Der rote Apfel - Mi-Ae Seo - E-Book

Der rote Apfel E-Book

Mi-Ae Seo

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Beschreibung

Wie wird ein unschuldiges Kind zu einem erbarmungslosen Serienkiller?

Seoul, Gegenwart: Ein perfider Serienmörder hat die Stadt monatelang in Atem gehalten. Jetzt ist Lee Byongdo, der Killer mit dem zarten Gesicht, gefasst worden und wird in einer Psychiatrie verwahrt. Doch Lee schweigt. Es gibt nur einen Menschen, mit dem er bereit ist zu reden: mit der jungen Psychologin Sonkyong. Allerdings nur unter der Bedingung, dass sie ihm bei jedem Besuch einen saftigen roten Apfel mitbringt. Niemand weiß, warum er Sonkyong gewählt hat, denn beide sind sich nie begegnet. Die junge Frau willigt in das Treffen ein - ohne zu ahnen, dass sie damit einen Weg beschreitet, der sie in die tiefsten Abgründe der menschlichen Seele führt ...

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Seitenzahl: 407

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Das Buch

Die Kriminalpsychologin Sonkyong erhält eines Tages einen unerwarteten Anruf. Lee Byongdo, ein erst vor Kurzem inhaftierter Serienmörder, dessen grausame Morde Korea erschütterten, will mit ihr sprechen. Zögernd stimmt Sonkyong zu.

Am selben Tag steht die Polizei vor der Tür, zusammen mit Hayong, der elfjährigen Stieftochter von Sonkyong. Hayongs Großeltern, mit denen sie seit dem Tod ihrer Mutter zusammenlebte, sind bei einem Feuer umgekommen. Sonkyong spürt schnell, dass mit dem Mädchen etwas nicht stimmt. Sie ist verschlossen und zeigt wenig Gefühlsregung. Und zu ihrer Beunruhigung stellt Sonkyong fest, dass die kleine Hayong und der Serienmörder Lee Byongdo gewisse Ähnlichkeiten aufweisen. Sonkyong fühlt sich in ihrem eigenen Haus nicht mehr sicher …

Die Autorin

Mi-Ae Seo wurde in Korea geboren und lebt in Seoul. Ihre Thriller sind in Korea regelmäßig auf der Bestsellerliste, sie ist außerdem erfolgreiche Drehbuchautorin. »Der rote Apfel« wurde in mehrere Länder verkauft, eine Verfilmung ist bereits in Planung.

MI-AE SEO

THRILLER

Aus dem Koreanischen von Ki-Hyang Lee

WILHELMHEYNEVERLAGMÜNCHEN

Die Originalausgabe The Good Girl erschien erstmals 2010 bei Woongjin Thinkbig Co., KoreaDer Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.

Deutsche Erstausgabe 09/2020

Copyright © 2010 by Mi-Ae Seo

Copyright © 2020 der deutschsprachigen Ausgabe

by Wilhelm Heyne Verlag, München,

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Str. 28, 81673 München

Redaktion: Lars Zwickies

Umschlaggestaltung und -motiv: Laura Fronterré/Gestaltung und Illustration, Bielefeld, unter Verwendung von Alamy Stock Foto/boonchuay iamsumang und Shutterstock (Kucher Serhii, grey_and)

Satz: Uhl + Massopust, Aalen

ISBN: 978-3-641-24200-8V002www.heyne.de

Prolog

Stell dir vor, da gibt es diese Kammer in deinem Kopf.

Sie ist voller Dinge, an die du dich nicht mehr erinnern möchtest, und mit einem riesigen Schloss gesichert.

Allmählich gerät die Kammer in Vergessenheit, und du fragst dich gelegentlich, ob sie jemals existiert hat.

Mit dem Gedächtnis ist es irgendwie eigenartig. Es gibt Dinge, die man nie vergessen kann, die aber dennoch aus der Erinnerung verschwinden. Es heißt, das sei ein Mechanismus, der dem Selbstschutz dient. Wer sich dauerhaft an schockierende Erlebnisse erinnert, geht daran zugrunde, weshalb das Gedächtnis sie automatisch streicht. Schließlich erinnert sich unser Gehirn nur noch an die schönen Dinge. Es behält nur das, was wir ertragen können.

Ich denke gelegentlich darüber nach, wie fehlerhaft mein Gehirn ist.

Ja, ich habe auch so eine Kammer.

Meine Erinnerungen sind entsetzlich, daher habe ich sie in einen Raum gesperrt und mit Dutzenden von Schlössern versehen. Es gab eine kurze Phase, in der ich gänzlich vergessen hatte, dass es die Kammer gab. Aber sie dauerte nicht lange. Denn eines Tages sprangen die Schlösser plötzlich alle gleichzeitig auf.

Ich hätte den Raum nicht wieder betreten dürfen. Leider konnte ich meine Neugier nicht bezwingen und ging schließlich hinein. Erst da wurde es mir bewusst.

Dass ich das Tor zur Hölle aufgestoßen hatte.

1

Es war 3.37 Uhr am frühen Morgen des 17. Juni, als ein Feueralarm aus dem Stadtteil Eungam-dong einging.

Im selben Augenblick, als die Meldung über den Brand das Lagezentrum der städtischen Zentrale für Feuer- und Katastrophenschutz erreichte, wurden auch die zuständige Feuerwache, eine nahe gelegene Polizeistation und ein auf Brände spezialisiertes Spurensicherungsteam des Polizeipräsidiums Seoul informiert.

Lee Sanguk, seines Zeichens Brandermittler, hatte Nachtschicht und war gerade im Ruheraum der Bereitschaftskräfte eingeschlafen, als sein Handy klingelte. Er rieb sich die müden Augen und stand notgedrungen auf. Bis ein Uhr morgens hatte er noch an einem Bericht geschrieben, darum hatte es lediglich für zwei Stunden Schlaf gereicht.

Immer wieder fielen ihm die Augen zu. Erst als er schließlich aus dem Gebäude trat, vertrieb der kühle Wind seine Müdigkeit. Die frische Nachtluft fegte die Erinnerung an die sommerliche Schwüle des Schlafraums mit einem Mal weg.

Vom Parkplatz aus rief Sanguk seinen Kollegen an, bevor er selbst in den Wagen stieg.

Inspektor Yu Dongsiks verschlafene Stimme meldete sich am anderen Ende der Leitung. »Ja, ja, ich bin schon wach.«

Offensichtlich war Yu bereits vom Polizeipräsidium benachrichtigt worden. Sanguk sah den Inspektor lebhaft vor sich, wie er aufrecht im Bett saß und den Kopf hin und her schüttelte, um nicht im nächsten Augenblick wieder in Tiefschlaf zu fallen, während er mit geschlossenen Lidern in den Telefonhörer hineinhorchte. Er hatte die Angewohnheit, manchmal geradezu kindliche Posen einzunehmen, die so gar nicht zu seiner enormen Statur passten.

Sanguk unterdrückte ein Lachen und teilte seinem Kollegen mit, dass er direkt zur Brandstelle fahre. »Mach dich fertig und komm. Beeil dich.«

»Warte mal!«

»Ja, bitte?« Sanguk hatte gerade auflegen wollen, wandte aber jetzt seine Aufmerksamkeit wieder dem Telefon zu.

»Wo war das noch gleich?«

Eigentlich hätte Yu den Ort des Brandes bereits kennen müssen, aber entweder wollte er sich noch einmal vergewissern, oder er war immer noch schlaftrunken.

»In der Gegend von Eungam-dong. Diesmal ist es in der Paegryonsa-Straße nahe der Kreuzung am Chungam-Gymnasium.«

Am anderen Ende der Leitung war ein Seufzen zu hören. Dann wurde es still. Wahrscheinlich brauchte der Inspektor einen Moment, um sich zu sammeln. Kurz darauf stöhnte er und murmelte etwas Undeutliches, während er sich vermutlich fluchend aus dem Bett quälte.

Sanguk konnte das sehr gut nachvollziehen. Ihm ging es nicht anders. »Ja, ich drehe hier auch bald durch.«

»Na gut. Ich beeil mich. Wir sehen uns dort.«

Sanguk steckte das Handy ein und stieg ins Auto.

Er drehte den Zündschlüssel und sah auf die Uhr. Es war mittlerweile kurz nach vier.

So früh am Morgen war noch wenig Verkehr auf den Straßen zu erwarten. Am Sungryemun-Tor vorbei und über die Anhöhe von Muakjae sollte er den Brandort in zwanzig Minuten erreicht haben. Während er über den Parkplatz fuhr, dachte er darüber nach, wie viele Feuer es in Eungam-dong in der letzten Zeit gegeben hatte.

Die Serie von Brandstiftungen hatte im Frühjahr begonnen, und der fünfte Brand lag noch nicht lange zurück. Sanguk übertrieb nicht, wenn er sagte, er würde einen Anfall bekommen, sobald er davon höre, dass jemand in dieser Gegend auch nur ein Streichholz angezündet hatte.

Den ersten Vorfall hatte es auf der Baustelle eines Hochhauses in der Nähe des Städtischen Krankenhauses Eunpyeong gegeben.

Am Fuß des Paegryon-Berges wurden zu dieser Zeit mehrere Wohngebäudekomplexe hochgezogen. Dadurch war ein heilloses Durcheinander aus allerlei Baumaterial entstanden, und in der Zufahrt wimmelte es nur so von Baufahrzeugen.

Menschen waren zum Glück nicht zu Schaden gekommen, da das Feuer auf der unbebauten Fläche zwischen der Baustelle und der Paegryonsa-Straße ausgebrochen war. Zwar war diverses Baumaterial in Form von Holzbrettern und Styropor in Flammen aufgegangen, aber der Schaden hatte sich insgesamt in Grenzen gehalten. Ein Arbeiter, der den Baugrund bewachte, hatte das Feuer frühzeitig entdeckt und schnell Alarm geschlagen. Es war sofort gelöscht worden. Die beteiligten Feuerwehrleute fanden keine Hinweise auf Brandstiftung, und so legte man den Fall zu den Akten. Man ging davon aus, das Feuer sei durch eine brennende Zigarette oder eine andere Unachtsamkeit hervorgerufen worden.

Als es jedoch in der Folge zu weiteren Bränden in diesem Viertel kam, wurde der erste Fall noch einmal genauer geprüft, weil man sichergehen wollte, dass es sich wirklich nur um fahrlässiges Verhalten gehandelt hatte. Da die Baustelle normalerweise abends abgesperrt wurde und sich für gewöhnlich kaum Menschen in ihrer Umgebung aufhielten, kam nun jedoch der Verdacht auf, dass jemand das Feuer absichtlich gelegt haben könnte.

Das dritte Feuer hatte den größten Schaden verursacht.

Von da an waren Sanguk als Brandermittler des Katastrophenschutzes und Inspektor Yu von der Spurensicherung der Polizei hinzugezogen worden.

Der nächste Brand war in der Nähe der Eungam-Kirche ausgebrochen, hinter der gleichnamigen Grundschule auf der gegenüberliegenden Seite der Paegryonsa-Straße. Die Flammen hatten sich innerhalb kurzer Zeit auf Nachbarwohnungen ausgebreitet, befeuert vom gelben Staub eines Sandsturms, der aus China herübergezogen war. Drei Wohneinheiten waren ausgebrannt, und eine dreiköpfige Familie fand dabei den Erstickungstod.

Der Vorfall hatte sich um drei Uhr morgens ereignet, und diesmal gab es einen Zeugen. Wahrscheinlich lag es daran, dass das Feuer in einer bewohnten Gasse ausgebrochen war.

Der Zeuge war ein Einwohner des Viertels, der sich gerade auf dem Heimweg vom Nachtdienst befunden hatte. Er sagte aus, er habe in der Nähe der Unglücksstelle eine verdächtige Person gesehen. Nachdem diese Person Richtung Hauptstraße verschwunden war, seien die Flammen hochgeschlagen. Das war jedoch alles gewesen. Der Zeuge hatte wegen der Dunkelheit nicht erkennen können, wie der Verdächtige ausgesehen oder was dieser angehabt hatte.

Sanguk hatte gemeinsam mit Yu die Asche am Brandort akribisch untersucht, um Rückschlüsse auf den Brandherd und die Ursache des Feuers ziehen zu können, aber sie waren zu keinem eindeutigen Ergebnis gekommen. Die Zeugenaussage passte nicht zu der Situation vor Ort. Bewohner aus der Nachbarschaft vermuteten, dass der lang schwelende Konflikt zwischen den Anwohnern und einer Baufirma mit der Angelegenheit zu tun hatte.

Als Sanguk den höchsten Punkt des Muakjae in Richtung Hongje passiert hatte und gerade in die Moraenae-Straße einbog, klingelte sein Handy.

»Wo bist du?« Yus Stimme klang tiefer als sonst.

»Bist du schon dort?«, fragte Sanguk.

»Nein, ich bin noch unterwegs.«

»Was gibt’s? Wir treffen uns doch gleich.«

»Ist das nicht bereits das sechste Mal?«

»Ja, ist es.« Eine Weile lang war es still, und Sanguk dachte schon, die Verbindung sei abgebrochen. Er fragte seinen Kollegen: »Wolltest du mir etwas sagen?«

»Ich hab schlecht geträumt.«

»Geträumt?«

Der Feueralarm mitten in der Nacht musste Yu aus einem unruhigen Schlaf gerissen haben, und er klang verunsichert. Seit sie zusammen arbeiteten, hatte er immer souverän gewirkt, aber diesmal stand er wegen der Brandserie offensichtlich stark unter Druck.

Sanguk und Inspektor Yu ermittelten zwar gemeinsam, hatten aber unterschiedliche Aufgabenschwerpunkte.

Während Sanguk durch die Untersuchung der Unglücksstelle anhand von Spuren und Augenzeugenberichten Brandherd und Brandursache herausfinden sollte, begannen Yus Ermittlungen erst auf Basis dieser Ergebnisse. Bestand der Verdacht, es handele sich um fahrlässige oder gar vorsätzliche Brandstiftung, leitete er ein Ermittlungsverfahren ein. Er untersuchte dann den Tatort nach Spuren, welche der oder die Täter hinterlassen hatten. Seine Aufgabe war es, den Fall zu lösen.

Als Mitarbeiter des Katastrophenschutzes schloss Sanguk seine Arbeit für gewöhnlich am Brandort ab. Für den Polizeibeamten Yu war es hingegen der Startpunkt für eine bisweilen langwierige Ermittlung, sobald sich der Brandfall als Straftat erwies. Sein Job war erst erledigt, wenn der Täter gefasst war.

In der Regel besichtigten sie den Brandort gemeinsam und tauschten ihre fachliche Meinung aus, aber Yu stand dabei gewiss mehr unter Stress als Sanguk. Insbesondere diese Brandserie, die seit einigen Monaten immer wieder dasselbe Stadtviertel heimsuchte, setzte ihn enorm unter Druck. Es war höchste Zeit, dass der Fall gelöst wurde, und das machte ihn nervös. Im Allgemeinen war es nicht üblich, dass sich die beiden bei einem Feueralarm sofort auf den Weg machten. Nur wegen der aktuellen Vorfälle war die Anweisung erfolgt, jede Brandmeldung aus dem Viertel unmittelbar an Sanguk und Yu weiterzuleiten.

Sanguk wusste nicht, was er sagen sollte. Er hatte einfach nur den Wunsch, dieser Brand möge der letzte sein, indem er das entscheidende Indiz lieferte, um den Täter zu fassen.

»Glaubst du nicht an Träume?«, fragte Yu.

»Durchaus. Habe ich dir nicht erzählt, dass meine Mutter einen wunderbaren Traum hatte, als sie mit mir schwanger war? Deswegen bin ich zur Feuerwehr gegangen.« Um Yu aufzuheitern, zeigte sich Sanguk gesprächiger als sonst um diese Uhrzeit und war bereit, das Thema noch zu vertiefen. Doch der Inspektor, der die Geschichte wohl schon dutzendfach gehört hatte, beendete das Gespräch, bevor Sanguk fortfahren konnte.

Sanguk entschlüpfte ein kurzes Lachen. Er schaltete das Handy aus und gab Gas.

Bereits einige Meter vor der Kreuzung am Chungam-Gymnasium zeigte ihm eine Menschenmenge, dass er hier richtig war. Schaulustige, die sich zur frühen Stunde auf der Straße eingefunden hatten, und der Rückstau von Fahrzeugen behinderten Sanguks Weiterfahrt.

Erst nachdem er sein Blaulicht auf das Autodach geheftet und mehrmals gehupt hatte, gelang es ihm, in die Straße zum Paegryon-Tempel einzubiegen. Er fuhr mühsam um Grüppchen von Schaulustigen herum und fand schließlich einen Platz zum Parken. Dann näherte er sich der Brandstelle, bei der wie an den meisten Brandorten geschäftiges Treiben herrschte.

Er sah ein Großaufgebot von Feuerwehrfahrzeugen und Löscheinsatzkräften, Rettungswagen in Bereitschaft und Polizisten, die das Areal absicherten. Daneben Anwohner, die von der Nachricht über das Feuer aus dem Schlaf gerissen worden waren und nun furchtsam das Brandgeschehen beobachteten. Es herrschte ein hektisches Durcheinander. Schon auf den ersten Blick schien das Ausmaß des Feuers ziemlich groß zu sein.

Sanguk richtete gewohnheitsgemäß sein Augenmerk auf die Stelle, an der Flammen emporstiegen. Glücklicherweise war das Feuer einigermaßen eingedämmt, und ein Rettungstrupp machte sich bereit, den Unglücksort zu betreten. Während Sanguk sich umsah, entdeckte er unter den Männern einige Gesichter, die er von früheren Einsätzen in diesem Viertel kannte, und begrüßte sie mit einem kräftigen Händedruck.

Obwohl Dutzende von Menschen eilig hin und her liefen, war Inspektor Yu leicht zu entdecken. Seine kurzen Haare und die große kräftige Statur waren trotz der Entfernung deutlich zu erkennen.

Yu stand hinter einem Polizeiauto und betrachtete kopfschüttelnd die Szenerie. Mühsam unterdrückte er ein Gähnen.

Sanguk ging eilig zu ihm. »Bist du immer noch nicht richtig wach?«

Yu rührte sich nicht. Mit gerunzelter Stirn folgte sein Blick gebannt dem Wasserstrahl der Feuerwehrleute. Er wirkte müde, und zwar vermutlich nicht nur wegen seines schlechten Traums. Der Druck, endlich einen konkreten Hinweis auf den Serienbrandstifter zu finden, schien an ihm zu zehren. »Unglaublich, was hier los ist. Und das bloß wegen irgendeines Spinners.«

»Ja, allerdings.«

Resigniert fuhr Yu sich mit der Hand über das Gesicht. Dann wandte er sich um und ging zu dem Polizisten, der den Einsatz koordinierte.

Der Beamte informierte Yu über den Stand der Dinge und darüber, dass es einen Augenzeugen gab. Auf Nachfrage zeigte er mit dem Finger auf einen Minimarkt, der rund um die Uhr geöffnet hatte. Dort sei der Zeuge zu finden.

Vor dem Geschäft stand eine Traube von eifrig schwatzenden Schaulustigen. Aber noch während Yu sich einen Weg hindurchbahnte, begann die Gruppe sich aufzulösen. Vermutlich lag es daran, dass die meisten das Geschehen schon etwas länger verfolgt hatten und das Feuer nun unter Kontrolle zu sein schien.

Der Laden war leer. Yu trat wieder ins Freie und fragte laut, wer den Brand gemeldet habe. Ein junger Mann in einem gestreiften Hemd drehte sich um. Sein Gesicht verriet Anspannung. Er war in dem kleinen Geschäft angestellt und sollte darauf aufpassen. Stattdessen stand er unter den Zuschauern, beobachtete das Treiben rund um den Brand und schnalzte anerkennend mit der Zunge.

»Das war ich.«

»Ich bin Brandprüfer. Können Sie die Situation beschreiben, als Sie das Feuer entdeckten?«

Umstehende richteten ihren Blick auf den jungen Verkäufer. Er kratzte sich am Kopf und sah Yu an. Dann begann er zu berichten: »Es war so gegen drei Uhr. Ich hatte keine Kundschaft, und mir fielen beim Herumsitzen die Augen zu. Also ging ich aus dem Laden, um frische Luft zu schnappen. Da sah ich schwarzen Rauch über den Wohnungen vorn in der Gasse aufsteigen. Zunächst war ich mir unsicher, was das war. Aber dann bemerkte ich Flammen in dem Qualm, die rasch höherschlugen. Ich erschrak und rief die Feuerwehr an.« Dabei zeigte er in Richtung der Seitenstraße.

»Wohin führt die Gasse?«, fragte Yu nachdenklich.

»Da hinten gibt es nichts. Eine Sackgasse, soweit ich weiß.«

»Haben Sie während des Anrufs einen Verdächtigen gesehen? Irgendjemanden, der aus der Gasse gerannt kam, oder einen Fremden, der hier herumlungerte, bevor das Feuer ausbrach?«

»Keine Ahnung. Ich saß den ganzen Tag an der Kasse und war wie gesagt nur kurz draußen, um die Müdigkeit abzuschütteln. Später, als ich dann anrief, war ich viel zu aufgeregt …«

Yu gab ihm seine Visitenkarte und bat ihn, sich unverzüglich bei ihm zu melden, falls ihm noch etwas einfiele. Dann ging er in die Richtung, in die der Mann gezeigt hatte.

Vor dem Eingang zu der kleinen Gasse befand sich ein Meer aus Schläuchen und Wasser, das aus ihnen herausgesickert war. Yu versuchte gerade, sich vorsichtig einen Weg durch den Wirrwarr zu bahnen, als er einen Feuerwehrmann aus der Gasse kommen sah, von der immer noch dicker schwarzer Qualm aufstieg. Er trug ein etwa zehnjähriges Mädchen auf dem Arm.

Sofort wurde Yus Blick von der Kleinen magisch angezogen. Er wollte unbedingt wissen, ob es ihr gut ging. Also machte er kehrt und folgte dem Feuerwehrmann.

Dieser brachte das Kind zu einem Rettungswagen und verschwand wieder in der Gasse.

Ein Sanitäter hüllte das Mädchen im Wagen in eine Decke und fragte, ob es verletzt sei. Die Kleine schwieg jedoch, nur ihr Blick wanderte dorthin, wo sie gerade hergekommen war. Sie hielt einen großen Teddybären fest umklammert und wirkte in Anbetracht des schrecklichen Feuers, dem sie gerade entkommen war, erstaunlich gelassen. Yu betrachtete eingehend das Gesicht des Mädchens und erkannte bald, dass es sich in einer Schockstarre befand. Nur ab und zu weiteten sich die großen Pupillen für einen kurzen Moment. Äußerlich waren keine Verletzungen erkennbar.

Nachdem das Kind eine Weile lang die schwarzen Rauchwolken angestarrt hatte, die weiterhin aus der Seitenstraße quollen, kletterte es aus dem Wagen und blickte sich um. Wahrscheinlich löste die Kleine sich allmählich aus ihrem Schockzustand. Unschlüssig, ob sie in die Gasse und zu ihrer Wohnung zurückkehren oder einfach bleiben sollte, wo sie war, rührte sie sich nicht von der Stelle und schien nach jemandem zu suchen.

Yu spürte einen Stich in seinem Herzen, während er das mit ansah.

An jedem Brandort waren es immer die Opfer, deren Anblick ihn am meisten schmerzte. Für sie war das Feuer wie ein Blitz aus heiterem Himmel. Eine Tragödie. Sie verloren nicht nur ihre Bleibe, sondern mitunter auch ihre Liebsten. Die meisten Betroffenen brauchten lange, um den Schock zu überwinden. Sie schliefen schlecht und wurden von Angstzuständen gequält, weil die Erinnerung an den Brand sie immer wieder heimsuchte.

In Yu brodelte es, als er bemerkte, wie die Kleine die Menge der Schaulustigen musterte und offensichtlich vergeblich nach einem vertrauten Gesicht suchte. Als sie Anstalten machte, sich vom Rettungswagen zu entfernen, ging er schnell auf sie zu. »Wo willst du denn hin? Du bist jetzt in Sicherheit. Warte einfach hier. Du wirst bestimmt bald ins Krankenhaus gebracht.« Das Kind sah an dem Inspektor hinauf. Seine großen, klaren Augen waren angsterfüllt und voller Misstrauen dem fremden Mann gegenüber. Yu wollte ihm gern die Furcht nehmen. »Du brauchst dir keine Sorgen zu machen. Sobald die Feuerwehrmänner das Feuer gelöscht haben und alles unter Kontrolle ist, wirst du deine Familie wiedersehen.«

Das Mädchen blinzelte, dann murmelte es leise vor sich hin, als wäre ihm spontan etwas eingefallen. Zunächst bewegte es nur die Lippen, kaum hörbar, dann rief es Yu zu: »Papa …«

»Was?«

»Ich will zu meinem Papa!«

Yu sah in den Krankenwagen. Die Hecktüren standen offen, aber darin war kein Verletzter zu sehen. Wenn der Vater des Kindes zuerst geborgen worden war, hatte man ihn möglicherweise bereits mit einem anderen Rettungswagen ins Krankenhaus gebracht. Andernfalls war er vielleicht noch durch die Flammen in seiner Wohnung eingesperrt. Über die letzte Möglichkeit wollte Yu nicht weiter nachdenken. Es fiel ihm schwer, dem Mädchen zu antworten. Auf der Suche nach jemandem, der dem Kind helfen konnte, blickte er sich um.

Das Mädchen griff nach Yus Arm und rüttelte flehend daran. Yu sah zu ihm hinunter, und sein Blick traf die Augen des Kindes. Der Schmerz nahm ihm den Atem. Ihm wurde bewusst, dass die Kleine ihre Lage allmählich zu begreifen begann. In ihren Augen standen Tränen, die nur auf den geringsten Anlass warteten, in großen Tropfen über die Wangen herabzurollen. Je länger das Mädchen von seiner Familie getrennt wäre, desto unruhiger und ängstlicher würde es werden.

Yu suchte Sanguk.

Dieser war schwer beschäftigt. Er befragte die Feuerwehrmänner, die den Brand gelöscht hatten und nun ihre Ausrüstung zusammenpackten, über den Ablauf der Löscharbeiten und wollte wissen, welchen Schwierigkeiten sie dabei begegnet waren. In Erfahrung zu bringen, welche Gegebenheiten sie vorgefunden hatten und wie sie vorgegangen waren, konnte verhindern, dass er bei den Untersuchungen am Brandort etwas übersehen würde. Während Yu darauf wartete, dass Sanguk seine Befragungen beendete, behielt er das Kind an seiner Seite ständig im Blick.

Dann verabschiedete sich Sanguk von den Feuerwehrleuten und kam zu Yu herüber. »Gehen wir rein?«

Da die Löscharbeiten nun abgeschlossen waren, wollte er mit den Ermittlungen am Brandort beginnen. Dann fiel sein Blick auf das Mädchen. Fragend wandte er sich Yu zu. Dieser wies mit dem Kinn in Richtung Gasse.

Sanguk verstand, dass es sich um ein Opfer des Brandes handelte, ging schnell vor dem Mädchen in die Hocke und sprach es an, wobei er ihm über den Kopf strich. »Hast du dich sehr erschreckt? Bist du verletzt? Wo ist deine Mama?«

»Tot.« Jetzt erst rollten dem Kind die lange zurückgehaltenen Tränen über die Wangen.

Sanguk war verwirrt über die Antwort und wusste nicht, was er erwidern sollte. Er sah zu Yu auf. »Deine Mama … Ist sie noch im Haus?«

Die Kleine schüttelte heftig den Kopf und verstummte. Offensichtlich wollte sie nicht weiter darüber sprechen. Die Erwähnung ihrer Mutter hatte sie traurig gemacht, und sie presste den Teddybären noch fester an die Brust. Sie wich Sanguks Blick aus und vergrub das Gesicht im Kopf des Teddybären.

Yu, der es nicht länger mit ansehen konnte, raunte seinem Kollegen zu: »Der Vater ist anscheinend davongekommen. Das Kind will zu ihm.«

»Bringen wir das Mädchen in einen Krankenwagen. Der Vater müsste eigentlich in das Seobu-Krankenhaus eingeliefert worden sein. Soll ich mal nachfragen?«

»Im Seoul-Krankenhaus.« Das Kind, das bis kurz zuvor den Mund kaum aufbekommen hatte, mischte sich unerwartet in das Gespräch zwischen Yu und Sanguk ein.

»Seoul-Krankenhaus?« Yu starrte das Kind an und fragte schließlich Sanguk: »Gibt es in der Nähe ein Seoul-Krankenhaus?«

»Nun, das wäre mir neu.«

Wenn im Westteil der Stadt ein Feuer ausbrach, gab es eine Reihe von Kliniken, in welche die Opfer gebracht wurden. Aber ein Seoul-Krankenhaus war nicht dabei. Offensichtlich unzufrieden mit dem Verlauf des Gesprächs der beiden Männer, wischte sich das Kind mit dem Handrücken die Tränen aus dem Gesicht, holte eine Visitenkarte aus der Tasche und überreichte sie Sanguk. »Das ist Papas Nummer. Bitte rufen Sie dort an.«

Verwirrt hielt Sanguk die Karte in der Hand, sah das Kind an und blickte dann zu Yu.

Dieser drängte: »Beeil dich! Nun ruf schon an!«

Sanguk holte das Handy heraus und tippte die Nummer ein. »Hallo? Sind Sie Herr Yun Chaesong?«

Die Stimme am anderen Ende der Leitung klang verschlafen. Der Vater des Kindes schien keine Ahnung von dem Brand zu haben, denn er fragte mürrisch nach dem Grund des Anrufs so früh am Morgen.

»Ihre Tochter sucht nach Ihnen. Wir sind im Eungam-Viertel. Es gab ein Feuer … Ja, ja, richtig. In der Dalmadschi-Straße, auf Höhe des Jongsong-Wohngebäudes. Ja … Keine Sorge. Ihre Tochter ist wohlauf. Ja … Ja, bis dann.«

Den Vater hatte die Nachricht über den Brand zutiefst erschreckt, also vergewisserte er sich mehrfach, die Adresse richtig verstanden zu haben. Er versprach, unverzüglich zu kommen, bevor er schließlich den Hörer auflegte.

Kaum hatte Sanguk sein Handy eingesteckt, zupfte das Mädchen an seiner Hose. Schnell wandte er sich ihm zu. Mit strahlenden Augen fragte die Kleine: »Kommt mein Papa?«

»Ja, er kommt bald, wenn du brav hier bleibst.«

Yu merkte, wie Angst und Furcht aus dem Gesicht des Kindes wichen und sich in friedliche Gelöstheit verwandelten. Der Krankenwagen war schon weg. Yu und Sanguk überließen das Kind einem Polizisten und betraten nun endlich die Gasse, die zum Brandherd führte.

Die Rettungskräfte hatten sich bereits zurückgezogen, lediglich einige Feuerwehrmänner waren durch die verkohlten Eingangstüren vorgedrungen und erkundeten die Lage im Inneren der Gebäude. Yu und Sanguk begannen zunächst damit, die Umgebung zu untersuchen.

Ein Haus am Ende der Sackgasse und ein daneben liegendes zweistöckiges Gebäude mit mehreren Wohnungen schienen die größten Schäden aufzuweisen.

Yu und Sanguk gingen zielstrebig zu dem Haus.

Als sie durch das Tor traten, fanden sie einen Innenhof vor, mit einigen Bäumen bestanden und von einem ebenerdigen Bau umgeben. Auf dem Boden hatten sich überall schwarze Pfützen aus Löschwasser gebildet. Yu und Sanguk schalteten ihre Handlampen an und überprüften sorgfältig die rußgeschwärzten Außenwände des Hauses und die Umgebung.

Das Haus war weit heruntergebrannt, und kein einziges Fenster war intakt geblieben. Das zweistöckige Gebäude nebenan, das direkt an das Grundstück anschloss, war in keinem besseren Zustand. Es war ebenfalls komplett ausgebrannt, und alle Balkonfenster waren bis auf die gähnenden Wandöffnungen zerstört. Die Fensterlaibungen gaben den Blick auf das Innere einer verkohlten Wohnung frei. Elektrische Geräte und Möbel waren in den Flammen zu undefinierbaren Gebilden geschmolzen oder verbrannt, und von der Decke tropfte unaufhörlich schwarzes Wasser. Angesichts dieses grauenhaften Zustands war es kaum vorstellbar, dass hier jemand gewohnt hatte. Der Ort, an dem die leuchtend roten Flammen gewütet hatten, war zu einem Höllenloch geworden.

Der Ruß an den Wänden wirkte wie eine Fährte des Feuers.

Yu und Sanguk untersuchten die Ascherückstände an den Mauern der beiden Häuser, wobei sie die großen Wasserpfützen sorgsam vermieden.

»Für mich sieht es so aus, als hätte das Feuer von dem Einzelhaus zum Nachbargebäude übergegriffen.«

Yu nickte zustimmend. Dann ging er zur Rückseite und begutachtete die Abstandsfläche zwischen den beiden Häusern.

Die Außenmauern der beiden Gebäude standen relativ dicht beieinander, und dazwischen schienen allerlei Gegenstände gelagert worden zu sein, die nun zu Schutt und Asche verbrannt waren. Aus den ausgebrannten, völlig durchnässten Überresten stieg an der einen oder anderen Stelle noch Rauch auf.

Sanguk betastete die Trümmer an einer Stelle und zerrieb den Ruß zwischen seinen Fingern. Mit den Schuhen stieß er einen Klumpen an und schnüffelte. »Holz und Chemikalien, würde ich sagen. Vermutlich auch Styropor.«

»Wahrscheinlich die Reste von Baumaterial, Brettertüren oder Dämmung.«

»Ja, sieht so aus.«

Wenn die Fläche leer gewesen wäre, hätte das Feuer vielleicht nicht auf das Nachbarhaus übergegriffen. Holz und Styropor oder etwas Ähnliches hatten den Flammen eine Brücke nach nebenan geschlagen.

Yu und Sanguk kehrten wieder in den Innenhof zurück. In diesem Moment rief ein Feuerwehrmann aus dem Haus, dass es dort Leichen gebe. Ein Mann stürzte hinaus in die Gasse, um eine Tragbahre zu holen.

Ohne es zu bemerken, verzog Yu das Gesicht.

Brände in den frühen Morgenstunden fordern die meisten Menschenleben, da die Leute zu dieser Zeit tief und fest schlafen. Vermutlich waren die Bewohner des Hauses völlig ahnungslos gewesen und im Schlaf von den Flammen überrascht worden. Auf das Schlimmste gefasst, betrat Yu an der Seite eines Feuerwehrmannes die Wohnung.

Sofort stieg ihm ein beißender Geruch in die Nase. Er holte einen Mundschutz aus der Tasche und befestigte ihn vor seinem Gesicht. Dann ging er ins Schlafzimmer, wo sich die Toten befanden. Ein Feuerwehrmann grüßte ihn mit einem Kopfnicken. Der Inspektor deutete seinen Gruß nur an und beugte sich über die Leichen.

Es waren zwei Tote, vermutlich ein älteres Ehepaar. Sie lagen nebeneinander auf einem Futon und schienen in dieser Position im Schlaf gestorben zu sein. Übelkeit stieg in ihm hoch. Er unterdrückte mühsam den Würgereflex und presste mit einer Hand seine Schutzmaske fester an.

Während er die Leichen und das Zimmer studierte, spürte Yu instinktiv, dass etwas nicht stimmte.

Irgendwo in seinem Gehirn rührte sich etwas, das er jedoch nicht zu fassen bekam. Er näherte sich den Leichen und hob die halb verbrannte Decke hoch. Die Körperteile darunter waren intakt. Die Flammen waren nicht damit in Berührung gekommen. Yu war zwar schockiert, aber er versuchte keine voreiligen Schlüsse zu ziehen.

Kaum war Sanguk in das Zimmer gekommen und hatte die Leichen gesehen, da stürzte er auch schon wieder nach draußen. Er arbeitete bereits ziemlich lange als Brandermittler, vermied aber den Anblick von Toten, wann immer er konnte. Unerwartet schnell tauchte auch Yu wieder aus dem Zimmer auf und bat den Feuerwehrmann, den Raum so zu belassen, wie er war. Dann ging er durch das Eingangstor. Sanguk, der auf dem Hof stand, folgte ihm und fragte: »Wo gehst du hin?«

»Die Kamera holen.«

»Ich habe doch eine.«

»Nicht die. Ich brauche meine. Ich muss selbst fotografieren.«

Sanguk bemerkte die Anspannung in Yus Stimme und schwieg. Er wusste, was es zu bedeuten hatte, wenn Yu selbst die Fotos machen wollte. Hier handelte es sich nicht um einen gewöhnlichen Brand, sondern um ein Verbrechen. Für eine kriminaltechnische Untersuchung der Brandstelle brauchte Yu präzise Fotos.

Da klingelte Sanguks Handy. Er blickte auf die Nummer und nahm ab. Es war der Vater des Mädchens. Er sei fast da und wollte wissen, wo genau sich seine Tochter befand. »Eine Polizeistreife steht direkt am Eingang der Gasse. An die müssen Sie sich wenden.« Dann wandte er sich an den Inspektor: »Der Vater des Kindes ist schon da.«

Yu blieb stehen und stellte sich Sanguk, der jetzt ein Stück hinter ihm ging, in den Weg.

»Was ist?«

»Ich gehe hin. Du bleibst besser hier und passt auf.« Yu musste sicherstellen, dass am Tatort nichts verändert wurde. Dann eilte er durch die Gasse zu dem Streifenwagen, der in der Einmündung zur Querstraße stand.

Die Straßen waren inzwischen frei von dem Getümmel. Nur eine Handvoll Feuerwehr- und Rettungswagen war noch übrig geblieben, alle anderen Einsatzfahrzeuge waren zurückbeordert worden. Auch die Gruppe Schaulustiger hatte sich weitgehend zerstreut. Das Feuer brannte nicht mehr, und es war sehr früh am Morgen, also waren die meisten nach Hause gegangen, um noch etwas Schlaf zu finden oder sich für einen vorgezogenen Start in den Arbeitstag fertig zu machen.

Auf dem Weg zu dem Polizeiauto holte Yu die Kamera aus seinem Wagen. Die Polizeibeamten waren nicht zu sehen. Yu blickte sich nach allen Seiten um, bevor er schließlich auf der Rückbank des Wagens nachschaute.

Dort lag das Mädchen. Es war eingeschlafen. Die Anspannung und der Schock infolge des Brands waren wohl von der Nachricht verdrängt worden, dass der Vater kommen würde. Im Schlaf hielt die Kleine den Teddybären fest an sich gedrückt. Ab und zu hustete sie und verzog das Gesicht, als hätte sie Schmerzen. Vermutlich eine Nachwirkung des Rauchs, den sie am Brandort eingeatmet hatte. Dann tastete sie instinktiv nach dem Kuscheltier in ihrem Arm, um selig lächelnd wieder in den Schlaf zu sinken. Der Anblick des Mädchens, das nach einem so traumatischen Ereignis friedlich schlief, weckte Yus Mitleid, und er fragte sich, wie oft das Kind sich daran erinnern und wie viele unruhige Nächte es von nun an haben würde.

»Oh, sie ist eingeschlafen. Sie hat gejammert, dass ihr Hals kratzt. Also habe ich schnell eine Milch besorgt.«

Als Yu sich umdrehte, stand dort ein Polizist mit einer Tüte Milch und ein paar Keksen in der Hand. Auch ihm tat das Kind offenbar leid.

»Wo ist die Familie?«, fragte der Polizist.

»Ihr Vater muss jede Minute da sein.«

»Gott sei Dank!« Der Polizist hatte befürchtet, das Kind habe durch den Brand womöglich alle Angehörigen verloren.

Yu starrte das Mädchen an und sah sich dann um, wo der Vater blieb.

In diesem Moment näherte sich ein Wagen. Er hielt an, und ein Mann stieg hastig aus. Er eilte auf die Gasse zu, blieb aber beim Anblick der Feuerwehrwagen stehen, deren Besatzungen noch mit Aufräumen beschäftigt waren. Sein Blick wanderte ans Ende der Gasse, und seine Augen weiteten sich vor Schreck.

»Sind Sie Herr Yun Chaesong?«

Der Mann fuhr herum und versuchte herauszufinden, woher die Stimme gekommen war. Als er Yu entdeckte, hastete er zu ihm hinüber. Er zitterte am ganzen Körper. Seine Stimme verriet, in welch aufgewühlter Verfassung er war. »Meine Tochter?«

»Machen Sie sich keine Sorgen. Sie ist dort in dem Polizeiauto eingeschlafen. Sie ist unverletzt.«

Der Mann rannte zu dem Streifenwagen, um sich mit eigenen Augen zu vergewissern, dass seine Tochter wohlauf war. Er sah das schlafende Kind und stieß einen Seufzer der Erleichterung aus. Dann kehrte er zu Yu zurück und fragte: »Meine Schwiegereltern … Sind sie verletzt? Wo sind sie?«

»Alle Verletzten sind in ein nahe gelegenes Krankenhaus gebracht worden, soweit ich weiß.« Der Inspektor wollte gerade vorschlagen, dass er sich erkundigen könnte, wo sie vielleicht zu finden wären, hielt aber plötzlich inne. Ihm kam ein schlimmer Verdacht. »Ah … wo wohnen denn Ihre Schwiegereltern?«

»In dem Haus am Ende der Gasse.«

»In dem frei stehenden Gebäude neben dem Mehrfamilienhaus?«

»Ja, warum?«

Sofort hatte Yu das Bild des toten Ehepaars vor Augen, halb zugedeckt auf dem Bett liegend. Das mussten die Großeltern des Kindes sein.

Der Mann sah Yus Gesichtsausdruck und begriff sofort. Sein Mund klappte auf, fassungslos suchte er nach den passenden Worten. »Ist den beiden etwas zugestoßen?«

Der Inspektor wich dem Blick des Mannes aus und nickte.

Der Mann, der sich bis dahin sehr aufrecht gehalten hatte, schien in sich zusammenzusinken. »Wo … sind ihre Leichen?«

»Nun ja, es ist so …« Darüber zu sprechen war für Yu eine heikle Sache. Die Umstände des Todes waren noch nicht mal ansatzweise geklärt. Bevor er etwas Genaueres wüsste, würde er erst den Tatort untersuchen und die Leichen obduzieren lassen müssen. Bis dahin konnte er unmöglich jemandem, der gerade brutal vom Tod seiner Schwiegereltern erfahren hatte, mitteilen, dass es sich womöglich um Mord handelte. Der Inspektor entschied, zu warten, bis der Mann sich vom ersten Schock erholt hatte. »Fahren Sie erst einmal mit Ihrer Tochter nach Hause. Die Kleine hat einiges durchgemacht. Ich werde mich bei Ihnen melden.«

Der Mann blickte sich zu dem Streifenwagen um, als sei ihm seine Tochter gerade erst wieder eingefallen, und nickte.

»Wissen Sie vielleicht, ob Ihre Frau auch in der Wohnung war?«

»Bitte?« Der Mann sah Yu erschrocken an.

Das Mädchen hatte gesagt, seine Mutter sei tot, aber Yu war nicht sicher, ob sich nicht vielleicht noch eine Leiche in der Wohnung befand. Er war noch nicht dazu gekommen, alle Räume zu untersuchen.

»Nein. Meine Frau ist … vor einem Jahr gestorben.«

»Oh, das tut mir leid. Da habe ich wohl etwas falsch aufgefasst.« Yu entschuldigte sich verlegen, aber der Mann winkte ab und näherte sich dem Polizeiauto.

Während er die Wagentür öffnete und das schlafende Kind hochhob, wandte sich Yu der Gasse zu.

Seine Gedanken rasten, während er an der Kamera in seinen Händen herumfingerte: ein Mord! Diesmal muss ich den Ort wirklich aus einem anderen Blickwinkel betrachten.

Mittlerweile war die Dämmerung angebrochen, und ein neuer Tag begann.

2

Was ist deine früheste Erinnerung?

Wie du an der Hand deiner Mama in den Kindergarten gegangen bist? Nein, ich spreche nicht von einer Allerweltserinnerung, sondern von einer, die länger her ist als das. Ich meine wirklich das Erste, das sich in dein Gedächtnis eingeprägt hat, nachdem du geboren wurdest.

Es wird ja behauptet, man könne sich nicht an seine früheste Kindheit erinnern. Ich weiß allerdings nicht, woran das liegt. Vielleicht weil sie zu weit zurückliegt, oder weil sie so unbedeutend ist, dass die Erinnerung daran von etwas Wichtigerem verdrängt wird. Trotzdem bin ich neugierig, welche ersten Erinnerungen tief in den Gehirnen der Menschen vergraben sind.

Welche ist deine früheste Erinnerung?

Das ist immer die erste Frage, die ich Menschen stelle, wenn ich sie kennenlerne. Ich glaube, dass die erste Erinnerung über das Schicksal oder den Charakter eines Menschen entscheidet. Und ich kann daraus vage ableiten, was für einen Menschen ich vor mir habe.

Unter den ersten Erinnerungen, von denen mir erzählt wurde, ist die früheste die eines Mannes, der an seinem ersten Geburtstag Algensuppe vorgesetzt bekommen hatte.

Der erste Geburtstag, genau ein Jahr nachdem er auf die Welt gekommen war. Ich fragte ihn, warum er meinte, sich daran erinnern zu können, worauf er antwortete, er hätte sich nach dem ersten Löffel in die Suppenschüssel übergeben. Daher habe er das wohl nie vergessen. Seither wende er sich angewidert ab, sobald er Algensuppe sehe. Ich ging mit diesem Mann gelegentlich etwas trinken, und es kam öfter vor, dass er sich übergeben musste. Ich kann mir gut vorstellen, dass diese Angewohnheit auf sein Kindheitserlebnis zurückging.

Ich würde auch zum Erbrechen neigen, wenn in meinem Unterbewusstsein so eine ekelerregende Geschichte lauerte. Trotzdem ist sie immer noch besser als meine erste Erinnerung.

Weißt du, manchmal stelle ich mir Folgendes vor:

Ich liege in einem bequemen Sessel und erforsche meine Erinnerungen unter Anleitung eines Hypnotiseurs. Angeblich können Menschen sich an die Kindheit, das Säuglingsalter und sogar die Zeit als Fötus erinnern, wenn sie sich zum Ursprung zurückführen lassen. Aber es bleibt bei dieser Vorstellung, denn ich will gar nichts über mein frühes Leben wissen. Ich glaube auch nicht an so etwas.

Was mich jedoch brennend interessiert, ist der Gesichtsausdruck meiner Mutter bei meiner Geburt, in dem Augenblick, als ich das Licht der Welt erblickte. Ich bin neugierig, welche Gefühle sich in ihrem Gesicht widerspiegelten, als sie mich zum ersten Mal sah.

Warum?

Weil sie mir gesagt hat, sie habe mich bereits während der Schwangerschaft gehasst wie die Pest.

Weil sie mir gesagt hat, sie habe mich nach der Geburt nicht einmal angesehen. Sie habe auch keine Lust gehabt, mich zu berühren, obwohl eine Krankenschwester mich auf ihre Brust gelegt hatte. Sie habe das Baby zur Seite geschoben und sei eingeschlafen. Als sie sich im Schlaf einmal umdrehte, sei sie kurz wach geworden und habe mich direkt vor ihrer Nase gesehen, worauf sie zurückschreckte. Trotz der offensichtlichen Missachtung hätte ich aber weder geweint noch gequengelt. Ich hätte nur ruhig dagelegen, doch sie sei vor Schreck wie gelähmt gewesen und habe eine Gänsehaut bekommen.

Ich würde gern wissen, ob sie mich tatsächlich keines Blickes würdigte oder ob sie mich doch ansah und flüchtig lächelte. Immerhin war ich als Fötus zehn Monate lang in ihrem Bauch gewesen, und sie hatte mich geboren. Empfand sie wirklich nur Abscheu für mich?

Schenkte sie mir nicht ein einziges strahlendes Lächeln? Wollte sie nicht die kleinen zuckenden Fingerchen berühren? Hatte sie keinen Moment das Bedürfnis, die zarten süßen Wangen zu küssen? Auch wenn ich mich nicht daran erinnern kann, da es viel zu lange her ist, möchte ich jeden Winkel meines Gehirns nach so einem Moment absuchen.

Wenn du in meinem Kopf sehen könntest, welche Erinnerungen ich an meine Mama tatsächlich habe, würdest du verstehen, was ich meine.

Meine erste Erinnerung beginnt mit Dunkelheit.

Ich habe Schmerzen in der Brust, die jeden Augenblick zu zerspringen droht, und ich strample in Atemnot mit den Füßen. Plötzlich wird es hell, und vor mir steht meine Mutter, die ausdruckslos auf mich herunterblickt. Ich schnappe keuchend nach Luft und sehe durch meine Tränen hindurch alles um mich herum verschwommen. Als der Schmerz in der Brust nachlässt und ich wieder normal atmen kann, beginnt Mutter, die mich bis dahin nur angestarrt hat, laut zu schreien. Sie beißt in das Kissen, das sie in ihren Händen hält, nur um gleich danach gequält aufzuschluchzen. Ich will nicht weinen, aber ich habe schreckliche Angst, und so fange ich an zu brüllen. Meine Mutter schreit noch lauter, schüttelt mich und dreht und windet sich. Ich weiß nicht, wie alt ich damals war. Ein Jahr? Zwei? Es muss ungefähr in diesem Alter gewesen sein, denn ich konnte noch nicht sprechen.

Ja, das ist meine erste Kindheitserinnerung: wie ich strampelnd qualvoll nach Luft ringe, weil meine Mutter mir ein Kissen aufs Gesicht drückt. Du kannst dir sicher vorstellen, wie es weiterging, ohne dass ich ins Detail gehe.

Wenn ich daran zurückdenke, was sich zwischen meiner Mutter und mir abgespielt hat, so habe ich jedenfalls nur Szenen im Kopf, in denen ich geschlagen wurde, vor ihr geflohen bin oder mich völlig eingeschüchtert vor ihr in einen versteckten Winkel zurückgezogen habe, um ihr nicht zwischen die Finger zu geraten.

Zwar gab es seltene Momente, in denen sie mich anlächelte, aber das war nur, wenn sie mich zu fassen kriegen wollte, mit einem Stock hinter ihrem Rücken, oder weil sie sonst etwas im Schilde führte. Wenn ich ihrem Lächeln auf den Leim gegangen war und auf sie zuging, packte sie meinen dünnen Arm mit festem Griff, drehte ihn um oder versetzte mir eine Ohrfeige.

Jedes Mal fasste ich den Vorsatz, mich nie mehr von ihr täuschen zu lassen, aber ich fiel immer wieder erneut auf sie herein. Wenn ich meiner Mutter davonlaufen konnte, verfolgten mich ihre Schmähungen und Verwünschungen. Doch damit konnte sie mich glücklicherweise nicht fangen.

Aber weißt du was?

Worte können viel verletzender sein und tiefere Wunden hinterlassen als Ohrfeigen, die nur kurzfristig einen brennenden Schmerz hervorrufen. Außer sich vor Wut, dass sie mich nicht erwischte, durchbohrte sie mich mit ihren Augen und bedachte mich verrückt kreischend mit Beschimpfungen. Ihre Worte fraßen sich in mich hinein, selbst wenn ich mir die Ohren zuhielt. Sie verletzten mich und begannen in mir zu schwären. Mein Inneres war angefüllt mit giftigen Worten und Gedanken, die mein Blut verseuchten und Eitergeschwüre bildeten.

Als Kind konnte ich anderen nicht in die Augen sehen. Wenn ich hörte, dass sich mir jemand näherte, schlug mir das Herz bis zum Hals, und ich versteifte mich. Sobald mich nur ein Blick streifte, wich ich ihm sofort aus und suchte das Weite. Ich glaubte, alle Menschen hassten mich. Weil mich niemand mochte und keiner meine Gegenwart ertrug, würde mich meine Mutter tagtäglich schlagen. Ich dachte, mein pures Dasein sei etwas Fürchterliches. Erst später wurde mir klar, dass meine Mutter die einzige Person war, die mich hasste.

Beruht das auf Gegenseitigkeit?

Nein, überhaupt nicht. Wie kann ich sie hassen? Sie ist doch meine Mama.

Ich liebe sie.

3

Als das Licht im Saal anging, atmeten die Studenten erleichtert auf, als erwachten sie endlich aus einem Albtraum.

Diejenigen von ihnen, die in Fensternähe saßen, zogen eilig die Vorhänge zurück und öffneten die Fenster. Kaum strömten Sonnenlicht und frische Luft in den Raum, wurde die Atmosphäre unvermittelt wieder lebendig. Die Verbrechen, die während der letzten Stunden Erschütterung und blankes Entsetzen hervorgerufen hatten, verblassten nach und nach.

Sonkyong schaltete den Beamer aus und drehte sich zu ihren Zuhörern um.

In den leisen Unterhaltungen schwangen noch Fassungslosigkeit und Verängstigung mit. Aber so wie ein Albtraum im Moment des Erwachens seine Bedrohlichkeit verliert, würden auch diese Bilder bald aus den Köpfen verschwunden sein.

Zu Beginn der Vorlesung hatten ihre Augen noch vor freudiger Erwartung geglänzt. Vor der Präsentation war die Neugier darauf, sie endlich sehen zu dürfen, übergroß gewesen. Wie irgendjemand treffend bemerkt hatte, hatten alle das ganze Semester lang gespannt darauf gewartet.

Die Aufregung des Publikums legte sich jedoch rasch, als die ersten Aufnahmen auf der Leinwand erschienen, und eine gedrückte Stimmung erfüllte mit einem Mal den Raum.

Je mehr Bilder in schneller Folge ineinander übergingen, desto häufiger war im Publikum verwirrtes und ängstliches Aufstöhnen zu vernehmen. Alle waren so konzentriert auf den Vortrag, dass man einen Stift hätte fallen hören können. Die Mienen der Studenten waren starr vor Schreck, während sie Sonkyongs Kommentaren lauschten.

Es gibt nichts Schrecklicheres als die Realität.

Kein Horrorfilm kann die Grausamkeit eines Täters so vermitteln wie das Bedrückende eines realen Tatorts. Selbst der Studentensprecher der Fakultät, der vor der Präsentation groß getönt hatte, so schlimm wie ein Splatterfilm werde es schon nicht sein, war sprachlos vor Entsetzen. Der Unterschied zwischen Realität und Fiktion war größer, als er es sich hatte vorstellen können. Mit eigenen Augen zu sehen, auf welch groteske Weise Täter ihren Opfern Gewalt antaten, schien einen tiefen Eindruck auf die Studenten zu machen.

Sonkyong hatte ein Jahr zuvor an dieser Universität einen Vortrag gehalten, der ihr die Chance zu einer ganzen Vorlesungsreihe eröffnet hatte. Sie hatte sich reiflich überlegt, womit sie die letzte Stunde bestreiten wollte. In ihren Vorlesungen ging es um eine Einführung in die Kriminalpsychologie, weshalb sie gezwungen war, sperrige Begriffe der Fachterminologie zu verwenden und Theorien unzähliger Psychologen zu erörtern. Aber das war nicht die Art Unterricht, die Sonkyong sich vorgestellt hatte. Den Studenten ging es nicht anders.

Vom ersten Moment an interessierten sie sich für Sonkyong und hatten große Erwartungen an sie. Ihr Vortrag hatte sich herumgesprochen, und ihr Lebenslauf auf der Website der Universität beflügelte die Neugier.

Bereits am ersten Vorlesungstag gaben die Studenten ihr den Spitznamen Clarice, nach der amerikanischen FBI-Auszubildenden im Film Das Schweigen der Lämmer, die mithilfe eines genialen Serienmörders, des inhaftierten Psychiaters Hannibal Lecter, nach einem anderen Serientäter fahndet. Die Tatsache, dass Sonkyong beim FBI geschult worden war, lieferte ausreichend Gesprächsstoff. In der Tat sprudelten die Fragen in der ersten Stunde nur so aus den Studenten heraus.

Zuerst machte das Sonkyong verlegen. Sie verstand auch nicht, woher der Spitzname kam. Erst nachdem sie von ihrem Profil auf der Website gehört hatte, wurde ihr klar, was es damit auf sich hatte.

Ausbildung beim FBI, im Bereich Profiling

Bei ihrem Vorstellungsgespräch mit dem Dekan hatte Sonkyong nebenbei die Fortbildung erwähnt, und so hatte diese Tatsache Eingang in ihren Lebenslauf gefunden. Studenten zogen aus der Notiz den falschen Schluss, Sonkyong hätte wie Clarice Starling im Film eine komplette Agentenausbildung genossen. Sie hatte eigentlich vorgehabt, diesen Irrtum aufzuklären, aber die Neugier der Studenten und die Bewunderung in ihren Augen ließen sie zögern.

Es stimmte, dass sie beim FBI eine Schulung absolviert hatte, aber was sich die Studenten darunter vorstellten, lag meilenweit von der Wahrheit entfernt.

Sonkyong hatte lediglich ein vierzehntägiges Training hinter sich gebracht, wie es Absolventen der Kriminalpsychologie zuteilwurde, die ihr Studium an einer Universität im Osten der Vereinigten Staaten mit Auszeichnung abschlossen. Die Veranstaltung war auf zwei Wochen ausgelegt, fand aber nur an Werktagen statt und umfasste daher genau genommen lediglich zehn Tage. Kaum hatte Sonkyong gelernt, sich auf dem Gelände der National Academy des FBI zurechtzufinden, war die Schulungsmaßnahme auch schon zu Ende. Von der Abteilung für Profiling hatte sie gerade mal das Türschild gesehen und einen entfernten Blick aus dem hinteren Bereich des Hörsaals auf einen angeblichen Meister dieses Fachs werfen können, während sie seinen Ausführungen gefolgt war. Das Ganze war mehr eine Werbeveranstaltung für die Behörde gewesen, so oberflächlich wie die Vorträge geblieben waren.

Doch davon hatten die Studenten keine Ahnung, und ihre Pupillen waren vor Bewunderung geweitet. Sonkyong wollte zügig über die Sache hinweggehen und mit ihrer Vorlesung beginnen, indem sie erklärte, die Fortbildung sei nicht der Rede wert gewesen. Aber die Anwesenden ließen nicht locker. Schließlich erzählte Sonkyong in allen Einzelheiten, was sie zusammen mit ihrer Zimmergenossin zwei Wochen lang dort erlebt hatte, bevor das Thema endlich beendet wurde.

An jenem Tag hatte Sonkyong den Studenten beiläufig versprochen, dass sie bei Gelegenheit etwas über die Serientäter berichten würde, von denen sie in den Vorträgen des FBI-Seminars erfahren hatte. Das ganze Semester lang behielten die Studenten dieses Versprechen im Gedächtnis und warteten darauf, dass sie es einlöste. Auf diese Weise wurde es ganz automatisch zum bestimmenden Thema für die letzte Vorlesungsstunde. Sonkyong war damit auch ganz zufrieden und hatte sich ausführlich darauf vorbereitet.

Um die hohen Erwartungen nicht zu enttäuschen, recherchierte sie im Internet und bat in einer E-Mail ihre Freundin Jessy in Amerika um Hilfe. Glücklicherweise fand sie über eine einschlägige Suchmaschine im Internet Bildmaterial im Überfluss, und die fehlenden zwei Prozent an Informationen bekam sie von ihrer Freundin.

Da Jessy, ihre Zimmergenossin während des Studiums, nach dem Abschluss in einem privaten Kriminaltechniklabor untergekommen war, hatte Sonkyong angenommen, dass es für ihre Freundin ein Leichtes sein würde, das gewünschte Material zu beschaffen. Und wie erhofft, schickte Jessy ihr bereitwillig Daten. Dank der ihr zugänglichen staatlichen Informationssysteme hatte sie mehr Wissenswertes sammeln können als erwartet. In ihrem Dankschreiben an Jessy erwähnte Sonkyong ihren Spitznamen an der Uni, woraufhin ihre Freundin erwiderte, sie möge einen Gruß bestellen, falls sie den koreanischen Hannibal Lecter treffe.

Während Sonkyong ihre Tasche packte und darüber nachdachte, dass sie ihrer Freundin eine weitere E-Mail schreiben würde, um den großen Erfolg der Abschlussvorlesung zu vermelden, den sie ihr zu verdanken hatte, rief jemand hinter ihr: »Frau Professorin!«

Sonkyong drehte sich um. Ein Student am Fenster hob den Arm. Als sie ihm zunickte, stand er auf und fragte: »Wir haben immer wieder etwas über die Kindheit von Serienmördern gehört. Ist es möglich, sie als solche zu erkennen, wenn sie noch Kinder sind?«

Sonkyong konnte verstehen, warum er diese Frage stellte. Nach dem gerade Erlebten musste die Flut an Informationen und Gedanken im Kopf erst einmal sortiert werden. Ein schwieriges Unterfangen. Warum wird jemand zum Serientäter? Die Studenten würden noch jede Menge Klärungsbedarf haben.

»Das ist eine Frage, welche die Psychologen seit Beginn des 20. Jahrhunderts beschäftigt. Kriminalpsychologen versuchten schon immer zu enträtseln, was die Wurzel für die verbrecherische Natur eines Menschen ist. Wissenschaftler, die sich mit Erbanlagen und biologischen Zusammenhängen beschäftigten, dachten, dass bereits die Geburt den Grundstein dazu legt. Andere, die den Werdegang und das soziale Umfeld von Straftätern untersuchten, glaubten dort den Schlüssel gefunden zu haben. Neurologen studierten akribisch Aufnahmen der Gehirne von Verbrechern und behaupteten, dass Kriminalität das Resultat einer Schädigung des Hirns sei.« Sonkyong schwieg und blickte der Reihe nach jedem ihrer Studenten in die Augen. Dann fuhr sie fort: »Was aber ist die richtige Antwort?«

Alle sahen Sonkyong wie hypnotisiert an und warteten darauf, was sie als Nächstes sagen würde. Sie schienen zu hoffen, dass die Vorlesung noch nicht zu Ende war. Sonkyong verspürte Genugtuung und überlegte, wie sie weitermachen sollte. »Haben Sie schon mal vom McDonald-Dreieck gehört?«