Der Russe ist einer, der Birken liebt - Olga Grjasnowa - E-Book + Hörbuch

Der Russe ist einer, der Birken liebt E-Book und Hörbuch

Olga Grjasnowa

4,5

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Beschreibung

Mascha ist jung und eigenwillig, sie ist Aserbaidschanerin, Jüdin, und wenn nötig auch Türkin und Französin. Als Immigrantin musste sie in Deutschland früh die Erfahrung der Sprachlosigkeit machen. Nun spricht sie fünf Sprachen fließend und ein paar weitere so "wie die Ballermann-Touristen Deutsch". Sie plant gerade ihre Karriere bei der UNO, als ihr Freund Elias schwer krank wird. Verzweifelt flieht sie nach Israel und wird schließlich von ihrer eigenen Vergangenheit eingeholt. Mit perfekter Ausgewogenheit von Tragik und Komik und mit einem bemerkenswerten Sinn für das Wesentliche erzählt Olga Grjasnowa die Geschichte einer Generation, die keine Grenzen kennt, aber auch keine Heimat hat.

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Seitenzahl: 290

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Zeit:6 Std. 18 min

Sprecher:Julia Nachtmann
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Hanser eBook

Olga Grjasnowa

Der Russe ist einer,der Birken liebt

Roman

Carl Hanser Verlag

Die Autorin bedankt sich bei der Robert Bosch Stiftung in Stuttgart für das Grenzgänger-Stipendium 2011.

ISBN 978-3-446-23921-0

© Carl Hanser Verlag München 2012

Alle Rechte vorbehalten

Datenkonvertierung eBook: le-tex publishing services GmbH, Leipzig

Unser gesamtes lieferbares Programmund viele andere Informationen finden Sie unter:www.hanser-literaturverlage.de

Werschinin: Wie können Sie nur! Hier ist ein gesundes, slawisches Klima. Wald und Fluss … und dann gibt es auch Birken. Die lieben, bescheidenen Birken, ich liebe sie mehr als sonst alle Bäume. Gut ist es, hier zu leben. Seltsam bloß, dass der Bahnhof zwanzig Werst vor der Stadt liegt … Und keiner weiß, warum das so ist.

Anton Tschechow

Drei Schwestern

Erster Teil

I.

Ich wollte nicht, dass dieser Tag begann. Ich wollte liegen bleiben und weiterschlafen, aber durch die weit geöffneten Fenster drangen in unser Schlafzimmer das Lachen der Gemüseverkäufer und das Rattern der Straßenbahn. Unsere Wohnung lag nicht weit entfernt vom Hauptbahnhof, was vor allem bedeutete, dass es in unserem Stadtteil ganze Straßenzüge gab, die man besser mied, mit Billigkaufhäusern und riesigen Pornokinos. Hier, zwischen einer chinesischen Wäscherei und einem alternativen Jugendzentrum, dessen Besucher regelmäßig in unserem Hauseingang urinierten, lebten wir. Unsere Wohnung war heruntergekommen und baufällig, aber sie war günstig. Jeden Morgen, gegen fünf, luden die Väter, Brüder und Cousins unter unseren Fenstern ihre Kleintransporter aus, knallten mit den Türen, bauten ihre Stände auf, tranken Tee, kochten Maiskolben und warteten, dass die Straße sich füllte und sie mit ihrem automatisiertem Singsang ihr Obst anpreisen konnten. Ich bemühte mich, ihren Gesprächen zu folgen, doch meistens schnappte ich nur Fetzen auf oder schlief wieder ein.

Elias lag neben mir: unruhig, die Lippen leicht geöffnet, schnelle Bewegungen der Lider, unregelmäßiges Heben und Senken des Bauches. »Abgewichste Bullenschwuchtel, ich bring dich um!«, schrie unter unserem Balkon ein Betrunkener. Die Obstverkäufer lachten ihn aus und spuckten Sonnenblumenkerne auf die Straße.

Elias wurde wach, drehte sich zu mir und legte seinen Kopf auf meinen Bauch, ohne seine Augen geöffnet zu haben. Seine Hände folgten meinen. Wir blieben ineinander verhakt liegen, bis ein fremder Wecker hinter der Wand summte und meine Hand unter seinem Gewicht taub zu werden begann. Als ich sie nicht mehr spürte, stand ich auf und ging duschen.

Die Küche war überfüllt von gestern, auf dem Herd standen Töpfe und Pfannen mit verkrusteten Rändern, Teller und halbvolle Weingläser stapelten sich auf der Arbeitsfläche. Die Luft roch nach Abgasen und klebte auf der Haut wie Sirup. Es sollte der heißeste Tag des Jahres werden.

Elias saß am Küchentisch, in der rechten Hand ein Esslöffel Müsli, Krümel auf dem Teller vor ihm und eine helle Brötchenhälfte unter dunkelroter Marmeladenhaube. Ich setzte mich ihm gegenüber, griff nach der Zeitung und betrachtete sein Gesicht, statt zu lesen. Er hatte hohe Wangenknochen, blaugraue Augen und dunkle Wimpern, die ein Stückchen zu kurz geraten waren. Elias war bübchenhübsch. Seine Schönheit ärgerte ihn, er würde den Leuten nicht als Person im Gedächtnis bleiben, sondern als jemand, der einem Schauspieler ähnelte, dessen Name einem gerade entfallen war. Doch es war nicht seine Schönheit, sondern seine intuitive Höflichkeit, die so wirkungsvoll war: bei ungeduldigen Verkäuferinnen, die plötzlich nicht mehr auf die Uhr sahen, kichernden Schulmädchen, Arzthelferinnen, Bibliothekarinnen und mir. Vor allem bei mir. Hochstaplerzüge, sagte meine Mutter. Doch sie liebte ihn gerade wegen dieser Züge und weil Elias aus irgendeinem Grund wusste, was sich in einer orientalischen Familie gehört.

Er goss sich Kaffee ins Müsli. Das Weiß löste sich im Braun auf, auf der Oberfläche schwammen Rosinen. Auf dem Küchentisch, unter der Zeitung, lag ein aufgeschlagenes Kochbuch, aus dem mich ein Fischkopf fragend anstarrte. Ich klappte das Buch zu.

»Du bist Vegetarier! Schon vergessen?«, sagte ich scherzend.

»Immerhin schau ich hin, bevor ich was in den Ofen schiebe«, antwortete er gereizt.

Er spielte auf den gestrigen Abend an: Ich hatte versucht, eine Quiche zu machen, weil ich das Wort Quiche für meinen Sprachgebrauch anprobieren wollte. Als wäre ich eine französische Schauspielerin, die eine französische Hausfrau spielte, die ihren französischen Liebhaber erwartet, der als Invalide aus dem Krieg zurückkehrt, und die für ihn eine Quiche bäckt und nicht weiß, welches seiner Gliedmaßen er verloren hat. Quiche lag gut auf meiner Zunge, und ich mochte ihr grammatikalisches Geschlecht. Ich hatte tiefgefrorenen Mürbeteig gekauft, der sich später als ein süßer Mürbeteig entlarvt hatte, und die Quiche war ungenießbar. In Frankreich war dieser Teig weder süß noch salzig. Elias hat meine Quiche trotzdem gegessen, obwohl ich nicht auf dieser Höflichkeit bestanden hatte, aber er litt noch immer unter seiner Erziehung. Jedes Mal, wenn er einen Bissen genommen hatte, spülte er ihn sofort mit Wasser hinunter.

»Hast du meine Knieschoner gesehen?«, fragte Elias, während ich den Kühlschrank auf der Suche nach der Quiche durchwühlte.

»Hast du das Abendessen gesehen?«, fragte ich.

»Ich hab’s eingefroren.«

»Was?«

»Ich dachte nicht, dass du es noch essen würdest.«

»Dass du auch immer den mitfühlenden Deutschen geben musst«, sagte ich, woraufhin Elias grinste, mir die Milch und das Müsli zuschob und für mich eine Schüssel aus dem Regal holte. Ich setzte mich hin und ordnete meine Lernsachen – Notizblöcke, Vokabellisten, Karteikarten und Wörterbücher, die ich von A bis Z auswendig lernte – auf einen Stapel. Als Elias wieder am Tisch war, küsste er sanft meinen Haaransatz und wiederholte: »Hast du meine Knieschoner gesehen?«

»Ich hab’s dir doch schon gesagt.«

»Aber du verlegst immer alles.«

»Keine Ahnung, wo die stecken«, sagte ich.

Er räumte das Geschirr vorsichtig in die Spüle und passte auf, dass die Teller sich nicht berührten.

»Seit wann spielst du eigentlich Fußball? Und mit wem?«, fragte ich.

»Ich habe schon früher gespielt.«

»Du wirst dir bestimmt irgendwas brechen.«

»Brauche ich einen Migrationshintergrund, um Fußball zu spielen?«, fragte er und schaute mir direkt in die Augen.

»Benutzt du wieder dieses Wort?« Ich versuchte möglichst ironisch zu klingen, aber es gelang mir nicht. Immer wenn ich dieses Wort las oder hörte, spürte ich, wie mir die Gallenflüssigkeit hochkam. Schlimmer wurde es lediglich beim Adjektiv postmigrantisch. Vor allem hasste ich die damit zusammenhängenden Diskussionen, nicht nur in der Öffentlichkeit, sondern auch zwischen mir und Elias. In diesen Gesprächen wurde nie etwas Neues gesagt, aber der Ton war belehrend und vehement. Einer von uns provozierte Widerspruch, dann verstrickten wir uns beide in Behauptungen und Zurechtweisungen. Elias warf mir Verschlossenheit und ich ihm Eindringlichkeit vor, an diesem Punkt ging er meist vom Allgemeinen auf das Spezifische über.

Elias sah beleidigt aus, also ging ich auf ihn zu, er legte seine Hände an meine Hüften. An seinem Kinn hing ein einzelnes, dunkelblondes Haar. Ich nahm es weg. Er legte seinen Kopf auf meine Schulter, ich küsste seinen Hals, schob mein rechtes Knie zwischen seine Beine und knöpfte mein Sommerkleid ein wenig auf, aber Elias schüttelte den Kopf und flüsterte in mein Ohr: »Ich bin spät dran.«

Ich schlug mit der flachen Hand auf die Arbeitsfläche, Elias sah mich vorwurfsvoll an und sagte: »War nicht so gemeint.«

»Meine Oma sagte, man muss immer einen frischen Schlüpfer dabeihaben.«

»Wieso?«

»Falls was passiert.«

»Du spinnst. Ich muss jetzt los.«

Als Elias ging, begleitete ich ihn bis zum Treppenabsatz und beobachtete, wie er die Treppen hinunterrannte. Oft nahm er zwei Stufen auf einmal, manchmal auch drei. Er ging nie, er lief und sprang. Ich setzte mir einen Kaffee auf und fing an zu lernen.

II.

Am Informationsschalter saß eine Krankenschwester, die trotz der Hitze einen langen Pullover trug. Ihre Blässe exponierte ihr flammenfarbenes Haar, das im Nacken streng zu einem Dutt zusammengebunden war. Sie lächelte süßsauer und meinte, ich solle mir keine unnötigen Sorgen machen und von weiteren Nachfragen absehen. Ich war den ganzen Weg zum Krankenhaus gerannt, so dass ich nun schweißgebadet und mit rotem Kopf vor ihr stand und keine Luft bekam. Elias wurde operiert.

Ich setzte mich in den Warteraum. Im Hintergrund lief das Radio. Ich übersetzte die Nachrichten simultan ins Englische, die Werbung ins Französische. In Kabul hatte es eine Explosion gegeben, in Gaza fielen Schüsse und in Portugal brannten die Wälder. Die Kanzlerin machte Staatsbesuch. Ich blätterte in einer veralteten Vogue und verwartete die Mode. Handtaschen. Schmuck. Lidschatten. Was auch immer. Ich las über die Trends des letzten November, Pelze und florale Muster. Dann riss ich die erste Seite aus, faltete sie zusammen und steckte sie in meine Tasche. Ich riss die Seite drei aus, faltete sie zusammen und steckte sie in meine Tasche. Auch Seite fünf riss ich aus, faltete sie zusammen und steckte sie in meine Tasche. Für Seite hundertsieben gab es keinen Platz mehr in meiner Tasche.

Ein Arzt kam lächelnd auf mich zu. Er war groß und hatte ein breites Kreuz, seine Haare waren akkurat nach hinten gekämmt. Zur Begrüßung legte er meine Hand in seine, wobei er sie einen Augenblick zu lange festhielt. Seine Augen waren braun und wach. Der Geruch von Desinfektionsmittel, Fäulnis und alten Menschen schlug mir entgegen. Ich schnappte nach Luft. Der Arzt wiederum legte seine Hand auf meinen Arm, die Aufdringlichkeit dieser Geste erstaunte mich. Er sagte etwas, doch ich verstand ihn nicht und musste nachfragen.

»Sprechen Sie Deutsch?«, fragte er langsam und überdeutlich artikuliert.

»Natürlich«, antwortete ich.

»Ich bin Weiß. Assistenzarzt Weiß. Sind Sie eine Familienangehörige von Elias Angermann?«

»Ich bin seine Freundin.«

»Dann darf ich eigentlich nicht mit Ihnen reden.«

»Das wird doch wohl kein Problem sein.«

Er überlegte eine Weile lang, wobei die Entscheidung ihm sehr schwer zu fallen schien. Schließlich nickte er und sagte: »Nun gut. Wie heißen Sie denn?«

»Maria Kogan.«

Er betrachtete mich von unten bis oben. »Ihr Nachname ist ein wenig kompliziert, darf ich Sie Maria nennen?«

»Nein.«

Er zuckte mit den Schultern und erklärte mir im Crescendo, dass bei Elias ein Fermurnagel eingesetzt worden ist, ein intramedulläres Schienenimplantat, dass sie Metallplatten am Oberschenkelknochen angebracht haben und Elias viel Blut verloren hat. Auf seinem Arztkittel waren Blutspritzer zu sehen, und ich fragte mich, ob es Elias’ Blut war oder das des Patienten davor. Ich nickte und zog die Tür des Aufwachzimmers an mich heran. Die Heilung sei langwierig, hallte es hinter mir nach.

Das Zimmer war leer, bis auf ein Bett, das umzäunt war von Monitoren, Schläuchen und einem einzigen Stuhl. Die Gardinen waren zugezogen, ich öffnete sie einen Spaltbreit, und auf den Boden fiel ein langer Lichtstreifen. Ich legte meine Hand auf das Gitter seines Bettes. Sein Gesicht war fahl, als ob kein Tropfen Blut mehr in seinem Körper war. Auf den Lippen hatte sich eine dünne weiße Kruste gebildet. Er murmelte meinen Namen und sah an mir vorbei. Aus seinem Oberschenkel ragte ein Drainageschlauch heraus.

Ich beugte mich herunter, der Geruch von kaltem Schweiß stieg mir in die Nase. Ich küsste seine Stirn, streichelte über sein Haar. Er stöhnte. Ich streckte meine Hand nach seiner aus, doch dann sah ich den Infusionszugang in seinem Handrücken, zögerte und zog meine Hand zurück.

»Es geht mir nicht gut«, sagte Elias so leise, dass es unmöglich mir gelten konnte, und mir fiel plötzlich ein, wie er vor langem festgestellt hatte, es gäbe nur zwei Schulen, die Alte und die Frankfurter.

Ich blieb bis zum späten Abend. Elias wandte fiebrig seinen Kopf von einer Seite auf die andere. Nur manchmal drang ein »Bist du noch da?« durch seinen unruhigen Dämmerschlaf hindurch.

Am Abend kochte ich mir eine Fertigsuppe und rief seine Eltern an. Keiner hob ab. Ich überlegte, ob ich Elke auf dem Handy anrufen sollte, aber dann hörte ich mich schon aufs Band sprechen. »Hier ist Mascha. Hallo.« Ich machte eine Pause, biss mir auf die Lippe. »Elias ist beim Fußballspielen ausgerutscht. Der Oberschenkelknochen ist gebrochen. Er liegt im Krankenhaus.« Die Sätze kamen nur schwer heraus, seit einem Jahrzehnt war es mir nicht mehr so schwergefallen, Deutsch zu sprechen, wie an diesem Abend. Elke rief mitten in der Nacht zurück. Ob es schlimm sei. Nein, versicherte ich ihr. Sie könne die Wirtschaft nicht alleinlassen. Jeden Abend sei voller Betrieb. Ich sagte, ich sei da. Sie versuche so schnell wie möglich zu kommen, sagte Elke. Ich bin ja da, sagte ich.

Ich packte eine Tasche für Elias, faltete Unterwäsche, T-Shirts und den einzigen Pyjama, den er besaß, zusammen, legte auch seinen Kulturbeutel, seine Kamera, einen Zeichenblock und Kohlestifte hinein.

Die Zimmernachbarn sahen sich Nachmittagstalkshows an. Die Fernsehergeräusche vermischten sich mit Gesprächsfetzen und Gelächter, mit dem Rascheln von Bonbonpapier und Zeitschriften, mit dem Quietschen von Schuhen und dem Rollen von Essenswagen auf dem Korridor.

Elias lag in der Mitte, sein Bett wurde von zwei weiteren Krankenbetten flankiert. Neben jedem Bett stand ein kleiner Tisch. Auf den Tischen seiner Bettnachbarn türmten sich Schokoriegel, aufgerissene Kekspackungen, Gummibärchentüten, Bonbons, Sudoku-Hefte, Zigaretten und Zeitschriften. Ich wünschte allen einen Guten Tag, wurde aber nicht beachtet.

Elias lag blass und mit glanzlosen Augen im Krankenbett. Ich setzte ein Lächeln auf und ging auf ihn zu. Die Reisetasche stellte ich neben seinem Tisch ab und zählte dann auf, was ich mitgebracht hatte. Wie Weihnachten, scherzte Elias erschöpft.

Von Medikamenten betäubt, hatte Elias die meiste Zeit über geschlafen und sich kaum bewegt. Nur ein- und ausgeatmet. Ich saß neben seinem Bett, schälte saure Äpfel, Birnen und eine Mango, deren Saft an meinen Fingern klebte. Ich trank Kaffee und verschwand im Bad, wo ich mir kaltes Wasser ins Gesicht spritzte, um die Tränen und die Kopfschmerzen abzuwehren. Der Vormittag und der Nachmittag vergingen. Die Sonne ging qualvoll langsam unter, draußen wurden die Schatten länger, und Elias’ Hand lag in meiner.

Am nächsten Morgen fotografierte er schon das Krankenzimmer, seine Wunde und mich, die seine Wunde nicht ansehen konnte. Die Bettnachbarn wollten ebenfalls vor die Linse. Sie hatten zusammen Karten gespielt und drängten uns nun ein Gespräch auf. Ein Profi, das dürfe man sich doch nicht entgehen lassen, sagte Heinz, als er erfuhr, dass Elias Fotografie studiert hatte.

Heinz hatte gedient und Rainer war Schlosser. Heute würden sie einiges anders machen. Nicht viel, natürlich nicht viel. Der linke Bettnachbar räusperte sich und sagte, er müsse mir ein Kompliment machen, ich könne besser Deutsch als alle Russlanddeutschen, die er bisher auf dem Amt getroffen habe, dabei hatte ich noch fast gar nichts gesagt. Heinz fing von seiner Kriegsgefangenschaft an – bis Elias ihn bat, leise zu sein. Dann bat Elias auch mich, leise zu sein.

Es war heiß und stickig, der Asphalt reflektierte die Hitze, selbst nachts kühlten die Straßen nicht ab. Ich stieg vor dem Krankenhaustor von meinem Rad ab und wischte mir den Schweiß von der Stirn. Ich schob mein Fahrrad eine Weile neben mir her, die Fahrradständer waren alle voll. Dann sah ich doch noch einen freien Platz, quetschte mein Rad hinein, das grüne links von mir fiel um, ich richtete es umständlich wieder auf.

Das Krankenhaus war ein langgezogener Flachbau mit Steinplattenfassade inmitten eines ruhigen Wohnviertels mit Tempolimit – ein vollkommen ehrgeizloses und auf medizinische Funktionalität ausgerichtetes Bauwerk. Der Assistenzarzt, der am Tag zuvor Elias’ Drainagen entfernt hatte, hockte vor dem Eingang zur orthopädischen Station und rauchte. Er hatte dunkle Augenringe und zerzaustes Haar. Ich hatte ihn schon gestern Nachmittag im Krankenhaus beobachtet, und er sah nach einer durchgearbeiteten Nacht aus. Er nickte mir zu, und ich wurde langsamer, bis ich unschlüssig vor ihm stehen blieb. Er streckte mir seine Zigarettenschachtel entgegen, die hellblau und mit arabischen Buchstaben beschriftet war. Ich bot ihm ein Croissant an. Er atmete den Rauch aus und griff in die Tüte. Die Haut an seiner Hand war rau, seine Nägel waren gelblich vom Tabak.

»Sind Sie vor kurzem auf Filterzigaretten umgestiegen?«

»Eigentlich nicht. Ich habe sie von einem Patienten.« Er sah auf die Schachtel hinunter, drehte sie mehrmals herum und fuhr mit dem Daumen über die arabischen Buchstaben, als ob er sie gerade erst bemerkt hätte.

»Ich kann es nicht lesen«, sagte er.

Ich übersetzte ihm das Geschriebene.

Er seufzte und ließ die Schachtel nicht aus den Augen.

»Der Patient, gestern Nachmittag gestorben. Wir rauchen gerade seine letzten Zigaretten auf.«

Ich verschluckte mich am Zigarettenrauch und musste husten.

Er drehte die Schachtel noch ein paarmal hin und her, bis er sie schließlich zurück in seine Hosentasche steckte. Dann biss er den Croissantzipfel ab, Brösel fielen wie Schuppen auf seinen Kittel, und er musterte abwechselnd mich und sein Croissant. »Sie gehören zu Herrn Angermann?«

Ich nickte.

»Er hatte einen Fleck heute Morgen.«

»Bitte was?«

»Einen Fleck.«

»Auf der Lunge?«

»Wie kommen Sie denn darauf?«, der Arzt lachte laut: »Ach was, um die Operationsnarbe, ein kleiner Fleck, ist nicht ungewöhnlich, keine Sorge.«

Er klopfte mir kameradschaftlich auf den Rücken und verschwand im Gebäude.

Am Abend suppte Elias’ Wunde, das Wundsekret verbreitete einen süßlich-beißenden Duft, der mich an das sowjetische Parfüm Warszawianka erinnerte und der mir Brechreiz verursachte. Elias’ Kamera lag auf dem Nachttisch, er lag mit dem Gesicht zur Wand und fieberte. Wir hatten nach der Krankenschwester geklingelt, doch sie ließ sich Zeit und stand dann so plötzlich im Raum, dass ich sie zunächst für ein Gespenst hielt. Die Schwester trug einen kurzen Kittel und entblößte strahlende Zahnbögen. Auf ihrem gelblich verfärbten Schneidezahn funkelte ein blauer Strassstein. Unseriös. Sie hatte die Arme in die Hüften gestemmt und den Kopf nach hinten geworfen. Ihre Augen loderten fundamentalistisch. Sie sprach schnell und tief, sagte, dass Elias gleich aufstehen wird. Ich hielt das Aufstehen für keine gute Idee, musste aber der Schwester insgeheim recht geben, als sie lautstark und wild gestikulierend erklärte, ich hätte keine Ahnung.

Die Krankenschwester bugsierte Elias aus dem Bett heraus: »Na los, junger Mann, aufstehen!«

Elias biss sich auf die Lippen und blieb stehen. Ich sah in seinem Gesicht den Schmerz und schrie die Schwester an. Meine Worte klangen schrill.

»Es ist zu seinem Besten«, schrie sie zurück.

Als Elias auftrat, stöhnte er vor Schmerz auf, setzte sich aber nicht wieder hin. Er stand und litt, und die Krankenschwester nickte ihm aufmunternd zu. »Immer weiter, immer weiter.«

Elias trat wieder auf, dieses Mal mucksmäuschenstill. Sein Gesicht war blutleer.

»Sehen Sie nicht, dass er Schmerzen hat?«

»Schmerzen gehören zum Leben dazu. Glauben Sie mir, ich arbeite hier schon seit zwanzig Jahren!«

»Zwanzig Jahre zu lang!«

»Mascha, schon gut!« Auf Elias’ Stirn bildeten sich kleine Schweißperlen, sein Atem ging schnell und unregelmäßig. Er machte einen schwankenden Schritt auf das Bett zu, suchte nach einem Halt, sog laut Luft ein und klammerte sich mit beiden Händen an den Bettpfosten. Ich presste ihn aufs Bett. Elias gab meinen Bewegungen nach, ließ sich von mir wieder hinsetzen. Ich legte meine Hand an seine Wange, die rau und glühend heiß war. In seinen Augen standen Tränen und in meinen auch.

Ich stellte mich vor Elias und war zu allem bereit. Aber Elias zog mich zu sich herunter aufs Bett und sagte kraftlos zur Krankenschwester: »Gehen Sie bitte weg.«

»So was habe ich noch nicht erlebt.« Die Frau stürmte aus dem Zimmer und knallte die Tür hinter sich zu.

Elias legte seinen Kopf auf meine Schulter, ich half ihm, sich hinzulegen. Er rollte sich zusammen und drehte sich zur Wand. Kurze Zeit später fing er an, am ganzen Körper zu zittern. Ich streichelte über sein Haar, er reagierte nicht. Ich rannte auf den Flur und zerrte die nächste Krankenschwester, die mir begegnete, ins Zimmer. Sie entfernte den Verband von Elias’ Wunde und zog eilig den Vorhang zu den anderen Betten zu, obwohl beide leer waren. Die Wunde sah schlecht aus.

Elias wurde in die Radiologie geschickt, und als man ihn zurückbrachte, krümmte er sich noch immer vor Schmerzen. Die Ärzte warteten auf die Laborergebnisse. Schließlich kam der Oberarzt herein, ein kleiner, glatzköpfiger Mann mit hervorstehendem Bauch. Ihm folgte nickend ein Dutzend Medizinstudenten, denn wie es sich herausstellte, war dies ein Lehrkrankenhaus. Der Oberarzt untersuchte die Wunde, seine Stirn legte sich in Falten. Nach ihm beugten die Medizinstudenten sich über Elias, manche machten ein angewidertes Gesicht, andere schubsten ihre Kollegen zur Seite, um die Wunde besser sehen zu können. Ich stand in der Ecke und sah weder Elias noch die Wunde. Ich roch sie.

Elias, bleich, nicht mehr ansprechbar, wurde frühmorgens wieder in den OP-Saal geschoben. Seine Eltern waren im Morgengrauen losgefahren, nun warteten wir gemeinsam in der Cafeteria: Der Vater mit großporiger Nase, ein ganz und gar viehisches Gesicht, das er da hatte. Die Mutter war pausbäckig und hatte kräftige Oberarme; beide saßen schweigend vor vollen Tassen und selbstgemachten Broten.

Horst las den Spiegel, Elke und ich schauten aus dem Fenster. Der Himmel war düster, das Wetter war über Nacht in Wind und Nieselregen umgeschlagen. Mal musterte mich der Vater verstohlen, mal die Mutter. Ich betrachtete ihre Gesichter und dachte an Elias’ Kinderfotos, Elias bei der Einschulung, Elias vor dem Weihnachtsbaum und bei der Jugendweihe – ein blasses und verschrecktes Kind. Als mich beide gleichzeitig ansahen, fing ich an, mich für meine Kleidung zu schämen, dafür, dass ich geschminkt war und Absätze trug, obwohl ich diese Nacht im Krankenhaus verbracht hatte und es gar nicht dieser Morgen gewesen war, an dem ich mich geschminkt hatte, sondern der Morgen davor. Elke räusperte sich und sah auf die Uhr, Horst raschelte nervös mit der Zeitschrift.

Das Fenster, an dem wir saßen, ging auf die Straße hinaus, die schmal und leer war. Mein Blick blieb an einem grauen Bündel mitten auf der Fahrbahn hängen. Erst dachte ich, es wäre nur eine Plastiktüte, doch Plastiktüten waren selten grau. Dann dachte ich an ein Kuscheltier. Ich entschuldigte mich, wobei ich meine Tasse eine Spur zu laut auf den Tisch stellte, und sagte, ich müsse auf die Toilette. Auf der Toilette warf der Spiegel mir ein unschönes Bild zurück: Meine Nase glänzte, was sich unvorteilhaft auf ihre Größe und den Höcker auswirkte, die Wimperntusche war verschmiert. Der Arzt konnte nicht sagen, wie lange sie operieren würden.

Ich stand auf der Straße und atmete flach, um mich zu beruhigen. Der Wind wehte kalt, und mir zitterten die Hände. Eine Weile lang beobachtete ich meinen Atem, dann sah ich das Tier. Es war ein Hase und er lebte, zumindest hob und senkte sich sein Brustkorb in unregelmäßigen Abständen. Ich kannte nur zwei Gebete: das Vaterunser und Höre Israel. Das Vaterunser war nutzlos und Schma Yisrael allein würde nicht ausreichen. Ich würde mit Gott handeln. Elias gegen Hase, ER sollte das Tier sterben lassen und nicht Elias. Ich bereute zutiefst, nicht religiös zu sein und mit nichts Beeindruckenderem aufwarten zu können als »Höre Israel, der Herr ist unser Gott, der Herr ist einzig. Und du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben, mit deinem ganzen Herzen und mit deiner ganzen Seele und mit deiner ganzen Kraft. Und diese Worte, die ich dir heute befehle, sollen in deinem Herzen sein.« Ich wiegte mich im Gebet, wie ich es bei den orthodoxen Juden auf Arte gesehen hatte. Nicht Elias. Bitte nicht. Nicht. Nicht. Den Hasen würde ich begraben und das Hasenkaddisch auswendig aufsagen.

Gott bat ich, ER möge den Hasen sofort töten. Der Hase atmete weiter, weit und breit fuhr kein Auto. Ich hob den Hasen vorsichtig an, er hatte keine sichtbaren Wunden. Aber seine Ohren hingen welk herab, das Fell war voller Straßenstaub und die roten Augen waren so gut wie tot. Sofern man den Tod anhand einer roten Augenfarbe voraussagen kann. Und wenn er gar nicht verletzt war, wenn er sich nur kurz hingelegt hatte?

Ich legte den Hasen nun wieder hin und sagte noch einmal das Schma Yisrael auf. Rechts zog ein kleiner Opel an mir vorbei. Elias’ Eltern beobachteten mich, ich sah, wie sie von dem Cafeteriafenster aus auf mich herabblickten. Panik kroch in mir hoch, ich suchte nach einem Stein. Hier gibt es doch gar keine Steine, schoss mir durch den Kopf. Aber es ging um Elias. Ich lief die Straße weiter, neben der Bushaltestelle war ein rausgerissener Stein. Ein gutes Zeichen. Ich kletterte hinter die Absperrung und nahm den erstbesten Stein.

Als ich zurückkam, lebte das Tier beharrlich weiter. Wie soll man auch einem Hasen den Glauben erklären? Ich beugte mich runter zu ihm, streichelte ihm über den Kopf, er war weich und nass und reagierte nicht auf meine Berührung. Meine Hand zitterte. Ich stand auf, holte aus, der Stein landete neben dem Hasenkopf. Dann hob ich den Stein wieder auf und hatte das Gefühl, dass mich der Hase anstarrte. Ich bat ihn um Verzeihung und ließ den Stein wieder fallen, dieses Mal traf ich, sein Schädel zerplatzte, das Gehirn lief aus, vermischte sich mit Blut und Knochensplittern. Ich wendete mich ab und unterdrückte die aufkommende Übelkeit.

Als ich wieder zu Elias’ Eltern in die Cafeteria ging, versuchte ich leise aufzutreten und die Absätze meiner Schuhe nicht auf die Marmorstufen knallen zu lassen. Meine Hände waren von der Kälte gerötet.

Die Operation sei erfolgreich verlaufen, verkündete Assistenzarzt Weiß. Er stand breitbeinig da und schüttelte lächelnd Horst und Elkes Hände. Ich stand daneben und schaute Elias an. Er lag regungslos auf dem Bett. In seinem Oberschenkel steckte nun ein noch längeres Stück Metall. Nach drei Wochen, voraussichtlich, könnte er entlassen werden. Die Behandlung würde ambulant fortgesetzt werden. Der Regen schlug gegen die Fensterscheibe, auf der Straße eilten Passanten unter aufgespannten Regenschirmen dem Wetter davon.

III.

Meine Mutter rief immer wieder an und fragte, ob sie kommen soll, was ich immer wieder verneinte. Sie kam am Sonntag und brachte die Reste vom Geburtstagsessen meines Vaters mit. Ich stellte zwei Teller auf den Tisch, legte Messer und Gabel dazu, das Essen selbst ließ ich in den Tupperdosen und wärmte nichts auf. Mutter schaute mich besorgt an, ich starrte müde zurück. Sie wollte alles über Elischas Diagnose wissen. Meine Eltern hatten sich lange den Kopf darüber zerbrochen, wie sie Elias’ Namen russifizieren könnten, um ihm ihre Liebe und einen zärtlichen Diminutiv aufzudrücken. Als mein Vater endlich Elischa ausrief, klatschte meine Mutter vor Vergnügen in die Hände – Elischa war angenommen.

Wir aßen schweigend. Ich fand es nicht unangenehm, aber Mutter hielt die Stille nicht aus und erzählte von ihrer Arbeit. Sie unterrichtete Klavier – zuerst an einer Musikschule, später an der Hochschule. Auch sie hatte am Anfang Schwierigkeiten mit dem neuen System: Ausgebildet an einem sowjetischen Konservatorium, hatte sie professionelle Standards, hinter die sie nicht zurückkonnte. Als der Vater einer ihrer ersten Schülerinnen, ein Priester, sich bei ihr beklagte, der Musikunterricht würde seiner Tochter keinen Spaß bereiten, bekam meine Mutter Herzrasen und schwitzige Hände. Sie hatte bis dahin nicht gewusst, dass Spaß der Zweck der Kunst war. Vor allem von einem Priester hatte sie so etwas nicht erwartet. Die Musik wurde in der UdSSR mit größtem Ernst behandelt, genau wie Ballett und bildende Kunst. Im Gegensatz zu Deutschland konnte jedes Kind neben der schulischen eine hochprofessionelle und vor allem kostenlose künstlerische Ausbildung bekommen, allerdings nur solange das Kind gewillt war, hart zu arbeiten, und meine Mutter verstand nicht, wie es jemand nicht wollte.

Früher, als sie noch jung, schön und erfolgreich gewesen war und bevor sie aus einer leichtfertigen Laune heraus meinen Vater ehelichte, stand in unserem Wohnzimmer ein Konzertflügel. Vor ihren Auftritten übte Mutter tagelang. Wegen hygienischer Bedenken und der allgemeinen Lage besuchte ich den Kindergarten nur ein paar Wochen lang. Und so blieb ich im Wohnzimmer, saß unter dem Flügel und hörte meiner Mutter zu.

Wenn ich nun meine Eltern traf, versicherte ich ihnen immer, dass es mir gutging. Ich erzählte von meinen Stipendien, Sommerakademien, Praktika und Auslandsaufenthalten, ich erzählte von meinen Plänen, wo ich arbeiten und wie viel ich verdienen würde. Ich erzählte von Sami und später von Elias, und meine Eltern glaubten mir alles, denn ich spielte meine Rolle gut. Bei der Fleischbeilage, Lammfleisch mit gegarten Esskastanien und Trockenfrüchten und Dolma, den mit Reis, Lammhackfleisch, fein gehackten Zwiebeln und Nüssen gefüllten Weinblättern, lachte meine Mutter. Ich erzählte Krankenhausanekdoten, die ich mir während des Sprechens ausdachte.

Als sie endlich ging, blieben auf dem Tisch Granatäpfel, Apfelsinen, Birnen, Bananen, Blätterteigtaschen und das letzte Stück Schokoladenkuchen zurück. Ich schaltete den Fernseher ein, eine Tatort-Wiederholung flimmerte über den Bildschirm. In Hannover wies alles darauf hin, dass eine Kommissarin bald eine Liebesnacht mit einem Südländer verbringen würde. Ich drehte die Lautstärke aufs Maximum und stellte mich unter die Dusche. Zusammen mit abgestorbenen Hautzellen schrubbte ich den Krankenhausgeruch so gründlich wie möglich von mir ab. Ich versuchte, mich an Elias’ Körper ohne Schrauben und der langen Narbe am Oberschenkel zu erinnern. Danach stellte ich mir vor, wie ich eine Frau im Treppenhaus zwischen Türenknallen, Kochgerüchen und Kindergeschrei küssen und wie ich meine Hand zwischen ihre Schenkel schieben würde. Noch bevor der Mörder gefunden wurde, saß ich auf dem Sofa und cremte meine Beine ein. Ich hatte eine Vermutung und wartete auf die Auflösung.

Die Leuchtanzeige auf dem Radiowecker zeigte vier Uhr früh. Mein Bauch zog sich zusammen, ich hatte einen üblen Geschmack im Mund und auch mein Nacken tat mir weh. Widerwillig schleppte ich mich ins Bad und suchte nach der Tamponschachtel. Unter dem warmen Duschstrahl wusch ich das Blut ab, wickelte mich in ein mintgrünes Frotteebadetuch und legte mich wieder ins Bett.

Die Wohnung war still. Ich fragte mich, ob ich die Haustür abgeschlossen hatte, ob es normal war, dass der Kühlschrank so fragwürdige Geräusche machte, und weshalb die Nachbarn bereits lautstark durch das Treppenhaus trampelten. Um fünf Uhr morgens beschloss ich, dass das Liegenbleiben keinen Sinn mehr machte. Ich nahm das erstbeste Kleidungsstück vom Boden, ein rot-weiß kariertes Sommerkleid, das mir knapp über die Hüften reichte, so dass ich nun wie ein zu schnell gewachsenes Kind aussah. Die Haare band ich zusammen und ging in die Küche. Ich versuchte, mir all die Dinge vorzustellen, die ich machen könnte, wenn Elias nicht da war, aber mir fielen keine ein, und deshalb hörte ich auf, auch die Dinge zu tun, die ich in seiner Anwesenheit tun musste: Überall lagen aufgerissene Verpackungen, Zeitungen, benutzte Tassen und Schalen, der Müll quoll über, und natürlich trennte ich ihn nicht nach Papier, Glas, Kunststoffen, organischen Abfällen, Metallen, Elektrogeräten und Sperrmüll. Ich schaltete das Radio ein und übersetzte die Morgennachrichten ins Französische, während ich die Espressokanne ausspülte und ein Aufback-Baguette in einer Schale mit H-Milch aufweichte. Das Klingeln des Telefons erschreckte mich, ich verschluckte mich am Baguette, das ich nicht aufgebacken hatte. Elischas Nummer leuchtete am Display auf.

»Schon wach?«, fragte ich überrascht.

»Was denkst du denn? Wir werden um sechs geweckt, für die Visite. Die glotzen einen an, als ob man ein Kaninchen wäre, das gerade aus dem Hut gezaubert wurde. Und wenn jemand den Zaubertrick verschlafen hat, kommen sie wieder.«

»Wie geht es dir?«

Die Leitung rauschte.

»Hast du Schmerzen?«, fragte ich wieder.

»Nein«, antwortete er.

Wir wussten beide, dass das eine Lüge war.

»Könntest du heute früher kommen?«, fragte er zögerlich.

»Ja«, ich versuchte zärtlich zu klingen, während mir im selben Augenblick einfiel, dass ich heute noch ein Seminar hatte. Aber da war es schon zu spät. Ich hatte zugesagt.

»Danke.«

»Schon gut. Soll ich dir etwas mitbringen?«

»Warme Sachen, man muss hier einfach das Fenster offen lassen.« Er murmelte etwas in den Telefonhörer, das ich nicht verstand, und sprach weiter in normaler Lautstärke: »Am besten einen Schal und Pullover, den schwarzen und den hellgrauen aus Kaschmir.«

»Willst du irgendwas zu essen?«

»Bloß nicht, ich werde hier die ganze Zeit gemästet. Es setzt schon an. Aber du kannst mir die Bücher und das Objektiv mitbringen, aus der Kommode, erstes Fach links, nur dieses Mal bitte das richtige.«

»Du brauchst ja wohl nicht deine ganze verfickte Ausrüstung, oder?«

Ich legte auf und versuchte, den mittlerweile aufgeweichten Weißbrotbrocken aus der Müslischale zu fischen, aber es war einfacher, den Inhalt zu trinken. Ich war wütend, auf Elias, auf mich und auf die ganze Welt.

Ich ging langsam durch die Gänge der Kunsthochschul-Bibliothek, die ganz anders war als die meiner Fakultät. Immer wieder zog ich einen Band aus dem Regal und blätterte durch die Reproduktionen flämischer Meister und Dokumentationen von Happenings. Als ich den Katalog zur Ausstellung von Sonic Youth in den Händen hielt, fragte ich mich, ob mein Leben richtig verlaufen war. Sprachen fallen mir relativ leicht, ich begreife schnell die Strukturen und habe ein gutes Gedächtnis, doch in den letzten Jahren hatte ich selten etwas anderes gemacht, als Fachvokabular und Grammatikkonstruktionen zu lernen. Ich war diszipliniert und hungrig nach Erfolg. In der Schule hatte ich Englisch, Französisch und ein wenig Italienisch gelernt, anschließend war ich für ein Jahr als Au-pair nach Frankreich gereist, um mein Französisch zu perfektionieren. Danach hatte ich mich für ein Dolmetscherstudium eingeschrieben und in meiner Freizeit Italienisch, Spanisch und ein bisschen Polnisch gelernt, aber für die slawische Sprachgruppe konnte ich mich nie sonderlich begeistern. Trotzdem habe ich ein Auslandssemester an der Lomonossow-Universität in Moskau und Praktika bei internationalen Organisationen in Brüssel, Wien und Warschau gemacht. Ein Studienstipendium hatte mich von den meisten meiner Nebenjobs befreit. Allerdings konnte ich bis dahin auf eine recht lange Arbeitsbiografie zurückblicken und war den Umgang mit Ritalin und anderen Substanzen, die das Lernen erleichtern, gewöhnt. Ich beendete mein Erststudium unter der Regelzeit und fing an, Arabischkurse zu besuchen. Sami war ein guter Lehrer gewesen, doch er ging zurück in die USA. Ein Jahr später traf ich Elias.

Wir waren gerade mal zwei Monate zusammen, als wir beschlossen hatten zu verreisen. Wir waren fast vier Monate unterwegs, fuhren durch Frankreich, nach Italien, von dort aus auf die Balearen und nach Spanien, dann nach Marokko, Ägypten und in die Türkei. Während dieser Reise machte Elias Fotos für seine Diplomausstellung. Als wir zurückgekommen waren, verschwand er in der Dunkelkammer, und ich schrieb mich für zwei Masterprogramme ein, Dolmetscherwissenschaften und Arabistik.

Der Bibliothekar trug eine große Hornbrille und starrte auf mein T-Shirt. Ich schob ihm die Bücher zu. »Es tut mir leid, es geht einfach nicht anders. Sie sind sehr schön, deine Brüste, meine ich.«

Ich schaute ihm in die Augen, sie waren kalt und grau. Er fühlte sich in seiner Haut offensichtlich wohl, wirkte weder verlegen noch ertappt, und hielt mir lächelnd die Bücher hin. Wahrscheinlich hatte er den eigenen Sexismus dekonstruiert und dachte, er könnte sich nun alles erlauben. Ich wollte den schweren Stapel Kunstmonografien auf seine Finger fallen lassen, doch er zog seine Hände rechtzeitig weg. Dann überlegte ich mir, ihn anzuspucken, aber das kam mir zu theatralisch vor.

Ich war so wütend, dass ich zur Uni lief. Ich hoffte, mich währenddessen abzuregen. Der Weg zu Fuß dauerte eine Stunde, ich musste durch die übervolle Innenstadt und das Bankenviertel. Unterwegs wurde ich dreimal aufgefordert zu spenden, sechsmal angelächelt, zweimal nach einer Zigarette, dreimal nach einem Euro und von einem Altachtundsechziger nach einer Tantra-Massage gefragt. Ich kam zu spät zu meinem Seminar, und meine Französischübersetzung erwies sich als mangelhaft. Überhaupt stand mir heute nicht der Sinn nach Simultandolmetschen Französisch-Deutsch III und Introduction à la problématique des techniques industrielles und der Translation im allgemeinen.