arm.
«Aleydis, na, das nenne ich eine Überraschung.» Meister Claiws lächelte erfreut. Er war ein stattlicher Mann Anfang oder Mitte der Vierzig mit dunkelbraunem, von einigen silbernen Fäden durchzogenem Haar und Bart, den sie bereits seit ihrer Geburt kannte und liebte wie einen Onkel. «Ist dir der Junge abhandengekommen, oder was treibt er hier alleine auf der Baustelle? Ich dachte, ich sehe nicht recht.»
«So geht es mir auch.» Aleydis ließ sich von Meister Claiws umarmen, trat dann aber gleich auf Matteo zu, der schweigend und mit hängendem Kopf dastand und den Tränen nahe schien. «Matteo, was machst du hier? Warum legst du dich mit den Bettlern an? Und warum», sie musterte ihn noch einmal eingehend, «siehst du fast aus wie einer von ihnen? Man könnte meinen, du hättest seit Tagen auf der Straße geschlafen.»
Matteo schniefte und wandte den Blick zur Seite.
«Was …?» Erschrocken fasste Aleydis ihn bei den Schultern und zwang ihn, sie anzusehen. «Was hat das zu bedeuten, Matteo? Warum bist du nicht zu Hause und kümmerst dich um das Geschäft deines Vaters selig? Es ist jetzt immerhin das deine.»
«Weil …» Wieder wich er ihrem Blick aus. Sein Kinn zitterte.
«Weil was? So rede doch!»
«Kommt erst einmal alle herein.» Meister Claiws wies einladend auf den Eingang zur Bauhütte. «Es muss ja nicht ganz Köln erfahren, was hier vor sich geht. Kommt, Mädchen, hinein mit euch. Aleydis?»
Sie nickte und zog Matteo einfach am Handgelenk mit sich durch den Eingang. Die Hütte selbst war recht geräumig, jedoch nicht unbedingt als bequem zu bezeichnen. Ringsum standen mehrere Tische, auf denen Zeichnungen, Messgeräte und allerlei Werkzeuge verstreut lagen. In der Mitte des Raumes befanden sich unterschiedlich große Steinblöcke, die mit Farbe gekennzeichnet und in verschiedenen Stufen der Bearbeitung waren. Meister Claiws war einst selbst Steinmetz gewesen, was man seinen großen, schwieligen Händen deutlich ansah, und er legte an besonders wichtige und komplizierte Steinarbeiten noch heute hin und wieder selbst Hand an. Auf seinen Wink hin verließen zwei Steinmetze und drei Gehilfen eilig die Bauhütte, sodass sie ungestört waren.
«Nun erzähle, Matteo», forderte Aleydis ihren Stiefneffen erneut auf. «Was ist geschehen?»
«Es ist nicht mehr mein Geschäft.» Die Stimme des Jungen klang dumpf. «Das war es nie. Mutter hat … Sie hat … Sie sagt, sie will mich nie wieder sehen.»
«Deine Mutter?» Vollkommen verblüfft starrte Aleydis Matteo an. Sie wusste, dass Edelgard eine hochnäsige, herrische Frau war, die gerne Andreas Geld mit beiden Händen zum Fenster hinausgeworfen und nie den Eindruck einer liebenden Gemahlin gemacht hatte. Weshalb sie jedoch ihren Sohn des Hauses verweisen sollte, konnte Aleydis nicht nachvollziehen. «Hattet ihr einen Streit, der deine Mutter gegen dich aufgebracht hat?»
«Sie ist … nicht …» Matteo sank regelrecht in sich zusammen. «Sie ist nicht meine Mutter.»
«Na, na, mein Junge, so hart spricht man doch nicht …», setzte Meister Claiws streng an, brach jedoch ab, als Matteos Kopf sich ruckartig hob.
«Sie hat gesagt, ich soll ihr nie wieder unter die Augen kommen. Sie behauptet, ich sei ein elender Bastard und solange Vater noch gelebt hat, hätte sie nicht anders gekonnt, als so zu tun, als wäre sie … als wäre ich ihr Sohn. Er hat sie dazu gezwungen, hat sie gesagt, weil sie selbst keine Kinder bekommen kann. Aber jetzt … Sie war so wütend und hat gesagt, ich darf das Haus nie wieder betreten, sonst schlägt sie mich tot.»
«Heilige Maria, Muttergottes!» Aleydis spürte einen kalten Schauder über ihren Rücken kriechen. «Das ist ja ungeheuerlich!»
Meister Claiws kratzte sich gleichermaßen verblüfft wie ratlos am Kinn. «Andrea hat seinen unehelichen Bastard als Edelgards Kind ausgegeben?»
«Sie sagt, ich bin nicht mehr wert als der Dreck unter ihren Fingernägeln.» Nun liefen dem Jungen tatsächlich die Tränen über die Wangen. «Meine Mutter sei eine schmutzige Magd gewesen und ich solle dahin gehen, wo ich hergekommen bin.»
«Ungeheuerlich», wiederholte Aleydis entsetzt. «Das kann doch nicht sein …» Der Anblick des verzweifelten Jungen schnitt ihr ins Herz. «Du kommst erst einmal mit zu uns», beschloss sie. «Und dann rede ich mit Edelgard.»
«Mutter hat …» Matteo stockte und wurde blass. «Sie hat gesagt, sie verbrennt alle meine Sachen.»
«Dazu hat sie kein Recht.» Stirnrunzelnd sah sie Meister Claiws an. «Das hat sie doch nicht, oder? Wenn er vielleicht auch nicht ihr Sohn ist, so doch der von Andrea. Das sieht man schon an der Ähnlichkeit …»
Meister Claiws rieb sich noch einmal übers Kinn. «Wenn das wahr sein sollte, ist es eine vertrackte Sache. Insbesondere wenn Edelgard die Geschichte bereits überall herumerzählt hat. Wie ich sie kenne …» Er winkte ab. «Lassen wir das. Selbstverständlich hat der Junge ein Recht auf sein Erbe. Schon weil es ein Testament gibt, das Entsprechendes festlegt. Es gibt keine weiteren lebenden männlichen Verwandten mehr in der Golatti-Linie, oder?»
Aleydis schüttelte den Kopf. «Leider nicht.»
«Dann hat Edelgard lediglich das Recht, den Eisenwarenhandel ihres Gemahls so lange fortzuführen, bis Matteo selbst dazu fähig ist. Zwei Jahre also mindestens noch, obgleich man hier auch eine Ausnahmeregelung einfordern könnte.» Er musterte den Jungen eingehend. «Aber davon würde ich abraten.» Es war offenkundig, was er meinte: Matteo war mit seinen sechzehn Jahren und seinem noch eher kindlichen Gemüt ganz sicher nicht in der Lage, das Geschäft seines Vaters ohne Hilfe zu führen.
«Ich rede mit Edelgard», wiederholte Aleydis entschlossen. «So hochmütig sie sich auch manchmal gibt, kann ich mir doch nicht vorstellen, dass sie sich Matteo gegenüber derart hartherzig verhält und ihm das Erbe streitig machen will. Was hätte sie davon? Immerhin ist sie doch selbst durch lebenslanges Wohnrecht in ihrem Haus und eine nicht zu knapp bemessene Leibrente bestens versorgt.»
Meister Claiws hüstelte und bedeutete ihr, ihm zur Seite zu folgen. Dann sprach er sie mit gesenkter Stimme an. «Aleydis, kann es vielleicht sein, dass Edelgard sich neu vermählen will und drauf hofft, Andreas Hinterlassenschaft in die Ehe einzubringen?»
Erschrocken starrte Aleydis ihren guten Freund an. «Darauf wäre ich nie gekommen. Oh, Himmel! Nein, Andrea ist erst seit zwei Wochen unter der Erde. Das kann ich nicht glauben.»
«Die Ehe war nie glücklich, oder?»
Sie senkte betroffen den Blick. «Nein, das kann einfach nicht sein. Und selbst wenn, hat sie noch lange nicht das Recht, Matteo um sein Erbe zu bringen.»
«Natürlich hat sie das nicht, aber sie kann ihm auch so Schaden zufügen, wenn sie seine uneheliche Herkunft überall verbreitet.» Besorgt verzog Meister Claiws die Lippen. «Sie selbst steht dabei ja geradezu als Märtyrerin da, die sich unter Zwang des Jungen angenommen hat. Dass sie ihn nun hinausschmeißt, wird ihr kaum jemand übel nehmen, wenn sie die Geschichte nur richtig erzählt. Also sieh zu, dass du sie zum Schweigen bringst, Aleydis, damit der Junge es nicht noch schwerer hat.»
«Ihr habt recht. Du meine Güte, mit so etwas habe ich nun wirklich nicht gerechnet.»
«Ist denn sonst alles … ich meine …» Meister Claiws räusperte sich verlegen. «Macht dir jemand Probleme wegen Nicolais … Erbe?»
«Nein, im Augenblick ist alles ruhig. Obgleich ich …» Sorgenvoll warf sie einen Blick auf die Mädchen, die sich um Matteo geschart hatten und versuchten, ihn aufzuheitern. «Ich werde das Gefühl nicht los, als würde ich von allen Menschen argwöhnisch beobachtet. So als ob …» Sie zögerte, beschloss dann aber doch, dem Freund ihre Sorge anzuvertrauen: «Als ob irgendwo im Schatten Feinde lauern und nur auf eine gute Gelegenheit warten, mich anzugreifen.»
Sichtlich erschrocken ergriff Meister Claiws ihre Hand. «Hast du mit deinem Vater darüber gesprochen? Vielleicht solltest du noch ein paar Männer einstellen, die dich beschützen. Symon und Wardo in allen Ehren, aber sie können nicht überall zugleich sein. Du musst auch an die Mädchen denken.» Sein gleichermaßen besorgter wie verlegener Blick wanderte kurz zu ihrer Körpermitte. «Nicolais Kind scheinst du mithin nicht unter dem Herzen zu tragen, wie du zunächst angenommen hattest.»
«Nein.» Sie schluckte, nun selbst etwas verlegen. «Schwanger bin ich nicht.»
«Das mag vielleicht ganz gut sein, weil es dich einer weiteren großen Sorge enthebt.» Er räusperte sich erneut. «Wenn auch ein Sohn deine Stellung deutlich festigen würde.»
«Es muss auch so gehen.» Sie straffte die Schultern und streckte den Rücken durch. «Ich bringe Matteo jetzt zu uns nach Hause und kümmere mich um ihn, danach suche ich Edelgard auf.»
«Sprich mit deinem Vater», mahnte Meister Claiws noch einmal. «Du musst dich nicht alleine durchschlagen. Wenn du Rat und Hilfe benötigst, zögere auch nicht, mich anzusprechen.»
«Danke, das ist sehr freundlich von Euch.» Sie umarmte ihn spontan. «Ihr seid ein wirklich guter Freund.»
Meister Claiws drückte sie kurz an sich, dann trat er rasch zurück und setzte eine eherne Miene auf, um sich seine Rührung nicht anmerken zu lassen. «Ist doch selbstverständlich, Mädchen. Nun geh und kümmere dich um ihn. Der arme Junge hat es nötig.»
Sie blickte zu Matteo, der nun zwar etwas gefasster wirkte, jedoch der Bemutterung von Seiten der Mädchen überdrüssig zu sein schien. «Also los, brechen wir auf.» Sie hielt kurz inne. «Oder besser noch: Kaufen wir noch eine besonders große Portion Gemüsefladen und Pfannkuchen, denn Matteo hat gewiss ordentlich Hunger.»
Zunächst hatte Aleydis Matteo mit Pasteten und frischem Apfelmost versorgt und ihm dann die Kammer zugewiesen, in der früher die beiden Lehrjungen geschlafen hatten. Es fanden sich sogar noch eine zurückgelassene Hose und ein frisches Hemd von Thonnes.
Aleydis wies den vollkommen erschöpften Matteo an, sich erst einmal auszuschlafen, während sie die Mädchen an ihre Handarbeiten schickte. Sie selbst machte sich zusammen mit Symon erneut auf den Weg, diesmal zum Eisenmarkt, um Edelgard aufzusuchen. Dass sie nun auch nach dem Mittag die Wechselstube geschlossen halten musste, war zwar ärgerlich, doch Matteos Wohl ging eindeutig vor.
Beim Anblick des schmalen, zweigeschossigen Hauses am Eisenmarkt, in dem Andrea Golatti mit seiner Familie gelebt hatte und in dem sich auch sein Eisenwarenkontor befand, überkam sie ein eigenartiges Unwohlsein. Die Fensterläden waren allesamt fest verschlossen, ebenso das Hoftor, hinter dem sich eine Remise, das Lagerhaus und ein Garten verbargen.
Symon neben ihr räusperte sich vernehmlich. «Herrin, da scheint aber niemand zu Hause zu sein.»
Den Verdacht hegte auch Aleydis, dennoch ging sie entschlossen auf die Eingangstür zu und betätigte den schweren eisernen Klopfer. Als sich daraufhin nichts tat, klopfte sie erneut, diesmal mit mehr Nachdruck.
«Niemand da.» Aufmerksam blickte Symon sich um. «Ob Frau Edelgard verreist ist?»
In diesem Moment vernahmen sie ein Knirschen, gleich darauf wurde der Riegel, der sich auf der Hofseite am Tor befand, geräuschvoll zurückgeschoben. Ein mit Kurzschwert bewaffneter Knecht mit weißblondem Haar und einer Warze auf der Wange erschien und musterte sie ungehalten. «Wer ist da?» Dann erkannte er sie, und sofort wurde seine Miene freundlicher. «Oh, guten Tag, Frau Aleydis.» Rasch trat er auf sie zu, während er sein Haar zu ordnen versuchte, das aussah, als sei es vom Schlaf zerzaust. «Meine Herrin ist leider nicht zu Hause. Sie besucht ihren Bruder und die Schwägerin in Bonn. Ich und die Tringen, die Köchin, sind im Moment die Einzigen, die hier sind. Und der Schabbes natürlich, mit dem ich mich bei der Wache abwechsele.» Er grinste etwas schief.
«Guten Tag, Fredo.» Aleydis nickte dem Wachmann freundlich zu. «Dürfen wir eintreten? Ich möchte gerne ein paar Sachen für Matteo abholen. Kleidung, Schuhe, was er so in seiner Kammer hat.» Da Edelgard nicht zu sprechen war, hielt sie es für das Beste, die Sachen des Jungen einfach mitzunehmen, sofern diese noch vorhanden waren.
«Ja, ähm, also …» Fredo senkte betreten den Kopf. «Ich darf eigentlich niemanden einlassen. Auch Euch nicht und den Matteo schon gar nicht.» Verlegen zupfte er an seinem weißblonden Bart. «Ist ’ne Schande, wenn Ihr mich fragt, dass die Herrin den Jungen rausgeschmissen hat. Aber andererseits kann man es ja irgendwie verstehen. All die Jahre hat sie gemacht und getan, weil der Herr Andrea es so wollte, und nur weil sie selbst keine Kinder gekriegt hat. Oder nur Totgeburten. Schlimm, so was. Und dann einen Bastard vor die Nase gesetzt bekommen und tun müssen, als wär’s das eigene Kind. Dabei ist der Matteo ein guter Junge. Er tut mir wirklich leid. Ihr kümmert Euch also jetzt um ihn? Das ist gut. Da ist er besser aufgehoben, auch wenn … Nun ja …» Er verhaspelte sich. «Ihr seid eine gute Frau. Aber reinlassen darf ich Euch nicht.» Er schnaufte leicht nach dieser langen, umständlichen Rede.
«Ich bin eine nahe Verwandte, und Matteo hat ein Anrecht auf seinen Besitz.» Aleydis stemmte die Hände in die Seiten und gab ihrer Stimme so viel Autorität wie nur möglich. Nach über einem halben Jahr in einem Haus mit zwei Kindern – und bis vor kurzem waren ja auch noch zwei halbwüchsige mitunter flegelhafte Lehrjungen da gewesen – fiel ihr das nicht sonderlich schwer. «Um genau zu sein hätte Edelgard ihn gar nicht des Hauses verweisen dürfen. Ich kann verstehen, dass sie ihm vielleicht keine Liebe entgegenbringt, wenn es sich tatsächlich so verhält, wie sie behauptet, aber er ist und bleibt Andreas Sohn und Erbe. Dass er das Eisenwarenkontor im Augenblick nicht übernehmen kann, ist ihm und mir bewusst, aber eines Tages wird er es tun, und bis dahin ist es ein Unrecht, ihn von seinem Eigentum fernzuhalten. Also lass mich gefälligst ins Haus, Fredo, und hilf mir, Matteos Habseligkeiten zusammenzupacken.» Sie wandte sich an Symon. «Lauf zurück nach Hause und hol einen Karren.»
«Ihr könnt auch unseren Holzkarren nehmen.» Fredo war von ihrem Auftreten sichtlich beeindruckt und deutete vage hinter sich in Richtung Hof. «Kommt mit, ich mach Euch die Hintertür auf.» Er kratzte sich nervös am Kopf. «Die Herrin wird mich zwar bestrafen, wenn sie erfährt, dass ich Euch ins Haus gelassen habe, aber Ihr meint es ja nur gut mit dem Jungen. Der hat es wirklich nicht verdient, wie sie mit ihm umgesprungen ist.» Deutlich hörbar schluckte er und zog den Kopf zwischen die Schultern. «Verratet ihr nicht, dass ich das gesagt habe. Sie wirft mich sonst raus. Tut sie wahrscheinlich sowieso, wenn sie merkt, dass ich mich ihrem Befehl widersetzt habe.»
«Sag ihr einfach, du hattest keine andere Wahl, weil ich gedroht habe, den Fall sonst vor das Schöffengericht zu bringen.» Aleydis folgte ihm in den Hof und bedeutete Symon, sie ebenfalls zu begleiten. «Sie darf Matteo nicht einfach sein Erbe vorenthalten.»
«Weiß sie wahrscheinlich auch.» Fredo öffnete ihnen die Hintertür und ließ sie ins Haus eintreten. «Aber sie war so fuchsteufelswild, nachdem der Herr gestorben ist.» Rasch bekreuzigte er sich. «Wirklich böse war sie und hat rumgekreischt und seinen Gehilfen geohrfeigt und rausgeworfen. Und dann hat sie Matteo auf die Straße gesetzt und ihre Sachen gepackt und ist mit den Mägden und dem Hausknecht Henns im Wagen nach Bonn los.»
«Wann genau ist sie denn abgereist?» Aleydis wunderte sich, dass sie davon gar nichts mitbekommen und man ihr auch noch nichts zugetragen hatte. Solche Dinge sprachen sich normalerweise rasch in der Stadt herum.
«Das ist jetzt fünf Tage her. Vor einer Woche hat sie Matteo vor die Tür gesetzt.»
«Vor einer Woche schon!» Kein Wunder, dass der arme Junge ausgesehen hatte wie ein Landstreicher. Sie würde noch ein ernstes Wörtchen mit ihm reden müssen, weil er nicht gleich zu ihr gekommen war und sich stattdessen auf der Straße herumgetrieben hatte. Dumm und gefährlich war das gewesen. Aber wahrscheinlich war er einfach zu verwirrt und verletzt gewesen, um den einfachen Weg zu wählen. Womöglich hatte er sich auch nicht getraut. Wer wusste schon, was Edelgard ihm alles an den Kopf geworfen und wessen sie ihn bezichtigt hatte.
Fredo hatte sie indes in den ersten Stock zu Matteos Kammer geführt, die seit dessen Abgang nicht betreten worden zu sein schien.
«Wusste irgendjemand im Haus, dass Matteo Andreas unehelicher Sohn ist?» Eingehend sah sie sich um und trat dabei zur Seite, um Symon Platz zu machen.
«Ich glaube nicht.» Unentschlossen hob Fredo die Achseln. «Der Schabbes vielleicht, weil er am längsten von uns allen hier im Dienst steht und schon vor Matteos Geburt Wachmann für den seligen Herrn gewesen ist. Aber er hat nie was gesagt. Redet sowieso nie viel. Ist auch nicht der, na ja … der Hellste. Kann aber gut mit dem Kurzschwert umgehen und würde niemals nicht jemanden unerlaubt reinlassen. Also Diebesgesindel oder so. Ihr könnt ihn ja mal fragen, wenn er wieder da ist. Er ist runter zum Fischmarkt, um gesalzene Heringsschwänze und -köpfe und so für die Köchin zu holen. Die Abfälle aus den Fässern kriegt man manchmal umsonst, wenn man Glück hat und schnell ist. Die Tringen hat ihn geschickt, weil sie mal was anderes als Grütze auf den Tisch bringen will. Die Herrin hat verboten, dass wir uns an den guten Vorräten bedienen, solange sie weg ist. Bloß die verderblichen Sachen dürfen wir aufbrauchen.»
«Ich werde den Schabbes befragen.» Aleydis hob den Deckel der Kleidertruhe an und atmete auf: Sie war bis zum Rand gefüllt. «Die hier nehmen wir mit.» Sie ging zu der etwas kleineren Truhe unter dem Fenster und öffnete auch diese. Sie enthielt ein paar zerfledderte Kladden, einen wertvoll aussehenden Abakus mit bunten Kugeln aus Halbedelsteinen sowie ein Rechenbrett mit silbernen Calculi. Diese Rechenhilfen würde Matteo sicherlich haben wollen, ganz besonders wenn er, wie sie gerade beschlossen hatte, ihr in der Wechselstube zur Hand gehen würde. Auch ein lederner Ball, eine uralte zerkratzte Rassel sowie ein Beutel mit farbig glasierten Tonmurmeln befanden sich in der Truhe. Auf dem Bett lag ein in Leder gebundenes Büchlein mit Rechenanleitungen, das sie ebenfalls in die kleine Truhe legte. «Diese hier ebenfalls.» Neben der Tür hingen an Haken zwei Mäntel, eine Gugel, und darunter standen ein Paar Stiefel und zwei Paar Schuhe. Rasch wickelte sie das Schuhwerk und die Kopfbedeckungen in die Mäntel ein und drückte das Bündel Symon in die Arme. «Und das hier.» Sie sah sich noch einmal um. «Hat Matteo sonst noch irgendwelche Habe? Vielleicht im Kontor?»
Fredo zuckte mit den Achseln. «Kann schon sein, aber die Herrin hat das Kontor verriegelt und den Schlüssel mitgenommen.»
«Dann kläre ich das, sobald Frau Edelgard wieder zurück ist.» Sie bedeutete Symon, das Bündel hinauszubringen. «Laden wir erst einmal diese Sachen hier auf den Karren.»
«Im Stall steht noch das Maultier, auf dem Matteo reiten gelernt hat.» Wieder zupfte der Wachknecht sich nervös am Bart. «Und das Pferd, das der Herr Andrea ihm zum Geburtstag geschenkt hat. Die Herrin will die alte Mähre, so nennen wir das Maultier immer, obwohl es noch gar nicht so alt ist, zum Schlachter bringen. Hat sie zumindest angedroht, weil es nur Heu und Hafer frisst und keinen Nutzen bringt. Aber der Junge hat immer dran gehangen, und das Tier ist wirklich gutmütig. War genau richtig für Matteo, als er noch kleiner war.»
«Wir nehmen beide Tiere zu uns», bestimmte Aleydis kurz entschlossen.
«Ähm, Herrin.» Symon drehte sich auf der schmalen Stiege umständlich zu ihr um. «Das wird dann aber eng bei uns im Stall.»
«Und wenn wir anbauen müssen.» Ungehalten runzelte Aleydis die Stirn. «Die Tiere gehören Matteo, also werden sie bei uns untergebracht.»
Symon zog den Kopf ein. «Verzeiht, Herrin, ich meinte ja bloß.»
«Schon gut.» Aleydis zwang sich zu einem Lächeln und wandte sich an Fredo. «Kannst du die Tiere nach der Vesper zu uns bringen?»
«Ja, sicher.» Fredo nickte beflissen.
«Gut. Hat deine Herrin gesagt, wann sie wieder zurück in Köln sein will?»
«Nein, Frau Aleydis.»
«Kennst du Namen und Wohnort ihres Bruders?» Sie überlegte bereits selbst, ob dessen Name ihr gegenüber irgendwann einmal erwähnt worden war, doch sie erinnerte sich nicht daran.
«Das ist der Hedrich van Theynen, der hat seinen Eisenwarenhandel nicht weit vom Cassiusstift in Bonn.»
«Gut, ich werde einen Boten hinschicken und Edelgard ausrichten lassen, dass ich mit ihr sprechen will, sobald sie zurück ist.» Aleydis wartete, bis die beiden Männer sämtliche Habseligkeiten aus Matteos Kammer auf den Holzkarren geladen hatten, bedankte sich bei Fredo und steckte ihm ein paar Münzen zu. Dann machte sie sich zusammen mit Symon auf den Weg zurück zur Glockengasse.
Sie befanden sich gerade auf Höhe des Beginenhofes, als der strohblonde Gassenjunge Lentz heftig winkend auf sie zugerannt kam. Der Zehnjährige war der jüngere Bruder der Magd Gerlin, die bereits seit ihren Kindertagen in Nicolais Haushalt arbeitete. Gelegentlich half er bei ihnen im Stall aus und verdiente sich damit einen trockenen und warmen Schlafplatz und etwas zu essen. «Frau Aleydis, Frau Aleydis, da seid Ihr ja endlich. Gerlin hat mich rausgeschickt, um nach Euch Ausschau zu halten, weil Ihr wichtigen Besuch habt. Ihr sollt Euch beeilen, hat sie gesagt.»
«Was denn für einen wichtigen Besuch?» Aleydis raffte ihre Röcke und beschleunigte den Schritt.
Lentz lief eifrig gestikulierend neben ihr her. «Arnold Hürth und noch ein jüngerer Mann, den ich nicht kenne. Der sieht ziemlich reich aus, aber ich glaube nicht, dass er aus Köln ist, weil ich ihn sonst bestimmt schon mal gesehen hätte.»
Abrupt blieb Aleydis vor dem offenen Tor zu ihrem Anwesen stehen. «Arnold Hürth ist hier?»
«Ja, er wartet drinnen in der Stube auf Euch. Gerlin hat ihn schon mit Wein und Wecken und weiß nicht was noch allem bedient.» Lentz nickte heftig. «Mir hat sie auch einen Wecken gegeben, aber ich darf ihn erst essen, hat sie gesagt, wenn Ihr hier seid und ich Euch Bescheid gesagt habe. Das hab ich ja jetzt, also …» Er neigte den Kopf erwartungsvoll zur Seite.
«Hau schon ab.» Sie gab dem Jungen einen leichten Klaps gegen den Arm. «Und heute Abend kümmerst du dich um die beiden Tiere, die der Knecht Fredo herbringt.»
Lentz war schon halb davongestoben, blieb aber ruckartig stehen und wirbelte herum. «Was denn für Tiere?»
«Ein Maultier und ein Pferd. Für beide muss im Stall Platz geschaffen werden.»
In die Augen des Jungen trat ein freudiges Glitzern. «Das mach ich natürlich, Frau Aleydis. Gleich wenn ich den Wecken aufgegessen habe.»
Sie nickte dem Jungen noch einmal kurz zu, dann drehte sie sich zu Symon um, der inzwischen den Karren in den Hof geschoben hatte. «Bring die Sachen ins Haus, aber lass Matteo schlafen. Er kann sie später selbst in seine Kammer tragen.» Einen Moment lang atmete sie tief ein und wieder aus und versuchte, sich zu sammeln. Arnold Hürth war der Bruder von Nicolais erster, vor Jahren verstorbener Frau Griselda und damit Ursels und Marleins Großonkel – und außerdem ein nicht ungefährlicher Mann. Auf das Betreiben seiner Familie hin hatte Nicolai einst angefangen, seine Schattenwelt aufzubauen, dessen war Aleydis sich inzwischen sicher. Arnold selbst besaß ebenfalls nicht unbeträchtlichen Einfluss in Köln, auch wenn er sich nach außen hin wie ein vollkommen harmloser alter Mann gab, dem lediglich eine glückliche Händlerhand zu seinem Vermögen verholfen hatte. Wenn er hier auftauchte, konnte das nichts Gutes bedeuten.
Die Begegnung hinauszuzögern, würde ihr keinen Vorteil bringen, also trat sie schließlich ins Haus und begab sich auf geradem Wege zur Wohnstube. Angenehme Wärme schlug ihr dort entgegen, weil der Raum durch einen großen Hinterladeofen von der Küche aus beheizt wurde.