Der Ruf deines Herzens - Janni Kusmagk - E-Book + Hörbuch

Der Ruf deines Herzens Hörbuch

Janni Kusmagk

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  • Herausgeber: AUDIOBUCH
  • Kategorie: Ratgeber
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2022
Beschreibung

Wie kann man allen gesellschaftlichen Konventionen zum Trotz ein Leben führen, in dem man sich selbst treu bleibt? Janni Hönscheid und Peer Kusmagk lernen sich auf ungewöhnliche Art vor laufender Kamera kennen und lieben; sie gründen eine Familie und reisen um die Welt. Unterwegs treffen sie auf Menschen, die dem Ruf ihres Herzens gefolgt sind – und ihnen offenbart sich das Rezept für ein glückliches Leben. Zurück im Alltag, setzen Janni und Peer ihre Erfahrungen um, stellen konventionelle Familienmodelle in Frage und blicken auf die schmerzlichen Phasen ihres Lebens. Sie möchten andere ermutigen, dem eigenen Gefühl zu vertrauen und das Glück selbst in die Hand zu nehmen – mit konkreten Tipps und Einblicken in das ungewöhnliche Leben des Promi-Paars.

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Zeit:5 Std. 39 min

Sprecher:Nina Reithmeier
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Janni Kusmagk • Peer Kusmagk • mit Lisa Bitzer

Der Ruf deines Herzens

Wie du lernst, deinem Gefühl zu vertrauen und dein Leben frei zu gestalten

 

 

 

Über dieses Buch

Wie kann man allen gesellschaftlichen Konventionen zum Trotz ein Leben führen, in dem man sich selbst treu bleibt? Janni Hönscheid und Peer Kusmagk lernen sich auf ungewöhnliche Art vor laufender Kamera kennen und lieben; sie gründen eine Familie und reisen um die Welt. Unterwegs treffen sie auf Menschen, die dem Ruf ihres Herzens gefolgt sind – und ihnen offenbart sich das Rezept für ein glückliches Leben. Zurück im Alltag, setzen Janni und Peer ihre Erfahrungen um, stellen konventionelle Familienmodelle in Frage und blicken auf die schmerzlichen Phasen ihres Lebens. Sie möchten andere ermutigen, dem eigenen Gefühl zu vertrauen und das Glück selbst in die Hand zu nehmen – mit konkreten Tipps und Einblicken in das ungewöhnliche Leben des Promi-Paars.

Vita

Janni Kusmagk ist auf Sylt geboren und wuchs als jüngste Tochter in einer Surferfamilie auf Fuerteventura auf. Janni ist deutsche Meisterin im Wellenreiten auf Short- und Longboard. Sie gilt als die beste deutsche Surferin ihrer Generation, arbeitet als Model, Moderationstrainerin und Reisejournalistin. Sie lebt mit ihrer Familie in Potsdam und auf Mallorca, tritt in diversen TV-Formaten auf und arbeitet als Content-Creatorin und Autorin. Ihr liebster und wichtigster Job ist aber die Familie und Mutter zu sein für ihre drei Kinder Yoko, Emil-Ocean und Merlin.

 

Peer Kusmagk ist in Berlin geboren und reiste nach dem Abitur mit einer Theatergruppe durch Frankreich. Anschließend studierte Kusmagk Schauspiel am Lee Strasberg Institute in Los Angeles, spielte u. a. die Hauptrolle in der Serie Gute Zeiten, schlechte Zeiten, war als Moderator u. a. für das SAT.1 Frühstücksfernsehen tätig und wurde vom Publikum zum RTL-Dschungelkönig gewählt. Heute arbeitet er als Speaker und Life-Coach im Bereich Persönlichkeitsentwicklung. Peer ist seit 2013 als Moderator beim Berliner Radiosender 94,3 rs2 tätig.

 

Inhaltsübersicht

Zwei Welten treffen aufeinander

Peer

Janni

Auf der Seite des Lebens

Janni

Die zweite Pubertät

Peer

Im Hier und Jetzt

Janni

Die freie Welt ist hinter Gittern

Peer

Mein Körper, das unbekannte Wesen

Janni

Die nackte Wahrheit

Peer

Es reist sich besser mit leichtem Gepäck

Janni

Nüchtern betrachtet ist alles Gewohnheit

Peer

Zu Hause in dir

Peer

Wer Ja sagen will, muss lernen, Nein zu sagen

Janni

L(i)ebe deinen Traum

Peer

Von der Traumgeburt zum Geburtstrauma

Peer

Lass uns Wellenreiten gehen

Janni

Kinder an die Macht

Peer

Raus aus der Komfortzone

Peer

Gut zur Welt heißt gut zu dir

Janni

Nachrichten aus einem unbekannten Universum

Janni

Bringt ein Flugzeugabsturz dich nicht um, übernimmt es die Panik

Janni

Neue Väter braucht das Land

Peer

Das Gras auf der anderen Seite

Janni

Ich mag dich mehr als ursprünglich geplant

Janni

Nachwort

Janni & Peer

Danksagung

Bildnachweis

Ab heute happy

Der Onlinekurs

Tafelteil

Zwei Welten treffen aufeinander

Peer

«Und das», sagte ich voller Stolz und machte mit dem Arm eine ausladende Geste, «ist meine Heimat!»

Kreuzberg. Das gallische Dorf der Moderne. Ein Ort, an dem der Traum von Multikulti wirklich gelebt wird. Die größte türkische Gemeinde außerhalb der Türkei, Treffpunkt von Künstlern und Studenten. Das Viertel rund um das Kottbusser Tor gilt als Melting Pot der Kulturen. An jeder Ecke findet man Restaurants und Imbisse aus aller Welt. Auf dem Bergmannkiez reihen sich hippe Cafés und witzige Secondhandläden eng aneinander. Die Wände der Häuser sind mit Graffiti und Street-Art verziert. Und wenn es einem in den bunten alternativen Straßen doch einmal zu trubelig wird, ist man in kürzester Zeit am Landwehrkanal und findet in den Schatten der Bäume eine Oase der Ruhe.

Kreuzberg ist nicht schön, jedenfalls nicht im klassischen Sinn. Der Bezirk hat etwas Zerrissenes, Verletztes, Abgelebtes – aber genau das macht für mich seinen Reiz aus. Dass beispielsweise mein kleines französisches Restaurant in einer wenig einladenden Seitenstraße lag, empfand ich als Kreuzberger als vollkommen normal, ja geradezu charmant. Den Laden, aber natürlich auch den Ort, an dem ich aufgewachsen war, wollte ich Janni nach unserer Rückkehr aus Tahiti, wo wir uns wenige Wochen zuvor erst kennen- und lieben gelernt hatten, natürlich zeigen. Und zwar stilecht am 1. Mai.

Dieser Tag ist für Kreuzberg so etwas wie ein inoffizieller Nationalfeiertag. Während man in anderen Bezirken Berlins bei der Vorstellung die «Mein Haus, mein Auto, mein Boot»-Karte spielt, würde man als echter Kreuzberger vermutlich sagen: «Mein Lieblingsclub, mein Späti, meine erste Demo.»

Wir spazierten gerade an einem Pulk von Menschen vorbei, die den 1. Mai mit einer traditionellen Kampfdemo der Arbeiterbewegung feierten. Ein beachtliches Polizeiaufgebot hatte sich in einiger Entfernung versammelt und beobachtete das bunte Treiben. Für mich ein gewöhnlicher Anblick, vor allem da ich wusste, dass sich die Demo im Laufe des Tages noch in ein riesiges multikulturelles Fest auf dem ganzen Kiez verwandeln würde.

«Ist das nicht toll?», fragte ich Janni, die neben mir lief, und drehte mich zu ihr um.

Sie sah entsetzt aus. Und auch ein bisschen angeekelt. Gerade hatte sie bemerkt, dass sie in einen Kaugummi gelaufen war, der ihr nun unter der Schuhsohle klebte. «Ist auf jeden Fall anders als Fuerteventura», murmelte sie diplomatisch.

«Wir ziehen nachher noch durch die Clubs», versprach ich vollmundig. «Das wird dich umhauen!»

Sie lächelte unsicher und schwieg.

Das bemerkte ich jedoch nur am Rande. Ich war zu diesem Zeitpunkt schwer verliebt in diese Frau und wollte mit meinem Kiez angeben. Deshalb lief ich stolz wie ein Gockel durch die Straßen, grüßte an jeder Straßenecke bekannte Gesichter und stellte meine neue Perle aus der Südsee vor. Dabei fiel mir auf, dass Janni immer stiller wurde. Ich schob es jedoch auf die vielen neuen Eindrücke.

Wir liefen an der McDonalds-Filiale in der Skalitzer Straße vorbei, und ich blieb – ganz der Fremdenführer und stolze Kiezbewohner, als der ich mich fühlte – stehen und begann zu referieren.

«In Kreuzberg wählen wir traditionell die Grünen. Die Bezirksregierung hat immer Wert darauf gelegt, die Individualität des Viertels zu stärken und das kulturelle Erbe Kreuzbergs zu erhalten. Deswegen achten wir darauf, dass Freiflächen nicht einfach an solvente Investoren verkauft werden, die das Gesicht des Kiezes verändern. In Kreuzberg findest du keinen Starbucks und keinen H&M.» Ich nickte in Richtung des Fast-Food-Restaurants, vor dem sich ebenfalls einige Demonstranten versammelt hatten und lauthals skandierten. «Dass die hier eröffnen durften, ist wirklich eine Sauerei.»

Janni machte große Augen. «Ah ja?»

«Klar! Das ist ja der kapitalistische Albtraum und widerspricht allen Prinzipien eines freien, unabhängigen Lebens.» Spätestens jetzt hörte ich mich wie jemand an, der gleich mit einem Pappschild bewaffnet in den Klassenkampf zog.

Janni schwieg. Sie schwieg lange.

Und irgendwie hatte ich das Gefühl, dass unser Kiez-Spaziergang, bei dem ich meine neue Flamme mit meinem schönen Kreuzberg beeindrucken wollte, gerade gehörig in die Hose ging.

Ich wusste, aus welcher Welt Janni kam. Sie war auf einer der Kanarischen Inseln aufgewachsen, immer draußen, immer im Meer, verbunden mit der Natur und den Gezeiten. Und ich schleifte sie nicht nur nach Berlin, sondern gleich nach Kreuzberg. Konnte das gut gehen? Oder würde sie in wenigen Tagen vollkommen konsterniert ihren Koffer packen und mich auf Nimmerwiedersehen verlassen? Würde ich mit ihr gehen? Würde ich für diese umwerfende Frau Berlin, mein Berlin, verlassen? Das dreckige, laute, aufregende Berlin?

Für einen Moment sah ich meine Heimatstadt durch die Augen von Janni. Kreuzberg war zweifelsohne aufregend, aber alles andere als ein idyllischer Ort. Würde sie sich hier jemals wohlfühlen können? Und ich mit ihr?

Janni

In meiner gesamten Kindheit war ich barfuß. Auf Fuerteventura, wo ich aufwuchs, ist es fast das ganze Jahr über warm. Ich war es gewöhnt, ohne Schuhe auf heißem Sand, spitzen Steinen und verwitterten Holzplanken zu laufen. Als ich nach Berlin kam, um Peers Heimat kennenzulernen, besaß ich kein einziges Paar fester Schuhe. Nur ein paar Sandalen und Flipflops befanden sich in meinem Koffer. Nun, auf dem lauten, schmutzigen Bürgersteig irgendwo mitten im Kiez, war ich heilfroh, dass ich zumindest ein paar Zehentreter anhatte – selbst wenn unter der Sohle ein Kaugummi klebte, in den ich gerade reingelaufen war.

Immerhin keine Hundescheiße.

Mein Blick wanderte über den Asphalt. Überall lagen Zigarettenstummel, Scherben und Papierservietten aus dem Dönerladen hinter uns herum. Die Luft war erfüllt von Abgasen und einem Sprachwirrwarr, das ich unmöglich verstehen konnte.

Später, als ich auch die anderen Bezirke Berlins kennenlernte, wurde mir bewusst, dass das weltoffene Kreuzberg tatsächlich so etwas wie eine Fata Morgana in der Wüste ist. Und dass Freiheit hier wirklich der höchste Wert ist. Damals jedoch, als ich zum ersten Mal mit meinen Badelatschen durch die Straßen Kreuzbergs lief und Peer dabei zuhörte, wie er voller Stolz von seiner Heimat sprach, war ich geschockt.

Vor allem die vielen Polizisten, die die Mai-Demonstrationen überwachten, machten mich nervös. Auf Fuerteventura war ich nur selten der Staatsgewalt begegnet, weil auf der Insel der Grundsatz «Leben und leben lassen» gilt. Außerdem hatte ich die letzten Wochen auf einem wunderschönen Eiland in der Südsee verbracht – vollkommen abgeschnitten von allem Künstlichen, das der Mensch so erschaffen hat, noch dazu splitterfasernackt.

Und nun befand ich mich in einer Welt, die auf mich wie ein fauler Apfel wirkte. Alles war irgendwie ungesund. Die Straßen waren von Autos verstopft, deren Fahrer sich um die wenigen Parkplätze stritten. Die Menschen schauten wie Zombies entweder auf das Display ihrer Handys, während sie über die Bürgersteige eilten, oder stritten sich lautstark mitten auf der Straße. Und dann auch noch die Sache mit dem Fast-Food-Restaurant.

Auf Fuerteventura hatten wir im Glück geschwebt, als wir eines Tages erfuhren, dass aus einer stillgelegten Autowaschstraße ein Burger-Imbiss werden sollte. Für uns war das ein sicheres Zeichen, dass wir Anschluss an den Rest der Welt bekamen und dazugehörten. Gerade hatte Peer gesagt: «So ein Laden ist der kapitalistische Albtraum und widerspricht allen Prinzipien eines freien, unabhängigen Lebens.»

Ich dachte nach, doch ich kam einfach nicht drauf. Was hatte eine Fast-Food-Kette mit Freiheit und Unabhängigkeit zu tun? In einer Umgebung, in der so gut wie nichts frei und unabhängig, sondern reglementiert und festbetoniert war?

Es sollte einige Monate dauern, bis ich verstand, was Peer meinte. Seine Welt, sein Kreuzberg, ist wie ein Ast, der zwar zu einem Baum gehört, aber in eine andere Richtung wächst als die anderen Äste. Kreuzberg ist unangepasst und gibt sich keine Mühe zu gefallen. Deshalb ist es für jemanden, der mit Sand zwischen den Zehen und dem Atlantikwind im Haar aufgewachsen ist, erst einmal ein regelrechter Kulturschock. Wenn man sich aber, wie ich es tat, auf das Experiment einließ, entdeckte man die Schönheit des Kiezes. Peer und ich hatten uns vorgenommen, einander unsere Welten zu zeigen. Was gibt es Schöneres und Spannenderes, wenn man die Liebe seines Lebens trifft?

Also lernte ich Peers Kreuzberg kennen. Eine Welt, in der die Leute miteinander auf der Straße redeten, obwohl sie sich nicht kannten. Eine Welt der Offenheit und Freundlichkeit, in der man dem Leben mit Humor begegnete. Ich lernte diese Welt lieben, auch wenn sie alles andere als perfekt war – beinahe wie der Oldtimer, den mir Peer an meinem ersten Geburtstag in Berlin schenkte: ein rostiger R4, der mit riesiger, umgebundener Schleife einfach im Garten stand.

Im Sommer, einige Monate nach unserem Kennenlernen, war ich mit einer Gruppe anderer Surfer für ein Fotoshooting auf den Malediven, Peer blieb in Berlin. Das war ein ziemlicher Test für unsere junge Beziehung. Während er die meisten Nächte, in denen er nicht arbeitete, in Bars verbrachte und mir Fotos von seinen Cocktails schickte, befand ich mich zur selben Zeit irgendwo im Indischen Ozean, umgeben von Delfinen, Palmen und Kokosnüssen. Ich hatte viel Zeit, um darüber nachzudenken, ob das alles wirklich zusammenpasste – auch aufgrund der Unterschiede zwischen uns. Ich stellte fest, dass es mir guttat, mal nicht von so vielen Menschen umgeben zu sein, nicht in der Stadt zu sein, wo der Lärm niemals nachließ. Trotzdem fehlte mir der Trubel. Ja, mir fehlte Kreuzberg! Ich begriff, dass es nicht nur die eine Welt gibt, aus der wir kommen und in der wir uns wohlfühlen, sondern dass sie aus unzähligen unterschiedlichen Orten besteht, die alle ihren Reiz haben. Genau das macht doch ihre Schönheit aus: dass sie bunt und herausfordernd ist, ständig im Wandel und niemals dieselbe. Auf dieser Welt leben so viele unterschiedliche Menschen, die in ihrer Essenz jedoch alle gleich sind.

Und wenn zwei dieser Menschen aus Winkeln des Planeten kommen, die auf den ersten Blick nicht zueinanderpassen, so ist es die Liebe dieser beiden Menschen, die die Welten miteinander vereint.

Bedürfnisse

Wenn wir unsere Bedürfnisse nicht ernst nehmen, tun es andere auch nicht.

Marshall B. Rosenberg

Jeder Mensch hat individuelle Bedürfnisse, die man sich wie Gläser vorstellen kann. Manche Gläser sind Grundbedürfnisse und bei allen Menschen gleich, andere sind wiederum sehr unterschiedlich. Die Bedürfnis-Gläser sind mal mehr und mal weniger gut gefüllt. Je mehr Gläser leer sind, desto unzufriedener geht man durchs Leben. Für eine Grundausgeglichenheit sollten die Bedürfnisse Schlaf, Durst und Hunger gestillt sein, aber auch deine wichtigsten individuellen Bedürfnisse dürfen nicht zu kurz kommen. Dafür musst du sie jedoch kennen und benennen.

Übung

Ordne folgende Bedürfnisse nach deiner persönlichen Wichtigkeit, um deine Wünsche zu verstehen und zukünftig besser dafür zu sorgen, dass deine Bedürfnis-Gläser ausreichend gefüllt sind:

Auf der Seite des Lebens

Janni

«Du darfst ruhig weinen, Janni», sagte mein Vater unter Tränen am Grab meines Bruders.

Er war meine andere Hälfte gewesen. Mein kleiner Bruder mit dem blonden Engelshaar. Unter dem Tisch hatten wir aus Decken eine Höhle gebaut; als er wieder hochkam, stieß er sich den Kopf. An diesem Tag fing alles an. Es war der letzte Tag, an dem es Dennis gut ging. Denn die Kante des Tischs traf seinen bis dato unerkannten Hirntumor. Nur durch das Anstoßen wurden wir darauf aufmerksam, dass mit Dennis etwas nicht stimmte.

Und jetzt war er nicht mehr da.

Am Tag seiner Beerdigung war ich sieben Jahre alt. Ich stand an seinem Grab, in der Hand hielt ich eine Sonnenblume. Ich vergoss keine einzige Träne, auch wenn ich es versuchte, weil ich dachte, es gehört sich so. Immerhin war ich die Einzige, die nicht weinte.

Ich weiß nicht, ob es daran lag, dass sich der Prozess seines Sterbens hingezogen und ich somit Zeit gehabt hatte, Dennis’ Tod zu verarbeiten. Oder ob ich es einfach akzeptiert hatte, weil Kinder mit dem Tod anders umgehen. Ich weiß nicht, ob ich meine Trauer anders ausdrückte oder ob ich unter Schock stand. Doch ich fühlte mich in dem Moment nicht als Teil dessen, was gerade passierte, sondern wie eine Beobachterin der Situation. So als gehörte ich nicht dazu.

 

«Es ist, wie es ist», sagte ich nach einigen Wochen zu meiner Mutter, als sie mich fragte, wie es mir nach Dennis’ Tod gehe.

Später verriet sie mir, dass ihr dieser Satz sehr geholfen habe. So kurz, simpel und unbeeindruckt, wie er war. Trotzdem drückte er alles aus: eine Tatsache, die man nicht ändern kann. Alles andere sind wir, unsere Gefühle, unser Schmerz. Trümmer in unseren Händen.

Ich habe manchmal das Gefühl, dass Kinder besser mit dem Tod umgehen können als Erwachsene, weil sie nicht festhalten, sondern beobachten. Die Leere wahrnehmen, die eine geliebte Person hinterlassen hat. Und lernen, mit dieser Leere zu leben. Sie nicht zu verdrängen, sondern stehen zu lassen.

Es ist, wie es ist.

Fast schlimmer als der Tod meines Bruders waren die Folgen, die daraus entstanden. Es fiel mir schwer, den Schmerz meiner Familie zu sehen, die Trauer zu ertragen, die Krankheiten zu verstehen, die aus dem Ereignis resultierten. Dies alles hatte nichts mehr mit Dennis zu tun, sondern mit der Leere, die er hinterließ, und unserem Umgang damit.

Ein paar Wochen nach Dennis’ Beerdigung fuhren wir mit dem Boot raus aufs Meer vor Fuerteventura, um uns noch einmal von ihm zu verabschieden. Wir kippten einen Teil seiner Asche aus der kleinen Holzbox, die meine Schwester bemalt hatte, ins Meer. Es war ein schlimmer Tag, der von dem schweren Gefühl der Trauer bestimmt wurde. Meine Familie hielt sich im Arm, genau wie an seinem Grab, alle hatten rote, müde Augen vom Weinen.

Doch so erdrückend der Moment auch war, so befreiend nahm ich die Anwesenheit des Wassers wahr. Es war so blau, so magisch, so geheimnisvoll. Dieser Augenblick, als wir auf dem Meer meinen Bruder ein letztes Mal verabschiedeten, hinterließ einen gewaltigen Eindruck in meinem Gedächtnis. Wenn ich später aufs tiefblaue Meer sah, musste ich oft an diesen Tag und an Dennis denken, egal an welchem Ort auf der Welt ich mich aufhielt. Auch in Indonesien, als ich eines Morgens verkatert aufwachte, während alle noch schliefen, und allein aufs Meer hinauspaddelte. Irgendwo im Nirgendwo. Urplötzlich fühlte ich mich mit meinem Bruder und seiner Energie verbunden. Als ich später am Abend auf den Kalender schaute, wusste ich, warum. Es war der 13. April. Sein Geburtstag.

 

In meinem Leben bin ich dem Tod nicht nur einmal begegnet. Denn da, wo das Leben ist, ist immer auch der Tod. Beides ist Energie. Verbunden mit allem, sind unsere Körper ein Ausdruck des Universums, dessen Teil wir sind. Unsere Essenz und unser Dasein sind und bleiben Energie.

Viele Jahre nach Dennis’ Tod ging ein anderer, mit dem ich mich sehr verbunden fühlte, ebenfalls vor seiner Zeit. David wurde auf den Kanaren «El Fula» genannt und war eines meiner größten Surfidole. Ich erinnere mich daran, dass ich am Abend des 1. Januar von seinem Tod erfuhr. Ich war damals achtzehn. «Wir werden dich schrecklich vermissen, ruhe in Frieden!», schrieb einer meiner Freunde und veröffentlichte in den sozialen Medien ein Foto von ihm auf einer großen Welle. David trug auf dem Foto die für ihn typischen Shorts, war braun gebrannt und hatte lange Haare.

Sein Tod wurde in der Surfszene mit allen möglichen Feiern und Versammlungen auf dem Wasser und an Land zelebriert, ein Surfwettkampf wurde nach ihm benannt und ein Festival organisiert, zu dem die weltbesten Surfer von allen Kontinenten anreisten.

David wurde mit Anfang dreißig aus dem Leben gerissen. Er stürzte beim Surfen, stieß mit dem Kopf gegen das Riff und ertrank. Ein paar Tage vorher hatten wir noch telefoniert, und er hatte mir erzählt, dass er vorhabe, an diesem bestimmten Ort zu surfen, der später sein Verhängnis wurde. Die Vorhersage sei gut.

Sein Tod schlug hohe Wellen, denn er war ein Idol für viele Menschen gewesen. Sein Lebensmotto war: «Pura Vida!» Pures Leben. Er hatte mir einst den Spitznamen «Sirena», die Meerjungfrau, gegeben. Nach seinem Tod ließ ich mir «Pura Vida» und eine Nixe auf meine Schulter tätowieren.

Jahre später wurde ich von einer Modemarke für ein Unterwasser-Shooting gebucht und bekam eine Meerjungfrauen-Flosse. Von diesem Moment an war die Flosse bei jeder meiner Reisen dabei. Durch sie fand ich den Zugang zur Tiefe des Meeres – jenes Meer, das mich in seiner Unergründlichkeit immer auch an meinen Bruder erinnerte. Jenes Meer, auf dem ich endgültig Abschied von ihm genommen hatte. Jenes Meer, das David das Leben kostete. Vielleicht ist das Meer ein Zugang zum Tod, zur Energie, die auf der Erde zirkuliert und uns auch dann weiter begleitet, wenn geliebte Menschen und irgendwann auch wir selbst für immer gehen.

 

Als meine Großeltern starben, lernte ich den Tod von einer anderen Seite kennen. Sie verließen diese Welt friedlich. So, wie wenn man in einem Restaurant eine Rechnung begleicht, nachdem man festlich und ausgiebig gespeist hat. Hat man es genossen, geht man in Frieden. Hat es einem nicht geschmeckt, wird es teurer als erwartet. Und sind Posten auf der Rechnung unklar, hat man Schwierigkeiten zu gehen.

Für mich war es eine unglaublich inspirierende Erfahrung zu sehen, wie sich noch einmal alles verändert, wenn man im Sterben liegt. Gibt es noch unerfüllte Wünsche oder Träume? Offene Konflikte mit Menschen oder Frieden mit allem? Leichtigkeit oder Schwere? Welche Energie und Erinnerungen bleiben bei den Menschen, mit denen man gelebt hat? Es ist der Moment der Wahrheit, in dem manche denken, dass die Welt ein schlimmer Ort ist, vor dem sie andere bewahren möchten; oder sie haben die pure Schönheit des Lebens erkannt und gehen dankbar.

Ich habe den Tod in unterschiedlichen Formen gesehen, und ich bin ihm in vielen Momenten begegnet. Wenn jemand früh stirbt, in der Mitte seines Lebens und am Ende. Denn der Tod ist genauso vielfältig wie das Leben selbst.

Ich habe die Erfahrung gemacht, dass diejenigen, die offen und ausgiebig leben, weniger Angst vor dem Tod haben. Sie lernen, mit ihm zu leben.

Es ist, wie es ist.

Wem es gelingt, dem Schicksal ein Stück weit zu vertrauen und daran zu glauben, dass alles kommen wird, wie es soll, der wird es auch schaffen, im Hier und Jetzt entspannter zu werden und sich auf die Seite zu besinnen, auf der wir uns gerade befinden: auf der des Lebens.

Akzeptanz

Das Geschehene zu akzeptieren, ist der erste Schritt zur Überwindung eines Unglücks.

William James

Es gibt Dinge im Leben, die kannst du nicht ändern. Dass es an deinem Hochzeitstag regnet. Dass dir der Bus vor der Nase wegfährt. Dass du in einen Hundehaufen trittst. Oder selbst: dass jemand stirbt, den du liebst. Diese Dinge passieren, selbst wenn du es nicht wahrhaben willst. Und sie lösen Gefühle in dir aus. Diese Gefühle, etwa Trauer, Wut, Verzweiflung oder Angst, zu akzeptieren, ist ein wichtiger Weg in der Bewusstwerdung. Akzeptanz bedeutet, das anzunehmen, was ist. Das können alltägliche Kleinigkeiten oder elementare Schicksalsschläge sein. Hör auf, nach dem Warum zu fragen – du wirst keine Antwort bekommen. Entscheide dich vielmehr dafür, all das zu empfinden, was du eben empfindest. Gib auch den negativen Gefühlen Raum und erlebe sie bewusst. So kannst du mit jeder Wendung deines Lebens umgehen.

Übung

Jeden Tag erlebst du Situationen, die du nicht ändern kannst. Normalerweise würdest du dich über diese Situationen vielleicht ärgern. Übe in den kommenden Tagen bei mindestens drei solcher Situationen, dein «normales» Reaktionsmuster zu durchbrechen, und sage dir stattdessen: «Das ist jetzt so. Ich kann es nicht ändern.»

Spüre in diesen Momenten in dich hinein. Wie fühlt sich die Akzeptanz an? Hinterlässt sie ein besseres Gefühl in dir als die Wut, die Trauer oder die Enttäuschung?

Die zweite Pubertät

Peer

Die Pubertät ist eine Phase, auf die sich kaum ein Elternteil wirklich freut. Man weiß schließlich (auch aus eigener Erfahrung), dass es schwierig wird, wenn die Kinder zum ersten Mal die Werte des Elternhauses infrage stellen. Nicht immer tun sie dies, um zu rebellieren. Sie bereiten sich vielmehr auf ein Leben nach ihrem eigenen Modell und ihren eigenen Ansichten vor. Sie hinterfragen, was als gesetzt gilt, und das führt naturgemäß in Familien oft zu Reibung. Die gute Nachricht lautet: Auch die Pubertät ist eines Tages vorbei. Von dem süßen kleinen Sohnemann oder der entzückenden kleinen Tochter ist dann vielleicht nicht mehr viel übrig, dafür ist ein gestärkter, selbstbewusster Erwachsener daraus hervorgegangen, der in dieser Welt seinen Platz finden wird.

Ich hatte das große Glück, dass ich als Sommergeburtstagskind ein Jahr früher als die meisten anderen eingeschult wurde. Mit 17 hatte ich mein Abitur in der Tasche, und beinahe zeitgleich sah ich mich mit der Frage konfrontiert, was für einen ordentlichen Beruf ich denn ergreifen wolle. Allerdings steckte ich in dem Alter noch mitten in der Pubertät und hatte keine Ahnung, was ich einmal werden wollte. Zudem war ich gerade gegen ziemlich vieles, beispielsweise auch gegen Werte, die mir in der Kindheit vermittelt worden waren. Wie etwa: Ohne Fleiß kein Preis.

Schon zu Schulzeiten war ich nicht der motivierteste Schüler. Ich hielt es eher wie der Saisonarbeiter im Zirkus oder in der Gastronomie: Eine Zeit lang investierte ich relativ viel, danach genoss ich lange Ruhephasen. Das hatte sich derart für mich bewährt, dass ich beschloss, mir erst einmal die Welt anzuschauen und dann zu überlegen, womit ich eines Tages mein Geld verdienen wollte. Meine Eltern deklarierten wie alle anderen Eltern auch ihre Lebenserfahrung als Maß aller Dinge. Sie versuchten, diese auf ihre Kinder zu übertragen – im besten Wissen und Gewissen natürlich, denn was für sie funktioniert hatte, konnte ja nicht schlecht sein. Leider vergaßen sie dabei, dass Kinder von Natur aus neugierig sind und ihre eigenen Erfahrungen machen wollen.

Meine Eltern waren vor Jahren aus Kreuzberg an den Stadtrand gezogen, um uns ein Leben in der Natur zu ermöglichen. Trotzdem hatte ich den Drang nach urbanem Leben, nach dreckigen Innenstädten und den Geheimnissen der Subkultur. Statt aufs Land führte mich meine Reise erst direkt in die Berliner Innenstadt, später nach Marseille und nach Los Angeles.

Ich absolvierte eine Schauspielausbildung und fand mich Jahre später und über Umwege in Berlin wieder, am Set der RTL-Serie «Gute Zeiten, schlechte Zeiten». Der Job machte wahnsinnig viel Spaß, auch wenn er mit dem, was ich auf der Schauspielschule gelernt hatte, so ziemlich nichts zu tun hatte – und das war gut für mich. Wenn man Schüler auf einer renommierten Schule ist und die meiste Zeit des Tages Klassiker auf der Bühne rezitiert, geht man als Grünschnabel davon aus, dass man sein Leben lang nur noch Figuren aus Shakespeare, Ibsen oder Goethe spielen wird. Mich frustrierte das eher, weil ich mit «Effi Briest», «Romeo und Julia» oder «Warten auf Godot» nur bedingt etwas anfangen konnte.

Umso wohler fühlte ich mich in der Serienwelt. Ich hatte einen festen Vertrag, der meine Eltern glauben ließ, dass ich bis zur Rente nun bei GZSZ mitspielen würde. Dabei beängstigte mich der Gedanke zutiefst, irgendetwas von jenem Zeitpunkt bis zur Rente machen zu müssen. Die Generation meiner Eltern hingegen setzt vor allem auf Sicherheit, die sie aus meiner Sicht hingegen ziemlich einschränkt. Ich erinnere mich noch genau daran, wie entsetzt mein Vater war, als ich ihm irgendwann erzählte, dass ich bei GZSZ aussteigen würde.

«Das ist doch aber ein super Job!», meinte er.

Und ich entgegnete: «Stimmt, aber ich will mal etwas anderes machen.»

«Und was?»

«Das weiß ich noch nicht», antwortete ich ruhig.

«Schuster, bleib bei deinen Leisten!» Mein Vater war wirklich erschüttert.

Ich dachte lange über seine Redewendung nach. In ihr versteckt sich ein Glaubenssatz – ich hörte nicht nur «Geh kein Risiko ein!», sondern auch: «Hinterfrage dich nicht. Probiere nichts Neues aus.»

Obwohl ich bereits Ende zwanzig war, hatte ich das Gefühl, noch einmal in die Pubertät geschlittert zu sein und mich ein zweites Mal mit den Lebensvorstellungen meiner Eltern auseinandersetzen zu müssen. Hatte ich solche Glaubenssätze nicht längst hinter mir gelassen? Warum beschäftigte ich mich überhaupt mit der Aussage meines Vaters? Wieso konnte ich nicht einfach sagen: Danke für deine Meinung, aber ich teile sie nicht?

Mir dämmerte, dass diese normativen Aussagen sehr starke Instrumente sind, deren Wirkung nicht einfach so nachlässt, weil man etwas gründlich durchdacht hat. Sie sind vielmehr wie ein Navigationssystem im Gehirn, das kein Update bekommt und dich deshalb immer wieder denselben Weg nehmen lässt, selbst wenn es längst Abkürzungen oder Umgehungsstraßen gibt. Immer dann, wenn ich im Leben mit einer bestimmten Situation konfrontiert werde, spult mein Hirn die alten Muster ab, ohne sie zu hinterfragen.

Ich entschied mich dafür, den Glaubenssatz meines Vaters nicht zu übernehmen und in den kommenden Jahren alles mögliche Neue auszuprobieren – vielleicht auch als Ausdruck einer nachträglichen Trotzphase, als wollte ich mir und aller Welt beweisen: «Der Schuster darf auch andere Leisten ausprobieren!» Ich wurde Moderator, Gastronom und Lebenskünstler, reiste um die Welt und machte jede Menge Erfahrungen, die mir vorenthalten geblieben wären, hätte ich «bis zur Rente» in der Serie weitergespielt. Dabei enttäuschte ich in gewisser Hinsicht auch meine Eltern, denn ich missachtete ihre tiefe Überzeugung, dass man besser keine großen Risiken eingeht, sondern sich selbst und seinem einmal gewählten Beruf treu bleibt. Damit ignorierte ich auch ihren Rat und ihre Lebensweisheit.

 

Ich bin heute, viele Jahre später, selbst Vater von drei wunderbaren Kindern, der tiefen Überzeugung, dass ein glückliches und erfülltes Leben nur dann möglich ist, wenn ich mich immer wieder selbst hinterfrage. Das Leben verändert sich, die Welt verändert sich, ob wir es wollen oder nicht, und damit verändern sich auch die Umstände, mit denen wir uns irgendwie arrangieren. Wir müssen uns anpassen, uns neu justieren, innehalten und reflektieren, ob der Weg, den wir gewählt haben, noch der richtige ist. Ob wir mit der richtigen Geschwindigkeit im richtigen Untersatz unterwegs sind. Ob wir das Ziel neu anvisieren müssen – oder den Treibstoff nachfüllen. Natürlich ist es legitim, in einem kleinen Auto bis ans Ende seines Lebens einer schnurgeraden Straße zu folgen. Keine Abzweigungen zu nehmen. In keiner interessanten Landschaft anzuhalten. Keine Pause zu machen. Sich nicht zu fragen, wo man eigentlich herkommt, wo man hinwill und ob es verdammt noch mal nur diesen einen Sender im Radio gibt. Alles vollkommen in Ordnung. Aber macht es auch glücklich?

In der Pubertät rebelliert man gegen seine Eltern, die jeder vermeintlich neuen Idee ziemlich viele logische, weil durch eigene Erfahrung verifizierte Argumente entgegensetzen. Das führt dazu, dass man sich nach einer kurzen Zeit der Revolte oft wieder in das bestehende System einfügt und sich eines Tages auf dem vorgegebenen Weg wiederfindet. Ist ja auch einfacher, wenn man den festgetrampelten Pfaden nur folgt, anstatt sich ständig durchs Unbekannte zu schlagen. Ich stelle mir das wie einen eingeschneiten Weihnachtsmarkt aus der Vogelperspektive vor. Die eigenen Eltern sind schon hundertmal die Wege entlanggegangen, erst zum Glühweinstand, dann zum Büdchen mit den gebrannten Mandeln, dann zu den Schnitzereien aus dem Erzgebirge, und du bist immer mitgegangen, immer wieder denselben Weg. Wirst du je erfahren, was es bei den anderen Ständen zu kaufen gibt? Nein. Aus den ersten Fußstapfen wird erst ein Pfad, dann ein Weg und irgendwann eine Straße, über die niemand mehr nachdenkt. Man macht die Dinge eben so, wie man sie macht, wie alle sie machen. Beispielsweise: einen Beruf wählen und ihn behalten (egal, ob er Freude bereitet oder nicht). Einen Partner finden, heiraten und für immer zusammenbleiben (egal, ob die Ehe erfüllt ist oder nicht). Zum Schnitzel Pommes essen und keine Pfannkuchen.

Je häufiger man auf diesen ausgetretenen Pfaden wandert, ohne sie zu hinterfragen, desto schwerer fällt es aber, an irgendeinem Punkt des Lebens etwas zu verändern. Auf eine neue Art zu reagieren, eine unkonventionelle Entscheidung zu treffen, flexible und kreative Lösungen zu finden. Für ein freies und erfülltes Leben sind das jedoch Grundvoraussetzungen.