Der Sanaa-Code - Andrea C. Hoffmann - E-Book
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Der Sanaa-Code E-Book

Andrea C. Hoffmann

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Beschreibung

Ein gnadenloser Wettlauf gegen einen unbekannten Feind: Der rasante Thriller »Der Sanaa-Code« von Andrea C. Hoffmann jetzt als eBook bei dotbooks. Ein Geheimnis, das die Geschichte der Menschheit neu schreiben könnte … Durch Säureanschläge werden in New York und Berlin die einzigen Fotografien der ältesten Koran-Schriften der Welt vernichtet. Handelt es sich hier um einen lange vorbereiteten terroristischen Akt? Parallel zur deutschen Polizei beginnt auch die CIA fieberhaft zu ermitteln. Die Restauratorin Katharina Sternberg macht sich auf die Suche nach ihren eigenen Antworten. Der Grund: Ihr Vater, der einst zu den Entdeckern der islamischen Artefakte gehörte, ist nach einer Explosion in seinem Haus spurlos verschwunden. Verbirgt sich hier ein dunkler Zusammenhang? Eine vage Spur führt Katharina in den Jemen. Dabei ahnt sie nicht, dass ihr die CIA-Agentin Grace Dumont folgt – und eine mächtige Institution längst damit begonnen hat, alle Zeugen skrupellos aus dem Weg zu räumen … Jetzt als eBook kaufen und genießen: »Der Sanaa-Code« von Andrea C. Hoffmann. Die Autorin ist Nahost-Expertin des FOCUS und hat auf Grundlage ihrer jahrelangen Recherche für diesen mitreißenden Thriller ausschließlich historisch belegte Zusammenhänge, Artefakte und Schriften ausgewählt – die Fans von Dan Brown und Frank Schätzing werden begeistert sein! Wer liest, hat mehr vom Leben: dotbooks – der eBook-Verlag.

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Über dieses Buch:

Ein Geheimnis, das die Geschichte der Menschheit neu schreiben könnte … Durch Säureanschläge werden in New York und Berlin die Fotografien der ältesten Koran-Schriften der Welt vernichtet. Ein bizarrer Zufall – oder ein lang vorbereiteter terroristischer Akt? CIA und Polizei beginnen, fieberhaft zu ermitteln. Auch die Restauratorin Katharina Sternberg macht sich auf die Suche nach Antworten: Ihr Vater, der einst zu den Entdeckern der islamischen Artefakte gehörte, ist nach einer Explosion in seinem Haus spurlos verschwunden. Gibt es einen dunklen Zusammenhang? Katharina folgt einer Spur in den Jemen. Sie ahnt nicht, dass ihr die CIA-Agentin Grace folgt – und eine mächtige Institution begonnen hat, Zeugen und Ungläubige skrupellos aus dem Weg zu räumen …

Über die Autorin:

Dr. Andrea C. Hoffmann, geboren 1973 in Marburg, studierte Psychologie und Journalistik in Leipzig und Florenz und promovierte in Medienwissenschaften. Heute ist sie Nahost-Expertin des Magazins FOCUS. Daneben lehrt sie an verschiedenen Hochschulen, u. a. an der Universität Mannheim und der Swiss-German-University in Jakarta. Als Autorin veröffentlichte sie bislang erfolgreiche biografische Romane über muslimische und jesidische Frauen in aktuellen Krisenregionen, welche bereits in zahlreiche Sprachen übersetzt wurden. Mit »Der Sanaa-Code« gibt Andrea C. Hoffmann nun ein fulminantes Thriller-Debüt.

Weitere Informationen über die Autorin unter:

www.andreachoffmann.com

***

eBook-Originalausgabe September 2018

Copyright © der Originalausgabe 2018 dotbooks GmbH, München

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Redaktion: Ralf Reiter

Titelbildgestaltung: Nele Schütz Design unter Verwendung von shutterstock/skyNext, Persian Graphics Studio

eBook-Herstellung: Open Publishing GmbH (aks)

ISBN 978-3-96148-346-4

Liebe Leserin, lieber Leser, wir freuen uns, dass Sie sich für dieses eBook entschieden haben. Bitte beachten Sie, dass Sie damit ausschließlich ein Leserecht erworben haben: Sie dürfen dieses eBook – anders als ein gedrucktes Buch – nicht verleihen, verkaufen, in anderer Form weitergeben oder Dritten zugänglich machen. Die unerlaubte Verbreitung von eBooks ist – wie der illegale Download von Musikdateien und Videos – untersagt und kein Freundschaftsdienst oder Bagatelldelikt, sondern Diebstahl geistigen Eigentums, mit dem Sie sich strafbar machen und der Autorin oder dem Autor finanziellen Schaden zufügen. Bei Fragen können Sie sich jederzeit direkt an uns wenden: [email protected]. Mit herzlichem Gruß: das Team des dotbooks-Verlags

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Andrea C. Hoffmann

Der Sanaa-Code

Thriller

dotbooks.

Prolog

Nachdem der Mond untergegangen war, lag die alte Villa in völliger Dunkelheit. Der Mann mit der Narbe im Gesicht verließ seine Deckung im nahe gelegenen Schilf und näherte sich dem Eingang des Gebäudes. Leise machte er sich an der Haustür zu schaffen. Offenbar hatte es der Besitzer nicht für nötig gehalten, in ein Sicherheitssystem zu investieren. Eine Fehlentscheidung. Der Eindringling berührte den Lauf der Walther PPK unter seiner Jacke. Er empfand kein Mitleid. Es war der Wille des Meisters, den er hier erfüllte.

Lautlos schlüpfte er in den Flur und erstarrte. Noch bevor er sich den intensiven Brandgeruch bewusst machen konnte, begann die Narbe in seinem Gesicht zu pochen, und sein Instinkt schaltete auf Fluchtmodus. BEHERRSCHE DICH! Die Stimme des Meisters in seinem Kopf dominierte die natürlichen Reflexe und zwang ihn, an Ort und Stelle zu bleiben.

Er schüttelte sich kurz und versuchte, weiter rational vorzugehen. Schwelte hier irgendwo ein Kabelbrand, oder hatte der Hausherr vergessen, eine Herdplatte auszuschalten? Was auch immer es sein mochte, bald würde es sowieso keine Rolle mehr spielen. Widerwillig atmete er die versengte Luft ein, als er an den langen Bücherregalen im Flur vorbeischlich. Nein, das war kein schmorendes Kabel. Es erinnerte eher an Kleider, die man nach einem Abend am Lagerfeuer zum Lüften ins Freie hängt.

Als er die Tür zum Salon des Hauses öffnete, wurde der Rauchgeruch fast unerträglich. Erneut musste er eine aufsteigende Panikwelle niederkämpfen. Schnell knipste er seine Halogenleuchte an und nahm das Bild, das sich ihm bot, in sich auf: Sämtliche Möbel waren rußig und verkohlt, ebenso die Wände. An einer Stelle klaffte ein riesiges Loch in der Mauer.

Er richtete den Lichtstrahl in den angrenzenden Raum, das Arbeitszimmer, und sah die Reste eines zerstörten Schreibtischs. Daneben stand ein verbogener, schwarzer Kasten aus Metall. Die Tür des kaputten Tresors stand offen. Er leuchtete hinein; natürlich war er leer.

Der Eindringling fluchte. Jemand war ihm zuvorgekommen.

Kapitel 1

15. August, frühmorgens, WashingtonGrace Dumont markierte alle eMails, die den Absender »Pressestelle« trugen. Auf was für eine abstruse Idee war die Direktion da nur gekommen, den Mitarbeitern neuerdings die »Fanpost« weiterzuleiten? eMails, meist von amerikanischen Bürgern, die ihre Dankbarkeit gegenüber der Behörde ausdrückten: Danke, dass Sie unser Land beschützen oder Danke, dass Sie unsere Botschaft in Libyen verteidigt haben!

Seitdem es Grace vor einigen Monaten gelungen war, einen Anschlag auf den Super Bowl in Denver zu verhindern, konnte sie sich vor solchen Mails kaum mehr retten. Die Leute überschlugen sich nur so mit Lobeshymnen auf die CIA und damit auch auf ihre Arbeit.

Sie war es gewesen, die nach den Hinweisen auf eine Bombe in der Mannschaftsumkleide entschieden hatte, das Stadion räumen zu lassen. Trotz massiver Proteste hatte sie darauf bestanden, das Event in letzter Minute abzublasen. Die Sponsoren des Spiels, darunter potente Firmen wie Nike, Vodafone und Coca-Cola, waren fast ausgeflippt und hatten ihr die Politiker auf den Hals gehetzt. Alle hatten sie versucht, ihre Anordnung, die Besucher und Spieler sofort nach Hause zu schicken, zu unterbinden. Auch die Fernsehsender warnten, dass sie auf Rückerstattung ihrer ausgefallenen Werbehonorare klagen würden. Aber Grace hatte sich nicht beeindrucken lassen. Sollten sie doch zetern! Das war nicht ihr Problem. Sie hatte das Notwendige zum Schutz der Menschen vor Ort unternommen. Das tat sie immer, egal wie unbequem die Konsequenzen sein mochten. Und mit ihren 56 Jahren fürchtete sie sich auch nicht mehr vor tobenden TV-Bossen, Bürgermeistern oder Vorgesetzten. Dazu war sie schon viel zu lange im Geschäft.

Natürlich wussten das die Verfasser der Mails nicht. Niemand außerhalb der Behörde ahnte schließlich, was sie tat oder nicht tat. Trotzdem leitete ihr die PR-Abteilung automatisch eine Kopie weiter, wenn der Inhalt einen ihrer Fälle berührte. Offiziell hieß es, dass darin ja wichtige Informationen enthalten sein könnten. Aber Grace hegte eher den Verdacht, dass es sich um eine neue Motivationsstrategie der Führungsetage handelte.

Als ob das bei ihr nötig wäre. Sie lebte ohnehin ganz und gar für ihre Arbeit. Und seit wann machte sich ein Geheimdienst von der öffentlichen Meinung abhängig? Sie selbst misstraute Leuten, die auf Komplimente schielten, grundsätzlich: Sie waren zu leicht beeinflussbar.

Also weg mit den Mails. Grace beförderte alle markierten Nachrichten in den virtuellen Papierkorb. Ihre Zeit war viel zu kostbar, um sich mit solchem Unfug zu befassen.

Gerade wollte sie das eMail-Programm schließen, als sie noch eine weitere Nachricht entdeckte. Sie war gestern Abend abgesendet worden und als classified markiert, also als geheim einzustufende Information. Das klang schon interessanter.

Absender war Jamie Curtis, ein Führungsoffizier des New Yorker Büros. Neugierig öffnete sie die Nachricht. Sie kannte Jamie von diversen Kooperationen. Insbesondere nach 9/11 hatte sie viel in New York gearbeitet und hatte sich zur Expertin für islamischen Terrorismus entwickelt. Ihre Einsätze hatten sie in den Irak, nach Afghanistan und nach Syrien geführt. Dass sie fließend Arabisch sprach, war dabei natürlich von Vorteil – und einer der wenigen Gründe, warum sie ihrer libanesischen Mutter gegenüber so etwas wie Dankbarkeit empfand. Nun, Dankbarkeit war vielleicht ein zu großes Wort, jedenfalls hatte ihre Mom in diesem einen Punkt nicht komplett versagt.

Es geht um die Angelegenheit im Metropolitan Museum of Art, schrieb Curtis. Grace hatte gestern davon im Internet gelesen: Die Online-Medien, die mit ihren Einschätzungen bekanntermaßen recht schnell waren, sprachen von einem versuchten Kunstraub, der sich in der Nacht zuvor ereignet hatte. Einige spekulierten aber auch, dass es sich um einen Terroranschlag handelte. Details hatte bislang niemand genannt.

Wir brauchen eine kompetente Einschätzung in dieser Sache, schrieb Curtis in seiner knappen Mitteilung. Kannst du rüberkommen und einen Blick darauf werfen?

Grace brauchte nicht zu überlegen; natürlich konnte sie: In ihrem Büro stand immer eine gepackte Reisetasche. Neben Waschartikeln, Schmink- und Sportzeug befand sich darin ein klassisches Designer-Business-Kostüm, ihre Standard-Arbeitskleidung, mit der sie überall auf der Welt richtig gekleidet war. Sie war immer einsatzbereit. Kurz entschlossen bat sie die Sekretärin, sie auf die nächste Maschine nach New York zu buchen. Sie würde sich die Sache ansehen.

Im Taxi zum Flughafen las sie Curtis’ Mail erneut, nur um festzustellen, dass er mit keiner Silbe erwähnte, warum er glaubte, der Anschlag – oder was auch immer im Museum gestern Nacht geschehen war – könne für sie von Interesse sein. Das machte sie nur noch neugieriger. Irgendetwas Entscheidendes schien ihr der Kollege nicht per Mail mitteilen zu wollen.

15. August, morgens, Berlin-KreuzbergMart Thewes liebte diese Stadt. Er kannte keinen Ort auf der Welt, der so hip und gleichzeitig so relaxed war. Die amerikanische Westküste? Kein Vergleich. Wer interessierte sich schon für Müsli futternde Google-Kids, die ihre Kreativität vorzugsweise an Indoor-Kletterwänden entfalteten. Künstlerschmiede New York? Viel zu teuer. Dort hatte er sich selbst als Junior-Professor kaum ein anständiges Appartement leisten können. Wie sollte sich da eine kreative Elite entwickeln können? Nein, die wahren Freaks lebten in Berlin, wo das Leben die Hälfte kostete – und dafür doppelt so cool war. Hier hing die wirkliche Avantgarde rum. Die Boheme, die sich die Nächte mit Partys und Poetry-Slams um die Ohren schlug und tagsüber in Bruchbuden für ein paar Euro schlief.

Diese Stadt ist wirklich etwas Besonderes, dachte Thewes, während er mit seinem Leih-Fahrrad durch die Oranienstraße radelte. Hier trudelten die verkaterten Kreativen um zwölf Uhr mittags gerade zum Frühstücken ein und zahlten für kein Getränk mehr als zwei Euro fünfzig. Schlecht gekleidet waren sie, schlechter als in irgendeiner anderen westlichen Metropole – und dennoch wirkten die Berlinerinnen in ihren Secondhandklamotten und mit ihren seltsamen Frisuren immer auf wundersame Weise sexy. Genau wie die Studentinnen, die den dreiwöchigen Sommerkurs in Alt-Orientalistik besuchten, den er an der Freien Universität anbot. Dort unterrichtete er im Rahmen eines deutsch-amerikanischen Austauschprogramms für Junior-Professoren. Drei Wochen, die viel zu schnell vorbeigehen würden, das wusste er bereits jetzt, zu Beginn der zweiten Woche.

Er wollte unbedingt länger in Berlin bleiben und hatte sich deshalb auf eine Stelle bei der Orient-Gesellschaft beworben. Diese suchte einen neuen Leiter für die Abteilung Arabischer Golf. Eigentlich war die Position eine Nummer zu groß für ihn, aber sein akademischer Hintergrund an den besten Universitäten der USA konnte ihm hier sicher von Vorteil sein.

Wie gut, dass man als Amerikaner in Deutschland immer noch so etwas wie einen natürlichen Wettbewerbsvorteil genoss, nicht nur was Frauen anging. Wenn man als amerikanischer Forscher an eine deutsche Uni kam, glaubten die Kollegen automatisch, man habe wissenschaftlich die Nase vorn. Manchmal stimmte das, oft aber auch nicht. Gerade, was die Orientalistik anging, blickten die europäischen Institute doch auf eine lange Tradition zurück. In Berlin lagerten Schätze, von denen viele amerikanische Einrichtungen nur träumen konnten: alte Keilschrift-Tafeln aus Mesopotamien oder der Pergamonaltar. Vieles waren Relikte aus der Kolonialzeit, als die europäischen Forscher wie Goldgräber durch den Nahen Osten gezogen waren und dort alles eingepackt und verschifft hatten, was nicht niet- und nagelfest gewesen war. Sogar Statuen und Säulen hatten sie abtransportieren lassen.

Zu den interessantesten und auf wundersame Weise immer noch ungehobenen Schätzen der Orient-Gesellschaft gehörte Thewes’ Ansicht nach eine einzigartige Fotosammlung. In den Siebzigerjahren waren im Jemen sehr wertvolle alte Koran-Manuskripte gefunden worden. Damals hatten sich deutsche Forscher der Sache angenommen, unter ihnen auch der jetzige Leiter des Instituts, Professor Niemeyer, und hatten diese klugerweise abfotografiert. Doch seither schienen die Abzüge in den Archiven zu vermodern. Er jedenfalls hatte nie auch nur eine einzige deutsche Publikation zu den Jemen-Manuskripten gelesen. Das fand er schon mehr als erstaunlich. Wer sich der Erforschung dieser Bilder annahm, konnte enormes Renommee gewinnen. Niemeyer hatte seine Chance ungenutzt verstreichen lassen. Er schien an seiner Professur genug zu haben und sich lieber auf diesem Posten auszuruhen, als weiteren akademischen Ambitionen nachzujagen. Umso besser. Dann konnte er, Thewes, damit glänzen.

Das war seine Mission in Berlin. Anfang der Woche hatte er Niemeyer gebeten, ihm Zugang zu den Aufnahmen zu gewähren. Er wollte sie gerne vorab anschauen, bevor er sich dem Gespräch der Prüfungskommission stellte. Aber der Alte wachte geradezu eifersüchtig über seine Fotografien. »Das ist nicht so einfach, wie Sie sich das vorstellen. Normalerweise gewähren wir nur ausgewählten Kollegen unseres eigenen Stabs Zugang zu diesen wertvollen Dokumenten«, hatte er ihn wissen lassen.

Jetzt befand sich Thewes erneut auf dem Weg zu Niemeyer, um ihn noch einmal zu bearbeiten. Er wusste, dass ihre gegenseitige Antipathie ihm diese Aufgabe sehr erschwerte. Schon beim ersten Kennenlernen hatte er das Misstrauen des Alten ihm gegenüber deutlich gespürt. Und auch er konnte Niemeyer nicht besonders gut leiden. Diesen verstaubten Typ Professor, in grauem Anzug und mit buntem Einstecktuch, gab es wohl nur noch in Europa. Er wirkte einfach aus der Zeit gefallen. Niemeyer ließ sich jede eMail von seiner Sekretärin ausdrucken! Wo, bitte schön, gab es denn so was? Wann räumte diese Generation nur endlich ihre hoch dotierten Stellen und machte Platz für ambitionierte Jungwissenschaftler auf der Höhe der Zeit?

Aber Thewes konnte sich zusammenreißen, wenn es drauf ankam. Und jetzt kam es drauf an. Schließlich würde Niemeyers Stimme in der Berufungskommission maßgeblich zählen. Also gab er sich redlich Mühe, den Alten zu umgarnen. Zum Glück hatte seine Familie einigen Einfluss. Sein Vater, ein renommierter Historiker in Harvard, organisierte regelmäßig internationale Kongresse, und Thewes hatte vor, das heute im Gespräch beiläufig fallen zu lassen. Vielleicht konnte er Niemeyer mit der Aussicht auf eine Einladung zu einer dieser hochkarätigen Konferenzen locken. Eigentlich klappte das immer ganz gut.

Als er mit seinem Fahrrad in die Geschwister-Scholl-Straße einbog, sah er schon von Weitem die beiden blau-weißen Polizeiautos, die mitten auf der Straße parkten. Ihre Windschutzscheiben spiegelten die Augustsonne. Das war kein ungewohnter Anblick im Herzen von Berlin, in der Nähe der Museumsinsel gab es immer viele Touristen – und auch viele Polizisten. In Zeiten des internationalen Terrorismus hatte man sich daran gewöhnt, dass die Ordnungshüter mehr Präsenz zeigten. Aber diesmal schien es um mehr zu gehen: Rund um den Sitz der Orient-Gesellschaft, die in einem repräsentativen Gebäude zwischen den anderen Museumsprunkbauten untergebracht war, hatten die Beamten rot-weiß gestreifte Absperrbänder gespannt.

»Bedaure, kein Zutritt!«, stoppte ihn ein Polizist. Der Uniformierte hielt eine Schar von Schaulustigen in Schach, die sich vor der Absperrung versammelt hatte.

»Warum? Why?«, fragte Thewes. »Do you speak English?«

Der Beamte zuckte mit den Schultern, was entweder heißen konnte, dass er ihn nicht verstand oder nicht verstehen wollte. Leider sprach Thewes nur ein paar Brocken Deutsch. In Berlin kam man auch gut mit Englisch durch, und an den Unis waren englischsprachige Lehrveranstaltungen en vogue, sodass bislang keine Notwendigkeit bestanden hatte, sich ernsthaft um die deutsche Sprache zu bemühen. Für seinen Lebenslauf und die Bewerbung hatte er aber immerhin schon einen Grundkurs absolviert.

»Was ist los?«, machte er einen weiteren Versuch, den Polizisten zum Reden zu bewegen.

»Na, das sieht man doch«, kam brummelnd die Antwort. Mehr sagte der Mann nicht.

Hilfe suchend sah Thewes sich um. Bei einem Großteil der Schaulustigen handelte es sich offenbar um Touristen. Aber wo waren die Wissenschaftler des Instituts? Gab es denn niemanden, der ihm hier Auskunft geben konnte?

»Es hat einen Anschlag gegeben«, sagte eine junge Frau auf Englisch zu ihm. Sie hatte blasse Haut und ihre rötlichen Haare zu einem Dutt zusammengeknotet, wie es viele Frauen in Deutschland taten. Thewes glaubte, sie von irgendwoher zu kennen. War sie eine Studentin, die an seinem Seminar teilnahm? Nein, jetzt erinnerte er sich: Sie hatte in Niemeyers Büro gesessen, als er ihn um Erlaubnis gebeten hatte, die Fotosammlung einzusehen. Vermutlich war sie eine seiner Mitarbeiterinnen.

»Was für einen Anschlag?«, fragte er sie, ebenfalls in seiner Muttersprache. »Wo ist Niemeyer?«

»Oben in seinem Büro. Er hat mich angerufen.«

»Ich muss dringend zu ihm!«

Sie sah ihn an, als hätte er den Verstand verloren. »Sie sehen doch, dass das nicht möglich ist«, sagte sie und deutete auf das Absperrband. »Mich lassen sie auch nicht zu ihm hoch, niemanden.«

Thewes nickte. Er schob sein Fahrrad ein Stück zur Seite. »Was hat Niemeyer zu Ihnen gesagt?«, fragte er.

»Er …« Sie hielt inne, nicht sicher, was sie ihm erzählen durfte. »Er sagte, dass es einen Anschlag gab und dass die Polizei im Haus ist.«

»Was für einen Anschlag? Wurde jemand verletzt?«

»Nein.«

»Was dann?«

Sie zögerte.

»Bitte sagen Sie mir doch, was Sie wissen«, bat er sie sanft und sah ihr etwas länger als nötig in die Augen. Er wusste sehr wohl, welche Wirkung er damit erzielen konnte. Vielen Frauen gefiel er auf Anhieb, dafür musste er sich gar nicht anstrengen. Es war wohl sein angenehmes Äußeres, das volle, dunkle Haar, die blauen Augen und sein relativ großer, muskulöser Körper, der sie anzog. »Sie waren gestern doch bei unserem Gespräch dabei«, erinnerte er sie. »Sie müssen wissen, dass ich extra aus den USA angereist bin, um die berühmte Fotosammlung der Gesellschaft zu sehen.«

Sie schluckte und warf ihm einen mitleidigen Blick zu.

»Meinen Sie, Sie könnten den Professor wenigstens anrufen und ihn fragen, wann ich einen Blick darauf werfen kann?«, bettelte er. Aber sie schüttelte abweisend den Kopf.

»Warum nicht?«

»Weil es keine Fotos mehr gibt!«

»Was?«

Die Rothaarige nickte. »Sie haben richtig gehört. Professor Niemeyer hat heute Morgen entdeckt, dass die Abzüge sämtlicher Fotos mit Säure übergossen wurden – ebenso wie die Mikrofilme, auf denen die Negative gespeichert waren.«

»O mein Gott!«

»Das kann man wohl sagen. Er hat natürlich sofort die Polizei verständigt.«

Thewes schnappte nach Luft. Die Fotosammlung, der Schatz der Orient-Gesellschaft – zerstört? Das durfte nicht wahr sein! In diesem Fall konnte er seine Bewerbung gleich wieder zurückziehen. Die Stelle würde zum wissenschaftlichen Abstellgleis verkommen. Wenn es keine Fotosammlung gab, gab es dort auch keine Lorbeeren für ihn zu ernten.

In diesem Moment sah er Professor Niemeyer in Begleitung zweier Polizisten in Zivil durch den Torbogen des Gebäudes treten. Er trug wie schon gestern einen Anzug mit Einstecktuch, und seine graue Mähne fiel tadellos geföhnt fast bis auf die Schultern. Aber heute hielt Niemeyer den Blick strikt auf den Boden gerichtet. Sein Auftritt erinnerte Thewes an Fernsehbilder von Zeugen, die aus dem Gerichtssaal geführt wurden und sich nicht den Fragen der Presse stellen wollten. Es war ganz offensichtlich: Der Professor wollte mit niemandem reden.

Thewes versuchte es trotzdem. »Professor Niemeyer!«, rief er.

Der Alte hob kurz den Kopf und blickte feindselig zu ihm herüber. Dann wandte er den Blick wieder ab. Die Polizisten begleiteten ihn noch bis zum Eingang zur Tiefgarage, in der er dann allein verschwand.

15. August, mittags, New York, Metropolitan Museum of ArtDer FBI-Mann erwartete Grace neben einer der Säulen vor dem Eingang des Museums. Auf seiner Stirn glänzten feine Schweißperlen. Er war ein bulliger Typ, das hellblaue Hemd spannte über seinem Bauch, als er Grace die Hand hinstreckte. »O’Neill«, sagte er, »hatten Sie einen guten Flug?«

»Ja, vielen Dank.« Grace schüttelte ihm die Hand und fixierte ihn mit ihren klaren, blauen Augen. »Meine New Yorker Kollegen haben mich gebeten zu kommen.«

»Curtis, ich weiß«, sagte O’Neill. »Er war bereits gestern hier.« Der Polizist musterte die kleine, gut gekleidete Frau mit der durchtrainierten Figur und dem blonden Kurzhaarschnitt – und wusste auf den ersten Blick, dass sie in einer anderen Liga spielte. »Die scheinen das Ganze ja ziemlich wichtig zu nehmen.«

Grace überhörte seine implizite Frage. Sie war es gewohnt, dass die Kollegen vom FBI nicht gerade in Freudentaumel ausbrachen, wenn die CIA auftauchte. Jede Einrichtung hatte schließlich ihren Stolz und wollte ihre Fälle allein lösen. »Gehen wir?«

»Selbstverständlich, folgen Sie mir.«

»Danke schön.« Grace lächelte kühl.

O’Neill lotste sie an den Besucherschlangen vorbei bis zur Ticket-Kontrolle, die sie mit einem Kopfnicken passierten. Sie betraten die Säulenhalle, in der die Glyptothek untergebracht war, dahinter befand sich der Fahrstuhl ins Untergeschoss. Kaum öffnete sich die Tür, stieg Grace ein ätzender Geruch in die Nase.

»Es ist eine etwas merkwürdige Angelegenheit«, sagte O’Neill, während er vor ihr her durch den Korridor lief, von dem zu beiden Seiten Türen zu den Lagerräumen des Museums abgingen. »Das Personal dachte zuerst an Kunstraub.«

Sie näherten sich einer Tür, die frische Kratzer am Schloss aufwies. Offenbar war sie erst vor Kurzem gewaltsam geöffnet worden. Vorderasien III, las Grace auf dem Türschild. Der FBI-Mann überließ ihr den Vortritt. Der Geruch wurde beim Eintreten so stark, dass Grace ein Tuch aus ihrer Handtasche kramte und sich Mund und Nase damit zuhielt, um nicht husten zu müssen.

In dem schmalen Raum stand eine Schrankwand aus Metall, die bis unter die Decke reichte. Alle Schubladen waren nach einem Katalogsystem fein säuberlich mit Ortskennungen und Jahreszahlen beschriftet. Etliche von ihnen lagen ausgekippt auf dem Boden. Ihr Inhalt war bis zur Unkenntlichkeit deformiert – und bildete die Quelle des grässlichen Geruchs.

»Ein Säureanschlag«, konstatierte Grace.

Der FBI-Kollege nickte. »Wir haben alles so belassen, wie wir es gestern vorgefunden haben; Curtis hat es so angeordnet. Aber natürlich sind wir schon ein paar Schritte weiter: Wir konnten die Spur des Täters ziemlich genau nachvollziehen. Er ist tagsüber als Besucher ins Museum gekommen und hat sich dann in einem Raum einsperren lassen, den die Reinigungskräfte benutzen. So konnte er dann in der Nacht ungestört agieren.«

»Haben wir ihn auf den Sicherheitskameras?«

»Das Material wird noch ausgewertet. Aber es scheint, als habe er genau gewusst, wie er die Kameras unterlaufen konnte.«

»Und das nächtliche Wachpersonal hat nichts gemerkt?«

»Nein, absolut nichts.«

»Was wissen wir sonst noch?«

»Er hat wohl bis zum Morgen gewartet und das Museum dann zusammen mit den ersten Besuchern verlassen. Der Schaden wurde erst am späten Vormittag festgestellt.«

»Hm, sehr diskret.« Grace wiegte den Kopf. »Ein Profi also. Und entwendet hat er nichts?«

»Bislang wurde bis auf diese Sauerei«, er deutete auf die von der Säure zerstörten Dokumente auf dem Boden, »kein Verlust registriert.«

»Erstaunlich. Ich brauche trotzdem eine vollständige Inventarliste aller Dinge, die hier in den Kellerräumen lagern.«

»Die habe ich besorgt.« O’Neill überreichte ihr einen Stoß Papier. »Die Dokumente, die in diesem Raum lagerten, sind ab Seite 156 aufgeführt. Es handelt sich wohl um alte Schriften aus dem Orient, beziehungsweise um Fotos von ihnen.«

»Schriften aus dem Orient?« Sie überflog die Eintragungen und zog die Brauen hoch. »Koran-Fragmente!«

»Ich habe bereits die Leiterin der Abteilung rufen lassen, um mehr darüber zu erfahren.«

»Gut«, kommentierte Grace. »Ich übernehme ihre Befragung.« Sie betrachtete den stinkenden Haufen. Langsam verstand sie, warum Curtis sie hinzugezogen hatte.

»Ganz wie Sie wünschen«, sagte O’Neill. Grace registrierte seine Enttäuschung, aber Islam und Islamismus waren nun einmal ihr Gebiet.

15. August, mittags, Berlin, Werkstatt für Papier-Restauration der Staatlichen Museen zu BerlinKatharina Sternberg hatte ihr langes, honigblondes Haar streng nach hinten gebunden, damit es sie bei der Arbeit nicht störte. Konzentriert beugte sie sich über ihr »Puzzle«: Hunderte kleinster Schnipsel eines alten Pergaments lagen in besonderer Ordnung auf dem Arbeitstisch. Sie stammten aus den Ruinen einer Kirche in Rom, über die italienische Bauarbeiter kürzlich beim Bau einer Tiefgarage gestolpert waren. Nun sollte sie die Bruchstücke wieder zusammensetzen. Wochenlang war sie damit beschäftigt gewesen, sie in die richtige Ordnung zu bringen. Zuerst hatte sie mit digitalen Fotografien am Bildschirm vorgearbeitet, nun war sie so weit, sich an die Originale zu wagen. Es war eine Arbeit, die hohe Konzentration erforderte. Schon ein kräftiger Atemzug konnte alles zerstören.

Sie trat kurz vom Tisch zurück und rief nach ihrem Praktikanten: »Sind Sie fertig, Patrick?«

Der junge Mann mit den blonden Locken brachte ihr einen nach Chemikalien stinkenden Topf – die neue Leimmischung. Sie überprüfte Temperatur und Konsistenz, bevor sie den Chemie-Cocktail mit einer Pipette aufnahm. Jetzt galt es zügig und konzentriert vorzugehen. Vorsichtig träufelte sie das Gemisch auf die einzelnen Puzzleteile, um sie aneinander zu fixieren. Sie musste alles verteilen, solange der Leim noch frisch war. Denn mit dem Erkalten erstarrte der Mix, hielt die Schnipsel in ihrer jeweiligen Position fest und versiegelte gleichzeitig ihre Poren, damit sie vor weiterer Zerstörung geschützt waren.

Katharina war so sehr in die Arbeit vertieft, dass sie zusammenschrak, als plötzlich das Labortelefon schrillte. Nicht jetzt!, dachte sie und versuchte, konzentriert zu bleiben. Aber bereits nach wenigen Minuten klingelte das Telefon erneut. Vielleicht war es etwas Dringendes, wenn jemand so insistierte. »Würdest du bitte mal schauen, wer da anruft?«, bat sie Patrick, ohne ihre Position zu verändern.

Er inspizierte das Telefon. »Unbekannte Nummer.«

»Nächstes Mal gehst du ran«, bat sie ihn. »Sag demjenigen, dass es jetzt nicht geht. Dass ich später zurückrufe.«

»Okay, Boss.«

Sie brauchten nicht lange zu warten, bis der Apparat erneut klingelte. Wie verabredet nahm Patrick das Gespräch an. »Archäologisches Labor, Schoner«, meldete er sich professionell. Es entstand eine kurze Pause, während der Katharina konzentriert weiterarbeitete.

»Ja, selbstverständlich, sofort«, hörte sie Patrick sagen. Wie bitte? Sie hatte doch wirklich klargemacht, dass sie den Anrufer zurückrufen würde. Fassungslos beobachtete sie, wie er ihr den Hörer hinhielt und ihr die Pipette aus der Hand nahm.

»Keine Sorge, ich mache das schon«, sagte er.

»Von wegen, Finger weg!«, fauchte sie. »Wehe, du gehst mit dem Leim an die Papiere! Lass einfach alles so, wie es ist. Ja, hallo?«

»Bundeskriminalamt«, meldete sich eine Stimme am anderen Ende. Pause. »Hallo? Spreche ich mit Frau Katharina Sternberg?«

»Richtig, das bin ich.«

»Kommissar Matthes. Es tut mir leid, dass ich störe, aber ich habe eine wichtige Frage: Wissen Sie, wo sich Ihr Vater aktuell aufhält?«

»Mein Vater? Nein, keine Ahnung.«

»Sie wissen also nicht, wo er sich in den vergangenen Tagen aufgehalten hat?«

»Nein.«

»Hatte er irgendwelche Reisen geplant?«

»Warum wollen Sie das denn wissen?«

»Im Haus Ihres Vaters hat es einen Vorfall gegeben.«

»Einen Vorfall? Was für einen Vorfall?«

Der Kriminalbeamte zögerte einen Moment. »Das wissen wir leider noch nicht genau. Wahrscheinlich eine Gasexplosion.«

Katharina spürte, wie es ihr den Hals zuschnürte. »Und mein Vater?«

»Deshalb rufe ich ja an. Wir müssten dringend mit ihm sprechen. Also wenn Sie uns bitte sagen könnten, wo wir ihn finden.«

»Ich sagte Ihnen doch bereits: Ich weiß es nicht.«

»Aber irgendeine Vermutung werden Sie doch haben!«, insistierte der Polizist am anderen Ende. Er schien ihr die Unkenntnis nicht abzunehmen.

»Wir haben … in letzter Zeit nicht oft miteinander gesprochen«, stammelte sie erschrocken. Wo war Vater? Was war mit ihm passiert?

»Könnten Sie heute Nachmittag zu mir ins Polizeipräsidium Werder kommen?«

»Ich komme sofort. In einer Dreiviertelstunde bin ich da«, sagte sie spontan.

»Ganz wie Sie wünschen, Frau Sternberg. Matthes ist mein Name. Bitte fragen Sie an der Pforte nach mir.«

Nachdem sie das Gespräch beendet hatte, musste Katharina erst einmal tief Luft holen. Patrick sah sie neugierig an, traute sich aber glücklicherweise nicht, sie irgendetwas zu fragen. Sie begutachtete ihre Arbeit. »Das muss jetzt leider warten«, sagte sie. »Schmeiß den Kleber weg, nicht dass er antrocknet und den Topf versaut. Wir machen heute Nachmittag weiter. Komm mit raus.«

Patrick nickte beflissen. »Kein Problem, Boss.«

»Und wenn jemand nach mir fragt, sagst du, ich sei nach der Mittagspause wieder zurück.«

Katharina verließ nach ihm das Büro und schloss die Tür zweifach ab. Außer ihr hatte niemand Zugang zu ihrem Raum im Institut.

15. August, mittags, Berlin, Parkplatz vor der PapierwerkstattDurch die verdunkelten Scheiben seines Audis beobachtete der Mann mit der Narbe, wie Sternbergs Tochter über den Parkplatz zu einem schwarzen Polo hastete, einem schrottreifen Modell. Seine Besitzerin war dagegen eine echte Schönheit. Mit ihrem wohlgeformten Gesicht, den hohen Wangenknochen und ausdrucksstarken Augen, deren Farbe irgendwo zwischen Grün und Braun schwankte, hätte sie bestimmt auch als Modell Karriere machen können. Ihr langes, blondes Haar fiel ihr nun, da sie es im Gehen löste, in leichten Wellen über die Schulter. Und die Jeans schmeichelte ihrer schlanken Figur.

Er sah zu, wie sie die Tür des Polos aufschloss und ihre Handtasche schwungvoll auf den Beifahrersitz warf, bevor sie sich ans Steuer setzte. Offenbar besaß sie Temperament – ganz der Papa.

Ob sie über die Explosion in der Villa Sternberg bereits informiert war? Er konnte sich kaum vorstellen, dass es nicht so war. Zwar wusste er nicht, wie eng das Verhältnis zwischen Vater und Tochter war, aber immerhin waren sie vom selben Fach. Vielleicht also hatte der Alte sie in seine Geheimnisse eingeweiht; vielleicht machte sie gemeinsame Sache mit ihm.

Nun ließ sie den Motor an. Der alte Polo ließ sich ein paarmal bitten, doch dann erwachte er mit lautem Knattern zum Leben. Langsam rollte sie in der alten Blechtrommel vom Parkplatz. Der Mann wartete einen Moment, bis sie hinter der nächsten Ecke verschwunden war, dann nahm er die Verfolgung auf. Mit dem Audi war es ein Leichtes, sie einzuholen. Glücklicherweise war der nicht besonders auffällig im Stadtverkehr. Bereits an der nächsten Ampel gelang es ihm, sich an ihre Fersen zu heften. Unbemerkt folgte er ihr kreuz und quer durch Berlin.

Als sie zuerst den Wannsee und dann die dahinter liegende Seenlandschaft der Havel ansteuerte, ließ er sich ein wenig zurückfallen. Hier auf der Landstraße musste er ihr ja nicht direkt auf der Stoßstange hängen. Jetzt hatte er keine Zweifel mehr, wohin die Fahrt ging. Und er zweifelte auch nicht mehr, dass sie wusste, was mit ihrem Vater geschehen war.

Katharina würde ihn zu Anton Sternberg führen, wenn auch gegen ihren Willen.

15. August, mittags, Berlin, WerderWährend sie sich mit ihrem Polo durch den Berliner Stadtverkehr schlängelte, fuhren Katharinas Gedanken Karussell. Eine Gasexplosion im Haus ihres Vaters? Konnten Gasleitungen einfach so explodieren? Er hatte die alte Villa doch erst vor ein paar Jahren von Grund auf sanieren lassen. Und wo war er gewesen, als sich das Unglück ereignete? Ihm war doch hoffentlich nichts zugestoßen? Nein, das hätte ihr der Polizist doch bestimmt sofort gesagt.

Sie langte nach ihrem Handy, das in der Handtasche auf dem Beifahrersitz lag. Während sie mit einem Auge den Verkehr im Blick behielt, drückte sie die Wahlwiederholungstaste. Der Apparat wählte dieselbe Nummer an, die sie bereits vor fünf Minuten ausprobiert hatte. Aber die Ansage hatte sich nicht verändert: Der Teilnehmer sei vorübergehend nicht erreichbar, teilte eine Frauenstimme mit. Wo zum Teufel war Papa? Und warum ging er nicht ans Telefon?

Nun gut, sie hatte ihn schon seit Monaten nicht mehr angerufen. Oder genauer gesagt, seit dem Tag im Frühling, ab dem sie ihm ihren Verlobten Bassam vorgestellt hatte. Ein Vorhaben, das auf ganzer Linie schiefgegangen war.

Die Begegnung der beiden war ihr wichtig gewesen. Da in Bassams Wertekodex die Familie eine hohe Stellung einnahm, hatte sie mit ihrem Vater vor ihm glänzen wollen. Er war schließlich das einzige Familienmitglied, das sie vorzeigen konnte. Denn Geschwister besaß sie nicht, und ihre Mutter war vor einigen Jahren bei einem Verkehrsunfall ums Leben gekommen. Es gab also nur ihn. Und er hatte alles vermasselt, der eigenbrötlerische Kauz.

Sie erinnerte sich noch genau an den Tag, an dem sie zusammen mit Bassam vor der Tür seiner Villa gestanden hatte. Bassam trug wie immer ein elegantes, dunkles Sakko und ein sorgfältig gebügeltes Hemd. Vielleicht hatte sich ihr Vater erschrocken, als ein Mann mit grauen Strähnen neben seiner Tochter stand, dachte Katharina heute. Sie selbst hatte es nie gestört, dass ihr Freund rund 20 Jahre älter war als sie. Denn Bassam war ein klassischer Typ, bei dem das Alter keine Rolle spielte. Außerdem achtete er sehr auf ein gepflegtes Äußeres. Bestimmt würde er in zehn Jahren noch genauso aussehen wie jetzt mit 50. Aber sie konnte sich schon vorstellen, dass Anton Sternberg der große Altersabstand irritiert hatte.

An Bassams Nationalität konnte es nicht liegen. Ihr Vater hatte sicher keine Schwierigkeiten damit, dass ihr Verlobter in Saudi-Arabien geboren war. Schließlich war er selbst ständig im Nahen Osten unterwegs und hatte viele arabische Freunde. Und die meiste Zeit hatte Bassam auch nicht in Saudi-Arabien, sondern im weltoffenen Libanon gelebt und seine Reiseagentur aufgebaut. Bis er vor einigen Jahren mit Salam Travel sogar den Sprung nach Europa geschafft hatte. Heute unterhielt er Filialen in London, Paris und zuletzt auch in Berlin. Die Agentur bot Reisen zu historisch bedeutenden Stätten des Islam an, denn schließlich gab es auch in Europa viele zahlungskräftige Muslime, die Heimweh nach ihren Wurzeln verspürten. Die Krise im Nahen Osten verlangte den Reiselustigen zwar einige Einschränkungen ab, aber trotzdem brummte das Geschäft.

Nein, er war keine schlechte Partie, ihr Verlobter, dachte Katharina, während sie in Richtung Havel bog. Man kann sich mit ihm sehen lassen. Dass Bassam bereits verheiratet gewesen war und aus seiner früheren Ehe Kinder hatte, fand sie normal für einen Mann in seinem Alter. Sie hatte Fotos seiner beiden Söhne und der Tochter gesehen: Die 17-jährigen Zwillingssöhne gingen in London zur Schule und standen kurz davor, ihr Studium aufzunehmen. Bassam wünschte sich natürlich, dass sie in Deutschland studierten. Manchmal träumte er auch davon, seine neunjährige Tochter zu sich zu holen, die bei ihrer Mutter in Dschidda lebte. Diese Details hatte sie ihrem Vater allerdings erst einmal erspart. Und trotzdem hatte er seltsam auf Bassam reagiert.

»Hallo, Papa, das ist Bassam!«

Schweigen. Der Alte zog lediglich eine Braue hoch.

»Dürfen wir reinkommen?«

»Selbstverständlich.« Zur Begrüßung reichte Sternberg seinem Schwiegersohn in spe förmlich die Hand.

Der große Salon, in den er sie führte, war von oben bis unten vollgestopft mit Antiquitäten: Skulpturen, Vasen, alten Tonscherben, Schmuck und anderen Artefakten. An den Wänden standen tiefe Schränke mit Stahlschubladen, in denen er Fotos und Schriftstücke aufbewahrte. Hier empfing er auch seine internationalen Kunden. Unter Antik-Liebhabern war ihr Vater ziemlich bekannt.

Auf einem silbernen Tisch inmitten einer Sitzecke aus orientalisch bestickten Kissen standen verschiedene Tortenstücke für sie bereit. Zufrieden registrierte Katharina, dass er seine Haushälterin eigens zum Bäcker geschickt hatte, um sie adäquat zu bewirten. Sie war sich ziemlich sicher, dass sowohl die Kissenbezüge als auch der Silbertisch, um den sie Platz nahmen, spätestens in einem Monat das Wohnzimmer irgendeines Orient-Fans in New York, Moskau oder Peking schmücken würden. Denn ihr Vater verscherbelte sein Mobiliar immer wieder im Internet; selten saß man bei ihm mehr als einmal auf demselben Stuhl.

Sie erinnerte sich gut daran, dass es ihre Mutter regelmäßig in den Wahnsinn getrieben hatte, wenn er kurzfristig dem Drängen eines Kunden nachgab und sämtliche Möbel verkaufte, ohne für Ersatz zu sorgen. Irgendwann hatte sie von seinen Eskapaden und seinen langen Reisen genug gehabt und ihn zusammen mit ihrer Tochter verlassen. Damals war Katharina elf Jahre alt gewesen.

Aber all das sollte natürlich keine Rolle spielen, als sie ihn an diesem Frühlingssonntag zusammen mit Bassam besuchte. An diesem Tag hatte sie nur einen einzigen Wunsch: Anton Sternberg möge eine gute Figur machen. Er möge sich als respektabler, älterer Herr präsentieren, der ihrem Verlobten bewies, dass sie aus einem guten Elternhaus kam.

Sie betrachtete ihn kritisch, während er ihr aus einer Porzellankanne Kaffee eingoss – einen Mann von 70 Jahren mit wachen, braunen Augen hinter seiner großen Brille, wuscheligen Augenbrauen, einem mittlerweile ergrauten Bart und immer etwas zerzaust wirkenden grauen Haaren. Sternberg war von mittlerer Statur, ungefähr einen Kopf kleiner als Bassam. Zur Feier des Tages hatte er sich einen knallroten Rollkragenpulli angezogen, der noch die Originalfalten aus der Verpackung trug. Darunter zeichnete sich ein kleiner Bauch ab. Nein, elegant konnte man seine Erscheinung wirklich nicht nennen. Ihr Vater war bestenfalls ein Original.

Katharina überlegte kurz, ob sie sich für ihn schämen musste. Seitdem sie mit Bassam zusammen war, der auf Etikette und Äußerlichkeiten Wert legte, achtete auch sie mehr darauf. Sie trug ein langes, blaues Kleid von der Art, wie es ihm gefiel: figurbetont, aber nicht zu kurz. Die feine silberne Kette mit den kleinen, funkelnden Diamanten an ihrem Hals hatte er ihr geschenkt. Sie mochte diesen Stil. Aber es war offensichtlich, dass sie und Bassam in anderen Welten lebten.

Nachdem die beiden Männer anfangs ziemlich verkrampft nach einem Gesprächsthema gesucht hatten, entdeckten sie bald das Reisen als Gemeinsamkeit. Bereitwillig gab Sternberg seinem Gast über den historischen Hintergrund verschiedener Objekte im Raum Auskunft. Er erzählte von seiner letzten Tour in den Jemen, wo er unter anderem den Silbertisch erworben hatte. Bassam griff das Thema höflich auf. Er berichtete, dass der Jemen auch bei den Touristen ein beliebtes Reiseziel gewesen sei, bis die Unruhen dort ausbrachen. Die denkmalgeschützte Bausubstanz der Hauptstadt und die Besichtigung der alten Koran-Manuskripte von Sanaa kamen vor allem bei seinen frommen Kunden gut an.

»Sind das die Manuskripte, die man in den Siebzigerjahren bei den Renovierungsarbeiten in der Alten Moschee gefunden hat?«, fragte Katharina ihren Verlobten.

»So ist es. Ihre Entdeckung war ein kleines Wunder«, erzählte Bassam. »Als die Arbeiter in einen Hohlraum zwischen dem inneren und dem äußeren Dach der Moschee eindrangen, stießen sie dort auf Papyri-Klumpen, die von Ratten- und Mäusekot verklebt waren. Da sie diese für Unrat hielten, packten sie sie in Säcke, um sie später wegzuschmeißen. Und wenn nicht zufällig der Leiter der Altertumsbehörde in einen dieser Säcke geschaut hätte, wären sie wohl auf dem Müll gelandet. Stellt euch das vor, die ältesten bislang gefundenen Koran-Manuskripte überhaupt – auf dem Müll!«, rief er, ganz der erfahrene Reiseleiter.

»Es wäre ein großer Verlust gewesen«, gab ihm Sternberg recht. »Aber leider hat die Welt ja trotzdem nicht viel von der Entdeckung gehabt. Die jemenitischen Behörden sind sehr eifersüchtig mit dem Fund umgegangen.«

»Eifersüchtig?« Bassam wirkte erstaunt. »Sie taten, was sie konnten, um den Schatz zu erhalten. Fast 15.000 Seiten wurden restauriert …«

»… und danach in einen Keller in Sanaa gesteckt und unter Verschluss gehalten.«

»Wie bitte? Die Schriften sind im Haus der Manuskripte doch öffentlich zugänglich. Ich habe schon viele Touristen dort hingeschickt, vielleicht sollten Sie mal mit uns kommen.«

Sternberg winkte ab. »Ich war schon oft im Haus der Manuskripte«, belehrte er seinen Gast. »Einer meiner besten Freunde, Hassan Ibn Talib, arbeitet für die Altertumsbehörde. Ganz nebenbei ist er auch einer der wenigen Menschen, die Zugang haben zu den Originalen …«

Und mit dem er bestimmt schon den ein oder anderen Deal gemacht hat, vermutete Katharina.

»Nein, ich spreche nicht von dem Kram, den man den Touristen vorführt, sondern von einer systematischen, wissenschaftlichen Untersuchung der Schriften, die in all den Jahren merkwürdigerweise nie stattgefunden hat.«

Eine wissenschaftliche Untersuchung, Katharina verdrehte innerlich die Augen. War er mal wieder bei seinem Lieblingsthema angekommen? »Wissenschaftler« und »die Wissenschaft« zu kritisieren, gehörte zu seinen Standard-Diskursen. Früher oder später tat er das bei jedem ihrer Besuche. Und dafür gab es einen Grund: Als junger Mann war er aus dem Wissenschaftsbetrieb rausgeflogen. Katharina wusste nicht genau, was damals passiert war. Die Geschichte war zu Hause tabu gewesen. Und in Archäologenkreisen hatte sie die wildesten Gerüchte gehört. Es hieß, ihr Vater habe sich nach einer Recherchereise im Jemen mit dem damaligen Chef der Deutschen Orient-Gesellschaft überworfen. Aber warum? Was konnte er angestellt haben, um einen solchen Krach zu provozieren? Einer seiner damaligen Kollegen, der mit ihm im Jemen geforscht hatte, Niemeyer, hatte im Gegensatz zu ihm jedenfalls eine glänzende Karriere im Institut gemacht.

Nun ja, das alles war lange vorbei. Vielleicht wäre eine Laufbahn im herkömmlichen Forschungsbetrieb auch nicht das Richtige für ihn gewesen. Er langweilte sich viel zu schnell, wenn er an einem Ort bleiben musste. Und Studenten zu unterrichten, wäre ihm sicher ein Graus gewesen. Wahrscheinlich konnte er sich am Ende glücklich schätzen, dass ihm dieses dröge Leben erspart geblieben war. Auch ohne Karriere an der Uni galt er unter Insidern als Koryphäe auf seinem Gebiet.

»Im Grunde gibt es bei diesen Manuskripten ja auch nicht allzu viel zu erforschen«, meinte Bassam gerade, »jedenfalls nicht für die Historiker.«

Sternberg sah ihn verständnislos an. »Wie meinen Sie das?«

»Nun, der Inhalt der Schriften ist ja hinreichend bekannt und dürfte eher die Theologen als die Historiker beschäftigen.«

»Aber darum geht es doch gar nicht«, widersprach Sternberg ihm nun sehr heftig. »Es geht darum, dass man anhand der Skripte die Entstehung des Korans nachvollziehen könnte.«

»Die Entstehung des Korans?«, wiederholte Bassam irritiert. »Aber die kennen wir doch! Es gibt detaillierte Berichte über Mohammed und seine Offenbarungen.«

Katharinas Vater lächelte amüsiert. »Sie meinen doch nicht etwa die Geschichte mit dem Engel?«

Katharina sah, wie Bassam die Kinnlade herunterklappte. Am liebsten hätte sie ihren Vater für seine Bemerkung erwürgt. »Wie Ihnen sicher bekannt ist, lässt sich anhand verschiedener Quellen genau nachvollziehen, wann und wie die einzelnen Abschnitte des Korans offenbart wurden«, sagte Bassam beherrscht – und Katharina wusste, dass er allein ihr zuliebe die Contenance behielt. Als gläubiger Muslim waren für ihn jedwede Zweifel an der Entstehung des Korans ein absoluter Affront. Bassam ging fest davon aus, dass es sich beim Koran um das Wort Gottes handelte, das Mohammed durch den Erzengel Gabriel offenbart worden war. »Das Leben des Propheten und die Niederschrift der Worte, die ihm diktiert wurden, gehören zu den am besten dokumentierten Ereignissen in der Geschichte der Religionen. Insbesondere, wenn man den Koran mit dem weithin unklaren Entstehungsprozess der Bibel vergleicht«, sagte Bassam und klopfte sich einen Kuchenkrümel vom Sakko. »Aber ich kenne Leute wie Sie, die glauben, alles untersuchen und auseinandernehmen zu müssen. Sogar in meiner Familie gibt es solche Leute.«

»Das klingt interessant. Bestimmt würde ich mich gut mit ihnen verstehen.«

»Das mag sein. Aber ich nicht. Ich meide Menschen, die andere vom Glauben abbringen wollen.«

Sternberg zog die Brauen hoch. »Oh, ich verstehe.« Und dann wusste keiner der Männer mehr, was er noch sagen sollte. Die erste Begegnung war grandios gescheitert.

Nach jenem schrecklichen Nachmittag hatte Katharina den Kontakt zu ihrem Vater abgebrochen, ohne sich bewusst dafür zu entscheiden. Sie hatte sich einfach nicht mehr gemeldet. Am Anfang war es ihr selbst gar nicht aufgefallen, denn sie hatten sich nie viel zu sagen gehabt. Aber irgendwann musste sie sich eingestehen, dass es nicht nur Nachlässigkeit war, die sie davon abhielt, seine Nähe zu suchen. Sie war wütend auf ihn. Wenigstens dieses eine Mal hätte er sich doch zusammenreißen und sich die Provokation verkneifen können. Oder war das zu viel verlangt?

Über die Landstraße näherte sie sich jetzt dem Örtchen Werder, das inmitten einer Seenlandschaft lag und von allen Seiten vom Wasser der Havel umgeben war: Schwielowsee, Glindower See, Großer Plessower See und Großer Zernsee umringten das kleine, historische Städtchen.

Als nach dem Zusammenbruch der DDR Anfang der Neunziger hier marode Immobilien zu Spottpreisen verscherbelt wurden, hatte ihr Vater zugeschlagen und die baufällige Villa erworben. Zunächst diente sie ihm nur als Lager. Erst nach jahrelangen Renovierungsarbeiten war sie in einem Zustand, dass man in ihr auch leben konnte. Nach der Trennung von seiner Frau hatte er sich dorthin zurückgezogen – und war geblieben. Zumindest wenn er nicht gerade in der Welt unterwegs war, fühlte er sich dort, inmitten seiner Schätze, am wohlsten.

An der Ampel kurz hinter dem Ortseingang zögerte Katharina. Sie hatte Kommissar Matthes gesagt, dass sie in einer Dreiviertelstunde bei ihm wäre. Sie sah auf die Uhr. 40 Minuten hatte sie gebraucht. Wenn sie nach der Mittagspause zurück sein wollte, müsste sie eigentlich sofort ins Polizeirevier fahren. Trotzdem verspürte sie den Impuls, zuerst selbst nach der Villa zu sehen.

Die Ampel sprang auf Grün. Katharina erwartete ein Hupkonzert des Protests, weil sie sich nicht rechtzeitig entscheiden konnte. Aber der Wagen hinter ihr, ein silberfarbener Audi, wartete geduldig, bis sie ein paar Sekunden später Gas gab. Er folgte ihr auch, als sie, anstatt ins Stadtzentrum zu fahren, auf den Weg zur Uferstraße einbog.

15. August, nachmittags, BerlinDer Anschlag hatte Thewes kalt erwischt. Unentschlossen stand er zwischen den Touristen und Schaulustigen und wusste nicht recht, was er mit dem Rest des Tages anfangen sollte – oder mit dem Rest seines Lebens. Auch die rothaarige Frau wirkte etwas orientierungslos.

»Gehen wir auf den Schock etwas trinken?«, fragte er sie spontan.

Ihre Augen weiteten sich vor Überraschung. »Ja, warum nicht?«, antwortete sie dann. »Das Arbeiten fällt heute ja sowieso flach.«