Juli, August, September - Olga Grjasnowa - E-Book
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Juli, August, September E-Book

Olga Grjasnowa

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Beschreibung

Auf der Suche nach Wahrheit: Die Geschichte einer modernen jüdischen Familie. „Olga Grjasnowa erweist sich als kluge Chronistin moderner Verirrung.“ Publishers Weekly

Lous zweiter Ehemann ist eine Trophäe – das muss selbst ihre Mutter anerkennen. Sergej ist Pianist und er ist jüdisch, genau wie Lou. Trotzdem ist ihre Tochter Rosa noch nie in einer Synagoge gewesen – eine ganz normale jüdische Familie in Berlin. Aber sind sie noch eine Familie, und was ist das überhaupt? Um das herauszufinden, folgt Lou der Einladung zum 90. Geburtstag ihrer Tante. In einem abgehalfterten Resort auf Gran Canaria trifft der ganze ex-sowjetische Clan aus Israel zusammen, verbunden nur noch durch wechselseitige Missgunst. Gegen die kleinen Bösartigkeiten und die vage Leere in sich trinkt Lou systematisch an und weiß plötzlich, dass die Antwort auf all ihre Fragen in der glühenden Hitze Tel Avivs zu finden ist.
Ein Roman, so aktuell, zynisch und unterhaltsam, wie nur Olga Grjasnowa ihn schreiben kann, über eine Frau, deren Identität sich aus lauter Splittern zusammensetzt, die scheinbar alle nicht zusammenpassen. Bis sie es auf unerwartete Weise doch tun.

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Das ist das Cover des Buches »Juli, August, September« von Olga Grjasnowa

Über das Buch

Lous zweiter Ehemann ist eine Trophäe — das muss selbst ihre Mutter anerkennen. Sergej ist Pianist und er ist jüdisch, genau wie Lou. Trotzdem ist ihre Tochter Rosa noch nie in einer Synagoge gewesen — eine ganz normale jüdische Familie in Berlin. Aber sind sie noch eine Familie, und was ist das überhaupt? Um das herauszufinden, folgt Lou der Einladung zum 90. Geburtstag ihrer Tante. In einem abgehalfterten Resort auf Gran Canaria trifft der ganze ex-sowjetische Clan aus Israel zusammen, verbunden nur noch durch wechselseitige Missgunst. Gegen die kleinen Bösartigkeiten und die vage Leere in sich trinkt Lou systematisch an und weiß plötzlich, dass die Antwort auf all ihre Fragen in der glühenden Hitze Tel Avivs zu finden ist.Ein Roman, so aktuell, zynisch und unterhaltsam, wie nur Olga Grjasnowa ihn schreiben kann, über eine Frau, deren Identität sich aus lauter Splittern zusammensetzt, die scheinbar alle nicht zusammenpassen. Bis sie es auf unerwartete Weise doch tun.

Olga Grjasnowa

Juli, August, September

Roman

Hanser Berlin

JULI

Rosa übernachtete bei einer Freundin aus dem Kindergarten. Es war das erste Mal, dass sie woanders schlief, weswegen ich nicht glaubte, dass es funktionieren würde, also wartete ich. Ich legte die Wäsche zusammen, schaltete den Fernseher erst ein und dann wieder aus und schaute immer wieder aufs Handy. Da gegen zehn Uhr immer noch keine Nachricht gekommen war, beschloss ich, ins Bett zu gehen.

Als ich meine in Tränen aufgelöste Tochter eine Stunde später abholte, versicherte mir die andere Mutter, dass nichts passiert sei, Rosa hätte mich bloß vermisst. Nur hatte sie angefangen, noch heftiger zu weinen, sobald sie mich sah. Es hatte lange gedauert, bis ich es geschafft hatte, sie unter den missbilligenden Blicken der anderen Mutter zu beruhigen. Sie schlief im Taxi ein, das Gesicht voller Tränenschlieren.

Am nächsten Morgen, auf dem Weg zum Kindergarten, erzählte mir Rosa, dass sie bei ihrer Freundin ein Buch von Adolf Hitler gelesen habe. Rosa sagte immer lesen, wenn sie vorlesen meinte. Ich vermutete, dass es ein Bilderbuch über das Leben von Anne Frank war — ich hatte es am Vorabend in der Wohnung liegen sehen und mich bemüht, nicht die Augen zu verdrehen. Es war eines jener Bilderbücher, die das Leben berühmter Personen auf ein paar Sätze herunterbrachen und die mich an die sowjetische Reihe Das Leben berühmter Menschen erinnerten, die meine Mutter geliebt hatte. Die Reihe war längst vergriffen, aber meine Tante hatte noch ein paar Exemplare aufbewahrt, in denen ich manchmal als Kind geblättert hatte. Statt mir zu antworten, kniff Rosa ihre Augen zusammen und erzählte mir das Buch nach.

Meine Tochter, die nach ihrer Urgroßmutter, einer Holocaustüberlebenden, benannt war, wusste bis dahin nichts über Anne Frank oder die Shoah. Offenbar hatte sie die Sache mit Adolf Hitler in dem Buch falsch interpretiert, und jetzt standen wir mitten in Berlin, ausgerechnet in der Nähe des Axel-Springer-Hochhauses. Der Himmel war wolkenverhangen, zwischen den Hochhäusern wehte ein rauer Wind, und aus Rosa sprudelte es nur so heraus. Was sie sagte, war im Prinzip richtig, außer dass sie dachte, Adolf Hitler hätte das Buch geschrieben. Außerdem dachte sie, er hätte etwas gegen Jungen, nicht Juden, gehabt. Jüdisch sei sie selbst übrigens nicht, denn sie glaube nicht an Gott. Rosa wusste natürlich, dass sie jüdisch war, sie wusste nur nicht, wie viele Menschen aus diesem Grund ermordet worden waren, und ich hoffte, dass es noch eine Weile lang so bleiben könnte. Zu Hause hatten wir eine Chanukkia, den neunarmigen Leuchter, dessen Kerzen an Chanukka angezündet werden. Doch die Kerzen auch am Schabbat rauszuholen, war uns bereits zu viel Aufwand. Die anderen hohen Feiertage begingen wir auch irgendwie, allerdings niemals in der Synagoge.

Rosa plapperte weiter fröhlich vor sich hin, ich hingegen wurde immer stiller. Als wir ankamen, schaute uns die Kindergärtnerin neugierig an, und ich versuchte, mich so schnell wie möglich zu verabschieden.

Ich fuhr zu einer Buchhandlung, die eher einem durchgestylten Café als einem Geschäft glich, und fand das Buch sofort: Anne Frank sah aus wie eine Mischung aus einer Manga-Figur und einer stilisierten Audrey-Hepburn-Postkarte. Die Prosa war unterkomplex und konnte nicht einmal eine vage Vorstellung vom Holocaust vermitteln. Sofern man als Elternteil den Wunsch verspürte, es zu tun. Das KZ kam nur am Rande vor und hätte auch ein Sanatorium sein können. Ich hatte das ganze Buch im Laden durchgelesen und stand nun fassungslos vor dem Bücherregal. Die Buchhändlerin wurde ungeduldig. Sie hatte einen kurzen Pony, flachsblondes dünnes Haar und eine sehr große dunkle Hornbrille. Ich versuchte, vertrauenerweckend zu wirken, aber das Gesicht der Buchhändlerin spiegelte deutlich ihre wachsende Besorgnis. Als sie sich mir näherte, verließ ich den Laden.

Am Abend, nachdem ich Rosa ins Bett gebracht hatte, fragte ich Sergej, was er zu tun gedenke und ob Rosa irgendeine Identität brauche, aber er schenkte sich lediglich ein Glas Wein ein und ging zurück zu seinem Flügel. Nachdem er sich hingesetzt hatte, drehte er sich noch einmal zu mir um und sagte: »Juden haben keine Wurzeln, Juden haben Beine«, lachte, prostete mir zu und wandte sich wieder von mir ab. In diesem Augenblick verfluchte ich ihn und seinen Steinway-Flügel. Sobald er dahinter saß, war er nicht mehr ansprechbar, und da er ja der Künstler war, hatte ich still zu sein. Er studierte ein neues Programm ein.

»Serescha, so geht es nicht weiter«, sagte ich zu mir selbst und goss mir ebenfalls ein Glas Wein ein. Das Glas wurde zu voll, ich nahm einen großen Schluck. Es war seine Wohnung, die er kurz vor unserer Hochzeit gekauft hatte — gerade noch rechtzeitig. Vier Zimmer innerhalb des S-Bahn-Rings, Altbau, große Flügeltüren, genug Platz, um glücklich sein zu müssen, dazu Nachbarn, die wegen eines Konzertpianisten nicht gleich das Ordnungsamt riefen, selbst wenn der für sie nach Jahrzehnten im Westen noch immer ein Russe war. Dennoch hatten wir inzwischen das Übungszimmer schalldicht isoliert. Ich setzte mich auf die Klavierbank neben ihn und legte meinen Kopf auf seine Schulter. Er küsste mich, ohne sein Spiel zu unterbrechen.

Wir blieben eine Weile nebeneinander sitzen. Dann sagte er: »Lou, ich muss üben.« Eigentlich heiße ich Ludmilla, aber dieser Name existiert nur noch auf Formularen, wobei ich mich glücklich schätzen kann, dass er bei der Einreise nach Deutschland nicht völlig verstümmelt wurde. Sergej war derjenige, der Ljuda, meinen Kosenamen, zu Lou abkürzte, was mir gefiel, denn so hatte er nichts mit mir zu tun und gab mir eine neue Identität.

Sergej hatte noch nie etwas anderes in seinem Leben getan, als zu spielen. Seine Mutter hatte ihn im Alter von vier Jahren ans Klavier gesetzt, und dabei war er geblieben. Sie war selbst eine ausgebildete Konzertpianistin, aber keine erfolgreiche. Seit ihrem Abschluss hatte sie kein einziges Konzert gespielt. Obwohl sie drei Kinder hat, war Sergej der Einzige, der von ihr unterrichtet und konsequent zum Üben gezwungen wurde. Einmal fragte ich sie, weshalb ihre Wahl ausgerechnet auf ihn gefallen war, aber sie starrte mich lediglich an, zog an ihrer Zigarette, obwohl ich sie gebeten hatte, sie nicht in meiner Küche zu rauchen, und sagte: »Und warum hast du dich für ihn entschieden?«

Ich hatte ihr nicht geantwortet, war nur aufgestanden und hatte das Fenster sperrangelweit geöffnet. Es war Dezember. Ekaterina hatte jedoch Recht: Es gab kaum jemanden, der eine solch konstante Leistung lieferte wie er. Geboren in Moskau, Schüler am dortigen Konservatorium, später Studium an der Julliard School mit einem Vollstipendium, Teilnahme am Chopin-Wettbewerb in Warschau, erster Platz mit fünfundzwanzig. Es folgten Konzerte in Asien, Europa und Nordamerika, Ruhm und Druck, dem Sergej immer standhielt. Er erhob nie die Stimme, wurde selten nervös, trank ausschließlich Weißwein oder Champagner und selbst das mehr oder weniger kontrolliert. Er war wie eine Maschine. Der Traum eines jeden Managers und Veranstalters.

Seine Mutter war meistens an seiner Seite und passte auf, dass ihm nichts passierte. Nur bei unserem Kennenlernen sei sie kurz abgelenkt gewesen, scherzte sie gerne. Ekaterina wohnte fußläufig und kam ständig bei uns vorbei, natürlich unangemeldet. Dann erwartete sie von mir, dass ich ihr Tee zubereitete, während sie mit Sergej sein Repertoire, die neuesten Rezensionen, seine Managerin, Rosa und mich durchsprach. Vor allem mich — naturgemäß war unser Verhältnis etwas angespannt —, denn sie machte keinen Hehl aus der Ansicht, dass ich für ihren Sohn nicht annähernd gut genug sei. Doch Sergej hatte sich in mich verliebt. Vielleicht lag es daran, dass ich wie eine Schickse aussah, aber keine war. Die Geburtsurkunde meiner Mutter, in der die Nationalität als jüdisch vermerkt war, war jedenfalls in Ordnung, zumindest ordentlicher als die der meisten jüdischen Sowjet-Bürger. Sowie derer, die ihre Papiere in der Sowjetunion korrigiert hatten, um bessere Chancen im Leben zu haben, etwa um zu promovieren oder bestimmte Fächer studieren zu dürfen. Manche bestachen nach dem Zusammenbruch des Imperiums die Rabbiner, um als Juden ausreisen zu können. Andere wiederum waren zwar jüdisch, aber ihre Papiere, die in den Synagogen ausgestellt worden waren, wurden vom sowjetischen Regime kurz vor dessen Kollaps eingezogen und gegen neue ausgetauscht, die absichtlich wie Fälschungen aussahen. Meiner Mutter war nichts dergleichen passiert, und so hatten weder das orthodoxe Rabbinat in Israel noch meine Schwiegermutter etwas zu beanstanden. Sie insistierte allerdings auf einem Ehevertrag.

Ich beschloss, Sergej üben zu lassen, zog mich um und ging zurück in Rosas Zimmer. Ich setzte mich auf den Boden neben ihr kleines Bett und hörte ihrem regelmäßigen Atem zu. Mein armes kleines deutsches Kind, das eingerollt auf dem Bett lag und träumte. Noch wusste ich alles über sie, was sie mochte und was nicht, wie sie roch und wie sich ihre Haut anfühlte. Ein kleiner Mensch, der noch keine Geheimnisse vor mir hatte, ein Mensch, der erst in mir und dann neben mir gewachsen war. Ich fragte mich, wie lange es noch so bleiben würde. Wie viel Zeit ich hatte, um diese Art von Intimität zu genießen.

Ich legte mich zu ihr, dimmte das Display meines Handys und fing an, durch Seiten mit Kinderkleidung zu scrollen: winzige Winterstiefel, Pullover, Strumpfhosen, Hüte und Sandalen. Statt etwas zu bestellen, bewegte ich die Sachen in den Warenkorb und ließ sie dort liegen.

Am nächsten Tag war Nadja da. Wir kamen beide aus dem heruntergekommenen russischen Reich, nur hatte ich Akademikereltern, die mit mir nach Deutschland ausgewandert waren und mich für jede Note, die schlechter als eine Zwei war, ausgeschimpft hatten, und sie hatte Eltern, die bis heute in der Ukraine lebten, tranken und sie davon abgehalten hatten, regelmäßig zur Schule zu gehen.

Bevor Nadja anfing zu arbeiten, machte ich Kaffee, und wir sprachen über die neuesten Nachrichten aus der Ukraine. Sie hatte eine Tochter, die ein paar Jahre älter als Rosa war und in Czernowitz lebte, weil Nadja immer noch glaubte, sie würde bald dorthin zurückkehren. Ich kannte ihre Tochter nur von Fotos: ein fröhlich lachendes Mädchen in rosa Pullovern mit Strasssteinchen. Nadja kümmerte sich in Berlin um den Dreck und die Schmutzwäsche anderer Leute und sparte eisern für eine Zukunft in bescheidenem Wohlstand: Sie baute für ihre Familie ein Haus in der Ukraine. Alle zwei Monate fuhr sie hin, um ihre Tochter zu sehen und den Bau zu beaufsichtigen. Wenn sie in Deutschland war, passten die Großeltern auf ihre Tochter und ihre Nichte auf, deren Eltern wiederum in Italien arbeiteten: Nadjas Bruder auf dem Bau und ihre Schwägerin als Haushälterin. Sie schickten ebenfalls Geld nach Hause.

Als wir uns kennengelernt hatten, man könnte auch sagen: als sie angefangen hatte, unsere Wohnung zu putzen, war ich mit Rosa schwanger, und sie wollte nur drei Jahre bleiben, um dann in die Ukraine zurückzukehren. Mittlerweile war Rosa fast fünf, und Nadja verschob ständig ihre Abreise. Immer musste neues Geld her: zuerst für das Dach, dann für die Fenster, den Zaun, die Elektrizitätsleitungen, die Heizkörper. Zudem stiegen hier und dort die Preise, und Nadja wurde zur Gefangenen zwischen den beiden Ländern. Oder zur Gefangenen ihres Traums. Selbst der Krieg hatte es nicht geschafft, ihn zu zerstören. Nächstes Jahr würde das Haus fertig werden, und sie würde endlich zurückkehren — falls es bis dahin nicht von russischen Raketen zerstört wurde.

Nachdem wir alles gesagt hatten, was es zu den neuesten Nachrichten zu sagen gab, unterhielten wir uns über unsere Töchter, dann über die Unterschiede zwischen deutschen und ukrainischen Schulen, und schließlich kam die Gesprächspause, nach der ich Nadja würde sagen müssen, was an diesem Tag zu erledigen war.

Während sie putzte, setzte ich mich mit schlechtem Gewissen an meinen Computer. Ich beantwortete meine Mails, ging die Liste der Bücher durch, die ich in der Bibliothek bestellt hatte, und machte mich schließlich auf den Weg dorthin. Mein schlechtes Gewissen fiel in einen Dämmerschlaf.

Für einen der seltenen Abende, an denen Sergej da war, hatte ich in der Lebensmittelabteilung der Galeries Lafayette Käse, Brot, Austern, Champagner und die von ihm so geliebten Törtchen besorgt, auf die er eigentlich verzichten wollte, was ihm aber nicht gelang. Ich hatte Pasta gekocht und einen Salat gemacht, den Tisch gedeckt und eine Vase mit frischen Blumen hingestellt. Dabei schien es nur so, als würde ich mich um alles kümmern. In Wahrheit war es Sergej, der darüber entschied, wo wir wohnten, welche Musik wir hörten, was wir aßen und wo wir unseren Urlaub verbrachten. Allerdings formulierte er seine Wünsche nie als Befehle, sondern immer als Bitten.

Er stellte sich hinter mich, ohne mich zu berühren. Ich roch sein Eau de Toilette, das ich ihm zu unserem ersten Jahrestag geschenkt hatte und das er seitdem immer wieder nachkaufte.

»Was machen die Kerzen da?« Sergej betrachtete skeptisch das Tischarrangement. Er trug eine Cordhose, ein weißes Hemd und dazu Hausschuhe aus Leder, die einzige postsowjetische Angewohnheit, die er nicht abgelegt hatte.

»Es ist Schabbes.«

»Seit wann ist dir das wichtig?«

»Ich weiß nicht, vielleicht sollten wir damit anfangen.« Ich machte eine Pause, biss mir auf die Lippe und sagte dann: »Rosa zuliebe.«

Sergej lachte. Laut und dunkel.

»Sie weiß nichts über uns.«

»Welches uns?«

»Sie hat überhaupt keinen Bezug — zu uns.«

Sergej lachte noch lauter.

»Was ist, wenn sie es zuerst von jemand anderem erfährt? So wie mein Cousin, er war erst sechs, und die Eltern seines Freundes erzählten zu Hause Auschwitz-Witze, wenn er zu Besuch war.«

»Ein paar sind ganz gut.«

»Sie waren keine Israelis.«

»Ich weiß.« Seine Stimmung änderte sich.

»Wir sollten ihr etwas beibringen«, sagte ich.

»Kannst du ihr nicht einfach etwas über Sex erzählen?«

»Es ist dein drittes Glas Wein.«

»Woher weißt du das?«, fragte er erstaunt.

»Ich habe die Flasche erst am Morgen in den Kühlschrank gestellt.«

»Austern sind nicht koscher.« Er schaute mir direkt in die Augen: »Na gut, dann melde sie meinetwegen zu einem Kurs in der Gemeinde an.«

»Mehr fällt dir dazu nicht ein?«

»Du willst etwas und weißt selbst nicht, was«, Sergej küsste meinen Nacken.

»Ich weiß nicht, ob wir sie schon mit fünf traumatisieren sollten«, sagte ich.

»Wenn das Judentum traumatisierend ist, sollten wir es vielleicht lassen.«

»Und konvertieren?«

»Gott behüte.« Er küsste mein Ohrläppchen.

Als ich meine Hände an seine Taille legte, sagte er: »Weißt du, du achtest penibel darauf, dass sie genug Bücher hat, in denen Schwarze Kinder vorkommen. Sie weiß alles über Rosa Parks und Martin Luther King. Aber sie hat noch nie eine Synagoge von innen gesehen.«

»Das einzige Kinderbuch, das es hier über Juden gibt, ist das Anne-Frank-Buch.«

»Und das kennt sie nun«, stellte er nüchtern fest.

»Sie glaubt, Hitler hat es geschrieben.«

»Meinetwegen.« Sergej ließ mich los und setzte sich an den Tisch. Auf einmal sah er müde aus. Die Ringe unter seinen Augen waren dunkel.

»Möchtest du Pasta?«

»Ist das Pistazien-Pesto?«

»Hm.« Sergej sah mich aufmerksam an: »Wieso isst du nicht?«

»Ich habe schon gegessen.«

»Hier«, er legte trotzdem eine riesige Portion Nudeln auf meinen Teller. Und das, die Fähigkeit, meine Bedürfnisse zu sehen, wenn auch nur die kleinen und nicht die großen, war einer der Gründe, warum ich ihn liebte. Er sorgte sich um mich. Wenn ich fror, legte er mir seine Jacke um die Schultern, er nahm mir schwere Taschen ab, war höflich zu meiner Mutter und ein guter Vater. Zumindest, wenn er da war.

»Hör zu, wenn es dir wirklich wichtig ist, kann sie später auf die jüdische Schule gehen. Die im Westend, nicht auf die andere. Da sind nur Konvertiten«, sagte er und führte seine Hand zur Weinflasche, zog sie aber gleich wieder zurück und steckte sie in seine Hosentasche.

»Im Westend sind nur Russen.« Ich schenkte ihm nach.

»Und wer sind wir?«

»Zumindest keine Konvertiten aus SA-Familien.« Sergej lachte über seinen eigenen Witz. Dann rollte er Spaghetti um seine Gabel.

»Wie ist die Pasta?«

»Hervorragend.«

»Nicht zu weich?«

»Sie ist gut, Lou.« Er nahm noch einen Bissen, als wollte er seine Aussage unterstreichen. »Die Schule —«

»Ich möchte nicht, dass sie religiös wird«, unterbrach ich ihn: »Weißt du noch, was Sarah passiert ist?«

Sergej schaute mich fragend an, wenn auch nicht wirklich interessiert. Er wusste, dass ich eigentlich nicht Sarah meinte, eine entfernte Bekannte, deren Geschichte ich nur ganz am Rande aufgeschnappt hatte, sondern David, mit dem ich in meiner Jugend verheiratet gewesen war.

»Ihr Mann wollte den Kindern mehr community geben, und am Schluss waren die Kinder orthodox und weigerten sich, bei Sarah zu essen, weil es nicht koscher genug war.«

»Das war in Paris, oder?«

»Na und?«

»Paris ist etwas anderes, Lou. Frankreich ist etwas anderes. Hier …«

»Davon spreche ich doch, wir sind hier.« Meine Stimme war lauter als beabsichtigt.

»Eben. Hier wird sie nur etwas über tote Juden erfahren. Nichts über lebende, nichts über dieses Wir, das dir neuerdings so wichtig ist.«

Ich setzte an, um ihm zu antworten, aber mir fiel nichts ein.

Sergej hörte auf zu kauen und sagte: »Nicht der Holocaust macht uns zu Juden, sondern die Tatsache, dass wir unter den Nachkommen der Täter leben.«

»Das ist jetzt auch keine Neuigkeit«, sagte ich und wusste, dass er gleich wieder auf sein Lieblingsthema kommen würde.

»Ja, aber das Problem ist, dass so viele zum Judentum konvertiert sind und sich nun dazu berufen fühlen, sich um den sogenannten interreligiösen Dialog zu kümmern«, sagte er.

»Aber nur um den mit den Christen.«

»Baruch HaSchem«, sagte Sergej mit vollem Mund.

»Wenigstens das können uns die Araber nicht vorwerfen.«

»Ich weiß nicht, wie oft mir das Judentum von Deutschen abgesprochen worden ist. Weißt du noch, wie der eine, ich vergesse immer seinen Namen, der auch bei Rewe einkauft … An der Käsetheke erklärt er mir immer, dass ich kein Jude bin.«

»Wieso redest du überhaupt mit ihm?«

»Er ist der Chef meiner Plattenfirma.«

»Natürlich ist er das.«

Er lächelte.

»In den USA war vieles besser.«

»Aber nicht der Käse«, korrigierte Sergej mich. »Und auch nur in New York.« Er machte eine Pause und schob den Teller von sich: »Das Essen war wirklich gut, vielen Dank.«

»Möchtest du noch mehr?«

Als er nicht antwortete, zog ich ihn ins Schlafzimmer. Sex fiel mir im Gegensatz zu Beziehungen leicht. Ich fand ihn unkompliziert: Entweder er funktionierte zwischen zwei Menschen oder nicht, während Beziehungen zu viele Interpretationsspielräume offenließen. Sex war einfache, ehrliche Kommunikation. Danach lagen wir nebeneinander im Bett und berührten uns nicht. Zwischen uns war kein Ozean, keine Geste, kein Wort. Ich schaltete die Lampe aus. Plötzlich rutschte Sergej nah an mich heran, legte seine Hand auf meinen Bauch und flüsterte: »Wir sollten mit ihr in die Synagoge gehen.«

»Machst du das?«

»Ich muss nach Salzburg.«

Davon hatte ich bis dahin nichts gewusst, unterdrückte aber den Impuls, mich zu beschweren: »Hattest du es mir erzählt?«

»Mehrmals.«

»Wann?«

»Keine Ahnung.«

»Nein, ich meine, wann bist du in Österreich?«

»Erst Ende August. Danach gehe ich mit ihr hin. Versprochen. Es sind zwei Konzerte und eine Meisterklasse — zu viel Geld, um abzusagen.«

Geld war immer das Argument, das gewann, vor allem, da wir seit der Pandemie fast pleite waren. Ich wünschte, Sergej hätte noch etwas gesagt, etwas versprochen, aber er blieb stumm. Zwischen uns hatten sich schon zu viele Anschuldigungen und Enttäuschungen angesammelt, es war besser, wenn wir schwiegen.

Vor sieben Jahren, am Anfang unserer Ehe, hatten wir noch versucht, uns nach einem Streit auszusprechen, einander zuzuhören und zu verzeihen, nur um uns kurz darauf nur noch lauter und verzweifelter anzuschreien. Mittlerweile haben wir sogar das Schreien eingestellt.

Manchmal kam es mir so vor, als hasste ich meinen Mann, vor allem, wenn er sich auf ein Konzert vorbereitete. Dann igelte er sich für Tage, mitunter für Wochen ein und war weder für mich noch für Rosa erreichbar. Es schien, als hätte er unsere Existenz aus seinem Bewusstsein getilgt. Seine Mutter erzählte begeistert, dass er schon als Sechsjähriger stundenlang allein üben konnte, und bis heute lautete die erste Frage, die sie ihm stellte: »Hast du schon geübt?« Er hatte immer geübt, selbst an dem Tag, als Rosa geboren wurde, übte er.

Ich mochte Musik nicht einmal. Ich hörte sie mir an, aber ich mochte sie nicht. Wobei ich auch gar nicht viel heraushören konnte, denn ich hatte überhaupt kein musikalisches Gehör, obwohl fast alle um mich herum Musiker waren.

Sergej hatte ich geheiratet, weil ich meiner Mutter etwas beweisen wollte. Meine Mutter unterrichtete ebenfalls Klavier. Nur mich hatte sie niemals unterrichtet, weil es nicht zu übersehen war, dass ich keinerlei musikalisches Talent besaß. Seit ich Sergej geheiratet hatte, ging meine Mutter allerdings davon aus, dass ich doch eine Begabung besaß — eine für Männer.

Dabei hatte ich einen Beruf: Ich war promovierte Kunsthistorikerin und Galeristin. Für viele Menschen war das vielleicht kein richtiger Beruf, aber bevor Rosa zur Welt kam, war ich für eine internationale Galerie von einer Kunstmesse zur anderen gereist und hatte Künstler auf der ganzen Welt in ihren Ateliers besucht. Doch mein größtes Talent lag darin, obszön reiche Sammlerinnen dazu zu bringen, sehr viel Geld für ein Bild auszugeben. Ich konnte innerhalb weniger Sekunden erraten, wonach sich die Frauen sehnten, und projizierte genau diese Sehnsüchte auf die Kunst, die ich ihnen verkaufte. Ich veränderte meine Tonlage, wurde zutraulich, manchmal sogar leicht übergriffig, und schon wechselten sechsstellige Summen die Besitzerin. Für diese Frauen waren das allerdings keine nennenswerten Ausgaben. Immerhin war bisher noch niemand auf die Idee gekommen, mich auf russische Oligarchen anzusetzen.

Sergej lernte ich kennen, als ich das erste Mal zu einer Sammlerin eingeladen wurde: Damals traute ich mich kaum, das Haus zu betreten. Ich war vierundzwanzig und gerade in New York angekommen, um an der Columbia in Kunstgeschichte zu promovieren. Ich hatte ein Stipendium bekommen, und die Gastgeberin war eine Bekannte meiner Professorin, die mir das Stipendium besorgt hatte. Alles, woran ich an diesem Abend denken konnte, war, dass ich versehentlich meinen kürzesten Rock angezogen hatte und dass der auch noch von H&M war.

Nachdem ich fast eine halbe Stunde vor dem Haus auf und ab gelaufen war und dabei eine Zigarette nach der anderen geraucht hatte, sah ich irgendwann eine Kommilitonin an der Tür und ging mit ihr hinein. Das Haus war voller Menschen, es müssen Hunderte gewesen sein, und ich fand jeden einzelnen von ihnen angsteinflößend.

Im Flur neben dem Eingang befand sich ein Werk von Félix Gonzáles-Torres: ein Berg goldener Bonbons. Das Gesamtgewicht der Bonbons betrug genau 79 Kilo — das Idealgewicht des 1991 an Aids verstorbenen Partners von Gonzáles-Torres. Damals habe ich mich nicht getraut, ein Bonbon mitzunehmen, aber in den Jahren, die folgten, nahm ich jedes Mal zwei, wenn ich eine seiner vielen Bonbon-Arbeiten sah. Eines steckte ich sofort in den Mund und das andere in meine Tasche.

Das Wohnzimmer der Sammlerin glich einem Galerieraum. An den Wänden hingen großformatige Gemälde, und in der Mitte des Raums stand ein Flügel, auf dem Sergej spielte. Später traf ich ihn in der Küche, wo er mit einem Kellner scherzte, der sich als sein Kommilitone herausstellte. Ich fragte sie, ob sie wussten, wo das Gästebad war, das ich schon seit einer halben Ewigkeit suchte. Kurz darauf wurde Sergejs Bekannter ermahnt, weiterzuarbeiten, während Sergej und ich höflich der Küche verwiesen wurden. Wir setzten uns auf ein riesiges Sofa, das zwanzig Menschen Platz geboten hätte, und Sergej fing sofort an zu erzählen. Seiner Geschichte konnte ich nicht folgen, doch ich sah, dass er nervös war, und das gefiel mir. Ziemlich schnell stellten wir fest, dass wie beide aus Deutschland kamen und Russisch sprachen. Wir unterhielten uns den ganzen Abend lang, immer wieder ließen wir uns Champagner nachschenken und kicherten zusammen auf Russisch, das wir beide nicht mehr allzu gut beherrschten, aber wir bildeten uns ein, dass es außer uns keiner verstand. Wir waren Maskottchen, die nicht in diese Welt gehörten und nur wegen ihres Unterhaltungswerts (Sergej) oder aus Versehen (ich) eingeladen worden waren.

Ich fragte ihn, ob wir uns wiedersehen könnten. Er nickte und schrieb mir seine Nummer in übertrieben großen Ziffern auf den Unterarm, damit ich sie nicht verlor, wie er sagte. Ich verlor sie nicht.

Bevor ich in die USA kam, hatte ich eine sehr romantische Vorstellung von New York. Bis ich Sergej traf, fühlte ich mich dort einsam und isoliert. Ich schaffte es einfach nicht, neue Leute kennenzulernen. An den meisten Abenden saß ich alleine in meinem Zimmer und dachte an meinen ersten Ehemann, vor dem meine Mutter mich gewarnt hatte. Er hatte eines Nachts Gott gefunden und mich am nächsten Morgen verlassen. Nun musste ich mir beweisen, dass ich ihn vergessen könnte. Am besten irgendwo weit weg. Und nichts schien mir damals so weit weg von meinem bisherigen Leben zu sein wie ein Studium an der Columbia.

Nach jenem Abend mit Sergej fiel die Schwere wieder von mir ab. Mit ihm lernte ich die Stadt neu kennen und überwand meine Angst vor Ratten und überfüllten U-Bahnen. Bald hatten wir eine Lieblingsbar, in der es gute Live-Musik gab und die Getränke unschlagbar billig waren. Danach liefen wir ziellos und oft schweigend durch die Straßen und erzählten uns unsere Leben, nur um irgendwann in Sergejs winzigem Apartment in China Town zu landen, wo es immer nach dem Essen aus einem der vielen nahe gelegenenen Restaurants roch. Ich wollte mit Sergej jede freie Sekunde verbringen, nur eine Beziehung wollte ich nicht.

Ein halbes Jahr später saß ich bei Sergejs Abschlusskonzert an der Julliard und weitere zwei Wochen danach verabschiedete ich ihn am Flughafen. Er ging zurück nach Berlin, obwohl ich nicht verstand, weshalb.

In den nächsten drei Jahren kam er immer wieder für Konzerte nach New York, aber wir sahen uns nicht oft. Der Kontakt wurde immer weniger und beschränkte sich bald auf gelegentliche SMS und Likes. Dann beendete ich meine Promotion, und weil ich Schwierigkeiten mit meinem US-Visum hatte, musste ich nach Berlin zurückkehren. Am liebsten hätte ich Berlin gleich wieder verlassen, aber ich fand einen gut bezahlten Job in einer Galerie, deren Chefin Octavia mich von Anfang an machen ließ, worauf ich Lust hatte. Außerdem rief ich Sergej an. Wir trafen uns, und alles war wie früher, nur dass er inzwischen mit einer Ballerina zusammenlebte. Ich hätte nicht gedacht, dass ich eifersüchtig wäre. Ich dachte, ich hätte meine Gefühle unter Kontrolle, dabei liebte ich ihn. Glücklicherweise dauerte es nicht lange, bis Sergej und die Ballerina sich trennten und ich ihn trösten konnte. Zumindest dachte ich, ich würde ihn nur trösten. Neun Monate später wurde Rosa geboren. Als sie vier wurde, wurde ich wieder schwanger. Ich entschied mich, meinen Job in der Galerie zu kündigen und ein Buch über die Auswirkungen der Aids-Krise auf die amerikanische Kunstszene zu schreiben. Eine Arbeit, mit der ich nicht vorankam, obwohl es das Thema war, über das ich promoviert hatte.

Trotz all der Umbrüche der letzten Jahre blieb eines immer gleich: In den meisten Räumen, in denen Sergej sich zu Hause fühlte, war ich fremd. Aber ich hatte immer gewusst, dass ich einen Juden heiraten würde, und das hatte den Ausschlag gegeben.

Ich verließ die Wohnung in Eile: Wir waren zu spät dran für Rosas musikalische Früherziehung, und ich tippte hektisch in mein Handy auf der Suche nach einem Uber, das uns zur Musikschule bringen würde. Im Hausflur hatte schon wieder jemand alte, unbrauchbare Schränke und abgenutzte Kochtöpfe abgestellt, anstatt sie zum Sperrmüll zu bringen.